Ein Alptraum, der kein Ende nahm - Melissa Anderson - E-Book

Ein Alptraum, der kein Ende nahm E-Book

Melissa Anderson

0,0

Beschreibung

Der Liebesroman mit Gänsehauteffekt begeistert alle, die ein Herz für Spannung, Spuk und Liebe haben. Mystik der Extraklasse – das ist das Markenzeichen der beliebten Romanreihe Irrlicht: Werwölfe, Geisterladies, Spukschlösser, Hexen und andere unfassbare Gestalten und Erscheinungen erzeugen wohlige Schaudergefühle. Dein Tod ist beschlossene Sache, Naomi Landers! »Naomi«, hörte ich meine Kollegin Rosy durch die Sprechanlage nach mir rufen, »bitte zum Chef.« Ich runzelte die Stirn und stellte die Pinsel, die ich eben gereinigt hatte, in ein Wasserglas, damit sie über Nacht nicht austrockneten. »Okay«, antwortete ich, »ich komme gleich.« Fünf Minuten vor Feierabend? fragte ich mich dann. Was konnte Mr. Larson da noch von mir wollen? Hoffentlich geriet dadurch nicht das geplante Dinner mit meinem Vater in Gefahr, der gerade wieder einmal geschäftlich in Los Angeles zu tun hatte und wie stets seine Einzige ausführen wollte. Ich verließ das Atelier, in dem ich normalerweise noch mit meinem Kollegen Rudy Perrida und der Halbtagskraft Joan arbeitete. Bei der renommierten Firma Larson und Larson wurden Kunstwerke restauriert, hauptsächlich Gemälde und Kirchenfenster. Ich arbeitete gerade an einem solchen Fenster. Doch es kam nur noch selten vor, daß wir alle zusammen mal im Atelier waren. Immer häufiger mußten wir Aufträge an Ort und Stelle erledigen. Rudy war der Star von uns allen, auch unter den freiberuflichen Mitarbeitern, die Mr. Larson noch beschäftigte, und ich beneidete ihn sehr um sein Talent. Ich war sogar regelrecht eifersüchtig auf ihn, denn er bekam stets die interessantesten Aufträge. Aber ich mochte ihn ganz gern.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 170

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Irrlicht – 5 –

Ein Alptraum, der kein Ende nahm

Dein Tod ist beschlossene Sache, Naomi Landers!

Melissa Anderson

»Naomi«, hörte ich meine Kollegin Rosy durch die Sprechanlage nach mir rufen, »bitte zum Chef.«

Ich runzelte die Stirn und stellte die Pinsel, die ich eben gereinigt hatte, in ein Wasserglas, damit sie über Nacht nicht austrockneten.

»Okay«, antwortete ich, »ich komme gleich.«

Fünf Minuten vor Feierabend? fragte ich mich dann. Was konnte Mr. Larson da noch von mir wollen? Hoffentlich geriet dadurch nicht das geplante Dinner mit meinem Vater in Gefahr, der gerade wieder einmal geschäftlich in Los Angeles zu tun hatte und wie stets seine Einzige ausführen wollte.

Ich verließ das Atelier, in dem ich normalerweise noch mit meinem Kollegen Rudy Perrida und der Halbtagskraft Joan arbeitete. Bei der renommierten Firma Larson und Larson wurden Kunstwerke restauriert, hauptsächlich Gemälde und Kirchenfenster. Ich arbeitete gerade an einem solchen Fenster.

Doch es kam nur noch selten vor, daß wir alle zusammen mal im Atelier waren. Immer häufiger mußten wir Aufträge an Ort und Stelle erledigen. Rudy war der Star von uns allen, auch unter den freiberuflichen Mitarbeitern, die Mr. Larson noch beschäftigte, und ich beneidete ihn sehr um sein Talent. Ich war sogar regelrecht eifersüchtig auf ihn, denn er bekam stets die interessantesten Aufträge. Aber ich mochte ihn ganz gern. Er war ein netter Kollege, und ich hatte schon eine Menge von ihm lernen können.

Eilig lief ich über den Korridor und öffnete die Tür zum Büro. Rosy, Mr. Larsons Sekretärin, packte im Vorzimmer gerade ihre Sachen zusammen.

»Was ist?« fragte ich sie nervös. »Warum…«

Rosy lächelte merkwürdig geheimnisvoll. »Geh nur hinein, dann wirst du es gleich erfahren.«

Ihrem Gesicht nach zu schließen, schien es sich nicht gerade um eine schlechte Nachricht zu handeln, die mein Chef für mich parat hatte. Ich klopfte an seine Tür und trat ein.

Im Gegensatz zu Rosy machte Mr. Larson ein ernstes Gesicht, und mein Herz sank. Mit gemischten Gefühlen nahm ich auf dem Stuhl Platz, den er mir angeboten hatte. Er saß hinter seinem Schreibtisch und sah mich hinter seinen dicken Brillengläsern kummervoll an.

»Rudy ist verunglückt…«, begann er.

Ich schluckte und setzte mich kerzengerade auf. »Rudy ist verunglückt?« wiederholte ich mit gepreßter Stimme. »Das ist ja furchtbar. Ist er… ich meine…«

»Er ist schwer verletzt«, unterbrach Mr. Larson mein Gestammel. »Mehrere Knochenbrüche, Abschürfungen und eine Kopfverletzung. Aber er wird es überstehen, hat mir der Arzt vom Krankenhaus versichert.« Er seufzte schwer und bot mir eine Zigarette an, bevor er sich selbst eine anzündete. »Das Problem ist nur, daß Rudy nun seinen Auftrag nicht ausführen kann«, fuhr er fort«, deshalb habe ich Sie rufen lassen, Naomi.«

Er machte eine gedankenvolle Pause, und mein Herz fing an zu pochen. Sollte ich etwa einen von Rudys begehrten Aufträgen übernehmen? War meine Chance nun gekommen?

»Ich muß nun jemand anderen nach Carmel schicken«, redete Mr. Larson weiter, »und nach reiflicher Überlegung ist meine Wahl auf Sie gefallen, Naomi. Sie haben gerade in der letzten Zeit hervorragende Arbeit geleistet, und meine Kunden loben Sie in den höchsten Tönen. Ich bin sicher, daß Mr. Cummings Gemäldesammlung bei Ihnen in den besten Händen ist.«

Ich merkte, wie ich vor Freude und Aufregung heiße Ohren bekam. Einen Moment lang konnte ich ihn nur stumm anstarren, weil mir die Worte fehlten. Auf Mr. Larsons rundem, gutmütigem Gesicht lag wieder jenes väterliche Lächeln, mit dem er uns so oft bedachte. Er war der netteste Chef, den man sich denken konnte.

»Mr. Cummings?« rief ich dann begeistert. »In Carmel? Auf Monterey Peninsula?« Ich konnte es kaum glauben, Mr. Cummings besaß eine umfangreiche und wertvolle Privatgalerie, die in der Fachwelt Aufsehen erregte. Rudy bekam oft mehrmals im Jahr den Auftrag, nach Carmel zu fahren und ein paar von Mr. Cummings Gemälden zu restaurieren. Noch nie war jemand anders geschickt worden, und soviel ich wußte, wollte man in Cypress Manor – so hieß der herrschaftliche Besitz an der Küste von Monterey Peninsula – auch keinen anderen haben.

»Richtig«, hörte ich Mr. Larson in meine Gedanken hinein sagen. Erst jetzt sah ich ihn wieder bewußt an und registrierte sein breites Grinsen. »Wie würde Ihnen dieser Auftrag gefallen, Mädchen? Ich nehme an, Sie wissen, worum es sich handelt?«

Ich nickte benommen. »Ja, natürlich. Mr. Cummings’ Gemäldesammlung ist uns ja allen ein Begriff. Und Sie wollen mich tatsächlich nach Carmel schicken, um dort alte Gemälde von unschätzbarem Wert zu restaurieren?«

Mr. Larson lächelte über meinen Enthusiasmus. »Ich weiß, daß Sie das können, Naomi«, sagte er, »allerdings werden Sie dort eine Weile zu tun haben, und Ihren geplanten Urlaub in zwei Wochen…«

»Aber Mr. Larson«, rief ich überschwenglich, »was bedeutet mir noch dieser Urlaub, wenn ich statt dessen die Chance habe, einen so phantastischen Auftrag zu übernehmen? Dafür würde ich sogar ein paar Jahre lang auf Urlaub verzichten!«

Mr. Larson lachte. »Sie können ihn ja anschließend nehmen, wenn Sie damit fertig sind. Bleiben Sie doch gleich auf dieser schönen Halbinsel. Viel werden Sie während Ihrer Arbeit nicht davon zu sehen bekommen, deshalb würde Ihnen ein Urlaub dort sicher gefallen, oder?«

»Wundervoll«, strahlte ich.

Mit meinen vierundzwanzig Jahren war ich noch nicht viel aus Los Angeles herausgekommen, und wenn, dann war ich immer nur in südlichere Gegenden gefahren. Auch in Mexiko war ich einmal gewesen, mit Brian, dem Mann, den ich einmal hatte heiraten wollen. Aber seit dem Bruch mit ihm vor zwei Jahren war ich praktisch so gut wie nirgends mehr hingekommen, und Monterey Peninsula mit seiner berühmten Künstlerkolonie hatte mich schon immer gereizt.

»Die Frage, ob Sie den Auftrag annehmen, erübrigt sich wohl«, meinte Mr. Larson schmunzelnd.

Ich lachte. »Damit haben Sie vollkommen recht. Wann soll ich fahren?«

»Am besten gleich morgen, wenn Sie bis dahin Ihre Sachen für einen längeren Aufenthalt packen können.«

»Aber selbstverständlich«, warf ich ein, obwohl ich mir dessen gar nicht so sicher war. Schließlich war ich heute abend mit meinem Vater verabredet, aber das brauchte Mr. Larson nicht zu wissen.

»Ich werde ein Telegramm an Mr. Cummings schicken, daß Sie anstelle von Rudy nach Carmel kommen, um die Gemälde zu restaurieren«, bemerkte Mr. Larson, während er etwas auf einen Notizblock schrieb.

Meine Vorfreude erlitt einen Dämpfer.

»Wird Mr. Cummings mit mir als Ersatz auch einverstanden sein? Soviel ich weiß, legte er stets Wert darauf, daß ausschließlich Rudy seine Gemälde restauriert.«

»Machen Sie sich deswegen keine Gedanken, Naomi«, beruhigte Mr. Larson mich, »ich werde ihm alles erklären und Ihnen die besten Referenzen geben. Ich bin sicher, daß Mr. Cummings mit Ihrer Arbeit ebenso zufrieden sein wird wie mit Rudys.« Er zwinkerte mir aufmunternd zu. »Wer weiß, vielleicht will er dann in Zukunft nur noch Sie haben?«

Ich winkte ab. »Es ist zwar eine große Ehre für mich, wenn ich Rudy vertreten darf, aber ich will ihm bestimmt nicht seinen Job dort wegnehmen, das wäre unfair. Noch dazu, wo er jetzt hilflos im Krankenhaus liegt.«

Mr. Larson sah auf seine Armbanduhr und erhob sich. »Tut mir leid, Naomi, aber ich muß Sie eben hinauswerfen, da ich noch eine Besprechung habe. Haben Sie noch irgendwelche Fragen?«

Ich überlegte, doch in meinem Kopf ging alles durcheinander. »Nein«, sagte ich und stand ebenfalls auf, »im Moment fällt mir nichts ein. Außer, daß ich mit dem Kirchenfenster noch nicht fertig bin. Was soll damit geschehen?«

»Deswegen brauchen Sie sich nicht den Kopf zu zerbrechen. Joan kann es ebenso fertigstellen, außerdem muß ich ohnehin zwei unserer freien Mitarbeiter herbeordern, nachdem Sie und Rudy nun ausfallen.« Mr. Larson öffnete mir die Tür und drückte mir die Hand. »Hals und Beinbruch, Mädchen«, wünschte er mir, »wenn Sie Schwierigkeiten haben, rufen Sie mich an.«

»Okay«, versprach ich. Dann war ich entlassen.

Leider war Rosy schon gegangen, und ich konnte die aufregende Neuigkeit bei ihr nicht mehr loswerden. Doch sie schien ohnehin schon davon gewußt zu haben. Ich ging wieder ins Atelier, um meine Sachen zusammenzupacken.

Auf rosaroten Wolken schwebte ich nach Hause. Ich konnte mein Glück noch gar nicht fassen. Ein Traum war für mich wahr geworden, und ich hatte keine Ahnung, welch ein Alptraum schon wenig später daraus entstehen würde…

*

Am nächsten Tag nach dem Lunch machte ich mich auf die Reise ins Paradies, wie ich glaubte.

Das Treffen mit meinem Vater hatte sich fast bis Mitternacht ausgedehnt, und so hatte ich am Vormittag in aller Eile meine Sachen gepackt und im Kofferraum meines Toyota verstaut.

Mein Vater hatte zwar aus Rücksichtnahme auf mich den Abend früher beenden wollen, doch davon hatte ich nichts wissen wollen. Wir sahen uns ohnehin nur alle zwei Monate, und ich freute mich über jede Minute, die ich mit ihm verbringen konnte. Ich hatte zu ihm schon immer ein herzliches Verhältnis gehabt, und nach dem Tod meiner Mutter vor sechs Jahren hatte ich mich noch enger an ihn angeschlossen.

Er war sehr erfreut und auch stolz auf mich gewesen, daß man mir diesen Auftrag anvertraut hatte und hatte zur Feier des Tages eine Flasche Champagner bestellt. Aus irgendeinem Grund hatte mich dann im Lauf des Abends für kurze Zeit ein unbehagliches Gefühl befallen, ein Gefühl, als ob es verfrüht sei, dieses Ereignis zu begießen…

Doch als ich an diesem Mittag meine Reise startete, war dieses Gefühl wieder verflogen, und ich wurde von einer geradezu närrischen Vorfreude beherrscht. Das Wetter war einmalig schön, die Sonne strahlte vom wolkenlosen Himmel und der Verkehr auf der Küstenstraße nach Norden hielt sich in Grenzen. Ich freute mich riesig auf Monterey Peninsula, die berühmte Stadt Carmel, von der ich schon so viel gehört hatte, Cypress Manor, dem Herrensitz der Cummings, und meine Arbeit dort.

Als ich in Carmel ankam, war die Sonne bereits ein roter Feuerball am Horizont, der allmählich im Meer versank. Ich war von diesem Städtchen sofort verzaubert, das überall Künstleratmosphäre ausstrahlte. Fröhlich wirkende Menschen bevölkerten die Straßen, Geschäfte und Kunstgalerien waren noch geöffnet, und auf einem großen Platz wurden Kunstwerke aller Art ausgestellt. Ich fuhr in den nächsten freien Parkplatz und stieg aus, um mir das bunte Treiben näher anzusehen. Zusammen mit anderen Schaulustigen drängte ich mich um Stände mit Töpferwaren, Schmuck und Gemälden. Auf einer grob zusammengezimmerten Tribüne spielte eine kleine Jazzcombo heiße Rhythmen.

Ich war begeistert von dem ersten Eindruck, den ich von Carmel bekam. Am liebsten wäre ich noch stundenlang hier herumgeschlendert, aber ich war schließlich nicht zu meinem Vergnügen hier. Man erwartete mich, und es war schon sehr spät. Mit Bedauern und dem festen Vorsatz, so bald wie möglich wieder hierherzukommen, riß ich mich los und betrat durch die offenstehende Tür eine kleine Galerie, um mich nach dem Weg zu Cypress Manor zu erkundigen.

In der Galerie befand sich keine Menschenseele. Alle schienen sich draußen auf dem Platz zu drängen. Geduldig wartete ich auf den Inhaber der Galerie und besah mir in der Zwischenzeit die ausgestellten Gemälde und den Ständer mit den Künstlerkarten.

»Kann ich Ihnen etwas zeigen, oder möchten Sie sich nur ein wenig umsehen?« hörte ich nach einer Weile neben mir eine freundliche Männerstimme. Ich drehte mich um und sah einen Mann vor mir, der ein paar Jahre älter sein mochte als ich. Er trug Jeans und ein weißes, aufgeknöpftes Hemd. Das braune Haar war natürlich gelockt und ziemlich lang. Ein netter Typ, stellte ich im stillen fest. Sein Gesicht war ebenso freundlich wie seine Stimme.

»Keines von beiden«, sagte ich entschuldigend. »Sie haben zwar wunderschöne Bilder hier, aber ich kann mich heute leider nicht mehr aufhalten. Ich bin nur hereingekommen, um mich nach dem Weg nach Cypress Manor zu erkundigen. Können Sie mir sagen, wie ich dorthin komme?«

Der junge Mann sah mich merkwürdig prüfend an, wie mir schien. »Cypress Manor?« wiederholte er gedehnt. »Sind Sie mit den Cummings’ verwandt?«

Ein unangenehmes Gefühl kroch mir über den Rücken. Sein unverhohlenes Interesse verwirrte mich. Aber dann sagte ich mir, daß es sicher ganz normal war, nachdem die Cummings mit ihrer privaten Gemäldegalerie so berühmt waren. Solche Leute erregten immer das öffentliche Interesse.

»Nein«, sagte ich, »ich habe den Auftrag, einige Gemälde für Mr. Cummings zu restaurieren.«

Seine Augenbrauen ruckten in die Höhe. »Sie?« fragte er noch gedehnter. Obwohl ich ihn vorhin noch recht nett gefunden hatte, ärgerte ich mich jetzt über ihn.

»Trauen Sie mir das etwa nicht zu?« gab ich angriffslustig zurück. Vielleicht gehörte er auch zu den Männern, die der Meinung waren, daß eine Frau an den Kochtopf ge­hörte.

Er legte beschwichtigend seine Hand auf meinen Arm. »Das hatte ich damit wirklich nicht ausdrücken wollen«, versicherte er mir, »ich habe mich nur gewundert, weil Mr. Cummings in den letzten Jahren nur einen bestimmten Restaurator an seine Gemälde gelassen hat.«

Irgendwie hatte ich den Eindruck, daß das nicht der einzige Grund war, aus dem er sich wunderte. Seine Erklärung war zu rasch gekommen, auch wenn sie durchaus einleuchtend war.

»Rudy Perrida, ich weiß«, erwiderte ich. »Er ist ein Kollege von mir.« Ich erzählte ihm kurz, unter welchen Umständen ich zu diesem Job gekommen war. »Kennen Sie Rudy persönlich?« fragte ich dann.

Ein weiterer prüfender Blick traf mich. Dabei konnte ich feststellen, daß der junge Mann schöne braune Augen hatte.

»Ja, ich habe ihn kennengelernt«, sagte er etwas zögernd, »hier in Carmel kennt ohnehin jeder jeden.«

Ich nickte. Von dem kurzen Eindruck her, den ich von diesem Städtchen hatte, konnte ich mir das gut vorstellen. Hier lebte man sicher nicht so anonym wie beispielsweise in Los Angeles.

»Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten?« hörte ich ihn in meine Gedanken hinein fragen. »Oder ein Glas Wein?«

Ich zögerte. Eigentlich hatte ich es ja eilig, nachdem ich ohnehin schon so spät dran war, aber dann dachte ich mir, daß ich von diesem Galeriebesitzer, oder wer immer es auch war, vielleicht etwas Interessantes über Cypress Manor und seine Bewohner erfahren und mir ein wenig ein Bild darüber machen konnte, bevor ich dort eintraf. Mr. Larson hatte keine Zeit mehr gehabt, mir irgendwelche Eindrücke zu vermitteln, und mir fiel jetzt plötzlich auf, daß Rudy immer auffallend wenig über seine Arbeit in Cypress Manor erzählt hatte, obwohl er sonst immer recht gesprächig war und meistens alles in leuchtenden Farben schilderte.

»Gern, vielen Dank«, sagte ich deshalb, »Kaffee habe ich heute schon genug getrunken, aber ein Glas Wein schlage ich nicht ab. Lange kann ich mich allerdings nicht mehr aufhalten, wenn ich mir meinen Weg nicht im Stockdunkeln suchen will.«

»Er ist wirklich leicht zu finden«, beruhigte er mich, »ich werde Ihnen alles aufschreiben. Kommen Sie, setzen wir uns nach hinten.«

Er führte mich um eine Stellwand mit Bildern herum zu einer gemütlichen Sitzgruppe. Durch einen Türbogen konnte ich einen Blick in einen Raum werfen, der meinem Atelier in der Firma Larson glich.

»Malen Sie selbst?« fragte ich interessiert und deutete mit meinem Arm in den angrenzenden Raum.

»Ja, aber nur noch nebenbei.« Er bat mich, Platz zu nehmen, und schenkte zwei Gläser mit Rotwein ein. Dann nahm er eine Visitenkarte von dem kleinen Stapel auf dem Tisch und reichte sie mir. »Mein Name ist übrigens Brandon Kelly«, stellte er sich mit einer kleinen Verbeugung vor, bevor er sich mir gegenüber setzte.

Ich warf einen Blick auf die Karte. Kunstmaler und Galeriebesitzer, Carmel, stand unter seinem Namen. Ich steckte sie dankend ein.

»Und ich bin Naomi Landers aus Los Angeles, von Beruf Restauratorin«, stellte ich mich meinerseits vor. »Ich werde voraussichtlich etwa sechs Wochen in Cypress Manor zu tun haben, anschließend verbringe ich dann hier noch meinen Urlaub.«

Wieder dieser forschende Blick. Am liebsten hätte ich ihn gefragt, ob mit Cypress Manor etwas nicht stimmte. Aber vielleicht bildete ich mir auch nur etwas ein. Ich hatte eine stundenlange Autofahrt hinter mir, war müde, nervös und aufgeregt.

Brandon Kelly hob mir sein Glas entgegen. »Auf Ihre erfolgreiche Arbeit in Cypress Manor…« Er stockte, dann setzte er hinzu: »Und einen angenehmen Aufenthalt.«

Warum hatte er das so merkwürdig betont? Ich lächelte etwas nervös und trank einen Schluck Wein.

Brandon erzählte mir etwas von Carmel, den vielen Künstlern, Schriftstellern und Schauspielern, die hier lebten oder hier einmal gelebt hatten, den Veranstaltungen und Festivals, die hier regelmäßig stattfanden. Ich hörte ihm interessiert zu, obwohl mir im Moment eine Beschreibung von Cypress Manor und seiner Bewohner lieber gewesen wäre.

Verstohlen schaute ich auf die Uhr an der Wand. So wohl ich mich auch in Brandon Kellys Gesellschaft fühlte, ich wollte jetzt lieber doch nach Cypress Manor fahren.

»Kennen Sie die Cummings’?« lenkte ich deshalb bei Gelegenheit die Sprache auf das Thema, das mich im Moment am meisten interessierte. »Ich muß gestehen, daß ich so gut wie gar nichts über meinen künftigen Arbeitsplatz weiß. Es ist alles so überstürzt, und mein Chef hatte keine Zeit mehr, mich näher zu informieren.«

Brandon setzte zum Reden an, doch in diesem Moment klingelte das Telefon. Er ging zum Schreibtisch hinüber und nahm den Hörer ab. Ich achtete nicht auf das, was er sprach, dafür ertappte ich mich dabei, daß mein Blick unverwandt an seiner muskulösen Gestalt hing. Ich nahm sein gutgeschnittenes Profil wahr, seine breiten Schultern und schmale Hüften, seine schlanken feingliedrigen Hände, die mit einem Bleistift spielten…

Nein! riß ich mich energisch zusammen. Ich war nicht nach Carmel gekommen, um eine neue Romanze zu beginnen, eine neue Enttäuschung zu erleben. Meine trüben Erfahrungen mit Brian hatten mich ernüchtert und vorsichtig werden lassen. Er hatte statt meiner Wenigkeit Hals über Kopf eine reiche Arzttochter geheiratet und mich gleichzeitig wissen lassen, daß unsere Beziehung deswegen ja nicht in die Brüche zu gehen brauchte. Seitdem hatte es für mich keinen Mann mehr gegeben, dem ich mein Vertrauen geschenkt hätte, außer meinem Vater und Mr. Larson, meinem Chef.

»Entschuldigen Sie bitte, daß es so lange gedauert hat, aber das war eine meiner anspruchsvollsten Kundinnen.« Ieh zuckte ein wenig zusammen, als Brandon wieder an den Tisch zuruckkam.

»Aber ich bitte Sie«, entgegnete ich rasch, »auf mich brauchen Sie doch wirklich keine Rücksicht zu nehmen. Schließlich bin ich hier nur hereingekommen, um mir eine Auskunft zu holen.«

Brandon schenkte mir ein unwiderstehliches Lächeln, bei dem meine Glieder von einer merkwürdigen Schwäche durchzogen wurden. Oder lag es nur am Wein?

»Und die haben Sie noch nicht mal bekommen.« Er riß ein Blatt von einem Notizblock und zeichnete etwas auf, dann reichte er es mir. »Sie fahren links die Straße hinunter, bis Sie auf den Seventeen Mile Drive kommen, dann etwa sechs Meilen am Golfplatz vorbei bis zum Cypress Point. Von dort aus können Sie Cypress Manor bereits sehen. Es ist das größte Anwesen in der Gegend und von einer gewaltigen Mauer umgeben.«

»Gewaltigen Mauer?« wiederholte ich stirnrunzelnd. Ich haßte Grundstücke, die von gewaltigen Mauern umgeben waren, besonders, wenn ich dahinter leben sollte.

Brandon schien zu spüren, was in mir vorging. »Cummings’ Gemäldesammlung ist von unschätzbarem Wert. Sie muß natürlich gesichert werden. Besonders, da er oft auf Reisen ist. Dann ist seine Frau für längere Zeit allein im Haus, und so sind alle möglichen Sicherheitsmaßnahmen eine Notwendigkeit.«

Das leuchtete mir ein. »Kennen Sie die Cummings’ persönlich?« wiederholte ich meine Frage von vorhin.

»Oh, entschuldigen Sie bitte, daß ich darauf nicht mehr eingegangen bin. Ja, ich kenne sie persönlich, wenn auch nicht sehr gut. Ich…« Er brach ab und starrte angelegentlich auf seine Finger. »Ich hatte vor einigen Jahren regelmäßig Gemälde für Mr. Cummings restauriert. Diesen Job hat dann Rudy Perrida übernommen, und ich habe meine eigene Galerie eröffnet.«

Unwillkürlich hatte ich das Gefühl, daß Brandon diesen Job aus schwerwiegenden Gründen aufgegeben hatte, aber danach konnte ich ja schlecht fragen.

»Mir persönlich war Walter Cummings nie sonderlich sympathisch, wenn ich das so offen sagen darf. Aber in Carmel und ganz Monterey Peninsula ist er hoch angesehen. Seine Frau Myra hingegen ist eine Seele von Mensch, etwas unselbständig, aber sehr liebenswert. Leider ist sie häufig krank. Seit etwa drei Jahren lebt auch Howard Cummings häufig hier, Walters Sohn aus erster Ehe. Kein Mensch weiß eigentlich genau, was er so treibt.«

Ich ließ mir kein Wort entgehen. Allerdings war ich nicht sehr angetan von dem, was ich hörte.

»Außerdem lebt nur noch Inez in Cypress-Manor, ein wahres Unikum von Haushälterin, die ihrer Herrin treu ergeben ist und die männlichen Mitglieder der Familie ebensowenig mag wie ich. Aber ich will mich nicht weiter in persönlichen Gefühlen ergehen. Sie müssen sich selbst ein Bild davon machen, Naomi.«

Ich antwortete nicht gleich. Nun, das war schon eine ganze Menge an Informationen. Trotzdem hatte Brandon recht. Ich mußte mir selbst ein Bild davon machen, und das am besten gleich. Ich stand auf und nahm meine Tasche.

»Vielen Dank für den Wein, Brandon«, sagte ich, »aber ich gehe jetzt besser.«