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Der Liebesroman mit Gänsehauteffekt begeistert alle, die ein Herz für Spannung, Spuk und Liebe haben. Mystik der Extraklasse – das ist das Markenzeichen der beliebten Romanreihe Irrlicht: Werwölfe, Geisterladies, Spukschlösser, Hexen und andere unfassbare Gestalten und Erscheinungen erzeugen wohlige Schaudergefühle.
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Seitenzahl: 152
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Janice Murphy stellte ihren kleinen Wagen auf dem Parkplatz ab und ging hinüber zu dem mehrstöckigen Appartementhaus, in dem sie zusammen mit ihrer Schwester Nan eine Wohnung gemietet hatte. Als sie die Post aus dem Briefkasten nahm, war sie mit ihren Gedanken noch bei ihrer Arbeit. Sie unterrichtete an der Grundschule in Kansas City, und morgen sollte die neue Turnhalle feierlich eingeweiht werden.
Janice fuhr mit dem Aufzug in den dritten Stock hinauf. Als sie die Wohnungstür aufschloß, hörte sie das Klingeln des Telefons. Achtlos warf sie die Post auf die Kommode in der Diele und lief rasch ins Wohnzimmer.
»Hallo?« rief sie erwartungsvoll in den Hörer. Doch gleich darauf verzog sie enttäuscht das Gesicht. Es war nicht ihre Schwester, wie Janice gehofft hatte, sondern ein Kollege, der sie zum Essen einladen wollte.
»Tut mir leid, Dean, aber ich...« Sie brach hilflos ab, weil ihr einfach keine Ausrede einfiel. Sie mochte
Dean zwar ganz gerne, aber sie hatte trotzdem keine Lust, schon wieder mit ihm auszugehen.
»Hast du heute abend schon etwas vor?« erkundigte Dean sich. Seine Stimme klang enttäuscht.
»Nein, das nicht«, erwiderte Janice zögernd. Dann entschloß sie sich, die Wahrheit zu sagen. »Ich bin heute nur nicht in der richtigen Stimmung, um auszugehen. Du weißt, daß ich mir große Sorgen um meine Schwester mache. Nan ist immer noch nicht zurückgekommen, und ich habe auch keinerlei Nachricht von ihr.«
Einen Augenblick lang herrschte Schweigen, dann seufzte Dean auf.
»Ich kann dich ja verstehen, Janice«, sagte er, »aber ich sehe keinen Sinn darin, daß du dich in deinen vier Wänden verkriechst und stundenlang grübelst. Laß uns lieber in das neue griechische Restaurant gehen. Außerdem wollte ich mit dir noch etwas wegen des morgigen Festes in der Schule besprechen. Wenn du glaubst, daß Nan ausgerechnet heute abend heimkommt, dann leg ihr einen Zettel hin.«
»Na gut«, gab Janice schließlich nach, »du hast mich überredet. Eigentlich hast du ja recht. Ich kann nicht ewig hier sitzen und auf Nan warten. Hol mich um halb acht ab.«
Sie legte den Hörer auf und ging in die Küche, um sich einen Kaffee zu machen und einen kleinen Imbiß zuzubereiten. Liebevoll nahm sie das Geschirr aus dem Schrank und stellte es auf den Tisch. Wie viele andere Gegenstände in der Wohnung, hatte Nan das Service selbst getöpfert. Sie war darin sehr geschickt und verkaufte ihre Arbeiten mit großem Erfolg auf den beliebten Fairs, jenen kunstgewerblichen Märkten, die in der letzten Zeit immer häufiger und bei allen möglichen Gelegenheiten veranstaltet wurden. Zuletzt hatte Nan bei einem Open Air Konzert in Maryville einen Stand gemietet gehabt. Doch das lag schon mehrere Wochen zurück, und Janice hatte seither keine Nachricht mehr von ihr erhalten.
Die junge Frau schenkte sich den Kaffee ein und begann lustlos ihr Sandwich zu essen. Plötzlich fiel ihr ein, daß die Post immer noch auf der Kommode in der Diele lag.
Rasch stand sie auf und nahm den kleinen Stapel Briefe auf. Die Reklamebriefe warf sie gleich in den Mülleimer. Übrig blieben die Telefonrechnung und ein Brief, der keinen Absender trug. Er war an Janice gerichtet und in New Orleans aufgegeben worden.
Janice runzelte die Stirn. Weder Nan noch sie kannten jemanden aus dieser Stadt. Ein merkwürdiges Gefühl überkam sie, als sie auf den Brief ohne Absender blickte. Sie glaubte sogar, eine gewisse Bedrohung zu spüren und zögerte, bevor sie sich endlich entschließen konnte, ihn zu öffnen.
Janice wurde kreidebleich, als sie die wenigen Zeilen las. Einen Moment lang glaubte sie, vor Schreck ohnmächtig zu werden. Sie mußte sich an der Tischkante festhalten, bis das Schwindelgefühl vorüber war. Dann zwang sie sich, das Ungeheuerliche noch einmal zu lesen.
Ich habe allen Grund, anzunehmen, daß die Tote, die man im Bayou gefunden hat, Ihre Schwester Nan ist. Kommen Sie unverzüglich nach Natasca in der Nähe von New Orleans.
Jemand, der mit dieser Sache nichts zu tun haben will.
Verzweifelt schluchzte Janice auf. Das konnte einfach nicht wahr sein! Nan, ihre geliebte kleine Schwester, sollte tot sein? Man hatte sie in einem Bayou gefunden? War sie etwa ertrunken? Aber was hatte Nan in New Orleans zu suchen gehabt?
Es muß eine Verwechslung sein, sagte Janice gleich darauf. Vielleicht hat sich auch jemand einen bösen Scherz erlaubt. Trotzdem quälte sie die Ungewißheit. Aber sollte sie wirklich nach diesem ihr völlig unbekannten Natasca fahren? Ich muß Gewißheit haben, dachte Janice gleich darauf. Nachdem sie schon so lange keine Nachricht von Nan hatte, konnte sie diesen geheimnisvollen Brief nicht einfach ignorieren.
Janice war völlig durcheinander. Unzählige Fragen quälten sie. Woher hatte dieser Unbekannte aus New Orleans ihren Namen und ihre Anschrift? Woher wußte er, daß Nan ihre Schwester war?
Hatte er sie gekannt? Sie fand keine Antworten auf diese Fragen. Doch sie klammerte sich verzweifelt an die Hoffnung, daß sich alles als Irrtum herausstellen würde.
Mit steifen Schritten ging Janice hinüber in ihr Zimmer und suchte ihr kleines Adreßbuch heraus. Nacheinander rief sie sämtliche gemeinsamen Freunde und Bekannten an, um wenigstens einen kleinen Hinweis auf Nans weitere Pläne zu erhalten. Aber sie hatte keinerlei Erfolg. Niemand hatte Nan in der Zwischenzeit gesehen. Nach dem Open Air Konzert in Maryville verlor sich offenbar jede Spur von ihr. Nur einer von Nans Freunden wußte zu berichten, daß sie sich dort eng an einen jungen Mann angeschlossen hatte, den keiner kannte. War er der anonyme Briefschreiber?
Nach unzähligen Telefongesprächen legte Janice mutlos den Hörer auf. Es war wie verhext, sie fand einfach keine Spur von Nan. Was sollte sie tun?
Ihr Kollege Dean fiel ihr wieder ein. Er würde bald kommen, um sie abzuholen. Janice war jetzt richtig froh, daß sie an diesem Abend nicht allein sein würde. Vielleicht wußte Dean auch einen Rat und konnte ihr sagen, wie sie auf den anonymen Brief reagieren sollte.
Janice öffnete den Kleiderschrank und überlegte kurz, was sie anziehen sollte. Im Gegensatz zu ihrer Schwester war sie ein sportlicher Typ mit kurzgeschnittenem blondem Haar, lustigen braunen Augen und einer knabenhaft schlanken Figur. Janice trug mit Vorliebe Hosen. Deshalb wählte sie jetzt auch einen weinroten Hosenanzug mit einer farblich abgestimmten Karobluse.
Sie war kaum mit ihrer Toilette fertig, als es an der Wohnungstür klingelte.
Dean Connors trat lächelnd ein und überreichte ihr einen Strauß Fresien.
»Blumen?« sagte Janice überrascht. »Ist heute ein besonderer Tag?«
»Sie sollen dich nur ein bißchen aufheitern«, erklärte Dean herzlich, »ich glaube, du kannst ein wenig Freude gebrauchen. Du kommst mir jetzt noch niedergeschlagener vor als heute nachmittag.«
Janice traten Tränen in die Augen. Sie hatte Mühe, ihre Fassung nicht zu verlieren. Mit einem kleinen Seufzer griff sie nach dem Brief und reichte ihn dem Kollegen.
»Hier, lies bitte. Er kam heute mit der Post.«
Dean Connors ließ sich auf dem Sofa nieder und studierte mit gefurchter Stirn das Schreiben. Janice beobachtete ihn dabei aufmerksam. Das Lächeln war aus seinem Gesicht verschwunden, und er sah jetzt ziemlich erschrocken aus.
»Was hältst du davon?«
Dean gab ihr den Brief zurück.
»Das ist schwer zu sagen, Janice«, sagte er ernst, »aber ich glaube, du solltest der Sache nachgehen.«
»Denkst du, ich sollte nach Natasca fahren?« fragte Janice. Der Gedanke daran erfüllte sie mit Angst und Widerwillen.
»Du solltest vielleicht erst mal bei der dortigen Polizeistation anrufen und dich genau nach dem toten Mädchen erkundigen. Wenn es Nan ähnlich sein sollte, kannst du immer noch hinfahren.«
Janice sah ihn flehend an. »Würdest du das für mich erledigen?« bat sie ihn.
Dean stand auf und ging zum Telefon. Das Gespräch dauerte nicht allzu lange.
Als Dean sich umdrehte, erschrak Janice vor seinem Gesichtsausdruck.
»Es ist also wahr«, murmelt sie.
Dean nahm sie kameradschaftlich in die Arme. »Die Beschreibung trifft auf Nan zu«, sagte er leise, »aber es kann sich trotzdem um eine Verwechslung handeln. Das Mädchen ist ertrunken und hatte keinerlei Papier bei sich.«
»Und was ist mit Nans VW-Bus? Sie hatte ihre Töpferwaren doch überall mit dabei.«
Dean zuckte die Schultern. »Die Polizei weiß überhaupt nichts. Nur, daß ein Mädchen ertrunken ist, das niemand kennt. Du mußt hinfahren, Janice, auch wenn es dir schwer fällt.«
»Wie soll ich das machen? Morgen ist das Konzert in der Schule. Man wird das Mädchen beerdigt haben, bevor ich in Natasca ankomme. Wie weit ist es überhaupt bis dorthin?«
»Etwa siebenhundert Meilen«, schätzte Dean, »in zwei Tagen kannst du es schaffen. Du fährst am besten sofort nach dem Konzert los. Ich werde bei der Polizei in Natasca noch einmal anrufen, daß du kommst. Den Beamten liegt natürlich viel daran, daß die Tote identifiziert wird. Ich werde dich auch solange vertreten, bis du wieder zurück bist.«
»Danke, Dean«, sagte Janice leise. »Du hast wahrscheinlich recht. Ich sollte fahren. Ich hätte hier sonst keine ruhige Minute mehr.«
Dean nickte. »Fahr mit deinem Auto. Ich kenne ja deine Angst vorm Fliegen. Aber sei vorsichtig. Dieser Brief ist mir nicht ganz geheuer. Nicht, daß du dich in Gefahr begibst.«
Janice lächelte etwas verzerrt. »Ich bin sechsundzwanzig und kein kleines Kind mehr. Ich kann schon auf mich aufpassen.« Sie zögerte sekundenlang, dann fügte sie hinzu: »Hoffentlich stellt sich wirklich alles als ein Irrtum heraus.«
Dean drückte ihre Hand. »Mach dir vorläufig nicht zu große Sorgen. Wie ist es, hast du noch Lust, zum Essen zu gehen?«
Janice zögerte, dann nickte sie und griff nach ihrer Tasche. Ein paar Stunden in Deans Gesellschaft würden ihr guttun. Hinterher würde sie ohnehin wieder mit ihren Gedanken allein sein.
*
Die lange Fahrt zermürbte Janice. Es dauerte zwei Tage, bis sie endlich in Natasca ankam. Schon von weitem sah sie das Polizeischild an einem Gebäude in der Hauptstraße. Janice parkte ihren Wagen direkt davor und stieg mit bang klopfendem Herzen aus. Am liebsten wäre sie auf der Stelle wieder zurückgefahren. Würde sie ertragen können, was die nächsten Minuten für sie brachten?
Mit weichen Knien betrat Janice die Polizeistation. Kurz schilderte sie dem Polizeibeamten alles Wesentliche und bat dann, die Tote sehen zu dürfen.
»Sie liegt im städtischen Leichenschauhaus von New Orleans«, erklärte der Beamte mitfühlend, »wenn Sie wollen, fahre ich Sie hin.«
Unterwegs erfuhr Janice, daß das Mädchen in einem toten Seitenarm des Mississippi, der an das Grundstück einer Familie namens Keremeos grenzte, von einem Angler ertrunken aufgefunden worden war.
»Es konnten keine Anzeichen eines Verbrechens festgestellt werden«, fügte der Beamte hinzu. »Leider hatte das Mädchen, wie so viele andere junge Leute auch, keinerlei Ausweispapiere bei sich.«
Janice schüttelte den Kopf. »Das paßt nicht zu meiner Schwester. Sie war immer sehr gewissenhaft, auch wenn sie nicht gerade in bürgerlichen Kreisen verkehrte. Außerdem hatte Nan ihren VW-Bus bei sich. Sie ist eine erfolgreiche Töpferin und verkaufte ihre Sachen hauptsächlich auf Fairs. Wenn sie unterwegs war, schlief sie immer in ihrem Auto, um Hotelkosten zu sparen.«
Der Beamte horchte auf.
»Einen VW-Bus, sagen Sie? Interessant! Aber das können Sie später zu Protokoll geben. Es steht ja noch gar nicht fest, ob die Tote tatsächlich Ihre Schwester ist.«
Doch eine halbe Stunde später hatte Janice die Gewißheit. Fassungslos starrte sie in das bleiche Gesicht ihrer Schwester. Es gab keinen Zweifel – die Tote war Nan!
Der Polizeibeamte mußte Janice stützen, als sie das Gebäude wieder verließen. Mit tränenüberströmtem Gesicht sank die junge Frau ins Auto.
»Sie sollten sich am besten gleich mit einem Bestattungsinstitut in Verbindung setzen«, schlug der Beamte vor.
»Ich kann es einfach nicht fassen«, stammelte Janice, »wie kann meine Schwester ertrunken sein? Sie war doch eine hervorragende Schwimmerin!«
»Solche Bayous sind manchmal sehr tückisch mit ihren vielen Schlingpflanzen«, erklärte der Beamte.
Janice schwieg. Der Schmerz überwältigte sie fast. Aber sie mußte versuchen, einen klaren Kopf zu bewahren und sich vor allem um die Beerdigung kümmern.
Sie verbrachte den ganzen Nachmittag damit, die notwendigen Formalitäten zu erledigen. Nan und Janice hatten keinen Verwandten mehr. Ihre Eltern waren schon seit Jahren tot. Wehmütig dachte Janice daran, daß sie nun ganz allein war und niemanden mehr hatte, der zu ihre gehörte. Nach einer schmerzhaften Enttäuschung gab es auch keinen Mann mehr in Janices Leben. Dean war nur ein netter Kollege, mit dem sie manchmal zum Essen ging und mit dem sie Schulprobleme besprach.
Janice hatte sich entschlossen, ihre Schwester auf dem kleinen Friedhof von Natasca beisetzen zu lassen. Für eine Überführung nach Kansas City besaß sie nicht genug Geld, und New Orleans schien ihr auch nicht der passende Ort für Nans letzte Ruhestätte zu sein. Nan hatte große Industriestädte nicht ausstehen können. Was immer sie auch in diesen abgelegenen Ort in der Nähe des Mississippi-Deltas geführt haben mochte – es war für sie vielleicht wichtig gewesen. Deshalb sollte sie auch hier beerdigt werden.
Als Janice endlich alles erledigt hatte, war es schon fast Abend. Ihr kam zum Bewußtsein, daß sie seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte. Sie verspürte zwar keinen Appetit, aber es war vernünftiger, wenn sie jetzt etwas zu sich nähm. Sie würde ihre Kräfte noch brauchen.
Kurzentschlossen steuerte sie auf ein Hamburger-Restaurant zu und setzte sich dann mit ihrem Tablett an einen der winzigen Tische.
»Sind Sie auf Besuch hier?« erklang plötzlich eine Stimme vom Nebentisch. Der ältere Mann war bisher hinter seiner Zeitung verborgen gewesen.
»So kann man es nennen«, erwiderte Janice abweisend. Sie hatte keine Lust, sich mit einem neugierigen alten Mann zu unterhalten.
»Soso.« Das verwitterte Gesicht mit den Bartstoppeln verschwand wieder hinter der Zeitung. Janice aß zu Ende und trank dann eine Tasse Kaffee. Lange konnte sie sich hier nicht mehr aufhalten. Sie mußte zusehen, daß sie ein Zimmer für die Nacht bekam. Morgen war Nans Beerdigung. Sie wollte auch noch Dean anrufen, sie mußte ihn bitten, sie noch ein paar Tage länger zu vertreten.
»Haben Sie schon von dem jungen Mädchen gehört, das hier in der Nähe ertrunken ist?« fragte der alte Mann auf einmal und reichte Janice die Zeitung. »Eine traurige Geschichte. Hier, lesen Sie selbst.«
Janice schloß sekundenlang die Augen, nachdem sie verschwommen das Bild ihrer Schwester erkannt hatte. Sie wollte die Zeitung von sich schieben, aber dann griff sie doch danach. Es interessierte sie plötzlich, was die Presse über den Fall zu berichten hatte.
Aber der Artikel war nicht sehr aufschlußreich. Lediglich das Bild ihrer toten Schwester war abgedruckt mit der Frage, ob jemand dieses Mädchen gekannt hatte. Dazu kam ein kurzer Vermerk, wie sie ums Leben gekommen war.
Wortlos gab Janice die Zeitung zurück. Ein Kloß in der Kehle hinderte sie daran, etwas zu sagen. Aber was hätte sie auch sagen sollen? Daß sie die Schwester der Toten war? Was ging es den Alten an? Sie wollte kein Aufsehen erregen.
»Ich finde es merkwürdig, daß das Mädchen ausgerechnet in jenem Bayou ertrunken ist, der in das Grundstück der Familie Keremeos hineinragt«, meinte der Mann mit einem seltsamen Unterton.
Unwillkürlich hob Janice den Kopf und sah ihn an. »Wie meinen Sie das?« fragte sie mit spröder Stimme.
Ein schlauer Ausdruck trat in die wässrigblauen Augen des Alten.
»Ich will ja nichts gesagt haben, Miß. Aber angeblich hat das Mädchen niemand gekannt, nicht einmal vorher gesehen. Ist es etwa vom Himmel gefallen und direkt in den Bayou geplumpst? Nee, nee, ich glaube, an der ganzen Sache stimmt was nicht.«
Janice mußte plötzlich an den anonymen Brief denken. Lebte der Absender in Natasca? Gehörte er zur Familie Keremeos?
»Was sind das für Leute? Ich meine, diese Familie Keremeos?« Für Janice war es auf einmal sehr wichtig, etwas darüber zu erfahren. Sie konnte den Tod ihrer Schwester schließlich nicht so ohne weiters hinnehmen.
Ein prüfender Blick traf sie. »Das sind stinkreiche Leute griechischer Abstammung«, erklärte der Alte. »Riesige Baumwollplantagen gehören ihnen und eine tolle Villa. Ich will ja niemanden schlecht machen, aber trotzdem – hüten Sie sich vor diesen Leuten.«
Der alte Mann stand abrupt auf, nahm seine Zeitung auf und den verbeulten Hut. »Habe mal wieder zu viel gequasselt«, meinte er mit einem leicht verlegenen Blick auf Janice, »vergessen Sie es und leben Sie wohl, Miß.« Mit diesen Worten schlurfte er hinaus.
Janice starrte ihm stirnrunzelnd nach. Dann stand sie ebenfalls auf und holte sich noch eine Tasse Kaffee. Auf ein paar Minuten mehr oder weniger kommt es jetzt auch nicht an, dachte sie, als sie sich noch eine Zigarette anzündete.
Dann grübelte sie über die Worte des alten Mannes nach.
Was hatte Nan auf dem Grundstück dieser griechischen Familie zu suchen gehabt? fragte sie sich. Warum hatte sie da niemand gesehen? Warum hatte niemand das Mädchen identifizieren können? Oder wollte jemand ein Verbrechen vertuschen? Und welchen Grund hatte der Alte, zu glauben, daß mit dem Tod des fremden Mädchens etwas nicht stimme? Janice wünschte sich jetzt, daß sie sich mit dem alten Mann länger hätte unterhalten können und daß sie ihm gesagt hätte, daß sie die Schwester der ertrunkenen Fremden war. Vielleicht hätte sie dann noch etwas Wichtiges erfahren. Aber dazu war es nun zu spät.
Janice trank ihren Kaffee aus und ging hinaus. Draußen war es bereits dunkel und empfindlich kühl. Die bunten Neonreklamen wirkten häßlich und trostlos auf sie. Auf der Straße war fast kein Mensch zu sehen. Janice fühlte sich so einsam und verlassen wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Sie war den Tränen nahe, als sie in ihr Auto stieg und langsam aus dem Ort hinausfuhr. Auf der Straße nach New Orleans hatte sie ein kleines Motel entdeckt, das einen recht netten Eindruck gemacht hatte. Hier wollte sie über Nacht bleiben, wenn noch ein Zimmer frei war.
Janice hatte Glück. Eine mütterliche ältere Frau zeigte ihr ein bescheidenes, aber sehr sauberes Zimmer. Als Janice zum Fenster ging, sah sie auf den Mississippi, dessen Wasseroberfläche im Mondlicht silbern glänzte. Dahinter erhoben sich dunkle Büsche.
Janice wandte sich seufzend ab. Wieviel Freude hätte sie unter anderen Umständen an dieser kleinen Reise haben können! Sie duschte und zog einen braunen Hosenrock mit Bolero im Western-Stil an. Dann ging sie hinunter, um Dean anzurufen und ihm Nans Tod mitzuteilen. Nach dem Telefongespräch bestellte Janice sich im Lokal ein Glas Wein.
Die freundliche Wirtin blieb an ihrem Tisch stehen, nachdem sie Janice den Wein gebracht hatte.
»Sie sind nicht aus dieser Gegend, das merke ich an Ihrem Akzent«, meinte sie mit einem Lächeln. »Machen Sie Urlaub hier?«