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Der zwölfjährige Jan Bartels verweigert die ihm zugeschriebene Rolle, die er als nichteheliches Kind Ende der 1960er-Jahre im Dorf hat. Er wehrt sich gegen die religiös motivierte Gewalt des Lehrers und kämpft gegen die Schikanen der Dorfjungen. Doch Petra, die neu zugezogene Mitschülerin, hält zu ihm. Dies setzt Entwicklungen in Gang, die Jan und auch seine Mutter zwingen, ihr Leben neu zu betrachten. 'Denn welchen der Herr liebhat' ist ein bewegender Roman, der von religiösen und gesellschaftlichen Vorurteilen und der Willkür gegenüber nichtehelich geborenen Kindern Ende der 1960er-Jahre erzählt.
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Seitenzahl: 289
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Hannah Borngardt lebte in den 1960er Jahren in einem kleinen Dorf. Eindrücke aus dieser Zeit sind in den Roman eingeflossen.
Für meine Großmutter Maria
»Denn welchen der Herr liebhat, den züchtigt er, und er straft einen jeglichen Sohn, den er aufnimmt. Gott erzieht euch, wenn ihr dulden müsst! Als seinen Kindern begegnet euch Gott; denn wo ist ein Sohn, den der Vater nicht züchtigt? Seid ihr aber ohne Züchtigung, welche sie alle erfahren haben, so seid ihr Ausgestoßene und nicht Kinder.« (Hebräer 12, 6-8)
1 Die Züchtigung
2 Trost
3 Die Neue
4 Sorgen
5 Das Abendmahl
6 Ärger
7 Erntedank
8 Orgelklänge
9 Die Predigt
10 Feuer des Zorns
11 Schwere Wege
12 Nacht voller Sterne
13 Das Angebot
14 Das staunende Herz
15 Beschimpfungen
16 Unbehagen
17 Weidmannsheil
18 Sonnenstrahlen
19 Die Warnung
20 Zarte Melodien
21 Wenn es dunkel ist
22 Sturm
23 Verborgen
24 Unterschiede
25 Opfergaben
26 Die Jagdgesellschaft
27 Kind der Liebe
28 Der Überfall
29 Familienrat
30 Vergeltung
31 Abgefangen
32 Protest
33 Unversöhnlich
34 Verbündete
35 Die alte Ziegelei
36 Gesetz des Schweigens
37 Der strafende Gott
38 Der Jäger
39 Adventskaffee
40 Kämpfe
41 Ernüchterung
42 Der tiefe Wald
43 Ehrenwort
44 Auge um Auge
45 Die Geburtstagsparty
46 Feuer
47 Zahn um Zahn
48 Abgeholt
49 Weggesperrt
50 Am Tag und in der Nacht
51 Blutsbrüder
52 Hilfe
53 Die Beichte
54 Aus dunklem Schoß
55 In Freiheit
56 Brandmal um Brandmal
57 Wunde um Wunde
58 Frühling
59 Entfesselt
60 Der Streit
61 Verwirrung
62 Vorbereitungen
63 Das Feuerwehrfest
64 Abrechnung
65 Der Schwur
66 »Wer seinen Bruder liebt«
67 Die Überprüfung
68 Fremde
69 Zeugnisse
70 Stille
71 Der Himmel so blau
»Jan Fünf, Christian Drei«, entschied der Lehrer Karl Richter.
Jan Bartels schnellte empor. Sein Stuhl kippte. »Warum? Ich habe das Gleiche gesagt wie Christian!« Er schaute seine Mitschüler an. »Ihr habt es doch gehört!«
Ein zaghaftes Raunen erhob sich.
»Was richtig oder falsch ist, entscheide ich!«, brüllte Herr Richter. »Komm her!«
Jan strich sich seine weißblonden Haare aus der Stirn und ging langsam nach vorn. Er holte aus der Ecke neben der aufgerollten Landkarte die Holzbank und stellte sie vor den Lehrertisch.
»Leg dich rüber«, befahl der Lehrer.
Zögernd legte sich Jan über die Bank.
Herr Richter lockerte seine Krawatte, ergriff den Stock, der neben der Tafel stand, und wandte sich an alle Schüler: »Ich sage, was richtig oder falsch ist.«
Jegliches Flüstern verstummte sofort. Jan hörte nur noch seinen eigenen Atem. Neununddreißig Augenpaare schauten ihn entsetzt, ängstlich oder schadenfroh an.
Die Kante der Holzbank drückte auf Jans Brustkorb. Er konzentrierte sich auf den Schmerz, den die Bank verursachte, wollte sich mit ihm vor dem Kommenden wappnen wie mit einem Verbündeten vor dem bevorstehenden Kampf.
Jan traf der erste Schlag. Für einen Moment hielt er den Atem an, kniff die Augen zusammen und biss sich auf die Lippen. Nur nicht schreien, sonst machen sich die Jungs über mich lustig, schoss es ihm durch den Kopf.
»Ich werde dir deine Frechheit noch austreiben«, rief Herr Richter und schlug zu. »Dir Gehorsam beibringen!« Er prügelte weiter.
Jan presste sich Schutz suchend an die Bank, als könnte er dadurch den Schlägen ausweichen.
»Dich zu einem Christen erziehen!«, rief Herr Richter und schlug wieder zu. Dann hörte er auf. Er schnaufte zwei-, dreimal, schließlich atmete er gleichmäßig und sagte: »Steh auf.«
Jan stellte sich aufrecht hin, entschlossen, keine Miene zu verziehen. Sein Blick fiel auf Petra Schaper. Sie lebte erst ein paar Wochen in Hagenfelde und ging seit Beginn des Schuljahres in seine Klasse. In ihren Augen standen Tränen.
Jan straffte Nacken und Schultern. Herr Richter befahl ihm, die Bank zurückzustellen und sich auf seinen Platz zu setzen. Die geballte Faust in der Hosentasche versteckt, ging er am Lehrer vorbei. Er war gerade zwölf Jahre alt geworden und ebenso groß wie Herr Richter.
Christian Kolbe feixte schadenfroh, als Jan zu seinem Platz ging.
»Willst du auch eine Tracht Prügel?«, drohte Herr Richter. Christian verstummte sofort.
Petra putzte sich die Nase und strich verstohlen unter ihren Lidern entlang.
»Ich hoffe, das war eine Lehre für dich, Jan. Für jeden von euch«, sagte der Lehrer. Er holte ein Stofftaschentuch aus der Jackentasche, nahm seine Brille ab, wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht und rückte lächelnd seine Krawatte zurecht. Dann ging der Unterricht weiter.
Jan setzte sich auf seinen Stuhl. Er war kurz davor aufzuspringen, so sehr stachen ihn die Schmerzen. Wieder biss er sich auf die Lippen. Er konnte kaum sitzen, doch er wollte sich nicht kleinkriegen lassen. Die Schläge vom Lehrer war er gewohnt. Sie schmerzten. Schlimmer war, dass er sich nicht wehren konnte.
Er betrachtete von der letzten Reihe aus seine gedrängt vor ihm sitzenden Mitschüler. Die Schüler der ersten Klasse saßen vorn, es folgten die der zweiten, dann die der dritten. In den letzten Reihen saßen die Schüler der vierten Klasse. Es war Anfang September 1968. Das Schuljahr hatte gerade begonnen, doch die Zukunft stand für jeden Schüler bereits fest. Die Söhne der reichen Bauern würden auf die Realschule oder direkt auf das Gymnasium wechseln. Mädchen bekamen höchstens eine Realschulempfehlung. Das war schon immer so gewesen. Er wollte auf die Realschule. Aber er war kein Sohn eines reichen Bauern.
Herr Richter stellte den Stock so neben die Tafel, dass alle Schüler ihn gut sehen konnten. Mit der Furcht eingeschüchterter Herzen spielend, drohend gegen jeglichen Stolz und Übermut ließ er das Ungeheuer auf seine erneuten Befehle warten. Mädchen schlug er nicht, das war verboten. Doch die Jungen bekamen den Stock bei jedem Hauch von Ungehorsam oder den kleinsten Streichen zu spüren, und immer, wie es ihm gerade passte. Lachen kam für Herrn Richter einer Sünde gleich. Am liebsten sah er es, wenn die Schüler mit gefalteten Händen seinen Worten lauschten. Er durchschaute, ob die Unterordnung echt oder nur gespielt war. Spürte er Heuchelei, setzte es Schläge oder Kopfnüsse, je nach Laune.
Der Unterricht war beendet. Jan schnappte sich seine Tasche und eilte aus dem Klassenzimmer. Nachdem die Schüler das Schulgelände verlassen hatten, klopfte ihm Bernd Kramer, sein bester Freund, anerkennend auf die Schulter: »Wie du das wieder weggesteckt hast, ohne einen Schrei!«
»Ein Indianer kennt keinen Schmerz«, bemerkte Jan. Er log ganz gut.
Bernd, mager, etwas größer als Jan, musste die abgetragene Kleidung von seinen älteren Brüdern anziehen. Die dunkle Cordhose, die er meistens trug, reichte ihm nicht bis zu den Knöcheln.
Christian lauerte in der Nähe, umringt von ein paar Jungen. Er grinste Jan an. »Du kannst noch so viel quatschen, von dem Richter kriegst du nie gute Noten.«
»Pass bloß auf«, rief Jan, schleuderte seine Schultasche auf die Straße und stürmte auf Christian zu. Sie standen sich mit geballten Fäusten gegenüber.
»Ich poliere dir die Fresse!«, rief Christian.
»Versuch’s doch, wenn du mutig bist!« Jan ging dichter auf seinen Gegner zu.
Doch bevor Jan zuschlagen konnte, sprangen die anderen Jungen zwischen die beiden.
»Das nächste Mal pack ich dich«, drohte Jan. Er holte seine Schultasche, ging zu Bernd und fragte: »Nachher auf dem Bolzplatz?«
»Klar, wie immer«, antwortete er. »Ich habe auch Zigaretten.«
Jan klingelte bei Lilly Marzin, seiner Patentante, die mit seiner Mutter schon vor seiner Geburt befreundet gewesen war.
Tante Lilly öffnete die Tür. Sie schloss Jan sofort in die Arme. Diese Geborgenheit bändigte den Orkan, der in ihm tobte. Er beruhigte sich wie die misshandelte See, wenn der Sturm sich legt.
»Jetzt essen wir erst mal«, ordnete die rundliche vierzigjährige Lilly an und streichelte Jans Wange. Er war für sie wie ein Sohn.
Ein paar graue Strähnen durchzogen ihre rotblonden Haare. Ihre grünen Augen betrachteten Menschen und Umgebung mit freundlicher Aufmerksamkeit. Sie kleidete sich stets schick, verließ nie ohne Mantel, Hut und Lippenstift das Haus. Immer umhüllte sie der zarte Duft eines Parfüms, passend zur Jahreszeit und vor allem Ausdruck ihrer Stimmung.
Sie arbeitete bei Adamski, im größten Geschäft des Dorfes. Der Laden war nicht nur Umschlagplatz von Lebensmitteln, Hausrat und Zeitschriften, sondern auch von Klatsch und Tratsch. Dort hielten die Frauen aus Hagenfelde gern ein Schwätzchen. Sie erzählten sich die neusten Ereignisse, streuten Gerüchte, verrieten Geheimnisse, die ausgeschmückt den Laden durchwehten und sich wie Lauffeuer verbreiteten. So wusste Lilly über alles, was im Dorf und in seiner Umgebung geschah, genauestens Bescheid – auch darüber, dass Jan heute vom Lehrer verprügelt worden war.
Jan schob die Schultasche unter den Küchentisch. Rechts neben der Tür kochten in einem Topf auf dem gusseisernen Herd die Kartoffeln. Lilly nahm ein Brikett aus der Schublade unter dem Herd und schob es zusammen mit einem Stück Holz in die Brennkammer des Ofens.
»Hol mal die Teller«, bat sie.
Jan ging zu dem riesigen Küchenschrank aus Kirschholz. Mit den Glasfensterchen, vielen Schubladen und Türchen wirkte er sehr geheimnisvoll. Hinter einem Fensterchen steckte ein Foto von Lilly mit ihrem Sohn Robert, der seine Schultüte auf dem Arm hielt. Hinter einem weiteren Glasfensterchen zeigte ein Foto Jan als Baby auf dem Arm seiner Mutter.
Jan holte zwei Teller aus dem Schrank und stellte sie auf den Tisch.
»In ein paar Minuten können wir essen, mein Junge.« Sie schenkte ihm ihr liebevollstes Lächeln. »Erzähl«, sagte sie.
»Herr Richter hat das Einmaleins abgefragt. Du weißt, dass ich gut Kopfrechnen kann. Ich habe die richtige Lösung vor Christian herausgerufen. Aber der Richter hat ihn drangenommen. Christian hat das Gleiche gesagt wie ich. Er hat eine Drei bekommen, ich eine Fünf. Da bin ich wütend aufgesprungen.«
Lilly strich ihm sanft über die Haare. Sie spürte immer den geeigneten Zeitpunkt für Trost und Zuspruch. Jan riss sich zusammen, damit ihm keine Tränen in die Augen schossen.
»Was soll ich tun, Tante Lilly? Ich kriege die meisten Schläge. Und ständig ungerechte Zensuren.«
Lilly räumte den Tisch ab. »Du bist in der zweiten und dritten Klasse sitzengeblieben …«
»Weil der Richter mich hasst«, fiel Jan ihr ins Wort.
»Du musst mehr lernen. Und du darfst nicht so schnell aufbrausen.«
»Ich bin genauso schlau wie die anderen.«
»Das reicht nicht, mein Junge! Das reicht nicht.«
Die Häuser von Lilly und Jans Mutter Hilde Bartels grenzten direkt aneinander. In beiden Vorgärten säumten Blumenbeete die Rasenflächen. Stolze Gladiolen reckten ihre farbenfrohen Blüten in die Sonne, Büsche mit roten Rosen verströmten ihren Duft.
Jan ging kurz nach Hause, um seine Schultasche in sein Zimmer zu werfen.
Bernd wartete bereits auf dem Bolzplatz auf Jan. »Ey, der Richter war ja heute in Form.« Er holte eine Zigarettenpackung aus der Tasche und hielt sie Jan hin. Der nahm sich eine Zigarette, zündete sie an, sog den Rauch tief ein und hustete.
»Was ist denn das für ein Kraut?«
»Irgendein Zeug aus der Jacke von meinem Alten.«
»Wenn der das rauskriegt, schlägt er dich tot.«
»Na und?«
Doch in Bernds Augen sah Jan Angst. Wenn er diese Angst sah, war er froh, ohne Vater aufzuwachsen. Vielleicht würde der ihn auch ständig schlagen. Zu Hause und in der Schule – das wäre zu viel.
Jan redete nicht gern über Väter, denn er kannte seinen nicht. Wer ist mein leiblicher Vater?, fragte er sich oft. Stellte er die Frage seiner Mutter, wich sie der Antwort aus, vertröstete ihn auf später, wenn er älter sei. Später, später. Er sei ein Kind der Liebe, das ließ sie sich entlocken. Mehr erzählte sie nicht.
»Da kommen Mädchen!«, unterbrach Bernd Jans Gedanken.
»Susanne und die Neue«, stellte Jan fest und zog an der Zigarette. Er schritt langsam auf die beiden zu.
Es war noch warm. Die Mädchen hatten kurze Röcke und Kniestrümpfe an. Petras Kleidung war neu. Susanne Reichel, die in der Schule neben Petra saß, hatte den Rock mit den fast unsichtbaren Flicken an, den Rock, den sie immer trug.
Petra war eineinhalb Jahre jünger und etwas kleiner als Jan. Ihre Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. An ihren Ohrläppchen glitzerten rote Steinchen in einer goldenen Fassung, die bei jeder Bewegung hin und her schwangen. Nur wenige Frauen im Dorf trugen Ohrringe. Jans Mutter wagte es nicht, denn der Pastor verurteilte das als unchristlichen Tand.
»Seid ihr gekommen, um zu rauchen?«, fragte Jan.
Petra schüttelte den Kopf. »Ich wollte dir nur sagen, dass Herr Richter ungerecht war. Außerdem darf er dich nicht schlagen.«
Jan betrachtete sie lange, zog an seiner Zigarette und erinnerte sich an ihre Tränen. »Das interessiert hier keinen«, sagte er.
»Ihr verschwindet besser. Geht Gummitwist spielen«, drängelte sich Bernd dazwischen.
»Habe ich dir doch gesagt. Hier ist es anders als da, wo du herkommst«, meinte Susanne zu Petra. »Lass uns gehen.«
Petra nickte.
Nachdem die Mädchen den Bolzplatz verlassen hatten, äffte Bernd Petra nach: »Ach nee, ›der Lehrer war ungerecht‹! Ist doch sowieso scheißegal.«
»Es ist nicht scheißegal«, entgegnete Jan. »Ich will gerecht behandelt werden. Und ich will kein Melker werden wie dein Vater.«
»Immerhin habe ich einen.«
Jan schaute ihn prüfend an. »Dann lieber keinen«, antwortete er und zog an der Zigarette.
Bernd grinste. »Die Neue interessiert sich für dich.«
»Blödsinn.«
»Warum kommt sie sonst extra her?«
»Du willst wohl, dass sie wegen dir herkommt.«
»Die hat fast geheult, als der Richter dich verprügelt hat.«
»Dann leg du dich doch über die Bank. Vielleicht heult sie auch für dich.«
»Bestimmt nicht«, sagte Bernd. Er hatte Petra in der Schule genau beobachtet. Sie hatte Jan angesehen, wie sie ihn nie ansehen würde, da war er sich sicher.
Jans Mutter kam um die Ecke. »Ich muss los«, sagte er, versteckte die Zigarette hastig hinter dem Handgelenk und flüsterte: »Zu schade zum Wegwerfen«, reichte sie dem Freund, steckte sich schnell einen Kaugummi in den Mund und lief seiner Mutter entgegen.
Hilde Bartels stellte ihre Einkaufstasche ab und schloss die Haustür auf. »Was hast du wieder ausgefressen?«, fragte sie.
Jan zuckte mit den Schultern. »Nichts!« Er trug die Einkaufstasche in die Küche, stellte die Milch in den Kühlschrank und legte das Brot in das Brotfach im Schrank.
»Wenn das mit dir so weitergeht, kommt die Fürsorge.«
»Ich habe wirklich nichts getan«, beteuerte Jan. »Der Richter hasst mich.«
»Er verprügelt dich nicht ohne Grund. Du hast nur Blödsinn im Kopf, treibst dich ständig rum, anstatt zu lernen«, prasselte das Schimpfgewitter auf ihn nieder. »Jan, das ist kein Spaß. Der Lehrer wird bei der Fürsorge anrufen und erzählen, dass ich nicht mit dir fertigwerde. Dann kommst du ins Heim.«
Schweigend deckte Hilde den Abendbrottisch. Wie sollte es nur weitergehen? Jan war inzwischen in einem Alter, in dem ihr die Kontrolle über ihn immer mehr entglitt.
Kurz nachdem Hilde und Jan das Abendbrot beendet hatten, klingelte es. Hilde ließ Lilly herein. Sie gingen ins Wohnzimmer. Unter dem Fenster flossen Blumen in Hülle und Fülle wie ein grüner Wasserfall die drei Stufen der Blumenbank hinab. Rechts neben dem Sofa stand auf einem Beistelltisch ein neuer Plattenspieler.
»Geht es dir besser, mein Junge?«, wollte Lilly wissen.
»Ich muss nicht zum Arzt«, antwortete Jan lachend.
Hilde schüttelte den Kopf und schaute Hilfe suchend zu Lilly: »Was soll ich nur mit ihm machen?«
»Wieso mit mir?«, stieß Jan hervor. »Du meinst wohl mit dem Richter!«
»Jan, wir haben schon so oft darüber gesprochen. Du bist zu unbeherrscht. Und wenn du wirklich auf die Realschule willst, musst du mehr lernen«, sagte seine Mutter.
»Hilde, das Lernen allein ist nicht genug. Das weißt du«, warf Lilly ein. Sie betrachtete Hilde, die ihr wie eine Schwester war.
Weißblonde schulterlange Haare umrahmten Hildes ebenmäßiges Gesicht. Mit ihren sechsunddreißig Jahren stand sie in der Blüte ihrer Schönheit. Sie war groß, schlank und so strahlend schön, dass jeder sie ansah.
Hilde empfand ihr Aussehen als Segen und Fluch zugleich. Frauen verfolgten sie oft mit galligem Neid und hässlichen Unterstellungen. Die Männer begehrten sie, aber fürchteten sich vor Zurückweisung. Da sie Verehrer abwies, hieß es hinter ihrem Rücken, sie sei stolz. So fühlte sie sich an manchen Tagen einsam, flüchtete sich in den Traum von der einzigen großen Liebe und schloss ihr Innerstes in diese Welt ein.
Hilde war auch ehrgeizig und zielstrebig. Nach dem Krieg waren sie und ihre Mutter aus Ostpreußen vertrieben und Hagenfelde zugewiesen worden. Sie hatten ihr gesamtes Hab und Gut verloren. Aber ihre Mutter gab ihr den eisernen Willen zum Erfolg und zur Bildung mit. »Bildung kann dir keiner nehmen«, hatte sie immer gesagt. Hilde erzog Jan nach diesem Grundsatz. Er sollte in der Schule lernen, um einen Beruf ergreifen zu können, der ihm gesellschaftlichen Aufstieg ermöglichte. Sie glaubte, ihn mit Strenge gegen die Grausamkeiten abzuhärten, die ihm das Leben zufügen würde.
»Was soll ich tun, Lilly?«, fragte Hilde noch einmal. »Mit dem Richter reden, damit er ihm eine Chance gibt, ihn gerecht benotet?«
Jan sprang auf. »Mit ihm reden? Das bringt nichts! Bei ihm haben nur die Söhne der Großbauern eine Chance. Oder hat etwa Bernd eine? Oder hatte Robert die?«
»Nein, die hatte Robert nicht«, räumte Lilly ein. Oft war ihr Sohn vom Lehrer benachteiligt worden. »Ich denke«, sagte sie zu Hilde, »der Richter handelt aus religiöser Überzeugung.«
»Was redest du? Hältst du das für eine Erklärung? Wer die Seinen liebt, der züchtig sie, gibt ihnen grundsätzlich schlechte Noten?« Hilde schaute auf ihre Hände. »Was hat der eigentlich im Krieg gemacht?«
Lilly zuckte mit den Schultern. »Ein Nazi war er wohl nicht.«
»Ich habe Angst, sie nehmen mir Jan weg.«
»Es wird sich eine Lösung finden«, sagte Lilly, wandte sich dann zu Jan und sah ihn durchdringend an. »Du musst mehr lernen, da führt trotz allem kein Weg dran vorbei. Aber vor allem musst du deine Wut beherrschen.«
Jan nickte. »Ich werde so viel lernen, dass der Richter mir gute Noten geben muss. Ich verspreche es euch.«
Lilly erkundigte sich nach Petras Vater, der seit ein paar Wochen als Geschäftsführer in der Ziegelei arbeitete.
Hilde, die dort im Büro beschäftigt war, sagte: »Herr Schaper besitzt den modernen Geist, der in den Großstädten herrscht. Vielleicht werden die Hagenfelder offener, moderner.«
»Flower-Power hier? Wer’s glaubt«, meinte Lilly.
Die Frauen lachten.
Die Standuhr schlug. Es war achtzehn Uhr. Im Sommer wie im Winter aßen Karl Richter und seine Frau Martha täglich um diese Zeit zu Abend. Das Wohnzimmer lag über dem Klassenraum. An der Wandseite, links neben der Tür, standen Regale mit Büchern. An der rechten Wand befand sich ein riesiger Eichenschrank mit kleinen Vitrinen, in denen Fotos aufgestellt waren. Vor dem Fenster glänzte das schwarze Klavier.
Karl Richter faltete die Hände, senkte den Blick und sprach das Tischgebet: »Segne, Herr, was deine Hand uns in Gnaden zugewandt. Amen.«
»Amen«, wiederholte Martha. Aus den Augenwinkeln betrachtete sie ihren Mann.
Beim Musikunterricht hatten sie sich durch Gottes Fügung kennengelernt. Die Liebe zu Gott und zur Musik hatte sie von Anfang an verbunden. Sie heirateten kurz vor Beginn des Krieges, in den Karl als Soldat ziehen musste. Sein Musikstudium konnte er nicht beenden. Ihr gemeinsamer Sohn Rudolph wurde während des Krieges geboren. Nach dem Krieg verschlug es die kleine Familie nach Hagenfelde. Doch Karl beschloss, sein Studium wieder aufzunehmen. Sie zogen in die Universitätsstadt und wohnten in einem Kellerraum. Martha erteilte Klavierunterricht, von dem sie mehr schlecht als recht lebten. Die Kälte des Winters und der Hunger trieben sie in immer größere Not. Martha wollte zurück nach Hagenfelde, aufs Land, wo es mehr zu essen und zum Heizen gab. Aber Karl wollte sein Studium abschließen. Der Hungerwinter suchte sich seine Opfer und packte sich Rudolph. Er starb im März 1947 im Alter von drei Jahren. Vom Schmerz überwältigt, gab Martha Karl die Schuld am Tod des Sohnes. Sein Ehrgeiz und seine fehlende Gottgefälligkeit seien die Ursache für Rudolphs Hinscheiden. Dann sprach sie nie wieder über den Tod des Kindes. Und sie sprach nie darüber, dass sie sich auch schuldig fühlte, weil sie vielleicht hätte gehen können, gehen müssen, während sie verzweifelt zugesehen hatte, wie ihr Söhnchen dahinschwand und sie dennoch geblieben war, als fügsame Ehefrau, die zu sein die Eltern sie früh erzogen hatten, angehalten zum Gehorsam gegenüber Gottvater, Vater und Ehemann, so, wie es in dem Buch der Bücher geschrieben stand. Später verbarg sie ihre Schuldgefühle im hintersten Winkel ihrer Seele. Aber sie wurde nie wieder schwanger. Der Schmerz darüber war ihr wie ein Stachel tief ins Herz eingedrungen und sie konnte ihn nicht entfernen. Sie versuchte schließlich, sich Gottes Willen zu fügen, der es ja wohl letztendlich war. Doch oft, wenn sie wie jetzt Karl betrachtete, erschreckten sie quälende Zweifel an Gott und Ehemann.
Karls hageres Gesicht hatte im Laufe der Jahre mehr und mehr herrische Züge angenommen. Der Mund war es gewohnt zu befehlen. In seinen Gesichtszügen vergruben sich auch Verbitterung und Strenge, Strenge gegen andere und gegen sich selbst. Die Brille mit dem schwarzen Gestell betonte seine düstere Ausstrahlung. Seine tief liegenden Augen brannten vor Streitlust und Selbstgerechtigkeit wie glühende Kohlen, angefacht von einem verborgenen Feuer aus Leid und Schmerz.
Das Pendel der Uhr schwang hin und her. Tack, tack. Gelegentlich unterbrach Marthas Suppenlöffel den gleichmäßigen Klang, wenn er unvermittelt auf dem Teller aufschlug. Ihr Erschrecken darüber versuchte sie noch in der Kehle zu unterdrücken. Denn ihr Essen hatte schweigend zu verlaufen, so, wie Karl das in seiner Familie gelernt hatte.
Karl schaute zu Martha, konnte nicht deuten, was in ihrem Blick lag. Schnell konzentrierte er sich auf das Essen. Zwar hatte er nach dem Unterricht wie immer reichlich gegessen, verspürte jedoch erneut großen Hunger. Martha bekochte und versorgte ihn gut, trotzdem nagte ständiger Hunger an ihm. Obwohl er viel aß, war er mager.
Schon als Kind hatte er unter andauerndem Hunger gelitten. Der Tisch für ihn und die fünf Geschwister war karg gedeckt, die Schüsseln selten voll gefüllt. Aber keines der sechs Kinder war so hungrig wie Karl. Eilig schlang er die knappen Portionen hinunter und wollte mehr. Die Eltern bestraften ihn. Sie meinten, sein Hunger habe die Ursache in seinem unzureichenden Glauben, trotz der Gnade des HERRN, trotz der Fürsorge, die er täglich erfahre. Weil es ihm an christlicher Überzeugung mangele, zwangen sie ihn, ständig dieselben Worte aus Kapitel sechs des Matthäusevangeliums aufzusagen: »Was werden wir essen? Was werden wir trinken? Womit werden wir uns kleiden? Nach solchem allen trachten die Heiden. Denn euer himmlischer Vater weiß, dass ihr des alles bedürftet.« Die Worte halfen nicht. Weil Gier und Völlerei zu den Sünden gehörten, versuchten die Eltern, sie ihm mit Gewalt auszutreiben. Wenn er den Geschwistern Essen weggenommen hatte, schor ihm der Vater den Kopf kahl. Nachbarn, Lehrer, Mitschüler, jeder konnte sehen, dass er gesündigt hatte und seine gottlose Gier bestraft worden war. Die Eltern erzählten ihm von den Flammen der Hölle, von den unsäglichen Qualen, die auf ihn warteten, wenn er nicht wahrhaft gläubig würde. Sie versetzten seine junge Seele in Angst, riefen ihn zu wahrer Buße auf. Doch je mehr sie ihn schlugen und bestraften, desto stärker packte ihn das Verlangen nach Essen. Karl schämte sich für seinen Hunger. Fasten sollte ihn näher zu Gott bringen. So fastete und fastete er, als ginge es ihm um Selbstvernichtung. Trotz allem ließ sich sein Hunger nicht bezwingen. Warum erlöste Gott ihn nicht? War sein Glaube wirklich zu schwach? Karl meinte, Gottes zornigen Blick zu spüren, fühlte sich verachtet, verinnerlichte diesen Blick und betrachtete sich selbst voller Zorn und Geringschätzung. So war es bis heute. Einzig beim Klavier- und Orgelspiel litt er nicht an Hunger. Einzig die Musik ließ ihn zur Ruhe kommen.
»Gott, hab Dank für Speis und Trank.
Und alle Güte.
In Ewigkeit. Amen.«
»Amen«, ergänzte Martha.
Karl lehnte sich zurück und griff nach einem Buch, Martha nach der Näharbeit.
»Du hast Jan bestraft, wird im Dorf erzählt. Meinst du nicht, dass du manchmal zu streng bist?«, fragte sie vorsichtig. »Es sind doch Kinder.«
»Ich bin streng, aber gerecht. Es ist meine Pflicht, die Kinder zu gottgefälligen Menschen zu erziehen. Das gilt besonders für Jan.« Er fuhr fort: »Denn welchen der Herr liebhat, den züchtigt er. Seid ihr aber ohne Züchtigung, so seid ihr Ausgestoßene.«
Oft diskutierte er mit Martha über Erziehungsfragen. Aber ihre Einstellung war ihm zu weich. Er sah zu ihr, wie sie ihren Kopf mit den früh ergrauten Haaren über ein Stück Stoff beugte. Dass Martha nie wieder schwanger geworden war, sahen sie als Strafe Gottes an. Nur manchmal fand Karl den Mut, Gott zu fragen, ob er nicht genug gebüßt hätte. Er musste sich noch mehr anstrengen, ein guter Christ zu sein, das spürte er in seinem tiefsten Inneren. Und zu seiner Christenpflicht gehörte es, andere Menschen auf den richtigen Pfad zu führen und sie vor dem Zugriff des Teufels zu retten.
Vor allem den formbaren Kindern galt seine Aufmerksamkeit, vaterlosen Jungen wie Jan. Diese brauchten eine harte Hand, denn sie waren aufgrund ihrer unchristlichen, unehelichen Geburt gefährdet. Das Fehlverhalten der Mutter, die Verkörperung von Evas Sünde, übertrug sich auf das Kind. Durch die Sünde der Mutter war der Junge bereits von Gott getrennt. Züchtigung war der einzige Weg, ihn von einem Ausgestoßenen zu einem Kind Gottes zu machen. Doch Jan zeigte sich undankbar ob der schweren Aufgabe, die er an ihm erfüllte, war rebellisch und verstockt. Ein Junge aus der untersten Schicht der Dorfgesellschaft maßte sich an, auf die Realschule zu wechseln und noch mehr zu wollen. Wie Ikarus, der entgegen dem Rat des Vaters übermütig zur Sonne flog und glaubte, sich ungestraft dem Göttlichen nähern zu können. Er hatte bislang alle Schüler zurechtgestutzt, so wie man wild wuchernde Bäume und Sträucher beschnitt, wie man Unkraut aus blühenden Blumenbeeten herausriss und vernichtete. Nur bei Jan hatte er die Todsünde des Hochmuts noch nicht ausgemerzt. Hatte nicht die göttliche Sonne das Wachs von Ikarus’ Flügeln aufgeweicht, sodass er in den Tod stürzte? Er würde sich Jan noch gründlicher vornehmen. Das war seine Christenpflicht.
Es war der erste Samstag im Oktober. Jan vertrieb sich die Zeit auf dem Bolzplatz. Er saß auf dem Geländer und schaukelte mit den Beinen. Neben ihm genossen Bernd und Hanna Landau, Roberts Freundin, das schöne Wetter.
Hannas platinblond gefärbte Haare bildeten einen krassen Gegensatz zu ihren dunklen Augen. Begeistert von den Hippies, spürte sie schmerzhaft, wie weit Hagenfelde von dieser Kultur entfernt war. Der Minirock konnte ihr nicht kurz genug sein, um im Dorf zu provozieren. Ihre Worte konnten ihr nicht frech genug sein, um ihre Unzufriedenheit auszudrücken. Immer häufiger wurde ihr bewusst, dass sie in diesem Dorf keine Zukunft hatte.
Genüsslich zogen die drei an ihren Zigaretten. Hannas rot lackierte Nägel leuchteten.
In diesem Moment kamen Herr und Frau Richter am Bolzplatz entlang. Der Lehrer erblickte Jan und stoppte abrupt.
»Vorsicht«, warnte Jan die anderen leise.
Der Lehrer stürzte auf sie zu. »Ihr dürft nicht rauchen, hört sofort auf damit!«, rief er.
»Sie können gern mal ziehen«, meinte Hanna, näherte sich Herrn Richter und zog dabei langsam ihren Pullover so weit hinunter, dass die Ränder ihres BHs hervorblitzten. Sie grinste.
»Hast du kein Schamgefühl?«, fuhr Herr Richter sie an.
Hanna lachte und warf den Kopf nach hinten. Ihre Locken wirbelten durcheinander.
»Du bist durch und durch verdorben, eine Schande für das Dorf«, legte der Lehrer nach.
Jan sprang vom Geländer. »Lassen Sie Hanna in Ruhe!«
»Mach deine Zigarette aus, du bist zu jung zum Rauchen«, befahl der Lehrer.
Bernd stellte sich neben Jan. »Wir sind nicht in der Schule. Hier haben Sie nichts zu sagen.«
»Ich habe überall etwas zu sagen!«, schrie Herr Richter. Sein Gesicht lief rot an. Er kam Jan immer näher.
»Nichts haben Sie hier zu sagen«, entgegnete Jan. Er blies dem Lehrer langsam Rauch ins Gesicht.
Herr Richter wollte Jan die Zigarette aus der Hand schlagen. Bernd stieß den Lehrer mit der Schulter an. Der wankte leicht.
»Gehen Sie!«, rief Bernd.
»Ja, lassen Sie uns in Ruhe«, bekräftigte Jan. Er blies Herrn Richter erneut Rauch ins Gesicht.
Der Lehrer hob den Arm und holte zum Schlag aus.
»Karl!«, rief seine Frau. »Karl!«, schrie sie lauter und verzweifelter und griff ihm in den Arm, mit dem er zuschlagen wollte. Er hielt inne und es schien, als wache er auf.
»Wir sprechen uns … Wir sprechen uns«, presste der Lehrer hervor. Mit bebenden Lippen holte er tief Luft, und über die erlittene Demütigung drang ein inneres Aufschluchzen nach außen, das seinen Körper unwillkürlich erzittern ließ.
Am frühen Abend klingelte es bei Jan und seiner Mutter. Es war Lilly. Sie sah Jan einen Moment durchdringend an, sagte: »Es gibt Ärger«, und kam ins Haus.
Jan lief die Treppe hinauf, wollte in sein Zimmer.
»Du bleibst hier«, befahl Lilly und sagte zu Hilde, die aus dem Wohnzimmer kam: »Herr Richter hat sich bei von Bernegold über Jan beschwert. Jan würde rauchen und sei schlecht erzogen.«
»Bei von Bernegold?«, fragte Hilde erschrocken.
»Danach soll der den Pastor angerufen haben, mehr weiß ich nicht.«
Hilde schaute zu Jan. »Du rauchst? Woher hast du das Geld für Zigaretten?«
»Holzenbeck gibt mir manchmal was.«
Das Gesicht seiner Mutter verdunkelte sich. »Warum bekommst du vom Müllermeister Geld? Wenn du dort ein Stück Kuchen isst, ist das in Ordnung. Du kannst ihm auch mal helfen, das schadet dir nicht. Aber von Geld war keine Rede. Die Leute werden denken, ich schicke dich arbeiten, obwohl du deine Schularbeiten machen solltest. Wenn das die Fürsorge erfährt! Für die ist das nur ein weiterer Grund, mir vorzuwerfen, ich könnte dich nicht erziehen. Du gehst zu Holzenbeck und sagst, ich möchte nicht, dass du dort weiter arbeitest. Und jetzt auf dein Zimmer«, sagte Hilde.
In der Nacht offenbarte Jans Seele, was sein Bewusstsein am Tag nicht zugelassen hatte. Er träumte von einem Mädchen mit weißblonden Haaren, das rote Ohrringe und eine Brille mit schwarzem Rand trug. Das Mädchen blies ihm Rauch ins Gesicht. Der Rauch verwandelte sich in eine Feuerwalze, die auf ihn zurollte. Er stand in Flammen. »Ich will nicht sterben!«, schrie er und wachte schweißgebadet auf.
»Du kommst mit«, bestimmte seine Mutter am nächsten Morgen, »keine Widerrede.«
Jan zog sich eine Stoffhose und ein Hemd an. Die Hose hieß »neue Hose«, obwohl er sie bereits seit zwei Jahren nur zum Kirchgang trug. Sie war ihm etwas kurz geworden, genau wie das »neue Hemd«. Seine Mutter und Tante Lilly kleideten sich, wie alle Frauen im Dorf, abwechslungsreicher. Mal ein neuer Hut, mal ein noch nie getragenes Tuch. Dabei achteten sie darauf, die Grenze zwischen angemessenem Sonntagsstaat zu sündigem Putz nicht zu überschreiten. Die Sonntagskleidung der Männer und Jungen bestand dagegen aus den immer gleichen Hosen, Hemden und Jacken.
Jan putzte seine Schuhe und kämmte sich die Haare. Er schüttelte sich, wie um seinen Widerwillen loszuwerden. Der lag nicht nur an der Kleidung.
Lilly trug einen schwarzen Mantel und einen schwarzen Hut. Das Rot ihrer geschminkten Lippen harmonierte perfekt mit ihren rötlichen Haaren. Sie duftete nach einem leichten Parfüm.
»Benimm dich, deiner Mutter zuliebe«, raunte sie ihm zu. Jan fand die Bemerkung überflüssig, aber er schwieg.
Einige Dorfbewohner trugen Körbe mit Obst, Gemüse, Kuchen und Broten. Andere zogen mit Ährengebinden und Blumen geschmückte Holzwagen hinter sich her. Die Großbauern fuhren mit dekorierten Traktoren und Anhängern zur Kirche. Heute war Erntedank.
Die Kirchglocken waren bereits verstummt und der Küster war dabei, die große schwere Tür zu schließen, als Jan, Hilde und Lilly die Kirche erreichten. Mit einem Stirnrunzeln ließ er sie hinein. Sie fanden in der letzten Bankreihe freie Plätze.
Hilde drückte Jan ein Gesangbuch in die Hände und flüsterte: »Keine Dummheiten.«
Während sie sich setzte, begegneten sich ihre und Siegfried Ritter von Bernegolds Blicke. Hilde wandte sich schnell ab.
Siegfried von Bernegold seufzte. Hilde hatte ihn, wenn auch nur für einen Moment wahrgenommen. Allein dafür hatte sich sein heutiger Kirchgang gelohnt.
Von Bernegold war sechzig Jahre alt, hochgewachsen und muskulös, das mittelblonde Haar noch voll. Er war der einzige Großgrundbesitzer und der größte Arbeitgeber in Hagenfelde und Umgebung. Nach dem Krieg hatten die Amerikaner sein Gut beschlagnahmt. Seine Familie musste in das Gärtnerhaus ziehen. Das Gutshaus stellten die Amerikaner osteuropäischen Zwangsarbeitern als Sammellager zur Verfügung. Die Zwangsarbeiter zerstörten in Wut und Hass, was sich ihnen darbot, und terrorisierten die Bewohner von Hagenfelde. Von Bernegolds Ehefrau fiel eines Nachts diesem Albtraum zum Opfer und starb an den Folgen. Er trauerte lange.
Die Briten, die nach den Amerikanern Hagenfelde besetzt hatten, ließen sich damit Zeit, die ehemaligen Zwangsarbeiter in ihre Heimatländer zurückzuschicken. Ende der Vierzigerjahre durfte Siegfrieds Familie zurück auf den Gutshof, denn im Westen Deutschlands gab es keine Bodenreform, keine Enteignung des Adels und keine Abschaffung der Patronate. Siegfried suchte sich eine neue Frau und fand Therese, eine wohlhabende Bürgerliche. Doch nach kurzer Zeit langweilte sich Therese. Sie reiste oft zu ihrer Cousine nach Berlin. Ihr zweitgeborener Sohn hatte keine Ähnlichkeit mit Siegfried und er ließ sich scheiden. Danach verlor er jegliche moralischen Bedenken und nutzte die Notlagen von Frauen aus. Und es gab einige, die seine Hilfe benötigten.
Von Bernegold besaß noch immer das Kirchenpatronat und der Kirchgang gehörte zu seinen öffentlichen Pflichten. Der Hirte für die Schafherde, die beherrschbar sein musste. »Halt du sie dumm, ich halt sie arm.« Für diese Aufgabenteilung zwischen der Kirche und sich hatte er Pastor Meyer vor dreißig Jahren ausgewählt.
Siegfried war NSDAP-Mitglied gewesen, aber ohne Sympathie. Er beherrschte den Gemeinderat und beeinflusste den NSDAP-Ortsvorsteher. Erfolgreich wehrte er sich dagegen, dass auf dem Gutshof und vor der Kirche Hakenkreuzfahnen wehten. Und er ließ sich nicht das jahrhundertealte Recht nehmen, den Pfarrer zu präsentieren. 1938 schlug er dem evangelischen Oberkirchenamt Johannes Meyer als neuen Pfarrer vor. Der gehörte wie er zur Bekennenden Kirche, die sich gegen die vom NS-Staat gebildeten »Deutschen Christen« gegründet hatte. Meyer hatte sich geweigert, den von den Kirchenleitungen ab dem Frühjahr 1938 geforderten Treueeid auf Hitler abzulegen. Im Konfirmandenunterricht wetterte er gegen das neue Heidentum und die Vergötzung des Staates. Er wurde denunziert, verprügelt und verhaftet. Das brachte ihm Siegfrieds Anerkennung ein. Der setzte sich mithilfe eines einflussreichen Jagdfreundes, der in der Kirchenbehörde arbeitete, gegen die Leitung des Oberkirchenamtes durch und holte Meyer nach Hagenfelde. Siegfried zahlte als Kirchenpatron den Unterhalt für den Pastor und genoss es, dass im Pfarrhaus jemand saß, der ihm Dankbarkeit schuldete. So gehörte Johannes Meyer zu seinem weitverzweigten Netz aus Menschen, die ihm Gefälligkeiten schuldeten. Wenn der Zeitpunkt gekommen war, forderte Siegfried die Gegenleistung ein.
Darüber hinaus bedeutete Siegfried ein harmonischer Dreiklang zwischen Kirche, Patronat und Schule viel. Daher nahm er 1951 Einfluss auf die Einstellung des Lehrers. Der Regierungspräsident, dem die Schulbehörde unterstand, war ebenfalls ein Jagdfreund von ihm. Mit dessen Unterstützung hatte er auch hier seinen Wunschkandidaten durchgesetzt: Karl Richter, streng religiös und überzeugt von Disziplin und Ordnung.
Siegfried lächelte zufrieden in sich hinein.