Der Achte Tag 2 - Dianne K. Salerni - E-Book

Der Achte Tag 2 E-Book

Dianne K. Salerni

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Beschreibung

Die Fortsetzung von "Der Achte Tag" ist ein Fantasy-Abenteuer mit höherem Einsatz, größerem Weltenaufbau und mehr pulsierender Action. Mit Spannung, Gefahr und neuen Entdeckungen hinter jeder Ecke ist diese rasante Fantasy-Reihe, von der Kirkus Reviews begeistert ist, eine aufregende Mischung aus "modernen Intrigen und altertümlicher Magie", eine willkommene Ergänzung für Fans von Percy Jackson und Harry Potter. Nach einer heftigen Schlacht in Mexiko sind Jax, Riley und Evangeline untergetaucht. Noch immer sind abtrünnige Wechsler und böswillige Sippenfürsten auf der Jagd nach Riley, einem Nachfahren von König Artus, und Evangeline, einer mächtigen Zauberin mit Blutlinien zu Merlin, um die Kontrolle über den Achten Tag zu erlangen. Als Finn Ambrose, ein mysteriöser Fremder, mit Jax Kontakt aufnimmt und behauptet, sein Onkel zu sein, werden Jax' Zweifel immer stärker - vor allem, als er erfährt, dass Ambrose Jax' besten Freund Billy als Geisel festhält. Um Billy zu retten und Riley und Evangeline aus der Sache herauszuhalten, macht sich Jax auf eigene Faust nach New York City auf. Doch dort angekommen, wird er mit einer unerwarteten und unangenehmen Wahrheit konfrontiert …

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Der Tunnel führte über den Korridor und in einen anderen Raum. Jax’ Herz schlug schneller. Darin befanden sich ein Bett, ein Waschbecken und eine Toilette. Das war eine Zelle.

Die Anwesenheit einer Emrys konnte er nicht spüren, doch es war durchaus denkbar, dass die Magie im Tunnel seine Vasallenbindung blockierte. Als er die Wand abtastete, glitten seine Finger in ein weiteres Loch.

Kaum hatte er den Kopf hindurchgesteckt, da wurde er auch schon an den Haaren gepackt und mit roher Gewalt hindurchgezogen.

Jax blickte in ein Gesicht, von dem er gehofft hatte, es nie mehr wiedersehen zu müssen.

 

foliant Verlag1. Auflage: 2024

Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem TitelTHE INQUISITOR‘S MARK by Dianne SalerniCopyright © 2014 by Dianne SalerniPublished by HarperCollins Publishers L.L.C..Published by arrangement with Pippin Properties, Inc. through Rights People, London.

Die Rechte an der Nutzung der deutschen Übersetzung von Kerstin Fricke liegen beim foliant verlag, Hegelstr.12, 74199 Untergruppenbach

Umschlaggestaltung: © Hilden-Design, München, 2023

Übersetzung: Kerstin FrickeLektorat: Mona GabrielSatz: Kreativstudio foliant

ISBN 978-3-910522-39-8E-Book Ausgabe

www.foliantverlag.de

Für meine Schwester Laurie,die meine ersten Entwürfe liestund sie tatsächlich gut findet.

Inhalt

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Dank

Der Achte Tag - Der Fluch der Morrigan

Jax Aubreys Handy klingelte mindestens einmal am Tag, und es rief stets dieselbe Nummer an. Nur eine einzige Person meldete sich bei ihm und wollte wissen, wo er steckte, was mit ihm passiert war und wann er zurückkäme.

Ich komme nicht mehr zurück.

Jax hatte keine Ahnung, wie er das Billy Ramirez beibringen sollte. Obwohl Billy das inzwischen eigentlich längst begriffen haben müsste – erst recht, wenn er bei Jax’ und Rileys früherem Haus durch die Fenster gespäht und herausgefunden hatte, dass sich ihre Habseligkeiten längst nicht mehr dort befanden.

Die Gewissheit, dass sich jemand für ihn interessierte, fühlte sich gut an. Als Billy Jax vor drei Wochen zum letzten Mal gesehen hatte, war Jax in einem Leichenwagen weggefahren. Nachdem Jax sein Handy wiederbekommen hatte, das ihm an jenem Abend abgenommen worden war, hatte er darauf eine lange Liste an Anrufen und besorgten Nachrichten vorgefunden.

Doch Riley hatte ihm hinsichtlich seines Handys genaue Anweisungen erteilt. »Nimm keinen Kontakt zu deinem Freund auf. Wie hieß er doch gleich? Billy.«

»Aber ich muss ihn doch wissen lassen, dass es mir gut geht«, protestierte Jax. »Nach allem, was er gesehen hat …«

»Tut mir leid«, fiel Riley ihm ins Wort. »Es suchen einfach zu viele Leute nach Evangeline.«

Jax fügte sich. Es war allein seine Schuld, dass der verrückte Sippenfürst Wylit Evangeline Emrys entführt hatte. Allein durch seine Dummheit hätten sie beide fast ihr Leben verloren, zusammen mit Millionen normaler Menschen, die nicht die geringste Ahnung hatten, dass die Bewohner eines geheimen achten Tages die Zerstörung der normalen Siebentagewoche planten.

Daher widersprach Jax Riley nicht. Trotzdem schickte er eine Nachricht ab. Zumindest das war er seinem Freund schuldig.

 

Jax: geht mir gut keine sorge

Billy: wo bist du denn?

 

Jax antwortete nicht.

Es war ebenso Jax’ Schuld, dass Melinda Farrows Haus abgebrannt war. Jax wäre beinahe wie ein Mädchen in Tränen ausgebrochen, als er sich bei seiner Magielehrerin entschuldigt hatte, die all seine Sachen aus Rileys altem Haus in ihr neues Versteck in den Bergen von Pennsylvania gebracht hatte. Er fühlte sich sogar noch schuldiger, weil die jüngsten Ereignisse, bei denen Melissa beinahe ihre Familie verloren hätte, sie derart erschüttert hatten, dass sie nicht länger Rileys Vasallin sein wollte. Nachdem Riley sie von ihrem magischen Gelübde der Pendragon-Familie gegenüber entbunden hatte, war Jax ganz schwer ums Herz geworden.

Jax hatte Evangeline die Treue geschworen, daher wusste er, wie stark die Verbindung zwischen einem Lehnsherrn und seinem Vasallen war. Zwar hatte Jax dieses Gelübde aus der Not heraus abgelegt, doch jetzt existierte dieses Band zwischen ihm und Evangeline nun einmal und er konnte sich nicht vorstellen, es je wieder zu durchtrennen.

Daher war Jax sehr traurig, dass Melinda Rileys Clan verließ, der ohnehin schon bedauernswert klein war. Riley hatte keine Familie mehr und nur die drei Crandalls als Vasallen – plus Jax, dessen Vormundschaft er übernommen hatte. Auf gewisse Weise war dieser kleine Clan selbst so etwas wie eine Familie, und da Jax keine nahen Angehörigen mehr hatte, war er froh, dass er dazugehörte.

Dennoch wurde es in dem Haus, das Mr Crandall für sie gefunden hatte, ziemlich eng. Die Hütte mit zwei Schlafzimmern am Rand eines Skigebiets bot nicht gerade viel Platz für fünf Personen, nicht zu vergessen die sechste Person, die nur an einem von acht Tagen anwesend war.

Aus diesem Grund hatten sie Evangeline in einem Raum einquartieren müssen, der eigentlich nur ein großer Schrank unter der Treppe war. »Genau wie Harry Potter«, meinte sie, als sie ihn zum ersten Mal sah.

Riley zuckte zusammen. »Tut mir echt leid. Vielleicht können wir ja …«

»Nein, das ist schon in Ordnung. War nur Spaß«, sagte sie rasch, als fürchtete sie, ihn beleidigt zu haben. Nachdem sie jahrelang allein als »Geist« des achten Tages im Haus einer alten Frau gelebt hatte, musste es beunruhigend sein, mit fünf nahezu Fremden auf derart engem Raum zusammenzuleben. In Evangelines zerrissener Zeitlinie war sie noch vor wenigen Minuten in einem Auto durch Mexiko gefahren, während es für alle anderen bereits eine Woche her war. Der abrupte Ortswechsel schien sie zu verwirren. »Ich brauche nur einen Platz zum Schlafen«, sagte sie. »Es ist ja nicht so, als würde ich etwas anderes als die Kleidung, die ich trage, besitzen.« Kleidung, die sie in Mexiko von einer Wäscheleine stibitzt hatten – natürlich nicht, ohne Geld dafür zu hinterlassen.

»Ich habe dir Kleidung zum Wechseln gekauft«, versicherte Mrs Crandall ihr.

Evangeline blieb den ganzen Tag über dicht an Jax’ Seite. Er konnte es ihr nicht verdenken. Mr und Mrs Crandall waren groß und einschüchternd – sie hatten beide den Körperbau eines Panzers. Ihr Sohn A.J. war ebenso groß, allerdings ziemlich trottelig, doch Evangeline war die Gesellschaft so vieler Menschen einfach nicht gewohnt. Jax war der erste Freund, den sie hatte, seitdem sie als Kind mit Gewalt von ihrer Familie getrennt worden war. In Rileys Gegenwart verhielt sie sich außerdem ein bisschen schüchtern, auch wenn offensichtlich war, dass sie ihn sehr gern hatte, und Riley hatte seine Zuneigung zu ihr auch nicht zu verbergen versucht.

Aber es blieb keine Zeit, um so viele Leute besser kennenzulernen. Evangeline würde gerade mal vierundzwanzig Stunden in ihrer Nähe bleiben, bevor sie erneut für eine Woche verschwand, und sie mussten Pläne schmieden.

»Die Dulac-Clansleute, die an der Pyramide aufgetaucht sind, halten dich für tot«, teilte Riley ihr mit. »Aber der achte Tag besteht weiterhin, daher ist offensichtlich, dass es noch einen Emrys-Erben gibt, der den Zauber aufrechterhält. Es ist allseits bekannt, dass dein Vater drei Kinder hatte – und die Dulacs wissen ebenfalls, dass eines davor vor Jahren gestorben ist.«

Er sagte das so taktvoll, wie er nur konnte, aber Evangeline kämpfte dennoch gegen die Tränen an. Ihr kleiner Bruder war durch Wylits Hand ums Leben gekommen - der verrückte Sippenfürst, der auch sie entführt hatte.

»Da nur noch ein Emrys-Erbe übrig ist – jedenfalls soweit sie wissen –, werden die Dulacs nach deiner Schwester suchen, um weitere Versuche der Sippe, den Zauber zu verändern, zu vereiteln«, fuhr Riley fort. »Und das, was sie als ›Schutzhaft‹ bezeichnen, wird in Wirklichkeit Knechtschaft sein. Sie werden sie benutzen. Sollte sie auch nur ansatzweise so stark sein, wie du es auf der Pyramide gewesen bist, werden sie ihre Magie für ihre eigenen Zwecke einsetzen.«

Evangeline nickte ernst. Sie war daran gewöhnt, von skrupellosen Leuten ausgenutzt zu werden – von Wechslern ebenso wie Sippenmitgliedern. Jax fand, dass sie mit einer schrecklichen Last leben musste: Sie war ein Schlüssel des Achter-Tag-Zaubers, der die gefährliche Sippe in einer alternativen Zeitlinie einsperrte. In mancherlei Hinsicht konnte man Evangeline und ihre Schwester als die beiden wichtigsten Personen auf dem ganzen Planeten ansehen, und Jax fühlte sich als einziger Vasall der Emrys-Familie der Aufgabe, die beiden zu beschützen, nicht einmal ansatzweise gewachsen. Zu seinem Glück konnte er sich auf Rileys Hilfe verlassen.

»Wir müssen Adelina finden, bevor sie es tun«, sagte Evangeline. »Weißt du, wo sie sich versteckt?«

»Nein, aber ich kenne jemanden, der es weiß, und diese Leute kann ich finden«, erwiderte Riley.

»Die Taliesins«, mutmaßte Evangeline, und Riley nickte.

»Wenn du einverstanden bist«, fuhr er fort, »dann können wir nächste Woche loslegen – was für dich morgen wäre. Sobald wir sie gefunden haben, verlassen wir unser Versteck. Du und deine Schwester. Und ich.«

»Wie meinst du das?«, schaltete sich Mr Crandall ein.

»Ich bin es leid, mich zu verstecken.« Riley sah Mr Crandall direkt in die Augen. »Insbesondere vor Ursula Dulac. Sobald wir Evangelines Schwester gefunden haben, beanspruche ich meinen Platz an der Tafel.«

Mr Crandall und A.J. tauschten besorgte Blicke. Ursula Dulac war die Anführerin des Dulac-Wechslerclans und eine mächtige und korrupte Frau, die ihre Magie nur zur persönlichen Bereicherung einsetzte. Sie hatte Rileys Familie ermorden lassen, weil die Pendragons an der Tafel, dem Rat der Wechslerfürsten, die von den Rittern der Tafelrunde abstammten, zu großen Einfluss ausgeübt hatten. Rileys Vater hatte ihre Versuche, normale Politiker zu beeinflussen und zwielichtige Geschäfte zu tätigen, mehrfach unterbunden. Als Reaktion darauf hatte Ursula nicht nur alles darangesetzt, ihn zu beseitigen, damit er ihren Plänen nicht länger im Weg stand, sondern sogar versucht, seine ganze Familie auszulöschen. Bisher wusste sie nicht, dass ein Pendragon überlebt hatte, daher machte den Crandalls die Aussicht darauf, sie könnte es herausfinden, solche Sorgen. Aber Jax fragte sich nun, warum Mrs Crandall ihn und nicht etwa Riley derart beunruhigt anschaute.

»Ich bin mit allem einverstanden, wenn ich dadurch meine Schwester wiedersehe«, erklärte Evangeline.

»Euch ist hoffentlich klar, dass ihr euch beide damit in große Gefahr begebt«, merkte Mr Crandall mit grimmiger Miene an. »Ihr geratet ins Visier aller, die euch ausschalten«, er musterte Riley, »oder als Faustpfand benutzen wollen.« Dann wandte er sich an Evangeline.

»Ich bin daran gewöhnt, dass andere versuchen, mich auszunutzen«, erwiderte Evangeline schlicht.

»Und ich habe nicht die Absicht, zu einem einfachen Ziel zu werden«, sagte Riley und beendete damit die Diskussion.

Evangeline bot an, den Crandalls in der Zwischenzeit zu zeigen, wie man das Haus vor Feinden schützen konnte, die auf der Suche nach ihnen waren. »Ich könnte das selbst tun«, sagte sie, »aber ich glaube, Ihr Talent eignet sich für diese Art des Schutzes besser als meines.«

»Wir stehen zu Diensten«, erklärte Mr Crandall. Er war ebenso wie A.J. ein Künstler, und mit seinem Talent ließ sich Magie in Handwerkskunst übertragen. A.J.s Spezialität waren Tattoos, und Jax hatte gehört, dass Mr Crandall ein Händchen für die Herstellung von Ehrenklingen besaß. Er stellte sie von Grund auf her. Mit einer Schmiede.

Der achte Tag verging damit, dass sie Pläne für den nächsten Grunstag schmiedeten und am Schutz der Hütte arbeiteten. Evangeline verschwand Schlag Mitternacht, so wie immer. Während ihrer Abwesenheit langweilte sich Jax. Melinda hatte ihm sein Fahrrad mitgebracht, und das Juniwetter war kühl und angenehm, doch die nächste Stadt lag über fünfzehn Kilometer entfernt und konnte als größte Attraktion lediglich mit einem Einkaufszentrum und einem Fast-Food-Restaurant aufwarten. Dazwischen gab es nichts als Wald, Läden für Angel- und Skibedarf sowie Läden, in denen beides verkauft wurde, und eine heruntergekommene Bushaltestelle an einem Gemischtwarenladen. Der Fernseher in der Hütte konnte nur die lokalen Sender empfangen. Zwar hatte er dank Melinda nun auch wieder seinen Computer, konnte ihn jedoch nirgends anschließen. Riley hatte ihnen einen Kabel- und Internetanschluss bestellt, der jedoch noch nicht installiert worden war.

Mr Crandall war ganz für mehr Fernsehsender, sprach sich jedoch gegen den Internetzugang aus, den er als Sicherheitsrisiko ansah.

»Jax soll seinen Computer nutzen können«, entschied Riley. »Er hat seine Lektion gelernt.«

Inzwischen wusste Riley, dass sich Jax in einem Onlineforum für Wechsler angemeldet hatte, das eine Falle war, woraufhin er von einem Bankräuber entführt und von einer Diebesbande gerettet wurde, was dazu führte, dass man Evangelines Versteck entdeckt hatte …

Jax hatte seine Lektion in der Tat gelernt. Doch Billys Nachrichten wurden immer flehender. Kurz nachdem Jax am Samstag einen Anruf weggedrückt hatte, kam folgende SMS:

 

Billy: hab ich was falsch gemacht?

 

Jax seufzte schwer. Er ging mit dem Handy nach draußen und entfernte sich ein Stück von der Hütte, wo er sich gegen einen Baum gelehnt auf den Boden setzte. Was konnte denn schlimmstenfalls passieren? Das war bloß Billy.

 

Jax: du hast gar nichts falsch gemacht

Billy: wo bist du

Jax: am arsch der welt

Billy: hast du ärger mit dem gesetz?

 

Jax lachte laut los. Was sollte er denn darauf antworten? Nein, ich verstecke mich nur vor mordlustigen Wechslern und bösen Sippenmitgliedern. Wer das ist? Na ja, die Sippe ist ein uraltes Volk von Zauberern, zu denen einige echt üble Gestalten gehören, die zur Zeit von König Artus versucht haben, die Weltherrschaft zu übernehmen. Um sie zu besiegen, haben König Artus und seine Verbündeten alle Sippenmitglieder in einem geheimen achten Tag eingesperrt, und die Nachfahren der Leute, die diesen Zauber gewirkt haben, wurden zu Wechslern, die nicht nur an den normalen sieben Tagen, sondern auch an einem zusätzlichen achten leben. Nein, ich hab mir nicht den Kopf angestoßen, danke der Nachfrage. Je länger Jax darüber nachdachte, desto mehr ging er davon aus, dass Billy ihm das alles sogar glauben würde. Sein Freund liebte einfach alles, was mit Science-Fiction und Fantasy zu tun hatte.

Er stand auf, steckte das Handy weg und antwortete nicht auf Billys letzte Frage. Sollte seine Fantasie doch Überstunden machen. Dann hatte er wenigstens etwas zu tun.

Als er gerade auf die Vordertür der Hütte zuging, hörte er Mrs Crandalls Stimme durch ein offenes Fenster. »Du hättest ihn dazu überreden müssen, das Angebot anzunehmen«, sagte sie gerade. »Du hättest darauf bestehen müssen, dass Evangeline ihn freigibt.«

Rasch schlich Jax an die Hüttenwand, wo man ihn nicht sehen konnte.

»Es steht mir nicht zu, mich in das Verhältnis zwischen einem Vasallen und seiner Lehnsherrin einzumischen«, erwiderte Riley.

»Aber du bist sein Vormund. Du hast seinem Vater versprochen, ihn zu dieser Naomi zurückzuschicken, sobald er alles weiß, was er zum Überleben braucht – und dazu gehört nicht, dass er den Eid als Vasall der Emrys-Familie ablegt. Diese Position ist für jeden gefährlich und erst recht für einen dreizehnjährigen Jungen.«

Jax hielt den Atem an und wartete darauf, dass Riley so etwas entgegnete wie: Aber Jax ist klug, mutig und talentiert. Er schafft das schon.

Stattdessen sagte Riley: »Hast du nicht bemerkt, dass Evangeline kaum von Jax’ Seite weicht? Er ist der Einzige von uns, den sie näher kennt. Wir brauchen ihn, bis sie sich an den Rest von uns gewöhnt hat. Aber du hast recht. Im Herbst muss er gehen. Er sollte sowieso längst wieder in einer Schule angemeldet sein.«

»Früher«, beharrte Mrs Crandall. »Früher wäre besser.«

Jax rutschte nach unten, bis er auf dem Boden saß, und fühlte sich, als hätte er einen Tritt in die Magengrube bekommen. Anscheinend bin ich doch kein echtes Mitglied von Rileys Clan.

Der Fahrstuhl blieb immer ruckartig stehen, doch wenn er in den Keller fuhr, kam noch ein zusätzlicher Knall dazu, als wollte er einem vermitteln: Tiefer geht‘s nicht mehr.

Dorian Ambrose war schon immer der Ansicht gewesen, dass der Keller seines Apartmenthauses mit den feuchten gemauerten Wänden und dem fluoreszierenden Licht den perfekten Schauplatz für einen Horrorfilm abgeben würde. Sein Vater drückte das Metallgitter des Fahrstuhls auf, und Dorian spähte in den Korridor mit den geschlossenen Türen. Er wusste, was sich hinter einigen davon abspielte, weil er sich gelegentlich schon verbotenerweise hier unten herumgetrieben hatte, aber heute würde er eine offizielle Einführung erhalten.

»Zwölf ist alt genug«, hatte Dad an diesem Nachmittag erklärt. »Es wird Zeit, dass Dorian an einer Gefangenenbefragung teilnimmt.« Mom hatte erst gezögert, dann jedoch widerstrebend zugestimmt, dass es als Teil seiner Ausbildung notwendig war. Schließlich war Dorian genau wie sein Vater Inquisitor. Wenn er Fragen stellte, blieb den Leuten nichts anderes übrig, als sie zu beantworten. Aber ein Inquisitor im Dienst von Ursula Dulac musste noch mehr machen.

Wozu Keller mit gemauerten Wänden, verriegelte Räume … und Gefangene gehörten.

Dorian schluckte schwer.

Ihre Schritte hallten dumpf vom Betonboden wider. Dorians Vater sah ihn nicht an und versuchte auch nicht, ihn zu beruhigen. Dad war beschäftigt – wie Mom es immer ausdrückte. Oder mit den Worten von Dorians Schwester Lesley: »Dad hat Clangeheimnisse.«

Sein Vater hatte auch einen guten Grund, der ihn jetzt beschäftigte. Vor zweieinhalb Wochen war der Nachthimmel wie ein Ei aufgerissen, und jeder Wechsler auf dem Planeten hatte sofort gewusst, dass irgendjemand irgendwo am Achter-Tag-Zauber herumpfuschte. Die Schüler in der Bradley-Privatschule sprachen seitdem über kaum etwas anderes und versuchten, Dorian und die anderen Mitglieder seines Clans dazu zu bringen, ihnen mehr darüber zu verraten. Alle gingen davon aus, dass die Dulacs nicht nur einfach herumstehen und sich fragen würden, was passiert war, sondern handelten.

Doch Dorian konnte ihnen gar nichts sagen. Er hatte viel herumgeschnüffelt und die Ohren gespitzt in dem Versuch, etwas über das herauszufinden, was auf der Pyramide in Mexiko passiert war, jedoch ohne Erfolg. Aber jetzt hatte sein Clan einen Zeugen gefangen genommen und Dorian war zu seiner eigenen Überraschung aufgefordert worden, am Verhör teilzunehmen.

Das Licht flackerte, als sie das Ende des Korridors erreichten. Wäre dies ein Film, würde hinter der nächsten Ecke ein Axtmörder mit Ledermaske auf sie warten. Stattdessen standen da nur seine Cousine Sloane Dulac und ein Wachmann.

Sloane tippte auf ihrem Handy herum, als sie näherkamen, und sah genervt auf die Uhr, um ihnen zu verstehen zu geben, dass sie schon eine Weile hier wartete.

Dad schien sich nicht um Sloanes Missfallen zu scheren. Er bedeutete dem Wachmann, die Tür aufzuschließen, während Sloane ihr Handy in die Tasche ihres Schulblazers steckte. Sie musste direkt von der Bradley hergekommen sein und hatte offenbar keine Zeit mehr zum Umziehen gehabt. Seit Sloanes achtzehntem Geburtstag übertrug man ihr zunehmend mehr Clanangelegenheiten. Was nicht etwa daran lag, dass Großtante Ursula zu alt wurde, um das selbst zu erledigen. Niemand käme auch nur auf die Idee, so etwas zu denken. Ursula bereitete ihre Enkelin nur auf alles vor, was sie als nächstes Clanoberhaupt erwartete.

Der Wachmann ging als Vorsichtsmaßnahme als Erster hinein, gefolgt von Sloane und Dad. Dorian bildete das Schlusslicht und hielt sich dicht hinter seinem Vater. Dad warf ihm einen verärgerten Blick zu. »Du musst nicht nervös werden, Dorian.«

»Bin ich auch nicht«, protestierte er, was jedoch als armseliges Krächzen herauskam und Sloane ein Grinsen entlockte.

Der Gefangene war auf einen Stuhl gefesselt. Der große, bullige Mann mit dem struppigen blonden Haar schien sich auf Dorian stürzen zu wollen, sobald er ihn bemerkte. Dorian zuckte zusammen, doch einen Augenblick später kniff der Mann verwirrt die Augen zusammen und konzentrierte sich auf Dorians Vater.

»Ich gebe Ihnen die Möglichkeit, meine Fragen bereitwillig zu beantworten«, sagte Dad.

»Sind Sie der Inquisitor der Dulacs?« Der Gefangene schnaubte. »Legen Sie nur los. Ich habe Ihnen nichts zu sagen.«

Dorians Vater nickte. »Ich bin mir Ihrer Resistenz gegen magische Einflüsse bewusst.« Er holte eine Spritze aus der Tasche seines Jacketts. »Aber selbst Normale halten es für nötig, Verbrecher zu befragen, und sie tun das sogar ohne irgendeine Form von Magie.«

Dorian wandte den Blick ab. Dieser Mann besaß angeblich einen Dickschädel, der ihn immun gegen die Talente der Ambroses und Dulacs machte. Das war sein Talent: Er konnte nicht auf magische Weise manipuliert werden. Die Spritze war demzufolge notwendig, dennoch konnte Dorian nicht hinsehen.

Während Dad die Injektion in den Arm vornahm, raunte Sloane Dorian zu: »Er hat ganz allein zehn unserer Männer abgewehrt, damit die Frauen und Kinder seines Clans entkommen konnten. Und das war, nachdem er uns in Mexiko entwischen konnte und wir ihn über eine Woche lang quer durch das Land verfolgt haben.«

In ihrer Stimme schwangen zu gleichen Teilen Bewunderung und Überlegenheit mit, als wäre der Mann ein gefährliches wildes Tier, das sie nur mit Glück hatten fangen können. »Wow«, erwiderte Dorian und tat beeindruckt. Er fragte sich, was aus den Frauen und Kindern geworden wäre, wenn man sie ebenfalls erwischt hätte. Würde man sie dann jetzt ebenfalls auf Stühlen gefesselt im Keller festhalten und mit Spritzen quälen? Hätte Dorian auch dabei zusehen müssen?

Genau das werde ich eines Tages für Tante Ursula tun müssen – und später für Sloane. Dorian würde seinen Eid als Vasall erst mit sechzehn ablegen, doch von diesem Moment an würde er mit Leib und Seele seinen Dulac-Verwandten gehören. In letzter Zeit beunruhigte ihn diese Vorstellung immer mehr.

Nun wirkte der Gefangene verwirrt und benommen und wackelte mit dem Kopf hin und her.

»Wie heißen Sie?«, fragte Dorians Vater.

»Angus.«

»Angus Balin?«, hakte Dad nach. »Vasall des Sippenfürsten Wylit?«

Der Gefangene riss die Augen auf. »Mein Lord ist tot!« Er versuchte aufzustehen und schien vergessen zu haben, dass er an den Stuhl gefesselt war.

Dad schnippte vor der Nase des Gefangenen mit den Fingern. »Sind Sie ein Vasall der Sippenfamilie Wylit?«, wiederholte er seine Frage, weil er die Wahrheit aus seinem Mund hören wollte, obwohl sie die Antwort längst kannten.

»Ja!« Balin atmete schwer. »Die Erben meines Lords sind in Europa. Ich muss zu ihnen gelangen.«

Dad schüttelte angewidert den Kopf. Dorian war sich nicht sicher, ob es an der Vorstellung lag, irgendein Wechsler mit einem Hauch von Selbstachtung könnte einem Mitglied der Sippe den Treueeid schwören, oder weil die Verhördroge den Mann derart durchdrehen ließ. Hätten sie ihr Inquisitionstalent einsetzen können, wäre alles viel einfacher gewesen.

Jetzt packte Dad Balins Kinn, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. »Erzählen Sie mir von der Emrys-Erbin, die Wylit genutzt hat, um den Achter-Tag-Zauber zu manipulieren. Wer war es?«

»Ein Mädchen von etwa sechzehn Jahren.«

»Und sie steckte mit Wylit unter einer Decke?«

»Nein, wir hatten sie und ihren Vasallen gefangen genommen.« Balin starrte ihn wütend an. »Ich musste fast eine Woche lang den Babysitter für den Jungen spielen. Was für eine Zeitverschwendung. Dabei hätte ich an den Pyramiden Wache halten sollen. Ich hätte dort besser aufgepasst und verhindern können …«

»Hat das Emrys-Mädchen überlebt?«, fiel Dad ihm ins Wort.

Einige Augenblicke lang blinzelte Balin träge und schien zu überlegen. »Vermutlich schon«, antwortete er schließlich verstimmt. »Irgendjemand hat den Zauber repariert. Das kann nur sie gewesen sein. Pendragon hätte das niemals alleine geschafft.«

Sloane runzelte die Stirn. »Bist du sicher, dass diese Droge funktioniert, Finn? Die Pendragons sind doch alle tot.«

Balin drehte den wackligen Kopf zu ihr um. »Dann wisst ihr wohl doch nicht alles, was?« Er fing an, wie ein Verrückter zu lachen.

Dad schlug ihm ins Gesicht, damit er damit aufhörte. Dorian zuckte zusammen, aber sein Vater sprach mit emotionsloser Stimme weiter. »Hielt sich ein Pendragon an der Pyramide auf?«

»Ich habe sein Zeichen mit eigenen Augen gesehen.« Balin grinste mit gebleckten Zähnen.

»Beschreiben Sie ihn mir.«

»Jung – vielleicht achtzehn. Tattoos an beiden Armen.«

»Woher kam er?«

»Vom selben Ort, an dem auch das Emrys-Mädchen lebte. Und dieser Junge.« Erneut fiel Balins Blick auf Dorian, der verunsichert einen Schritt zur Seite machte, sodass er hinter dem Wachmann stand.

Wieso sieht mich dieser Kerl ständig an?

Dad wandte sich an Sloane. »Wenn es noch einen lebenden Pendragon gibt, dann weiß der Morgan-Clan offensichtlich davon. Sie haben den Angriff auf die Pyramide koordiniert. Und Deidre Morgan hat mir persönlich versichert, dass das Emrys-Mädchen tot ist. Ich habe schon damals vermutet, dass sie lügt, konnte aber nichts machen.« Nun klang er verärgert. Kein Inquisitor konnte es leiden, wenn man ihn anlog.

»Du musst dir deswegen keine Vorwürfe machen«, versicherte Sloane ihm. »Wenn du deine Magie gegen Deidre eingesetzt hättest, wäre das ein Verstoß gegen Großmutters Waffenstillstand mit den Morgans gewesen.«

Da keiner mehr auf ihn achtete, schimpfte Balin derweil über den Emrys-Vasallen. »Ich hab meinem Bruder gleich gesagt, dass er den Jungen umlegen soll. Er war ein ebenso lausiger Inquisitor, wie ihr es seid. Bei mir hat seine Magie natürlich nicht funktioniert, aber …«

Bei diesen Worten merkte Dad auf. »Das Mädchen hatte einen Inquisitor als Vasallen? Einen Wechsler?«

»Ja. Aubrey. Ich dachte schon, du wärst er, als ihr reingekommen seid.« Balin zeigte mit dem Kinn in Dorians Richtung. »Ich war drauf und dran, dir den Hals umzudrehen. Aber du siehst nur so aus wie er.«

Dorian starrte seinen Vater an. »Ich habe noch nie von einer Wechslerfamilie namens Aubrey gehört.«

»Es gibt auch keine Familie. Nur den Jungen.« Die Droge hatte den Gefangenen nun ganz in ihrem Griff, der völlig weggetreten war. »Es gab mal einen Vater, aber der ist tot. Rayne Aubrey war ebenso wertlos wie sein Sohn.«

»Rayne?«, wiederholte Dad. »Der Vater des Jungen hieß Rayne? Und er war Inquisitor?«

»Rayne Aubrey. Er hat meinen Lord Wylit betrogen, und das hat ihn das Leben gekostet.«

Dorian drehte sich der Magen um. Dad riss sich das Jackett vom Leib und schob mit einem Ruck seinen Ärmel hoch, sodass ein Manschettenknopf quer durch den Raum flog. »Trug er dieses Zeichen?« Er hielt dem Gefangenen sein tätowiertes Handgelenk unter die Nase.

Balin fiel es sichtlich schwer, sich auf das Ambrose-Zeichen – das Auge und die Schriftrolle, die Flammen und den Raubvogel – zu konzentrieren, aber dann verhärtete sich seine Miene. »Sie sind ebenfalls ein Aubrey!«

»Eine solche Familie gibt es nicht.« Dad packte den Gefangenen am Kragen und zerrte ihn hoch, bis sich ihre Nasenspitzen beinahe berührten. »Rayne war der Name meines Bruders.«

»Finn«, fauchte Sloane gereizt. »Bleib bei der Sache.«

»Er hat eben gesagt, dass sie Rayne ermordet haben!«

Dorian starrte zu Boden und wollte nicht mitansehen, wie sein Vater durchdrehte. Das war das erste Mal seit über zwanzig Jahren, dass sie etwas über Dads verschwundenen Bruder hörten, und nun prahlte dieser Mann damit, ihn ermordet zu haben. Dorian drehte sich der Magen um.

»Aber es klingt ganz so, als hättest du einen Neffen, der noch quicklebendig ist.« Sloanes Stimme klang ganz ruhig. »Konzentrier dich lieber darauf.«

»Jax Aubrey«, sagte Balin fröhlich.

Dad umklammerte den Kragen des Gefangenen noch etwas fester und stieß zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor: »Jax Aubrey, hm? Dann wollen wir doch mal sehen, ob du dir das Recht verdienst, am Leben zu bleiben, indem du uns dabei hilfst, ihn zu finden.«

Uns hilfst, ihn zu finden? Dorian wagte es nicht, den Blick zu heben und seinen Vater oder den Gefangenen anzusehen, doch ihm schoss durch den Kopf, dass es diesem Ausreißeronkel ganz sicher nicht recht gewesen wäre, wenn der Dulac-Clan seinen Sohn in die Finger bekäme.

Jax drückte die Nase gegen das Fenster von Rileys Land Rover, als sie am Mittwoch kurz vor Mitternacht über einen Collegecampus fuhren. Trotz der späten Stunde spielten zwei Jungen auf einem Platz im Dunkeln Basketball. Ein Mädchen mit übergroßem Rucksack radelte wie wild auf der Radspur und erinnerte ihn an die Lady aus Der Zauberer von Oz, die Dorothys Hund entführt hatte.

Eine Sekunde später waren sie alle verschwunden.

Der Basketball flog durch den Reifen, landete auf dem Boden und sprang ziellos über den leeren Platz. Das Fahrrad blieb wie eingefroren stehen und verharrte mitten in der Bewegung zwischen Mittwoch und Donnerstag. Jax drehte staunend den Kopf. Für das Mädchen auf dem Fahrrad und die Basketballspieler verging keine Zeit, für den Ball jedoch schon. Wieso war das so?

»Wo sind wir?«

Jax wirbelte herum. Während der letzten beiden Stunden hatte er allein auf dem Rücksitz gesessen. Auf einmal saß jemand neben ihm. »Verdammt noch mal, Evangeline. Ich werde mich nie daran gewöhnen, dass du einfach so auftauchst und verschwindest!«

Evangeline schenkte ihm ein entschuldigendes Lächeln. Für sie war das vermutlich normal – sieben Tage vergingen ihrem Empfinden nach wie ein Wimpernschlag. Damit sie an diesem Abend bei ihnen sein konnte, war sie letzte Woche am achten Tag vor Mitternacht in den Wagen gestiegen. Das war für Evangeline gerade mal einige Sekunden her.

»Wir sind gleich da«, rief Riley vom Fahrersitz nach hinten.

Mrs Crandall zeigte auf ein Straßenschild. »Da musst du abbiegen.«

»Ist alles in Ordnung?«, erkundigte sich Evangeline bei Jax.

Nein, eigentlich nicht. Riley will mich loswerden, sobald er mich nicht mehr braucht. Das konnte Jax ihr jetzt jedoch nicht sagen, und was sie eigentlich wissen wollte, war, ob sich ihre Pläne während ihrer Abwesenheit geändert hatten.

»Alles gut«, antwortete er stattdessen.

Sie waren auf dem Weg, um die Taliesins zu besuchen, zwei Sippenmänner, die wussten, wo Evangelines Schwester versteckt worden war – weil sie das Versteck ausgesucht hatten. Wie alle Mitglieder der Sippe hatten auch sie die letzte Woche übersprungen und würden soeben ihren vierundzwanzigstündigen Geheimtag anfangen. Riley hatte den Besuch so abgepasst, dass sie fast zu Beginn des Grunstags dort eintrafen, damit sie jede Stunde ausnutzen konnten.

Falls sie die Chance bekamen, heute noch zu Adelina Emrys zu gelangen, dann wollten sie sie auch nutzen.

Riley fuhr mit dem Land Rover auf einen Parkplatz neben einem Gebäude mit einer Glasfassade. Darin waren Bücherregale und Lesenischen zu sehen. »Wohnen diese Typen in einer Bücherei?«, fragte Jax. Wenn man ein ganzes College zur Verfügung hatte, wäre das ganz bestimmt nicht der Ort, den er sich aussuchen würde.

»Das passt gut zu ihnen«, meinte Evangeline. »Die Taliesins haben ein eidetisches Gedächtnis. Das ist ihr Talent – sie merken sich alles, was sie jemals gelesen oder gehört haben. Vor sehr langer Zeit waren die Taliesins als Barden und Poeten bekannt.«

»Heute sind sie allerdings schlecht gelaunte alte Männer, die auf jeden anderen herabblicken.« Riley parkte den Wagen.

Evangeline lächelte freudlos. »Du bist ihnen offenbar schon begegnet.«

»Aber sie stehen auf unserer Seite, oder?«, fragte Jax.

»Die Taliesins wollen dasselbe wie wir – dass alles so bleibt, wie es ist, und dass die Llyrs und Arawens am achten Tag und im Gefängnis festgehalten werden«, erwiderte Riley und öffnete die Fahrertür. »Aber sie wollen das erreichen, indem sie Evangeline und ihre Schwester für immer verstecken. Daher wird es ihnen garantiert nicht gefallen, dass ich die Pläne ändern will.«

»Gibt es außer diesen beiden noch mehr Taliesins?«, fragte er und stieg zusammen mit seiner Lehnsherrin aus dem Wagen. »Und haben sie auch Vornamen?« Bisher hatte er nur gehört, dass sie als die Taliesins bezeichnet wurden.

»Ich war elf, als ich sie das letzte Mal gesehen habe«, berichtete Evangeline mit eisiger Stimme. »Mir haben sie keinerlei persönliche Informationen anvertraut.«

Ganz offensichtlich konnte sie die beiden Männer nicht leiden. Jax vermutete, dass es ihm ebenso gehen würde, wenn man ihn von den Menschen, die ihm am Herzen lagen, getrennt und an einem Ort abgesetzt hätte, an dem er bis in alle Ewigkeit warten sollte, ohne überhaupt zu wissen, was eigentlich vor sich ging.

Augenblick mal … genau dasselbe hat Riley auch mit mir gemacht, als er mich von Naomi weggeholt hat – und jetzt will er es sogar wiederholen und mich wieder bei ihr absetzen.

Jax durchbohrte Riley von hinten mit Blicken, während er seinem Vormund über den Parkplatz zur Bücherei folgte. Evangeline ging neben ihm her, und Mrs Crandall bildete die Nachhut. Unter der Notbeleuchtung in der Nähe des Eingangs wartete bereits jemand auf sie; eine Gestalt mit dunklen Haaren, einer Lederjacke, einem dazu passenden Minirock und Stiefeln. Jax wusste, dass eine Pistole mit perlenbesetztem Griff in einem Stiefel und eine weitere Waffe im Holster unter der Jacke steckten. Deidre Morgan war stets bis an die Zähne bewaffnet. Wahrscheinlich schlief sie sogar mit einem Revolver unter dem Kopfkissen.

»Hallo, Riley, Gloria.« Deidre nickte Riley und Mrs Crandall zu und grinste Jax an. »Schön, dich wiederzusehen, Kleiner. Wie gefällt es dir an meinem Privatcollege?«

»Es ist cool«, antwortete Jax. Am achten Tag hatte Deidre den Campus ganz für sich, sah man mal von den Männern ab, die in der Bücherei lebten.

Danach wandte sich Deidre Evangeline zu und musterte sie von Kopf bis Fuß.

Riley murmelte etwas, um Evangeline und seine ehemalige Verlobte einander vorzustellen. Seine Verlobung mit Deidre war nur von kurzer Dauer gewesen und notwendig geworden, weil Riley die Hilfe der Söldnerarmee von Deidres Mutter brauchte, um Jax und Evangeline in Mexiko zu befreien. Als Gegenleistung hatte Sheila Morgan nur eines verlangt: Riley Pendragon als Schwiegersohn und Vasallen.

»Die Morgans wären so oder so aufgetaucht, um Wylit aufzuhalten«, hatte Riley Jax hinterher erklärt, »aber in diesem Fall wäre ihnen egal gewesen, wer dabei noch ums Leben kommt. Ich musste diesen Handel eingehen, um die Kontrolle über die Mission zu behalten.«

Was bedeutete, dass er versprochen hatte, Deidre zu heiraten und ihrer Mutter demnächst die Treue zu schwören, damit die Morgans Jax und Evangeline auf der Spitze dieser Pyramide nicht mit Kugeln durchlöcherten. Evangelines Tod hätte die Existenz des achten Tages und der magischen Talente aller Wechsler gefährdet, aber wenn Evangeline sterben musste, um zu verhindern, dass die Zivilisation der Normalen zerstört wurde, hätten die Morgans sie getötet.

Riley hatte sein eigenes Glück gegen das Recht eingetauscht, bei dieser Mission die Leitung zu übernehmen und seine beiden Freunde zu retten. Allerdings hatte ihm Deidre direkt im Anschluss den Laufpass gegeben, weil er Evangeline geküsst hatte.

Peinlich, dachte Jax. Doch Deidre war ihre einzige Verbindung zu den Taliesins, die sich und ihr eingeprägtes Wissen vor allen – Wechslern ebenso wie Sippenmitgliedern – versteckten, um zu verhindern, dass es in die falschen Hände geriet.

Die Campusbücherei war am Mittwoch um Mitternacht nicht mehr geöffnet gewesen, daher waren die Türen verschlossen. Deidre führte sie um das Gebäude herum zu einem Notausgang, vor dem sie sich hinhockte, um das Schloss zu knacken. Jax sah ihr genau dabei zu. Riley hatte versprochen, ihm diese Fähigkeit beizubringen, die sehr wichtig für Wechsler war, wenn sie ein Gebäude betreten mussten, ohne Spuren zu hinterlassen. Jetzt fragte er sich, ob er diese Lektion noch erhalten würde, bevor man ihn wegschickte, und ob Riley dieses Versprechen überhaupt ernst gemeint hatte.

»Ist deine Mutter wütend auf mich?«, fragte Riley, während Deidre mit dem Schloss beschäftigt war.

»Da ich diejenige bin, die die Verlobung gelöst hat, sollte sie wohl eher wütend auf mich sein. Aber sie glaubt, wir hätten das gemeinsam ausgeheckt, also ja, dein Name darf bei uns nicht mehr genannt werden.«

»Na super«, murmelte Riley.

Evangeline sah zwischen Deidre und Riley hin und her. Jax war sich ziemlich sicher, dass Evangeline nichts von dem Handel wusste, den Riley eingegangen war, um ihr das Leben zu retten.

Deidre konzentrierte sich weiter auf das Schloss. »Aber die alte Klinge, die einer deiner Vorfahren meinen gegeben hat, hängt trotzdem in ihrem Büro. Falls sie vorhätte, die alte Vereinbarung zwischen unseren Familien zu brechen, hätte sie sie inzwischen abgenommen und zerbrochen.«

»Sehr beruhigend.« Allerdings klang Riley kein bisschen beruhigt.

Das Schloss knackte, und Deidre stand auf.

»Erwarten uns die Taliesins?«, fragte Mrs Crandall.

»Ich habe ihnen eine Nachricht an der Stelle hinterlassen, die wir für unsere Kommunikation ausgemacht haben.« Deidre verharrte und ließ den Blick über ihre vier Begleiter wandern. »Bevor wir reingehen, muss ich euch etwas fragen, das euch vielleicht seltsam vorkommt.«

Seltsamer als ein Gespräch über ihre beendete Verlobung vor dem Mädchen, das Riley ihr vorzog? Jax beugte sich gespannt vor.

»Ist einem von euch in dieser Nacht bei den Ruinen in Mexiko irgendetwas Komisches aufgefallen?«, wollte Deidre wissen.

»Mir flogen Kugeln um die Ohren und die Welt stand kurz vor dem Untergang«, erwiderte Riley. »Oder meinst du noch etwas anderes?«

»Ich meine jemanden, der nicht hätte dort sein sollen.«

Jax zuckte mit den Achseln. Seiner Meinung nach traf das auf jeden von ihnen zu.

Deidre seufzte und setzte zu einer Erklärung an. »Es hat eine Weile gedauert, bis die Geschichte von meinen Leuten zu mir vorgedrungen ist. Aus offensichtlichen Gründen haben die Männer, die sie gesehen haben, sich nicht getraut, es zu melden. Aber gleich mehrere haben während der Ereignisse auf der Straße der Toten ein Mädchen gesehen.«

»Wylit hatte auch Vasallinnen dabei«, merkte Riley an. »Mehrere unterschiedlichen Alters.«

»Ein junges Mädchen. Angeblich trug sie ein kurzes weißes Kleid, das sehr schlicht aussah und an ein altmodisches Hemdkleid erinnerte.« Riley schüttelte den Kopf, und Jax tat es ihm nach. Deidre schnaubte leise. »Mit Krähen«, fügte sie hinzu. »Sie war von Krähen umgeben.«

Krähen? Jax hatte am achten Tag noch keine Tiere gesehen. Laut Evangeline gab es auch nur sehr wenige. Doch Riley fing an zu lachen.

»Kriegsneurose«, erklärte Mrs Crandall entschieden, obwohl sie an jenem Tag gar nicht vor Ort gewesen war.

»Meine Männer leiden nicht unter Kriegsneurosen«, protestierte Deidre empört.

»Was hat das mit den Krähen zu bedeuten?«, erkundigte sich Jax bei Evangeline, die ernst geblieben war. Er fand sogar, dass sie besorgt aussah.

»Das ist eine Legende«, murmelte sie.

»Eine dumme Legende«, fügte Riley hinzu. »Nein, Deidre.« Er hob eine Hand hoch und zählte ab: »Ein verrückter Sippenfürst, sehr viele Leute, die auf uns geschossen haben, der aufreißende Himmel – etwas anderes habe ich nicht gesehen. Und garantiert kein Mädchen mit Krähen.«

Deidre wandte sich an Evangeline. »Was hältst du davon?«

»Es ist immer ein böses Omen, wenn Morrigan gesehen wird«, antwortete Evangeline ernst. »Daher kann ich nur hoffen, dass deine Männer halluziniert haben.«

»Ich bezweifle, dass uns dieses Glück vergönnt ist.« Deidre drückte die Tür der Bücherei auf und ging hinein.

Wenn sie geöffnet war, mochte die Bücherei ja ein angenehmer Ort sein, doch mitten in der Nacht wirkte sie ziemlich unheimlich. Jax musste sich ins Gedächtnis rufen, dass dies außerdem ein geheimer Tag war, von dessen Existenz kaum jemand wusste, weshalb die Wahrscheinlichkeit, dass hinter den hohen Regalen ein Bösewicht lauerte, verschwindend gering war.

Deidre klopfte laut an eine mit »Nur für Mitarbeiter« beschriftete Tür, zog sie auf und rief in den Flur dahinter: »Hallo? Hier ist Deidre Morgan mit einigen Besuchern, die Sie sprechen möchten.«

Der Mitarbeiterbereich der Bücherei bestand aus einem Pausenraum mit Kühlschrank und Herd, zwei Sofas und einem Waschraum. Jax fragte sich, ob die Taliesins von den Lebensmitteln lebten, die hier zurückgelassen wurden, und auf diesen Sofas schliefen.

Ein Mann trat aus den Schatten, und Jax zuckte vor Schreck zusammen.

Jax hatte bisher erst zwei Angehörige der Sippe kennengelernt, und zwar Evangeline und Wylit, doch dieser Mann hatte ebenso blassblondes Haar und umwerfend blaue Augen wie die beiden. Er hielt eine Kerze in einem altmodischen Kerzenhalter in der Hand und trug Kleidung, die im 19. Jahrhundert modern gewesen war und somit weitaus schlimmer aussah als die Klamotten aus den 1980ern, die Evangeline bei Jax’ erster Begegnung mit ihr angehabt hatte.

Rasch rechnete Jax nach. Wenn dieser Mann ungefähr fünfzig war, aber nur einen Tag lebte, während in der normalen Welt sieben vergingen, musste er vor etwa dreihundertfünfzig Jahren geboren worden sein. Jax warf Evangeline einen Blick zu, die jetzt wie ein ganz normaler Teenager Shorts und ein schlichtes T-Shirt trug. Von ihr wusste er bereits, dass sie um 1900 auf die Welt gekommen war, als es noch keine Autos und Flugzeuge und vielleicht nicht einmal Elektrizität gegeben hatte.

In Geschichte war Jax noch nie besonders gut gewesen.

»Hier entlang bitte«, sagte der Sippenmann und verschwand am anderen Ende des Flurs in einem Raum.

Die Taliesin-Männer hatten das Büro des leitenden Bibliothekars übernommen. Am Grunstag gab es im ganzen Gebäude keinen Strom, daher standen Kerzen auf dem Schreibtisch und auf den Regalen. Der Mann, der sie im Flur in Empfang genommen hatte, trat hinter einen anderen, der am Schreibtisch saß und in einem großen Buch blätterte.

Dieser Mann ließ sie warten, bis er am Ende der Seite angekommen war, und Jax vermutete, dass er sich absichtlich derart unhöflich verhielt. Zu guter Letzt blickte er auf. Seine Haar- und Augenfarbe glichen der des anderen Mannes, doch während der erste ein kränkliches, immer wieder nervös zuckendes Gesicht hatte und an ein Eichhörnchen erinnerte, besaß dieser markante Wangenknochen und eine große Hakennase. »Pendragon«, begrüßte er Riley nicht besonders erfreut. Er ließ den Blick über die Gruppe wandern und musterte jedes einzelne Zeichen, als sie die Hände hoben, um die Tattoos an ihren Handgelenken zu präsentieren – was in der Welt des achten Tages der üblichen Begrüßung entsprach. »Die Befehlsstimme, ein Inquisitor und eine Wahrheitsseherin. Ist das nicht ein bisschen übertrieben?«

»Es müsste nicht so laufen«, erwiderte Riley. »Wir können es auch auf die freundliche Art machen.«

Angesichts der säuerlichen Miene des Mannes bezweifelte Jax, dass es so kommen würde. »Ich gehe davon aus, dass dieser Besuch etwas mit dem Angriff auf den Achter-Tag-Zauber zu tun hat«, sagte der Taliesin mit der Hakennase und schlug das Buch zu. Er stand auf und beäugte Evangeline mit etwas weniger Zuneigung, als die meisten Menschen einer Spinne entgegenbringen. »Falls sie dafür verantwortlich war und ihr sie herbringt, damit wir Gerechtigkeit walten lassen, dann muss ich euch daran erinnern, dass das nicht unserer Aufgabe entspricht.«

»Hey!«, protestierte Jax. »Sie hat ihr Leben riskiert, um den achten Tag zu verteidigen.«

»Und ich wurde auch nicht hergebracht«, fügte Evangeline steif hinzu. »Wir sind hergekommen, weil wir wissen wollen, wo Sie meine Schwester verstecken.«

Der Taliesin hielt einen Moment inne und sprach dann Riley an, als wäre Evangeline gar nicht da. »Es wäre eine sehr schlechte Idee, diese beiden Mädchen zusammenzubringen. Sie wurden nur zu dem Zweck getrennt, die Sicherheit jedes einzelnen Mitglieds meines Volkes zu gewährleisten. Unsere Existenz hängt von der ihren ab. Solange sie sich an einem Ort aufhalten, könnte jemand die Emrys-Blutlinie auf einen Schlag auslöschen und die Achter-Tag-Welt vernichten.«

Jax konnte das Argument durchaus nachvollziehen, war jedoch nicht derselben Meinung. Evangeline und ihre Schwester waren Nachfahren von Merlin Emrys, dem legendären Zauberer, der vor fünfhundert Jahren den Achter-Tag-Zauber gewirkt hatte. Der Zauber wurde in der Blutlinie von Merlins Familie weitergetragen, und Evangeline und ihre Schwester waren als Einzige noch übrig.

»Es ist eine sehr schlechte Idee, sie noch länger voneinander zu trennen, weil sie so nacheinander ausgelöscht werden können«, widersprach Riley. »Wylit hat erst ihren Bruder und dann sie gefunden. Das Versteck war nicht gut genug. Die Emrys-Blutlinie muss sich erholen, Kontakt zu alten Verbündeten aufnehmen und sich neue suchen. Sie müssen stark genug werden, sodass es niemand mehr wagt, sie anzugreifen. Meine Leute profitieren ebenfalls vom achten Tag, und unsere Magie ist daran gebunden. Ohne den achten Tag verlieren wir unsere Talente. Ich gehe felsenfest davon aus, dass es Wechslerclans gibt, die sich allein aus diesem Grund mit einer Emrys verbünden würden.«

»So wie Sie?«, entgegnete der hakennasige Taliesin, dessen Blick auf der Ehrenklinge ruhte, die Evangeline an ihrem Gürtel trug. Dabei handelte es sich um Rileys persönlichen Dolch, den er seit seiner Kindheit benutzte und den er Evangeline als Symbol ihres Bündnisses angeboten hatte, nachdem König Artus’ Klinge Excalibur in seinen Besitz gelangt war.

»Er behandelt mich wie eine Verbündete und eine Gleichgestellte«, erklärte Evangeline gereizt, »und nicht wie ein … Faustpfand.« Sie wiederholte Mr Crandalls Einschätzung, welchen Wert sie für andere hatte. »Nicht wie jemanden, dessen persönliche Interessen ohne Belang sind, solange sie nicht mit Ihren übereinstimmen.«

Die ganze Zeit über murmelte der andere Taliesin vor sich hin und gab wie ein altes Waschweib missbilligende Geräusche von sich. »Das geht ganz und gar nicht«, sagte er zu seinem Bruder.

»Da bin ich ganz deiner Meinung«, erwiderte dieser. »Wir können keinen Emrys-Clan unterstützen, der von diesem Mädchen angeführt wird. Ihr hinterlistiger Vater hat ihr widerwärtige Ideen eingetrichtert, und sie hat sich mit Sippenangehörigen zusammengetan, um Chaos in der Welt zu stiften. Daher können wir nicht darauf vertrauen, dass ihr daran gelegen ist, den achten Tag zu erhalten.«

Bei diesen Worten zuckte Evangeline zusammen, was Jax noch mehr auf die Palme brachte. Es entsprach zwar der Wahrheit, dass Evangelines Vater zusammen mit dem verrückten Wylit geplant hatte, den Achter-Tag-Zauber zu brechen. Doch es war unfair, davon auszugehen, dass sie an seinen Plänen beteiligt gewesen war. Schließlich war sie damals noch ein Kind. Jax machte schon den Mund auf, um sie zu verteidigen, doch jemand anderes kam ihm zuvor.

»Ich kann ihre Taten an der Pyramide bestätigen«, sagte Deidre. »Sie war eindeutig nicht mit Wylit verbündet, und sie hat dabei geholfen, den Zauber zu reparieren.«

Riley schenkte Deidre ein dankbares Lächeln, doch Hakennase wirkte wenig beeindruckt. »Nichtsdestotrotz kann eine weibliche Emrys das Familientalent nicht gut genug anwenden, um ihren Clan anzuführen, und sie wird stets empfänglich für jene sein, die sie benutzen und manipulieren wollen.« Er sah Riley mit kalten Augen vorwurfsvoll an. »Ich ziehe es vor, die Mädchen weiterhin voneinander zu trennen. Sobald sie im heiratsfähigen Alter sind, werden wir ihnen passende Partner suchen und auf einen männlichen Erben hoffen, der die Emrys-Familie eines Tages sowohl mit magischer Stärke als auch Ehre anführen kann.«

Passende Partner suchen? Auf einen männlichen Erben hoffen? Diese Typen lebten wirklich noch im Mittelalter! Jax hatte genug gehört. Er zückte seine Ehrenklinge und bohrte die Spitze in die hölzerne Tischplatte. Im nächsten Augenblick fiel ihm zwar ein, dass dies gar kein Taliesin-Tisch war, den er beschädigte, aber da war es zu spät, um die dramatische Geste zurückzunehmen, daher zog er sie einfach weiter durch. »Sie! Eichhörnchenmann!« Er zeigte mit der anderen Hand auf den eichhörnchenartigen Taliesin. »Wo ist Adelina Emrys?«

Der Mann stammelte etwas und widersetzte sich dem Drang, Jax zu antworten. Jax hatte sich für ihn als das schwächere Ziel entschieden, doch einen Moment lang machte es fast den Anschein, als würde er sich dennoch widersetzen. Unverhofft schaltete sich Riley ein, dessen Talent Jax eine Gänsehaut bescherte.

»Beantworten Sie die Frage.«

Jax’ Inquisitorentalent und Rileys Befehlsstimme waren zu viel für den schwächeren Taliesin. »In Vermont«, flüsterte er.

»Die genaue Adresse«, verlangte Jax zu erfahren.

Jetzt zitterte der Alte am ganzen Leib, doch Hakennase nahm seinen Arm und verlieh ihm Kraft. Jax rief sein Talent an und wollte es schon erneut versuchen, und auch Riley trat vor und hatte zweifellos vor, den Mann zu berühren, wodurch die Wirkung seines Talents verstärkt würde. Das bedeutete allerdings auch, dass es unschön werden konnte und dass die Taliesins ihnen allen nie wieder trauen würden.

»Wartet!«, verlangte Evangeline. Jax hielt inne, und Riley trat einen Schritt zurück, legte jedoch eine Hand auf Excalibur. Evangeline reckte das Kinn vor und sprach den Taliesin-Anführer mit eisiger Stimme an. »Mein Vasall und mein Verbündeter können euch die Informationen mit Gewalt entlocken, aber es wäre besser, wenn ihr freiwillig kooperiert.«

»Wieso das?«, fauchte der Mann und sprach sie dabei zum ersten Mal direkt an.

»Weil ich die Anführerin des Emrys-Clans bin, ob euch das nun gefällt oder nicht«, antwortete Evangeline. »Nicht irgendein zukünftiger männlicher Erbe und bedauerlicherweise auch nicht mein armer Bruder – der gestorben ist, weil ihr ihn nicht beschützen konntet. Ich bin die Anführerin meiner Blutlinie, und ich bin fest entschlossen, den achten Tag zu erhalten. Das müsst ihr akzeptieren. Wir sollten nicht untereinander streiten. Erst recht nicht im Angesicht dieser Krise. Bei Wylits Versuch, die Welt zu vernichten, wurde die Morrigan gesichtet.«

Deidre schnappte nach Luft, widersprach Evangeline jedoch nicht.

»Dann wird das Chaos über uns hereinbrechen!«, verkündete der eichhörnchenähnliche Taliesin.

»Nicht wenn ich es verhindern kann«, erwiderte Evangeline ruhig. »Die Morrigan mag Ereignisse einleiten, die zu großen Konflikten führen, aber das Ergebnis steht nicht von vornherein fest. Das Emrys-Talent soll bei den männlichen Familienmitgliedern zwar stärker sein, aber ich war stark genug, um den Achter-Tag-Zauber zu reparieren. Also entscheidet euch, Taliesins. Steht ihr wirklich auf unserer Seite oder nicht?« Sie legte die Hand um eine der Kerzen auf dem Schreibtisch des Bibliothekars und flüsterte einige Worte in einer unverständlichen Sprache.

Jede Flamme im Raum loderte dreimal so hoch auf. Selbst das elektrische Licht ging an. Die Lampe an der Decke flackerte kurz und zersprang. Glassplitter regneten auf sie herab, und alle außer Evangeline rissen die Arme hoch, um ihre Köpfe zu schützen.

Sie selbst hingegen stand seelenruhig da und sah den Taliesin-Anführer an. »Wo ist meine Schwester, Sie schrecklicher Mann?«

* * *

»Beeindruckend«, sagte Deidre, als sie durch die leere Bücherei zurückgingen.

»Danke«, erwiderte Evangeline, die ein Blatt Papier in der Hand hielt, auf dem ein Name und eine Adresse standen.

»Wenn du endlich aufhören willst, dich zu verstecken, dann kann ich das nur unterstützen, Riley«, erklärte Deidre. »Aber pass auf dich auf. Es gibt mehr als genug Leute, die nicht wollen, dass du an Einfluss gewinnst.«

»Zur Kenntnis genommen«, brummte Riley.

»Das gilt auch für dich, Kleiner.« Bei diesen Worten sah sie Jax an. »Sei vorsichtig.«

Jax hob erstaunt den Kopf. Warum sollte irgendjemand hinter ihm her sein?

Mrs Crandall starrte Deidre mit zusammengekniffenen Augen an und betrachtete dann Jax, als wollte sie ihm am liebsten eine Briefmarke auf die Stirn kleben und ihn mit der Post zurück nach Delaware schicken.

Deidre brachte sie bis zur Tür, wo sie sich verabschiedete und ihnen viel Glück wünschte. »Sagt mir Bescheid, wenn ihr das Mädchen gefunden habt und bereit seid, euch an die Tafel zu wenden.« Sie deutete mit einem Daumen über die Schulter. »Ich helfe Rufus und Enoch, die Splitter wegzuräumen. So sehr ich gute Explosionen auch mag, möchte ich doch verhindern, dass diese Bücherei den Ruf bekommt, hier würde es spuken. Das würde nur unerwünschte Aufmerksamkeit erregen.«

Rufus und Enoch? Ernsthaft? Jax schnaubte. Da gefielen ihm die Namen deutlich besser, die er ihnen gegeben hatte!