Der Achte Tag - Dianne K. Salerni - E-Book

Der Achte Tag E-Book

Dianne K. Salerni

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Beschreibung

Tauche ein in die fesselnde Jugendbuchserie 'Der Achte Tag' und entdecke eine geheimnisvolle Welt voller Magie, Abenteuer und unerwarteter Wendungen. Mit ihrem mitreißenden Schreibstil entführt Dianne K. Salerni die Leser auf eine packende Reise voller Spannung, Freundschaft und Selbstfindung. Diese mitreißende Fantasy-Trilogie wird sowohl Jugendliche als auch erwachsene Fans des Genres gleichermaßen begeistern. In 'Der Achte Tag' liegt ein gut gehütetes Geheimnis inmitten unserer realen Welt verborgen. Begleite Jax, einen dreizehnjährigen Protagonisten, und seine mutige Freundin Evangeline auf ihrem atemberaubenden Abenteuer, um das Rätsel des achten Tages zu entschlüsseln und die Welt vor einer dunklen Bedrohung zu retten. Mit einer fesselnden Mischung aus Fantasy und Coming-of-Age erzählt Dianne K. Salerni eine Geschichte voller Magie, Freundschaft und der Überwindung von Ängsten. 'Der Achte Tag' ist der Auftakt einer packenden Trilogie, die im Oktober 2023 als deutsche Erstveröffentlichung im foliant Verlag erscheint. Tauche ein in eine Welt voller Geheimnisse, Abenteuer und faszinierender Charaktere, die dich von der ersten bis zur letzten Seite in den Bann ziehen wird.

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foliant Verlag

1. Auflage: 2023

 

Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel

THE EIGHTH DAY by Dianne Salerni

Copyright © 2014 by Dianne Salerni

Published by HarperCollins Publishers L.L.C..

Published by arrangement with Pippin Properties, Inc. through Rights People, London.

 

Die Rechte an der Nutzung der deutschen Übersetzung von Kerstin Fricke liegen beim foliant Verlag, Hegelstr.12, 74199 Untergruppenbach

 

Umschlaggestaltung © HildenDesign

Umschlagmotiv: © HildenDesign, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com und Midjourney.com

Illustrationen: Stefan Hilden unter Verwendung mehrerer Motive von Midjourney und Shutterstock.com

Illustration Tatoo: Lennart Frank unter Verwendung mehrerer Motive von Midjourney

Grafiken / Schaubilder: Caja Frank

Übersetzung und Lektorat: Kerstin Fricke

Satz: Kreativstudio foliant

 

ISBN Hardcover 978-3-910522-18-3

ISBN E-Book 978-3-910522-38-1

 

www.foliantverlag.de

Für Gabrielle und Gina,die immer nach dem »Wann« gefragt haben,und für Bob,der geantwortet hat: »Grunstag«.

Inhalt

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Dank

Jax fuhr mit dem Fahrrad vom Einkaufen nach Hause und murmelte im Takt der Reifen: Scheiße. Scheiße. Scheiße.

Die Lebensmittel in seinem übervollen Rucksack waren schwer. Aber dank Riley herrschte im Kühlschrank mal wieder gähnende Leere, und wenn Jax an diesem Abend etwas essen wollte, musste er eben einkaufen.

Riley ist scheiße.

Das war etwas, das Jax voller Überzeugung vor sich hingrummeln konnte. Riley ist scheiße. Riley ist scheiße.

Billy Ramirez wollte ihn ständig davon überzeugen, dass er ein Glückspilz wäre. »Ich wünschte, ich hätte so viel Freiheit wie du«, beschwerte er sich mindestens einmal die Woche.

Du wünschst dir also, dass deine Eltern tot wären? Jax sprach das nie laut aus, sondern hoffte immer, dass Billy sein Schweigen bemerken und den Hinweis kapieren würde.

»Dein Vormund ist so cool.«

Ja, das Zusammenleben mit einem Typen, der frisch aus der Highschool ist und ständig vergisst, die Stromrechnung zu zahlen, ist total cool. Manchmal war Jax versucht, Billy einen Handel anzubieten: Er würde bei Billys Eltern leben, und Billy konnte zu Riley Pendare ziehen.

So spät am Nachmittag herrschte reger Verkehr, da viele Leute von der Arbeit nach Hause fuhren. Jax zuckte jedes Mal zusammen, wenn ein ungeduldiger Autofahrer an ihm vorbeiraste. Er vermisste sein altes Zuhause in Delaware, wo es Fahrradwege gab. Am Ende des Blocks goss Mr Blum wieder seinen neuen Rollrasen. Jax schwenkte aus, um dem Wasserstrahl aus dem Schlauch zu entgehen – Tja, heute hast du alter Penner mich verfehlt! –, und fuhr vor Rileys Haus auf den Bürgersteig. Es war das kleinste an der Straße und musste von allen am dringendsten gestrichen werden. Ein alter roter Ford F-250 parkte davor, daher wusste Jax schon, wer zu Besuch war, bevor er hineinging. Das war nicht gut. Er schloss sein Fahrrad an der Regenrinne an der Hausseite an, nahm den schweren Rucksack vom Rücken und schleppte ihn die Vorderstufen hinauf.

Hinter der Tür lag gleich das Wohnzimmer, in dem es dunkel war, nur der Fernseher lief. Dicke Vorhänge sorgten dafür, dass nicht der kleinste Sonnenstrahl ins Haus dringen konnte. Jax hatte sie einmal aufgezogen, weil er herausfinden wollte, ob Riley im Sonnenlicht wie ein Vampir zu Staub zerfallen würde. Das war nicht passiert, aber Riley hatte sich beschwert, dass ihn der Lichtstrahl beim Fernsehen stören würde.

Im Augenblick sah sich Riley seine Lieblingssendung an. »… ein Tunnel verläuft unter den Pyramiden, der mit Mica ausgekleidet ist, das heute für Hitzeschilde an Raumschiffen genutzt wird. Es kommt einem beinahe so vor, als wäre dieser Ort dazu gedacht gewesen, Alien-Raumschiffe …«

»Alien-Raumschiffe? Da liegst du aber völlig falsch.« Der Mann, der auf dem Sofa lag, warf eine zerdrückte Limodose in Richtung des Moderators von Extraterrestrial Evidence. Die Dose prallte vom Fernseher ab und fiel zu Boden. Leise stöhnend schloss Jax die Tür. War es nicht wieder typisch, dass A.J. Crandall genau dann hier auftauchte, wenn Jax etwas zu essen mitbrachte?

»Sind das Lebensmittel?« Riley Pendare lag auf dem Sofa und trug noch immer seine Al’s Auto-Uniform. »Danke, Jax. Ich wollte eigentlich später noch einkaufen gehen.«

Ja, klar.

A.J. zog sein Hemd hoch und kratzte sich am dicken, behaarten Bauch. »Hast du zufällig Zigaretten mitgebracht?«

»Ich bin zwölf«, rief Jax ihm in Erinnerung.

»Verdammt.« A.J. stemmte sich auf die Ellbogen. »Er ist zwölf?«

»Ja.« Riley stand auf und folgte Jax in die Küche. »In ein paar Wochen wird er dreizehn. Nicht wahr, Jax?«

Jax zuckte mit den Achseln. Sein Geburtstag war morgen, doch er hatte ohnehin nicht mit einer Feier oder einem Geschenk gerechnet.

Riley kramte in den Einkaufstüten herum und stieß auf eine Tiefkühlpizza und eine Packung Hotdogs. Er riss die Pizzaschachtel auf und legte die gefrorene Pizza in den Ofen.

»Fast dreizehn?«, brüllte A.J. aus dem Wohnzimmer rüber. »Ist er ein Spätzünder oder ein Blindgänger?«

»Was soll das heißen?«, schrie Jax zurück.

»Ignorier ihn einfach.« Riley stellte einen Topf auf den Herd, in dem er die Hotdogs warmmachen wollte.

A.J. kam in die Küche geschlendert. »Hotdogs und Pizza … Cool.«

»Bleibst du zum Essen?«, fragte Jax mürrisch. In diesem Fall würden die Lebensmittel nicht bis morgen reichen.

»Pendare darf mich nicht hungern lassen. Wir haben eine Vereinbarung.«

»Du siehst nicht aus, als wärst du am Verhungern, Crandall.« Riley streckte eine Hand aus, und A.J. zückte einen Zwanziger, den Riley in ein Mehlglas auf der Arbeitsplatte steckte. Katzenkasse nannte er es, weil es die Haushaltskasse war und die Form einer Katze hatte.

A.J. entdeckte noch eine einsame Limonade im Kühlschrank. »Die ist gar nicht richtig kalt«, beschwerte er sich.

»Der Kühlschrank gibt bald wieder den Geist auf.« Riley ließ den gesamten Inhalt der Hotdogpackung in einen Topf mit Wasser fallen und schaltete den Gasherd ein. Danach klopfte er lautstark an die Seite des Kühlschranks.

»Du bist mir ja ein Mechaniker«, murmelte Jax.

Riley strich sich das Haar aus den Augen. »Ein Kühlschrank ist was anderes als ein Auto, Jax.«

A.J. schnaubte. »Ruf einfach Du-weißt-schon-wen an.«

»Immer, wenn ich sie anrufe, verlangt sie eine Gegenleistung.«

»Armer Kerl. Ich wünschte, das würde sie mal von mir verlangen.«

Jax wusste nicht, von wem sie redeten, und es war ihm auch egal. Als Riley nach der letzten Einkaufstüte griff, zog Jax sie schnell weg. »Die ist nicht für dich.« Er sah Riley an. »Hebst du mir was zu essen auf?«

»Na klar«, erwiderte Riley, als hätte er nicht zu anderen Gelegenheiten alles aufgegessen, was Jax mit nach Hause gebracht hatte.

Nach einem besorgten Blick auf den Ofentimer trug Jax die Tüte aus der Haustür hinaus und den Bürgersteig entlang zum Heim seiner alten Nachbarin. Wie üblich stand Mrs Unger schon mit dem Portemonnaie in der Hand bereit. »Was bin ich dir schuldig, Jaxon?« Sie wackelte mit einigen Geldscheinen, als wollte sie beweisen, dass sie flüssig war.

»Ich sehe mal auf den Kassenzettel.« Er verstaute ihre Lebensmittel, während sie ihm auf ihren Krückstock gebeugt durch die Küche folgte. »Tut mir leid, dass ich keine Eier mitgebracht habe«, sagte er nach einem Blick in den Kühlschrank. »Ich dachte, das Dutzend, das ich letztes Mal gekauft habe, würde länger halten.«

»Sind die Eier alle weg?« Mrs Unger schob ihre Brille etwas höher. »Ich habe sie nicht gegessen.«

Natürlich nicht. »Dann hat Ihr Geist wohl mal wieder sein Unwesen getrieben«, meinte er fröhlich.

»Oh!«, rief sie aus, als hätte er sie da an etwas erinnert. »Ich habe meinen Bibliotheksausweis auf dem Küchentisch entdeckt. Es ist anscheinend wieder Zeit, die Bücher auszutauschen.«

»Das mache ich am Wochenende. Möchten Sie noch mehr davon?«

»Was immer das auch für Bücher sind, bring gern mehr davon mit.« Mrs Unger deutete auf den Bücherstapel auf der Arbeitsplatte. »Ich habe sie selbstverständlich nicht gelesen.«

Mrs Unger las natürlich keine Liebesromane. Sie lieh sie für ihren Geist aus, der auch ihre Eier klaute, die Gewürze in ihrem Schrank vertauschte und ihren Kleiderschrank umräumte.

Alt und senil zu werden, musste hart sein.

Jax schaute auf den Kassenzettel. »Vierundzwanzig neunundsiebzig.«

»Hier hast du dreißig.« Als er protestierte, fügte sie hinzu: »Nimm das Geld. Du hast mir den Weg erspart.«

»Danke.« Er faltete die drei Zehner und stopfte sie in seine Tasche. Mrs Unger gab ihm einen Kuss auf die Wange, woraufhin er theatralisch aufstöhnte, obwohl ihm das eigentlich gar nichts ausmachte.

»Kann ich sonst noch was für Sie tun?« Ein Blick auf die Küchenuhr verriet ihm, dass die Pizza gleich fertig sein würde. Er musste zurück, bevor A.J. sie aufaß. »Muss was im Garten erledigt werden? Unkraut zupfen oder so?«

Mrs Unger lächelte. »Bei mir gibt es kein Unkraut.«

Jax konnte sich dessen versichern, als er zurück nach Hause lief. Mrs Ungers Blumenbeete waren makellos gepflegt. Er fragte sich, wie sie das anstellte, da sie weder gut sehen noch gut laufen konnte. Die Blumenbeete an Rileys Haus enthielten nichts als feste Erde, die an Zement erinnerte. Darin wuchs einfach gar nichts.

Zur Abwechslung war sein Timing mal perfekt. Riley schob soeben die Pizza mit der Pappschachtel, in der sie gekauft worden war, aus dem Ofen, und Jax nahm sich mehrere Stücke und einen Hotdog. Dabei schob Riley einen Stuhl vom Tisch weg, was seiner Version einer Einladung zum Hinsetzen entsprach. »Wie stehen die Dinge drüben bei der alten Dame?«, erkundigte er sich.

»Gut«, antwortete Jax, ging am Stuhl vorbei und trug seinen Teller aus der Küche. Er hatte nicht vor, zusammen mit Riley und A.J. zu essen.

Sein Zimmer war dunkel und vollgestellt und hatte nur ein Fenster. An den Wänden hing eine hässliche Bordüre mit Halstuch tragenden Bluthunden. Bei Jax’ Einzug hatte Riley gesagt, es hätte schon so ausgesehen, als er das Haus gemietet hatte, und Jax vorgeschlagen, dass er ändern konnte, was immer er wollte.

Aber Jax hatte sich nicht die Mühe gemacht, sein Zimmer umzudekorieren, weil er nicht lange bleiben würde. Jedenfalls hatte er das vor vier Monaten gedacht.

Er ließ sich aufs Bett fallen und legte sich den Pappteller auf den Bauch. Anfangs starrte er beim Kauen die Decke an, doch nach einer Weile schweifte sein Blick durch den Raum. Die Posaune, die er nicht mehr spielte, lehnte an der Wand. In der Nähe stand das Teleskop, das er letztes Jahr bekommen hatte. Er hatte es nur einmal benutzt und dann das Interesse daran verloren. Sein Dad hatte sich deswegen oft bitterlich beschwert.

Danach wandte sich Jax den Fotos auf dem Nachttisch zu. Dort stand ein altes Bild von Jax als Vorschüler auf dem Schoß seiner Mutter, das kurz vor ihrer Erkrankung aufgenommen worden war, und ein weiteres von Jax und seinem Vater am Grand Canyon aus dem letzten Sommer. Jax grinste und kniff im Sonnenlicht die Augen zusammen, während sich sein Vater die Augen mit einer Hand abschirmte.

Wieso hast du mir das angetan, Dad?

Hätte Jax den Hotdog im Ganzen heruntergeschluckt, wäre seine Kehle auch nicht schlimmer zugeschnürt gewesen, als sie es durch seine Wut war.

Dabei wusste Jax, dass sein Vater keine Schuld an diesem Unfall gehabt hatte. Irgendjemand, vermutlich ein Betrunkener, hatte den Wagen seines Vaters von der Straße abgedrängt, der daraufhin einen Hügel hinuntergestürzt und in den Susquehanna River gefallen war. Dieser Person – wer immer das auch gewesen sein mochte – hatte Jax’ ganzer Zorn gegolten, bis Riley Pendare aufgetaucht war, um ihn aus der einzigen Familie herauszuholen, die Jax je gekannt hatte.

In den Tagen nach dem Tod seines Vaters hatten Naomi, die Cousine seiner Mutter, und ihr Mann ihn bei sich aufgenommen. Vor dem Unfall hatten sie einander nur selten gesehen, doch sie gehörten zur Familie und waren bereit, ihm ein gutes Zuhause zu bieten. Doch dann war Riley mit einer eidesstattlichen Erklärung aufgetaucht und hatte behauptet, Jax’ Vormund zu sein. »Rayne Aubrey hat mir die Vormundschaft seines Sohnes übertragen«, hatte er ihnen mitgeteilt und die tätowierten Arme vor der Brust verschränkt. »Dieses Dokument bestätigt es. Im Fall seines Todes soll ich mich um Jaxon Lee Aubrey kümmern.«

Naomi hatte einen Freund der Familie um Hilfe gebeten, einen Anwalt, der zu ihnen nach Hause kam, Riley mit Fragen löcherte und wenig zufriedenstellende Antworten erhielt.

Wer war Riley Pendare für Rayne Aubrey? Der Sohn eines alten Freundes.

Warum hatte Rayne Aubrey Riley Pendare, der achtzehn Jahre alt und für Jax ein Fremder war, als Vormund der Cousine seiner verstorbenen Frau vorgezogen?

In diesem Punkt war Riley wenig mitteilsam gewesen. »Es war eben sein Wunsch.«

Aber eine Antwort war besonders beunruhigend gewesen.

»Wann?«, hatte Naomi wissen wollen. »Wann hat Rayne diese Vereinbarung getroffen?«

»Drei Wochen vor seinem Tod«, hatte Riley erwidert.

Der Anwalt hatte das Ganze für lächerlich gehalten – Riley war zu jung und die Situation überaus bizarr – und vorgeschlagen, das Jugendamt anzurufen und eine Anhörung vor Gericht zu verlangen. Diese Aussicht hatte Jax zwar gar nicht behagt, klang aber besser, als mit diesem tätowierten Fremden mitzugehen. Im Anschluss hatte sich Riley unter vier Augen mit dem Anwalt unterhalten, nachdem er ihn an einem Arm beiseite und außer Hörweite gezogen hatte. Der Anwalt hatte Naomi hinzugerufen, und Riley sprach auch mit ihr und legte ihr eine Hand auf die Schulter.

Im nächsten Moment hatten alle ihre Meinung geändert. Der Anwalt erklärte, Jax würde bei Riley leben müssen, während sie auf die Anhörung warteten, und Naomi stimmte ihm zu. »Nur für eine Weile«, versprach sie ihm. Jax musste entsetzt mitansehen, wie seine Habseligkeiten in dem Pick-up-Truck verstaut wurden, mit dem Riley gekommen war und der ihm nicht einmal gehörte. Wie sich später herausstellte, hatte er ihn sich von A.J. für die fünfstündige Fahrt in die kleine Stadt im westlichen Pennsylvania geborgt.

Während dieser langen, schweigend verlaufenden Fahrt war Jax’ Wut immer größer geworden. Er hatte festgestellt, dass sie für Riley Pendare und seinen Vater ausreichte.

An Jax’ dreizehntem Geburtstag warf ihm Billy Ramirez in der ersten Stunde einen Apfel zu. »Behaupte nicht, ich hätte dir nichts geschenkt.«

Jax fing den Apfel. »Danke.« Das war vermutlich das einzige Geburtstagsgeschenk, das er bekommen würde.

»Wir sollten eine Party für dich schmeißen. Meinst du, Riley lässt uns in eurem Haus feiern?«

»Ich wüsste nicht, wen wir noch einladen sollten.« Jax hatte nicht viele Freunde gefunden, was einerseits daran lag, dass er davon ausging, nicht lange hierbleiben zu müssen, und andererseits daran, dass die Schule viel größer war als seine alte. Jax war zuvor auf eine Schule in einem kleinen Viertel gegangen, in der er all seine Klassenkameraden seit dem Kindergarten kannte. Nun musste er aus Rileys Stadt mit einem Bus zu einer zusammengelegten Megaschule fahren, die für fünf unterschiedliche Gemeinden zuständig war. Dorthin gingen Kinder wie Giana Leone aus dem wohlhabenden McMansion-Viertel ebenso wie Möchtegerngauner wie Thomas Donovan, der im Augenblick Jax’ Apfel anstarrte, als wollte er ihn lieber selbst essen.

»Ich weiß nicht, ob Giana kommen würde«, meinte Billy fröhlich, »aber ich hab keine Angst, sie zu fragen.«

»Wer sagt, dass ich das überhaupt will?« Jax hatte das Mädchen genau einmal angelächelt, und seitdem lag Billy ihm damit in den Ohren. Er konnte nur hoffen, dass Giana, die ganz in der Nähe saß, das nicht gehört hatte. Das Schnauben hinter ihm konnte seiner Meinung nach nur bedeuten, dass Thomas’ Schwester Tegan es mitbekommen hatte. Jax warf einen Blick über die Schulter, doch Tegan beugte den Kopf über die heute fälligen Hausaufgaben, die sie anscheinend noch fertig machen wollte, bevor der Lehrer vorbeikam. Sie sah mit ihrem sommersprossigen Gesicht und dem roten Haar genauso aus wie ihr Zwillingsbruder, und Jax bezweifelte sogar, dass Tegan eigene Klamotten besaß. Sie trug ständig dieselben viel zu großen Hoodies und ausgebeulten Jeans, genau wie Thomas.

»Frag Riley heute Abend«, flüsterte Billy.

Jax seufzte. Er glaubte nicht, dass Riley ihm eine Party erlauben würde. Riley hatte gern seine Privatsphäre. Bei Jax’ Einzug hatte er nicht einmal Internet gehabt.

»Wie kannst du kein Internet haben?«, hatte Jax an seinem zweiten Tag im Haus gefragt.

»Ich will es nicht.«

»Wieso denn das? Lebst du im Mittelalter?«

Riley hatte laut aufgelacht. »Ha! Sehr witzig!«

»Aber du hast doch Kabelfernsehen.«

»Ich sehe eben gern fern. Was ich jedoch nicht mag, ist jedem mit einer Internetverbindung die Möglichkeit zu geben, meinen Computer zu hacken.«

Das war das Paranoideste, was Jax je gehört hatte. Er stand da, klappte den Mund auf und zu wie ein Fisch und hielt das Ethernetkabel seines Computers in der Hand, das er nirgendwo anschließen konnte. »Ich brauche es aber für die Schule.«

»Geh halt in die öffentliche Bibliothek.«

Jax war erstaunt, dass Riley überhaupt wusste, was eine Bibliothek war. »Ich hasse diesen Ort, und ich hasse dich!« Er schleuderte das Kabel auf den Boden, und da das wenig zufriedenstellend war, fegte er noch eine Kiste mit Büchern von dem Schreibtisch, der ihm in einer Ecke der Küche zur Verfügung gestellt worden war. »Wieso konntest du mich nicht einfach da lassen, wo ich war?«

Riley erwiderte nichts.

Jax trat noch einen Stuhl um, stürmte nach oben in sein hässliches Zimmer und knallte die Tür zu.

Als er am nächsten Tag aus der Schule kam, hockte Riley mit einem Werkzeugkasten unter dem Schreibtisch. »Hey! Was machst du an meinem Computer?«

»Ich schließe ihn ans Internet an«, erwiderte Riley und schraubte etwas an der Wand an.

Jax hatte sich nicht bei ihm bedankt, und Riley war auch nicht lange genug geblieben, als dass Zeit dafür gewesen wäre. Dieser Zwischenfall war nie wieder zur Sprache gekommen, allerdings hatte Jax mal gehört, wie A.J. ihn erwähnte.

»Ich fasse es nicht, dass du ihm Internet besorgt hast. Lebst gern gefährlich, was?«

»Ja, vermutlich. Aber ich weiß, wie er sich fühlt.«

An seinem dreizehnten Geburtstag bekam Jax nach der Schule dank dieser Internetverbindung eine kurze E-Mail von seiner Tante Naomi:

Herzlichen Glückwunsch, Jaxon. Alles Gute von Naomi, Ted und den Kindern.

Trotz des Versprechens, das sie Jax an dem Tag gegeben hatte, als Riley ihn dort wegholte, hatte Naomi nicht gerade für Jax gekämpft. Die gerichtliche Anhörung war grundlos abgesagt worden, und er hörte immer seltener etwas von Naomi. Jax öffnete ein Chatfenster.

Jaxattax: hi naomi können wir chatten?

Er machte sich etwas Dosenchili warm, während er auf eine Antwort wartete. Nach einer Weile tauchte eine neue Nachricht auf.

Naomi: hi jax. wollte dich anrufen.

Jax ließ sich auf den Stuhl fallen und tippte:

Jaxattax: gibt’s was neues?

Naomi: leider nicht. es ist hart, seitdem ted den job verloren hat. anwälte sind teuer.

Jax fuhr mit den Fingern über die Tastatur und versuchte, sie auf taktvolle Weise daran zu erinnern, dass sie Geld aus dem Erbe seines Vaters bekommen würde, wenn sie statt Riley sein Vormund wurde.

Naomi: die sachbearbeiterin, die du letzten monat getroffen hast, sagte, du hättest dich gut eingelebt und wärst glücklich, daher dachte ich, die lage hätte sich verbessert.

Jaxattax: was hat sie gesagt?!?!

Jax hatte der Sachbearbeiterin erzählt, dass Riley vergessen hatte, die Stromrechnung zu bezahlen, und beinahe auch die Gasrechnung vergessen hätte, dass er nur so viele Lebensmittel kaufte, wie er auf seinem Motorrad mitnehmen konnte, dass er kaum für sich selbst sorgen konnte und auf gar keinen Fall fähig war, sich um Jax zu kümmern. Aufgrund der entsetzten Miene der Frau hatte Jax schon geglaubt, sie würde ihn einfach in ihren Wagen setzen und zurück nach Delaware fahren. Wie konnte sie dann behaupten, er »hätte sich eingelebt und wäre glücklich«?

Jaxattax: ich hab ihr dasselbe gesagt wie dir. hier ist es scheiße!

Naomi: sie hält es für keine gute idee, dich so schnell wieder umziehen zu lassen

Jaxattax: IST es aber. so bald wie möglich.

Naomi: du weißt, dass ich nur das beste für dich will, schatz, aber ich muss ihr leider zustimmen

Jax schluckte schwer und verharrte mit den Fingern über der Tastatur.

Naomi: ich muss den kindern jetzt essen kochen. alles gute zum geburtstag, jax.

Bevor er etwas erwidern konnte, hatte Naomi den Chat auch schon beendet.

* * *

In dieser Nacht schlief Jax schlecht, und am nächsten Morgen wachte er schon vor dem Weckerklingeln auf. Armwedelnd schaltete er den Wecker aus, bevor er losgehen konnte, und rollte sich aus dem Bett, ohne auf die Uhr zu sehen. Er zog sich Jeans und ein T-Shirt an, sah lange genug in den Spiegel, um mit den Fingern durch sein zerzaustes braunes Haar zu fahren … und das musste reichen.

Wieder einmal gab es im Haus nichts, was er zum Frühstück essen konnte. Der Kühlschrank summte nicht, als Jax die Tür öffnete, und das Licht darin ging nicht an. Hatte er endgültig den Geist aufgegeben oder …? Jax streckte eine Hand aus und legte den Lichtschalter um. Kein Licht, kein Strom. Wieder einmal. Seufzend nahm Jax etwas Bargeld aus der Katzenkasse und schnappte sich seinen Rucksack. Er würde sich im Laden an der Ecke einen Frühstücks-Burrito kaufen müssen, bevor der Bus kam.

Der Morgenhimmel war seltsam rosa und lila, als er das Haus verließ, fast wie vor einem Sturm. Jax rannte über den Bürgersteig und schaute in beide Richtungen, bevor er die Kreuzung überquerte … doch dann verharrte er und sah sich abermals um.

Nirgendwo auf der Straße war ein Auto zu sehen. Dabei war dies die übliche Zeit, in der die Leute zur Arbeit fuhren. Doch die Straße war leer, und nur vor dem Geschäft an der Ecke parkte ein Wagen in der Nähe der Mülltonnen.

War das Geschäft etwa geschlossen? Es hatte doch sonst immer rund um die Uhr auf. Er drückte gegen die Tür, und das Licht war zwar an, allerdings ein bisschen gedämpft, aber er konnte niemanden sehen. »Hallo?«, rief Jax. Er nahm sich einen Frühstücks-Burrito und steckte ihn in die Mikrowelle, doch das Gerät wollte nicht angehen. War ja mal wieder klar. Mein Leben ist ein kalter Burrito.

Er legte seinen nicht erhitzten Burrito auf den Ladentresen und fischte zwei Dollar aus seiner Gesäßtasche. »Ist hier jemand?«, rief er. Vielleicht war der Angestellte ja auf der Toilette. Genau wie alle anderen …

Jax sah aus dem Fenster. Noch immer fuhren keine Autos vorbei. Keine Kinder versammelten sich an der Bushaltestelle an der Ecke. Vor dem Haus der Blums sprengte niemand den kostbaren Rasen. Sein Blick wanderte nach oben zu dem bizarren rosa- und lilafarbenen Himmel.

Ach du Scheiße.

Vielleicht waren das auch Tornados. Hatte er etwa eine Sirene überhört? Kauerten sich alle anderen in ihre Keller, um der Gefahr zu entgehen, während Jax Aubrey sich in einem Geschäft mit Glaswänden einen Frühstücks-Burrito kaufte?

Er ließ die Geldscheine liegen, schnappte sich den Burrito und rannte nach Hause. Möglicherweise wäre es schlauer gewesen, zum nächsten Haus zu laufen und darum zu bitten, dass man ihn hineinließ, doch er fühlte sich seltsamerweise verantwortlich für die eine Person, die noch dümmer war als er selbst. »Riley!«, brüllte er, kaum dass er durch die Haustür gestürzt war. »Riley, bist du da?« Er stürmte die Treppe hinauf, wobei er immer zwei Stufen auf einmal nahm, und riss die Tür zum Zimmer seines Vormunds auf. Doch das Bett war leer. Alter, ich komm extra wegen dir zurück, und wenn du jetzt ohne mich in den Keller gegangen bist …

Jax stürmte nach unten, holte sein Handy aus seinem Rucksack und lief nach draußen zu der hölzernen Kellertür an der Hausseite. Sie war schwer, und er musste sie mit einer Hand über seinem Kopf festhalten, während er die Treppe hinunterstolperte. Als er losließ, verfehlte die Tür seinen Kopf nur um wenige Zentimeter. »Bist du hier unten, Riley?«, rief Jax und versuchte, sich mithilfe des Handydisplays etwas Licht zu machen. Doch das blöde Ding ging einfach nicht an. Notgedrungen arrangierte er sich mit der Dunkelheit. Er setzte sich auf den Boden, der nur aus festgetretener Erde bestand, mit dem Gesicht zur Wand und den Armen über den Kopf, so wie er es in der Schule gelernt hatte.

Er wartete über eine Stunde, jedenfalls glaubte er das. Doch es war kein Wind zu hören. Keine Sirenen. Als er es nicht länger aushielt, erklomm er die Kellertreppe und drückte die Tür auf. Der Himmel sah noch immer merkwürdig aus, aber jetzt eher rosa als lila. Jax stemmte die Tür ganz hoch, verankerte sie, sodass sie offen blieb, und ging in den Garten. Diesmal sah er sich richtig um.

Die Wagen der Nachbarn parkten auf der Straße und in den Auffahrten, so wie es normalerweise abends der Fall war. Jax spähte in den Schuppen im Hof, in dem Riley immer sein Motorrad abstellte, aber die Honda 350 war nicht da. Es machte ganz den Anschein, dass ausgerechnet Riley heute zur Arbeit gegangen war, ganz im Gegensatz zu allen anderen Nachbarn.

Jax durchquerte den Garten und klopfte an Mrs Ungers Tür. »Sind Sie da, Mrs Unger?« Er ging um das Haus herum und spähte in jedes Fenster und durch die Küchentür. Als er ein wenig zurückwich und nach oben sah, glaubte er, einen Vorhang im ersten Stock flattern zu sehen, als hätte jemand ihn eben losgelassen. »Mrs Unger!«, brüllte er. Danach starrte er das Fenster an, konnte jedoch keine weitere Bewegung entdecken und bekam keine Antwort, daher gab er auf und lief über die Straße zu einem anderen Haus.

Er klopfte an jede Tür im ganzen Block, rief um Hilfe und wurde immer panischer. Schamlos spähte er in die Fenster seiner Nachbarn, doch in jedem Haus bot sich ihm dasselbe Bild: Es gab keinerlei Anzeichen für einen Kampf, hastiges Packen oder irgendetwas Ungewöhnliches.

Doch nirgends war eine Menschenseele zu sehen.

Billy Ramirez lebte nur einen Block weiter, doch auch in diesem Haus reagierte niemand auf das verzweifelte Klopfen. Jax wusste, dass in der Nase eines Tiki-Kopfes auf der Terrasse ein Ersatzschlüssel versteckt war, und öffnete damit die Tür. Im Haus war es gespenstisch still. Erneut erkundigte er sich laut, ob jemand zu Hause war, und erhielt keine Antwort. Jax versuchte, den Fernseher einzuschalten, der jedoch genau wie sein Handy nicht anging. Die Uhren an der Mikrowelle und am DVD-Player zeigten 12:00 Uhr an, als hätten sie sich nach einem Stromausfall nicht zurückgesetzt – allerdings blinkten sie nicht.

Beinahe wäre er vor lauter Angst vor dem, was er dort vielleicht vorfinden würde, nicht in den ersten Stock gegangen, doch nach zwei Fehlstarts und einer langen Zeit, die er mit dem Türknauf in der Hand an der Haustür verbracht hatte, um jederzeit rauslaufen zu können, holte Jax tief Luft und rannte nach oben. Er zuckte jedes Mal zusammen, wenn er eine Tür öffnete, doch es gab rein gar nichts zu sehen – kein blutiges Horrorszenario wie aus einem Film. Die Betten sahen aus, als hätte jemand darin geschlafen, doch Billy und seine Eltern waren nicht da.

Nachdem er das Haus der Ramirez’ wieder verlassen hatte, holte Jax sein Fahrrad und radelte in die Stadtmitte. Die Straßen waren leer. Die eingeschalteten Ampeln zeigten entweder Grün, Rot oder Gelb an, sprangen jedoch nicht um.

Er musste an Zombies denken.

Er musste an Entführungen durch Aliens denken.

Er musste an SpongeBob Schwammkopf denken und die Folge, in der alle mit einem Bus die Stadt verlassen hatten, um mal einen Tag lang von SpongeBob wegzukommen.

Dann musste er an diesen alten Film denken, in dem Will Smith und sein Hund die letzten Kreaturen auf der Erde waren.

»Ach, verdammt!«, schrie Jax und trat in die Bremse.

Will Smith und sein Hund waren in diesem Film überhaupt nicht allein gewesen. Darin hatte es noch andere Kreaturen gegeben, die an dunklen Orten lauerten und nachts zum Töten herauskamen.

Jax brauchte drei Anläufe, bis er mit einem Pflasterstein vom Parkplatz die Glastür des Walmart eingeschlagen hatte. Im Inneren brannte nur gedämpftes Licht, sodass Jax zwar einiges erkennen konnte, es aber noch immer jede Menge unheimliche Schatten gab.

Er füllte einen Einkaufswagen mit Vorräten, wie er es bei Leuten vor Schneestürmen, Hurrikanen oder in Zombiefilmen gesehen hatte. Mit einer Hand am Fahrrad und der anderen am Einkaufswagen ging er wieder nach Hause und hielt die Augen nach Menschen und Monstern offen. Zu Hause trug er sein Diebesgut nach oben, da er davon ausging, sich im ersten Stock besser verteidigen zu können. Den Schuppen tat er als einfaches Ziel ab, und so versteckte er sein Fahrrad und den Walmart-Einkaufswagen unter einem Busch hinter dem Haus. In Apokalypse-Filmen gab es immer irgendwelche herumlaufenden Überlebenden, die einem alles stehlen wollten, was man hatte.

Stunden verstrichen, während er aus den Fenstern schaute. Er hätte sich sogar darüber gefreut, A.J. Crandall zu sehen, aber da waren keine Menschen, keine Tiere, keine Zombies – rein gar nichts.

Der Tag lastete schwer auf ihm, und die Zeit schien wie in Zeitlupe zu verstreichen. Er wünschte sich eine Uhr, die noch lief und tickte, oder irgendetwas anderes, das ein Geräusch machte. Seltsamerweise fühlte er sich von Rileys Zimmer angezogen – fast so, als würde er ihn vermissen, was völlig unmöglich war. Er kramte in den Habseligkeiten seines Vormunds herum, kickte schmutzige Kleidungsstücke über den Boden, zog Schubladen auf und betrachtete das Foto eines unbekannten Mädchens, das am Spiegel klemmte. Hier gab es allerdings auch nicht mehr Antworten zu finden als im Haus der Ramirez’.

Er musste sich regelrecht dazu zwingen, kalten Eintopf aus der Dose zu essen und eine Flasche Wasser zu trinken. Es kam nur selten vor, dass Jax keinen Appetit hatte, war jedoch auch an dem Tag passiert, an dem sein Dad nicht nach Hause gekommen war … an dem Tag, an dem man seinen Wagen im Fluss fand … und an dem Tag, an dem Riley Pendare ihn hier hergebracht hatte.

Als es draußen zu dunkel wurde, um außer dem schaurigen Schimmern der Straßenlaternen noch etwas erkennen zu können, zog er die Vorhänge zu und machte sich in seinem Bett ganz klein, um auf die Morgendämmerung zu warten. Morgen früh würde er es riskieren, sich auf die Suche nach anderen Überlebenden zu machen.

Sein letzter Gedanke, bevor er in einen unruhigen Schlaf fiel, drehte sich darum, dass er nicht der letzte Mensch auf Erden sein wollte.

»Steh auf, Jax! Du verpasst den Bus.«

Das Hämmern an Jax` Zimmertür ließ sein Herz vor Panik schneller schlagen, auch wenn er sich an den Grund dafür nicht mehr erinnern konnte. Ein schlechter Traum?

»Jax! Ich muss zur Arbeit! Ich kann dich nicht zur Schule fahren.«

»Okay, okay!« Er rieb sich die Augen und setzte sich auf. Seine geöffnete Schranktür auf der anderen Zimmerseite gab den Blick frei auf die Wasserflaschen und Konserven, die sich dort hüfthoch stapelten.

Es war kein Traum.

Draußen jaulte der Motor eines Motorrads auf.

»Riley!«, brüllte Jax. Er sprang aus dem Bett und stolperte die Treppe hinunter und aus dem Haus, doch er konnte nur noch sehen, wie sein Vormund davonfuhr.

Jax blieb stehen und sah sich mit offenem Mund um.

Auf der anderen Straßenseite setzte eine Frau gerade ein Kleinkind in einem Kindersitz in ihr Auto. Ein alter Mann ging mit zwei Hunden am Haus vorbei. Mr Blum sprengte seinen Rasen, der gefährlich braun aussah, während über ihren Köpfen ein Jet einen weißen Kondensstreifen über den Himmel zog.

Krasser Scheiß, das war doch genau wie in der SpongeBob-Folge. Alle haben die Stadt verlassen, um einen Tag ohne Jax zu erleben, und jetzt sind sie wieder da.

Er musste sich am Türknauf festhalten, weil er weiche Knie bekam.

Ich bin in einen Walmart eingebrochen!

Jax lief wieder nach oben. Er zog sich saubere Klamotten an und schloss die Schranktür. Als er hinunter in die Küche rannte, entdeckte er etwas Brot auf der Arbeitsplatte und daneben neue Gläser mit Erdnussbutter und Marmelade.

Ist ja mal wieder typisch, dass Riley einkaufen geht, wenn ich haufenweise geklaute Konserven in meinem Zimmer verstecke.

Er erreichte den Bus in letzter Minute. Darin sah er all die üblichen Gesichter, und keiner verlor ein Wort darüber, dass alle verschwunden gewesen waren. Billy war in seine Lektüre vonDer Herr der Ringe: Die Gefährten vertieft, und Jax setzte sich neben ihn.

Ist das alles wirklich passiert?

Als der Bus durch die Stadt fuhr, schaute Jax aus dem Fenster. Einige Walmart-Angestellte vernagelten die eingeschlagene Glasscheibe neben der Eingangstür mit Brettern.

Er machte sich auf seinem Sitz ganz klein. Es ist passiert.

Im Wissenschaftsunterricht in der ersten Stunde zitterte seine Hand, als er seinen Namen und das Datum auf ein Blatt Papier schrieb.

»Steht die Party?« Billy setzte sich neben ihn.

»Riley hat Nein gesagt«, flunkerte Jax, denn er hatte überhaupt nicht gefragt.

»Ach, Mist. Na, dann komm morgen nach der Schule wenigstens mit zu mir zum Essen.«

»Klar«, murmelte Jax. Dann hob er den Kopf. »Morgen ist Samstag.«

»Morgen ist Freitag.« Billy tippte auf das Datum, das Jax auf das Papier geschrieben hatte. »Heute ist Donnerstag, du Nulpe.«

Jax starrte Billy an. Gestern war Donnerstag gewesen. Er blickte zum Nachbartisch hinüber. »Hey, Giana. Ist heute Donnerstag oder Freitag?«

Giana warf sich das lockige braune Haar über die Schulter. »Donnerstag. Den ganzen Tag.« Sie warf ihrer Freundin Kacey einen Seitenblick zu, die die Augen verdrehte und lachte.

»O-kay.« Jax radierte das Datum so heftig weg, dass er beinahe das Papier zerriss.

Heute war Donnerstag, der Tag nach seinem Geburtstag. Der Tag, an dem er in einen Walmart eingebrochen war, hatte überhaupt nicht stattgefunden. Doch als die Tür des Klassenzimmers erneut geöffnet wurde, zuckte er zusammen und rechnete schon damit, dass die Polizei hereinkam. Aber es waren nur die Donovans, die mal wieder zu spät kamen, was ein- oder zweimal die Woche passierte.

Als Tegan an Jax’ Schreibtisch vorbeiging, blieb sie stehen, woraufhin Thomas gegen sie prallte. Jax blickte auf und stellte fest, dass die Zwillinge ihn anstarrten. »Was ist?«, verlangte Jax zu erfahren. Gut, er hatte an diesem Morgen nicht geduscht – und auch nicht an dem Tag, an den sich niemand erinnerte –, konnte sich aber trotzdem nicht vorstellen, dass er stank.

Tegan stieß ihren Zwillingsbruder mit dem Ellbogen an, und Thomas nickte und ging dann zu seinem Platz am Fenster. Normalerweise zog er sich die Kapuze über den Kopf und machte in der 1. Stunde ein Nickerchen, aber heute war sich Jax unangenehm bewusst, dass Thomas ihn die ganze Zeit anstarrte.

Das passte zu dem anderen Blick, den er in seinem Nacken spürte, wo Tegan saß.

* * *

Sobald Jax zu Hause war, überprüfte er das Datum auf seinem Computer. Der Strom war wieder da, und der Kühlschrank funktionierte, genau wie sein Handy. Es war wirklich Donnerstag, aber sein Schrank war voller Walmart-Konserven. Der Alarm an seinem Wecker war ausgeschaltet, doch das hatte er am Vortag nach dem Aufwachen selbst getan.

Jax holte einen Plastikbehälter vom obersten Regalbrett seines Kleiderschranks. Diesen öffnete er nur, wenn es ihm richtig elend ging, weil er vorher nie wusste, ob es ihm danach besser oder schlechter gehen würde. Darin befanden sich der Schmuck seiner Mutter, eine Flasche mit ihrem Parfüm und ein Album, in das sie bis zu Jax’ sechstem Lebensjahr Fotos der Aubrey-Familie geklebt hatte. Nach ihrem Tod hatten weder er noch sein Dad damit weitergemacht. Vor vier Monaten hatte Jax noch die Rolex seines Vaters zu der kleinen Sammlung hinzugefügt, ebenso wie eine dreißig Zentimeter lange und fünfzehn Zentimeter breite Holzkiste. Seitdem Jax hier wohnte, hatte er den Behälter erst einmal geöffnet, um die Holzkiste herauszuholen und sicherzustellen, dass Riley den Inhalt nicht geklaut hatte.

Nicht lange nach seinem Einzug war Jax eines Tages von der Schule nach Hause gekommen und hatte Riley und A.J. bei einem angeregten Gespräch in der Küche ertappt. Auf dem Tisch zwischen ihnen lag etwas, das Jax erkannte. »Hey!« Er stürzte durch den Raum. »Der gehört meinem Dad!«

Doch Riley nahm das Objekt vom Tisch, bevor Jax es erreichen konnte. »Nein, der gehört mir.« Danach hielt er den Dolch so, dass Jax ihn sehen konnte: mit dem Griff oben und der Klinge unten – so wie jemand ein Kreuz hochhielt, um einen Vampir aufzuhalten.

Jax knickte ein. Riley zeigte ihm das Messer so, als würde er erwarten, dass Jax den Unterschied zur Waffe seines Vaters erkannte. »Mein Dad hatte auch so einen«, sagte Jax halb anklagend, halb als Rechtfertigung.

»Das weiß ich. Aber das hier ist meiner.« Danach steckte Riley ihn in eine Scheide an seiner Hüfte. Es war schon komisch, dass er so was tat, wenn er nicht auf die Jagd gehen wollte. Zudem wäre ein solcher eher dekorativer Dolch eine seltsame Wahl, um damit Hasen zu häuten oder Rehe auszuweiden – oder was immer Jäger so machten.

Jax rannte sogleich nach oben, um in den Behälter in seinem Zimmer zu sehen. Der Dolch seines Vaters lag noch darin, wo er hingehörte. Er hatte eine zwölf Zentimeter lange Klinge und einen Griff aus Gussmetall, in den das Wappen der Aubrey-Familie eingraviert war. Die Gravur auf Rileys Messer sah anders aus, doch ansonsten ähnelten sich die Waffen sehr.

Nachdem er die beiden Dolche gesehen hatte, musste Jax notgedrungen akzeptieren, dass sein Vater und Riley einander gekannt hatten. Sein Dad hatte ihm den Dolch oft gezeigt und angedeutet, dass dieser für die Mitgliedschaft in einem Club stand. Jax war davon ausgegangen, dass damit so etwas wie die Freimaurer oder die Elks gemeint waren. Zwar konnte er sich Riley nicht als Mitglied in einem dieser Clubs vorstellen, doch er und Jax’ Vater hatten ganz offensichtlich irgendein Geheimnis geteilt.

Heute verschloss Jax den Behälter wieder. Nun hatte er seine eigenen Geheimnisse. Nur die Rolex seines Vaters hatte er nicht wieder darin verstaut, vielmehr zog er sie auf und legte sie sich um.

Er hatte nicht vor, jemals wieder sein Zeitgefühl zu verlieren.

* * *

Jax sah regelmäßig auf die Uhr. Die Tage verstrichen, ohne dass abermals etwas Seltsames passierte, und wären da nicht die Gegenstände in seinem Schrank gewesen, hätte er sich einreden können, sich alles nur eingebildet zu haben.

Am Montag nach der Schule stellte Riley einen Stapel Bücher auf dem Schreibtisch ab, an dem Jax an seinem Computer arbeitete. »Fährst du zur Bibliothek?«, fragte Riley ihn.

Jax griff nach dem obersten Buch. Das Cover sah irgendwie mädchenhaft aus mit den Blumen, dem Sonnenuntergang und einer Frau in einem schönen Kleid. »Wieso, willst du etwa die Fortsetzung lesen?« Er blickte zu Riley auf. »Ich wusste nicht mal, dass du überhaupt lesen kannst.«

Riley verschränkte die Arme. »Hast du Mrs Unger gesagt, dass du dieses Wochenende in die Bibliothek fährst?«

Ja, das hatte er. Jax schaute auf die Uhr seines Vaters. Diesmal war die Zeit nicht weitergesprungen, er hatte sich nur wegen seines geheimen Tages solche Sorgen gemacht und sein Versprechen daher glatt vergessen. Er wollte die alte Dame auf keinen Fall enttäuschen, aber es gefiel ihm überhaupt nicht, von Riley darauf hingewiesen zu werden. »Hat sich ihr Geist wieder mal beschwert?«, wollte er gereizt wissen und knallte das Buch wieder auf den Stapel.

»Ihr Geist?«, fragte Riley verblüfft.

»Mrs Unger ist ein wenig …« Jax wirbelte einen Zeigefinger neben seiner Schläfe herum.

Riley starrte ihn an. »Bringst du die Bücher jetzt zurück oder nicht?«

Wieso interessiert dich das?, hätte Jax am liebsten gefragt, oder, noch besser: Mach du das doch. Aber Jax wollte nicht miterleben, wie Riley Mrs Unger einen Gefallen tat. Er sah ihn viel lieber als Blödmann an. »Ja, ich fahre heute Abend hin.«

»Ich bitte darum«, brummelte Riley, woraufhin sich Jax noch viel mehr fragte, wieso Riley ihm damit auf die Nerven ging.

* * *

Abgesehen von Rileys plötzlichem Interesse an Mrs Ungers Lesegewohnheiten geschah den Großteil der Woche nichts Seltsames mehr. Aber als Jax’ Wecker ihn am Donnerstagmorgen nicht weckte und die Uhr an seinem Handgelenk nicht tickte, setzte er sich alarmiert auf. Er ahnte bereits, bevor er die Vorhänge aufzog, was ihn draußen erwartete.

Der Himmel schimmerte in einem hellen Lilaton, und auf der Straße war nicht ein einziges Auto unterwegs.

Diesmal geriet Jax jedoch nicht in Panik, sondern bemühte sich, alles genau im Auge zu behalten. Sein Wecker zeigte 0:00 Uhr an und reagierte auf keinen Knopfdruck. Das Licht in seinem Zimmer ging nicht an, als er den Schalter umlegte, und auch die Uhr seines Vaters war um Punkt Mitternacht stehen geblieben. Unten ließen sich weder die Mikrowelle noch der Kühlschrank einschalten, doch seltsamerweise funktionierte der Gasherd. Achselzuckend frühstückte Jax ein paar Haferflocken.

Danach radelte er durch die Stadt, die genauso leer war wie beim letzten Mal, und hinaus auf die Interstate. Zunächst glaubte Jax, der Highway wäre ebenfalls verlassen, doch dann entdeckte er ein Fahrzeug auf der Gegenfahrbahn. Mit einem aufgeregten Jauchzer wedelte er mit beiden Armen über dem Kopf, um auf sich aufmerksam zu machen, doch der Wagen kam gar nicht auf ihn zu. In der Nähe des stehenden SUV hielt Jax an und sprang von seinem Fahrrad. Der Fahrersitz des Wagens war leer, und es lief ihm eiskalt den Rücken herunter. Er streckte eine Hand aus, um die Tür zu öffnen, und ein Funke sprang vom Metall auf ihn über. Daher zog er den Ärmel herunter und versuchte es noch einmal, doch jeder Versuch, das Fahrzeug zu berühren, lief auf einen Stromschlag hinaus.

Jax beugte sich so weit vor, wie er es wagte, und spähte durch das Fenster auf der Fahrerseite. Er wusste gar nicht, wonach er Ausschau hielt, bis er es bemerkte. Die Automatikschaltung stand auf Fahren. Dieser Wagen war nicht geparkt worden, sondern sollte sich eigentlich bewegen. Fahren.

Ursprünglich hatte Jax vorgehabt, in die nächste Stadt zu fahren und herauszufinden, ob dort dasselbe geschah, doch dieser Wagen hatte ihm die Frage beantwortet. Wäre es nicht überall genauso, müsste der Verkehr auf dem Highway weiterlaufen und dieser SUV und sein verschwundener Fahrer dürften gar nicht hier stehen.

Daher fuhr er stattdessen nach Hause. Wenn er sich recht erinnerte, befand sich in einem der Umzugskartons aus seinem alten Haus noch eine Kamera. Er hatte sie seit Jahren nicht benutzt, weil er immer die Handykamera nahm, doch sein Handy funktionierte heute nicht, die Kamera vielleicht schon.

Jetzt, da er wusste, dass morgen alles wieder normal sein würde, war Jax richtig aufgeregt. Er würde diesen verrückten Zustand festhalten und Billy die Fotos zeigen. Rasch sprang er die Stufen zum Haus hinauf, riss die Tür auf und prallte direkt gegen Riley.

»Jax!« Riley packte Jax am T-Shirt und schleifte ihn ins Wohnzimmer.

Nach einem ersten überraschten Aufschrei war Jax enttäuscht. Diese faszinierende Welt gehört nicht ihm allein. Er musste sie mit Riley Pendare teilen.

Riley drückte Jax in einen Sessel und nahm ein Funkgerät von seinem Gürtel. »Ich war fest davon überzeugt, dass du ein Blindgänger bist«, erklärte Riley und sprach dann ins Funkgerät. »Milena, hörst du mich? Over.«

Eine Frauenstimme antwortete: »Ich bin hier, Riley. Over.«