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"Der achtsame Weg durch die Depression" wurde für all jene geschrieben, die an Depression oder chronischer Unzufriedenheit leiden und auf der Suche nach einem Weg sind, ihr Leben zufriedener und ausgeglichener zu gestalten. In diesem Grundlagenwerk entfalten drei der führenden Vertreter der Kognitiven Psychotherapie gemeinsam mit Jon Kabat-Zinn die praktischen und theoretischen Voraussetzungen der Achtsamkeitspraxis – am Beispiel der Begleitung von Menschen, die an Depression erkrankt sind. Dieser unter dem Titel "Achtsamkeitsbasierte Kognitive Therapie" (MBCT) bekannt gewordene Ansatz wurde von Zindel Segal, Mark Williams und John Teasdale entwickelt. Er basiert auf der von Jon Kabat-Zinn ins Leben gerufenen "Stressbewältigung durch Achtsamkeit". Der Einsatz der Achtsamkeitspraxis in der Begleitung und positiven Beeinflussung von Depressionen, kurz MBCT, verhilft derzeit der Achtsamkeitspraxis auch in der psychotherapeutischen Anwendung zum Durchbruch. Geführte Meditationen zur Begleitung der täglichen Praxis runden das praxisorientierte Programm ab
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Seitenzahl: 456
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Mark Williams, John Teasdale,Zindel Segal & Jon Kabat-Zinn
Aus dem Englischen vonUte Weber & Bettina Wehner
Arbor VerlagFreiburg im Breisgau
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© 2007 The Guilford Press – A Division of Guilford Publications, Inc.
© 2009, 2023 der deutschen Ausgabe: Arbor Verlag GmbH, Freiburg
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel: The Mindful Way through Depression: Freeing Yourself from Chronic Unhappiness
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage der veränderten Neuausgabe 2023
Titelfoto: © 2009 photocase.com | daniel.schoenen
Lektorat: Richard Reschika
Gestaltung: Anke Brodersen
www.arbor-verlag.de
ISBN E-Book: 978-3-86781-414-0
Depressive Erkrankungen gehören zu den häufigsten und belastendsten Problemen unserer Zeit: Übereinstimmend fanden sich in den zurückliegenden Jahren in großen Untersuchungen klare Hinweise darauf, dass Depressionen zunehmen, die Beeinträchtigung hoch ist und immer mehr Menschen wegen Depressionen frühberentet werden. Besonders bedrückend ist die Tatsache, dass die meisten Betroffenen nicht nur eine depressive Episode erleben, sondern nach einer mehr oder weniger langen stabilen Zeit häufig erneut depressiv erkranken.
Die positive Nachricht nach diesen negativen Fakten ist, dass Depressionen heutzutage gut behandelt werden können: Das Mittel der ersten Wahl bei leichten bis mittelschweren Depressionen ist die Psychotherapie (kognitive Verhaltenstherapie, interpersonelle Therapie, psychodynamische Kurzzeittherapie), insbesondere bei schweren Depressionen ist auch die Einnahme von Antidepressiva zu empfehlen.
Auf dem Markt findet sich eine beachtliche Anzahl von Selbsthilfebüchern für Depressive, von denen manche sehr empfehlenswert sind, während andere eher zweifelhafte Vorgehensweisen zur Bewältigung der Depression vorschlagen. Wir sind der Meinung, dass das in diesem Buch beschriebene Vorgehen eine wichtige Neuerung für die Behandlung der Depression ist: Die Autoren sind namhafte Wissenschaftler und Psychotherapieforscher, die sich in jahrelanger Arbeit mit dem Problem von Rückfällen bei Depressionen beschäftigt haben. Ihre Arbeiten legten zunächst auf theoretischer Ebene nahe, dass im Rückfallgeschehen „kleinen“ Verstimmungen eine große Rolle zukommt: Alle Menschen haben von Zeit zu Zeit Stimmungsschwankungen, schlechte Tage oder sind einfach „schlecht drauf“. Für die meisten Menschen sind das Phänomene vorübergehender Natur, auf einen dunklen Tag (oder eine dunkle Zeit) folgt ein heller Tag (eine helle Zeit), Menschen sind wieder „besser drauf“ und vergessen die schlechte Stimmung. Im Gegensatz zu vielen Menschen, die einmal depressiv waren. Verständlicherweise erleben sie diese Stimmungsverschlechterungen oft als alarmierend und machen sich auf die (gedankliche) Suche nach den Ursachen für diese Verschlechterung. Leider führt dieses Vorgehen oftmals nicht heraus aus der schlechten Stimmung, sondern noch tiefer hinein: Versuche, sich gleichsam aus der Depression zu grübeln, enden oft in einer tieferen Depression. Aber wie lässt sich diese allzu menschliche Neigung, angestrengt mit dem Kopf verstehen zu wollen, was mit einem los ist, ohne jedoch den lebendigen Kontakt mit sich und der Welt zu verlieren, ändern? Einen genialen Weg entdeckten die Autoren des vorliegenden Buches in alten meditativen Traditionen: Diese beschäftigen sich buchstäblich seit Jahrtausenden mit dem Umgang mit Körperempfindungen, Gedanken und Gefühlen. Eine achtsame Haltung zeichnet sich dadurch aus, dass Menschen weder grübeln (was, wie oben dargestellt, die schlechte Stimmung verlängert) noch sich ablenken (was auf lange Sicht zu Problemen führen kann), sondern die Abläufe des jeweiligen Moments aus einer freundlich-distanzierten Haltung heraus bewusst wahrnehmen. In groß angelegten Studien konnten die Autoren belegen, dass das hier vorgestellte Vorgehen der „achtsamkeitsbasierten kognitiven Therapie“ im Rahmen einer Gruppenbehandlung die Rückfallhäufigkeit im Vergleich zu einer Routinebehandlung halbieren konnte. Die Behandlung verlangte von Menschen, die ehemals depressiv waren, dabei eine ganze Menge: Neben den wöchentlichen Gruppensitzungen von ca. zwei Stunden Dauer mussten sie jeden Tag in Eigenregie zu Hause eine Dreiviertelstunde üben. Das Programm dieser Gruppensitzungen finden Sie in diesem Buch zusammengefasst.
Zuletzt noch eine Warnung: Wann sollten Sie das in diesem Buch beschriebene Programm zumindest vorläufig nicht einsetzen? Sollten Sie im Laufe ihrer Erkrankungsgeschichte nicht nur depressive Phasen durchlebt haben, sondern auch Symptome so genannter psychotischer Erkrankungen (z. B. Stimmenhören, wahnhafte Überzeugungen), sollten Sie mit den Übungen vorsichtig sein und sicherheitshalber Ihren behandelnden Arzt oder Psychotherapeuten konsultieren. Auch wenn Sie akut unter einer Depression leiden und Suizidgedanken haben, sollten Sie sich unbedingt professionelle Unterstützung holen (in deren Rahmen dann sicherlich auch die in diesem Buch geschilderten Verfahren eingesetzt werden können). Schließlich sollten Sie sich bewusst machen, dass das in diesem Buch geschilderte Vorgehen nicht geeignet ist, stark belastende äußere Umstände zu verändern. Auch in diesem Fall kann es sinnvoll sein, erhebliche Probleme zunächst mit professioneller Unterstützung zu lösen und auf die hier dargestellten Interventionen später zurückzugreifen. Wir sind davon überzeugt, dass die in diesem Buch geschilderten Übungen nicht nur helfen können, mit weiteren depressiven Episoden besser umgehen zu können, sondern dass Sie dadurch auch einen besseren Bezug zu Ihren Empfindungen im aktuellen Moment bekommen und Ihr Leben auf eine tief gehende Art und Weise bereichern können.
Bochum und Esslingen, im April 2008
Johannes Michalak & Thomas Heidenreich
1
Alice wälzte sich unruhig im Bett hin und her. Sie konnte nicht schlafen. Mittlerweile war es drei Uhr morgens. Vor zwei Stunden war sie mit einem Ruck aufgewacht und hatte im Geiste sofort wieder das Treffen mit ihrem Vorgesetzten vom vergangenen Nachmittag abgespult. Dieses Mal gab es jedoch jemanden, der das Geschehen kommentierte. Es war ihre eigene Stimme, die sie mit bohrenden Fragen bombardierte:
„Warum um Himmels willen habe ich das nur so ausgedrückt? Ich habe wie eine Vollidiotin geklungen. Was hat er denn mit ‚zufrieden stellend‘ gemeint? – Es war vielleicht in Ordnung, aber nicht annähernd gut genug, um eine Gehaltserhöhung zu bekommen? Kristins Abteilung? Was haben denn die mit dem Projekt zu tun? Das ist doch meine Domäne … zumindest jetzt noch. Hat er das gemeint, als er sagte, er wolle einschätzen, wie die Dinge so laufen? Heißt das, er plant womöglich, das Projekt jemand anderem zu überlassen? Ich wusste ja, dass meine Arbeit nicht gut genug ist – definitiv nicht gut genug für eine Gehaltserhöhung und vielleicht nicht einmal ausreichend, um meinen Job zu behalten. Hätte ich das Ganze nur vorher kommen sehen.“
Alice konnte nicht wieder einschlafen. Als der Wecker klingelte, hatte sie ihre Gedanken schon weitergesponnen – von der hoffnungslosen Situation am Arbeitsplatz zu der Notlage, in die sie und ihre Kinder geraten würden, wenn sie sich wieder nach einem Job würde umsehen müssen. Während sie sich wie gerädert aus dem Bett quälte und ins Bad schleppte, stellte sie sich bereits plastisch vor, wie sie von einem potentiellen Arbeitgeber nach dem anderen abgelehnt werden würde.
„Ich kann ihnen das nicht verübeln. Ich verstehe nur nicht, warum ich so oft niedergeschlagen bin. Warum überfordert mich bloß alles so? Alle anderen scheinen doch gut zurechtzukommen. Offensichtlich habe ich’s einfach nicht in mir, Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen. Was hat der Chef noch gleich über mich gesagt?“
Und die Schleife in ihrem Kopf ging wieder von vorne los.
Jim hingegen hatte keinerlei Probleme mit dem Einschlafen. Vielmehr schien es ihm eher schwer zu fallen, wach zu bleiben. Da saß er nun wieder in seinem Auto auf dem Parkplatz vor dem Büro und fühlte, wie ihn das Gewicht des Tages praktisch in den Sitz drückte. Sein gesamter Körper fühlte sich wie Blei an. Er schaffte es gerade noch, seinen Gurt loszuschnallen. Und immer noch saß er bewegungslos und wie festgewachsen da. Er war einfach nicht in der Lage, den Türgriff zu packen und zur Arbeit zu gehen.
Vielleicht würde ihm das ja gelingen, wenn er im Geiste seinen Plan für den Tag durchginge… das hatte ihn doch noch immer in Schwung gebracht, die Dinge ins Laufen gebracht. Doch heute funktionierte auch das nicht. Bei jedem Termin, jedem Meeting, jedem Telefonanruf, den er beantworten musste, hatte er das Gefühl, schwer schlucken zu müssen, und das Ding, das er da zu schlucken hatte, fühlte sich an wie ein bleierner Kloß. Und mit jedem Schlucken schweifte seine Konzentration von der Terminplanung ab und zu jenen bohrenden Fragen hin, die ihn jeden Morgen zu plagen schienen:
„Warum fühle ich mich so schlecht? Ich habe doch alles, was ein Mann sich nur wünschen kann – eine liebevolle Frau, tolle Kinder, einen sicheren Job, ein schönes Heim. Was stimmt also nicht mit mir? Warum kann ich mich nicht zusammenreißen? Und warum ist das immer wieder so? Wendy und die Kinder haben mein ständiges Selbstmitleid gestrichen satt. Sie werden mich nicht viel länger ertragen. Wenn ich nur wüsste, was los ist, dann wäre alles anders. Wenn ich wüsste, warum ich mich so schrecklich fühle, dann wüsste ich, dass ich das Problem lösen und einfach mit meinem Leben weitermachen könnte wie alle anderen auch. Das ist wirklich alles zu dumm!“
Alice und Jim wollen einfach nur glücklich sein. Alice wird Ihnen sagen, dass sie auch gute Zeiten in ihrem Leben kennt. Aber diese scheinen nie von Dauer zu sein. Irgendetwas bringt sie immer wieder ins Schleudern, und Probleme, die sie einfach abgeschüttelt hätte, als sie noch jünger war, scheinen sie jetzt in große Verzweiflung zu stürzen, bevor ihr überhaupt zu Bewusstsein kommt, was eigentlich los ist.
Jim sagt, dass er ebenfalls gute Zeiten gehabt habe – aber er scheint sie als Phasen zu beschreiben, die sich eher durch die Abwesenheit von Schmerz auszeichnen als durch die Präsenz von Freude. Er habe keine Ahnung, was diesen dumpfen inneren Schmerz gehen oder kommen lasse. Er wisse nur, dass er sich nicht mehr erinnern könne, wann er zum letzten Mal einen Abend lachend und scherzend mit Familie oder Freunden verbracht habe.
Während Alice Bilder von Arbeitslosigkeit durch den Kopf schießen, lauert eine tiefe Angst in den Winkeln ihrer Seele – die Angst, dass sie nicht in der Lage sein könnte, das Nötige zu tun, um für sich und ihre Kinder zu sorgen. Nicht schon wieder, denkt sie mit einem Seufzer. Sie erinnert sich noch gut daran, was war, als sie herausgefunden hatte, dass Burt sie betrog, und sie ihn aus dem Haus geworfen hatte. Natürlich war Alice damals traurig und wütend gewesen. Doch sie hatte sich durch seine Behandlung auch erniedrigt gefühlt. Er war ihr nicht treu gewesen. Am Ende hatte sie das Gefühl gehabt, sie habe ihren Kampf um die Beziehung „verloren“. Danach hatte sie sich in ihrer Situation als allein erziehende Mutter gefangen gefühlt. Zunächst hatte sie um der Kinder willen so getan, als ob alles in bester Ordnung wäre. Alle unterstützten sie, doch dann kam ein Punkt, an dem sie dachte, sie sollte jetzt langsam darüber hinweg sein. Sie konnte ihre Familie und ihre Freunde doch nicht andauernd weiter um Hilfe bitten. Vier Monate später fühlte sie sich immer deprimierter. Sie brach immer häufiger in Tränen aus und verlor das Interesse an dem Kinderchor, den sie leitete. Bei der Arbeit konnte sie sich nicht mehr richtig konzentrieren und fühlte sich schuldig, dass sie so eine „schlechte Mutter“ sei. Außerdem konnte sie nicht schlafen und war „ständig am Essen“. Schließlich ging sie zu ihrem Hausarzt, der eine Depression bei ihr diagnostizierte.
Er verschrieb Alice ein Antidepressivum, das ihre Stimmung entschieden verbesserte. Innerhalb von wenigen Monaten war sie wieder die Alte. Das ging so weiter, bis sie neun Monate später einen Unfall mit ihrem neuen Auto hatte und dabei einen Totalschaden verursachte. Sie wurde das Gefühl nicht mehr los, nur knapp dem Tod entronnen zu sein, obwohl sie mit einigen Prellungen davongekommen war. Sie ertappte sich dabei, wie sie den Unfall immer wieder vor ihrem geistigen Auge ablaufen ließ und sich fragte, wie sie nur so fahrlässig hatte sein können, wie sie sich bloß so einer Gefahr hatte aussetzen können, die ihren Kindern den einzigen Elternteil hätte rauben können, den sie noch hatten. Als die düsteren Gedanken immer stärker wurden, bat sie den Arzt um ein weiteres Rezept und fühlte sich bald darauf wieder besser. Dieses Muster wiederholte sich in den nächsten fünf Jahren noch einige Male. Jedes Mal, wenn sie Anzeichen dafür bemerkte, dass sie wieder in den Strudel abrutschte, überfiel sie ein stärkeres Grauen. Alice war sich nicht sicher, ob sie dies noch länger aushalten konnte.
Bei Jim war nie eine Depression festgestellt worden – er hatte mit seinem Arzt nie über seine düsteren Stimmungen oder seine ständige Niedergeschlagenheit gesprochen. Er überstand sie ja, und alles in seinem Leben lief gut – welches Recht hätte er also gehabt, sich bei irgendwem über seinen Zustand zu beschweren? Er würde einfach solange in seinem Wagen sitzen bleiben, bis irgendetwas käme, das ihn dazu bewegen würde, die Wagentür zu öffnen und sich in Bewegung zu setzen. Er versuchte, an seinen Garten zu denken und an all die wunderschönen neuen Tulpen, die bald aus der Erde sprießen würden, aber das erinnerte ihn nur daran, dass er das Herbstlaub noch gar nicht entfernt hatte und jetzt viel Arbeit damit haben würde, den Garten in Ordnung zu bringen. Und dieser Gedanke erschöpfte ihn. Er dachte auch an seine Frau und seine Kinder, doch die Vorstellung, sich heute am Abendbrottisch wieder an der Unterhaltung beteiligen zu müssen, rief in ihm lediglich den Wunsch hervor, früh ins Bett zu wollen, so wie gestern Abend. Er hatte vorgehabt, früh aufzustehen, um das abzuarbeiten, was gestern auf seinem Schreibtisch liegen geblieben war, doch er hatte einfach nicht rechtzeitig aufwachen können. Vielleicht würde er einfach im Büro bleiben, bis er die Aufgabe ein für alle Mal erledigt hatte, auch wenn es bis um Mitternacht dauern sollte…
Alice leidet an einer rezidivierenden depressiven Störung. Jim leidet möglicherweise an Dysthymie, einer Art depressiver Verstimmung, die geringfügigere Auswirkungen hat als eine Depression und eher ein chronischer Zustand ist als eine akute Erkrankung. Die Diagnose spielt keine große Rolle. Das Problem, das Alice, Jim und viele andere Menschen haben, besteht vielmehr darin, dass sie verzweifelt versuchen, glücklich zu sein, doch keine Ahnung haben, wie sie das anstellen sollen. Warum fühlen sich einige Menschen am Ende immer wieder so bedrückt? Warum haben einige Menschen das Gefühl, nie wirklich glücklich zu sein? Warum schleppen sie sich stattdessen durchs Leben, sind chronisch deprimiert und unzufrieden, müde und teilnahmslos und haben wenig Interesse an den Dingen, die ihnen früher Freude bereitet und das Leben lebenswert gemacht haben?
Bei den meisten Menschen beginnt Depression als eine Reaktion auf eine Tragödie, einen Rückschlag oder eine sonstige Wendung im Leben. Die Ereignisse, die am ehesten eine Depression verursachen, sind Verlusterfahrungen, Demütigungen und Niederlagen, die das Gefühl hervorrufen, in den Umständen gefangen zu sein. Alice hatte infolge des Verlustes ihrer langjährigen Beziehung zu Burt eine Depression erlitten. Zunächst wurde sie von berechtigter Empörung angetrieben und packte ihr Leben als allein erziehende Mutter mit aller Kraft an. Doch sie schaffte es nur noch mit Müh und Not, sich um die Hausarbeit zu kümmern, wenn sie spätabends von der Arbeit heimkam. Also gab sie es bald ganz auf, sich nach der Arbeit noch mit Freunden zu treffen, mit ihrer Mutter zu Abend zu essen und sogar ihre Schwester in einem Nachbarstaat anzurufen. Bald litt sie unter bedrückender Einsamkeit und einem ständigen Gefühl des Verlassenseins.
Bei Jim war die Verlusterfahrung etwas subtiler und für die Außenwelt weitaus weniger offensichtlich. Einige Monate, nachdem er von seiner Consulting-Firma befördert worden war, stellte Jim fest, dass er keine Zeit mehr für seine Freunde hatte und nicht mehr an seinem Gartenbau-Verein teilnehmen konnte, weil er immer länger im Büro bleiben musste. Außerdem merkte er, dass ihm seine neue Aufsichtsrolle gar nicht richtig lag. Schließlich bat er darum, wieder auf einen Posten wie seinen früheren zurückversetzt zu werden. Die Veränderung war eine Erleichterung und niemand merkte, dass Jim nicht glücklich war – zunächst nicht einmal Jim selbst. Doch er fing an, die Orientierung zu verlieren, und wirkte oft abwesend. In seinem Kopf kritisierte Jim nachträglich seine Entscheidung. Er analysierte jede noch so kurze Interaktion mit seinen Chefs haarklein und tadelte sich schließlich immer wieder dafür, dass er seine Firma und sich selbst „im Stich gelassen“ habe. Er sprach jedoch nicht darüber und versuchte, diese Gedanken zu ignorieren. Doch in den nächsten fünf Jahren zog er sich immer mehr zurück, litt unter zahlreichen leichten gesundheitlichen Beschwerden und war – mit den Worten seiner Frau – „einfach nicht mehr der Mann, den ich mal kannte“.
Verluste sind ein unvermeidlicher Bestandteil der menschlichen Existenz. Für die meisten Menschen ist das Leben nach einer Krise, wie Alice sie durchgemacht hat, ein gewaltiger Kampf, und viele fühlen sich, so wie Jim, durch Enttäuschungen durch sich selbst oder andere „klein gemacht“. Doch in Alices und Jims Geschichten finden sich auch Hinweise dafür, warum nur einige Menschen und nicht alle nach solch schwierigen Erlebnissen dauerhaft unter den Folgen leiden.
Depressionen sind eine große Belastung, die in der heutigen Zeit Millionen von Menschen plagen und sowohl in der westlichen Welt als auch in Entwicklungsländern, deren Wirtschaftssysteme sich am Westen orientieren, immer häufiger werden. Vor vierzig Jahren waren Menschen, die zum ersten Mal an einer Depression litten, im Durchschnitt über vierzig oder fünfzig Jahre alt; heute liegt das Durchschnittsalter bereits bei Mitte zwanzig. Andere Statistiken (siehe den Kasten „Die Verbreitung von Depressionen in der heutigen Zeit“) zeigen das Ausmaß, das dieses Problem heutzutage angenommen hat, doch das wirklich Erschreckende daran sind die Zahlen, die zeigen, wie hoch die Rückfallquote bei einer depressiven Erkrankung ist [5]. Mindestens die Hälfte der Betroffenen musste feststellen, dass sie zurückkehrte, obwohl sie anscheinend vollständig genesen waren. Nach einem zweiten oder dritten Schub steigt das Rückfallrisiko gar auf achtzig bis neunzig Prozent an. Patienten, die vor ihrem zwanzigsten Lebensjahr zum ersten Mal an Depressionen erkrankt sind, haben ein besonders hohes Rückfallrisiko. Was geht hier vor? Als Psychologen, die sich seit vielen Jahre mit der Behandlung und Erforschung von Depressionen beschäftigen, wollten wir drei (Mark Williams, Zindel Segal und John Teasdale) das herausfinden. Im restlichen Teil dieses Kapitels und im folgenden Kapitel wird erklärt, was die Wissenschaft über das Phänomen Depression und Traurigkeit in Erfahrung gebracht hat und wie dieses Wissen, als wir uns mit unserem vierten Autor (Jon Kabat-Zinn) zusammengetan hatten, letztendlich zu derjenigen Behandlungsmöglichkeit geführt hat, auf die sich dieses Buch gründet.
Eine der bedeutsamsten Tatsachen, die wir herausgefunden haben, ist folgende: Es besteht ein Unterschied zwischen denen, die einen depressiven Schub durchlebt haben, und denen, die keinen gehabt haben. Denn die Depression erzeugt im Gehirn eine Verbindung zwischen einer traurigen Stimmung und negativen Gedanken, so dass dann selbst die ganz normale Traurigkeit solch tief negative Gedanken erneut auslösen kann. Diese Erkenntnis brachte eine ganz neue Dimension in unser Verständnis vom Wesen der Depression. Bereits vor Jahrzehnten sind wegweisende Forscher wie Aaron Beck [6] zu der Einsicht gekommen, dass negative Gedanken bei Depressionen eine entscheidende Rolle spielen. Beck und seine Kollegen brachten unser Wissen über Depressionen entschieden voran, als sie feststellten, dass die Stimmung in hohem Maße durch Gedanken geprägt wird – dass es nicht unbedingt äußere Ereignisse sein müssen, die unsere Gefühle bedingen, sondern vielmehr unsere Einstellungen gegenüber diesen Ereignissen oder unsere Interpretationen davon. Jetzt wissen wir, dass noch viel mehr dahinter steckt. Es ist nicht nur so, dass die Gedanken die Stimmung beeinflussen können, sondern bei Menschen, die depressiv sind, kann die Stimmung wiederum die Gedanken derart beeinflussen, dass es noch weiter abwärts geht. Bei Menschen, die hierfür anfällig sind, ist keine traumatische Verlusterfahrung erforderlich, um wieder in die Abwärtsspirale hineinzugeraten; allein schon die ganz normalen Alltagsschwierigkeiten, die viele andere recht gelassen hinnehmen, können bei ihnen den Abstieg in die Depression bewirken oder ihr Elend von Tag zu Tag zementieren. Wie wir sehen werden, kann diese Verbindung so tief verwurzelt werden, dass die negativen Gedanken, die zur Depression führen, bisweilen von einem so flüchtigen und geringfügigen Gefühl der Traurigkeit ausgelöst werden können, dass es nicht einmal die betroffene Person selbst merkt.
Kein Wunder, dass so viele von uns das Gefühl haben, sich nicht am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen zu können, ganz gleich, wie sehr wir uns bemühen. Wir haben ja keine Ahnung, wo der Abstieg angefangen hat.
Leider erweisen sich unsere tapferen Versuche, herauszufinden, wie wir da hineingeraten sind, als Teil eines komplexen Mechanismus, durch den wir noch tiefer hinabgezogen werden. Wie und warum unsere Bemühungen, uns selbst zu verstehen, zu weiteren Problemen führen anstatt zu Lösungen, das ist eine komplizierte Geschichte. Diese beginnt mit einer grundlegenden Kenntnis der Anatomie der Depression und ihrer vier Schlüsseldimensionen: den Gefühlen, den Gedanken, den körperlichen Empfindungen und den Verhaltensweisen, mit denen wir auf die Geschehnisse des Lebens reagieren. Ein Schlüssel zu diesem Verständnis liegt darin, wie diese verschiedenen Dimensionen untereinander agieren.
Lassen Sie uns einen kurzen Blick auf das gesamte Entwicklungsmuster einer Depression werfen, bevor wir auf die einzelnen Elemente eingehen.
Wenn wir zutiefst niedergeschlagen oder depressiv sind, dann kommt es zu einer wahren Lawine von Gefühlen, Gedanken, körperlichen Empfindungen und Verhaltensweisen, wie sie in der Checkliste der Hauptmerkmale der Major Depression [7] (siehe Kasten S. 35) aufgeführt sind. Der gewaltige emotionale Aufruhr, der nach Erfahrungen von Verlust, Trennung, Zurückweisung oder jeglicher anderen Veränderung erfolgt, die ein Gefühl der Erniedrigung oder Niederlage mit sich bringt, ist etwas ganz Normales. Erschütternde Emotionen sind ein wesentlicher Teil des Lebens. Sie signalisieren uns selbst und anderen, dass wir sehr bekümmert sind und dass etwas Widriges in unserem Leben geschehen ist. Doch die Traurigkeit kann in eine Depression ausarten, wenn sie sich in typisch unbarmherzige negative Gedanken und Gefühle verwandelt. Dieser Sumpf aus negativen Gedanken erzeugt nun Anspannung, körperliche Schmerzen, Erschöpfung und innere Unruhe. Dies wiederum führt zu weiteren negativen Gedanken; die Depression wird immer schlimmer und damit auch das Leid. Wir verschlimmern unseren Erschöpfungszustand nur, wenn wir dagegen angehen, indem wir Aktivitäten aufgeben, die uns normalerweise nähren und aufbauen. Dazu gehört etwa, uns mit Freunden und Familienmitgliedern zu treffen, die uns eine echte Stütze sein könnten. Unsere Erschöpfung nimmt noch zu, wenn wir dagegen angehen und einfach noch härter arbeiten.
Es ist unschwer zu erkennen, dass Gefühle, Gedanken, körperliche Empfindungen und Verhaltensweisen alle eine Rolle beim Auftreten einer Depression spielen. In diesem Kapitel haben wir bereits beschrieben, wie gerädert sich Alice nach einer Nacht voller Selbstanklagen fühlte und dass Jim das Gefühl von einem „Bleikloß“ hatte, den er beim Gedanken an die vor ihm liegenden Aufgaben schlucken zu müssen glaubte. Wie vielen von uns nur allzu gut bekannt ist, kann es schwer sein, auch nur irgendetwas zu tun oder Entscheidungen zu treffen, die uns weiterbringen, wenn wir gerade „down“ sind. Nicht so leicht ersichtlich ist allerdings, wie jeder einzelne Bestandteil dieser „Anatomie“ die Spirale der Depression auslösen kann und wie dann jede andere Komponente ineinander greift und die anderen verstärkt. Durch diesen Vorgang wird jener Gemütszustand, der uns bedrückt oder anfällig für Depressionen macht, immer stärker. Ein genauerer Blick auf die einzelnen Komponenten könnte uns an diesem Punkt helfen, das Gesamtbild klarer zu erkennen.
Die Verbreitung von Depressionen in der heutigen Zeit
Etwa 12 Prozent der Männer und 20 Prozent der Frauen leiden zu irgendeiner Zeit in ihrem Leben an einer Major Depression [der aus dem angelsächsischen Sprachraum stammende Begriff Major Depression wird heute auch im Deutschen allgemein verwendet, um eine schwere Depression und einen phasenhaften Verlauf derselben zu bezeichnen, Anm. d. Ü.].
Die erste Episode einer Major Depression tritt typischerweise ab Mitte zwanzig auf. Ein beträchtlicher Anteil der Betroffenen erlebt eine erste vollständige Episode in der späten Kindheit oder Pubertät [51].
Zu einem gegebenen Zeitpunkt leiden etwa 5 Prozent der Bevölkerung an einer Depression dieses Schweregrads.
Manchmal dauert die Depression an; in 15 bis 39 Prozent der Fälle leiden die Betroffenen ein Jahr nach dem Auftreten der Symptome nach wie vor an einer klinischen Depression [52], und in 22 Prozent der Fälle besteht die Depression auch nach zwei Jahren noch fort [53].
Mit jeder depressiven Episode erhöht sich die Chance, dass die Betroffenen eine weitere depressive Episode durchleben werden, um 16 Prozent [54].
In den Vereinigten Staaten nehmen zehn Millionen Menschen rezeptpflichtige Antidepressiva ein [55].
Wenn Sie zurückdenken, wann Sie sich das letzte Mal unglücklich gefühlt haben, und Ihre Gefühle beschreiben möchten, dann fallen Ihnen möglicherweise viele verschiedene Begriffe dazu ein: traurig, trübselig, niedergeschlagen, mutlos, bedrückt, mich selbst bemitleidend. Diese Gefühle können unterschiedlich stark sein; wir können uns zum Beispiel nur ein bisschen traurig fühlen oder aber sehr, sehr traurig. Es ist ganz normal, dass Emotionen kommen und gehen, doch solche depressiven Gefühle treten nur selten für sich alleine auf. Sie paaren sich in vielen Fällen mit Angst und Sorge, mit Wut und Ärger, mit Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. Reizbarkeit tritt als Symptom von Depressionen besonders häufig auf: Wenn wir „nicht mehr können“, sind wir eher genervt und uns reißt leichter der Geduldsfaden mit unseren Mitmenschen. Wir neigen eher als sonst zu Wutausbrüchen. Bei einigen Menschen, besonders bei jungen, ist die Reizbarkeit ein augenfälligeres Merkmal einer Depression als die Traurigkeit.
Major Depression
Eine Major Depression wird dann diagnostiziert, wenn jemand eines der ersten beiden Symptome auf der folgenden Liste und über einen Zeitraum von mindestens zwei Wochen zumindest vier oder mehr der anderen Symptome auf eine vom normalen Funktionieren abweichende Weise erfährt:
Gefühle von Deprimiertheit oder Traurigkeit, die die meiste Zeit des Tages über anhalten.
Verlust des Interesses oder der Fähigkeit, Freude aus allen oder fast allen Aktivitäten zu beziehen, die man vorher genossen hat.
Ein signifikanter Gewichtsverlust, obwohl man nicht auf Diät ist, Gewichtszunahme oder eine fast täglich auftretende Abnahme oder Steigerung des Appetits.
Schwierigkeiten, nachts durchzuschlafen, oder das Bedürfnis nach mehr Schlaf während des Tages.
Eine bemerkbare Verlangsamung oder gesteigerte Erregbarkeit während des Tages.
Fast täglich auftretende Müdigkeitsgefühle oder Energieverlust.
Gefühle von Wertlosigkeit oder extreme bzw. unangemessene Schuldgefühle.
Schwierigkeiten mit der Konzentration oder der Fähigkeit zu denken, die von anderen auch als Unentschlossenheit angesehen werden können.
Wiederholte Gedanken an den Tod oder Selbstmordgedanken (mit oder ohne einen spezifischen Plan, Selbstmord zu begehen) bzw. ein Selbstmordversuch.
Die Gefühle, durch die wir eine Depression im Allgemeinen definieren, werden normalerweise als ein Endpunkt betrachtet. Wir sind depressiv; wir fühlen uns traurig, niedergeschlagen, deprimiert, elend, mutlos oder verzweifelt. Sie sind jedoch auch ein Ausgangspunkt: In entsprechenden Studien hat sich gezeigt, dass eine traurige Stimmung umso eher Gefühle von geringem Selbstwert und Selbstanklagen mit sich bringt [8], je öfter wir in der Vergangenheit bereits depressiv waren. Wir fühlen uns nicht nur niedergeschlagen, sondern möglicherweise auch als Versager oder Verlierer, die nicht liebenswert und zu nichts nutze sind. Diese Gefühle lösen selbstkritische Gedanken von enormer Kraft aus: Wir wenden uns gegen uns selbst und schelten uns wegen der Emotionen, die wir durchmachen: Das ist wirklich dämlich; warum kann ich nicht einfach darüber hinwegkommen und dann geht’s weiter im Text?Und natürlich zieht uns diese Art zu denken immer weiter nach unten.
Solche Gedanken der Selbstkritik haben sehr viel Macht und sind potentiell toxisch. Wie unsere Gefühle können auch sie sowohl End- als auch Ausgangspunkt für eine Depression sein.
Nehmen Sie sich einen Moment Zeit und malen Sie sich die folgende Szene so lebhaft wie möglich aus. Lassen Sie sich Zeit, während Sie sich aufschreiben, was Ihnen durch den Kopf geht:
Sie gehen eine vertraute Straße entlang… Auf der anderen Straßenseite sehen Sie jemanden, den Sie kennen… Sie lächeln und winken… Die Person reagiert nicht… sie scheint Sie gar nicht wahrzunehmen… Sie geht direkt an Ihnen vorbei, ohne in irgendeiner Weise von Ihnen Notiz zu nehmen.
Welche Gefühle kommen dabei bei Ihnen auf?Welche Gedanken oder Bilder gehen Ihnen durchden Kopf?Vielleicht glauben Sie, es gäbe auf diese Fragen ganz offensichtliche Antworten. Doch wenn Sie Ihre Freunde oder Ihre Familie mit der oben beschriebenen Szene konfrontieren, werden Sie wahrscheinlich eine ganze Reihe von unterschiedlichen Reaktionen bekommen. Was jeder von uns fühlt, hängt nämlich entscheidend davon ab, was unserer Meinung nach der Grund dafür ist, dass die andere Person an uns vorbeigegangen ist. Diese Situation ist nicht eindeutig. Sie kann auf unterschiedliche Weise interpretiert werden und so eine ganze Bandbreite an emotionalen Reaktionen hervorrufen.
Unsere emotionalen Reaktionen sind abhängig von der Geschichte, die wir uns erzählen, dem Kommentar in unserem Gehirn, der die Daten, die wir über unsere Sinne erhalten, laufend interpretiert. Spielt sich diese Szene ab, während wir gut gelaunt sind, dann sagt uns der fortlaufende Kommentar in unserem Verstand vielleicht, diese Person habe uns wahrscheinlich deshalb nicht gesehen, weil sie vergessen habe, ihre Brille aufzusetzen, oder weil sie mit den Gedanken woanders gewesen sei. Wir empfinden dann nur eine sehr geringfügige oder überhaupt keine emotionale Reaktion.
Wenn wir uns an diesem Tag jedoch weniger wohl fühlen, dann sagt uns unsere Geschichte, unser Gespräch mit uns selbst, vielleicht, dass uns der andere absichtlich ignoriert habe und dass wir schon wieder einen Freund verloren hätten. Unser Gedanke spinnt sich vielleicht weiter und wir fragen uns grübelnd, was wir bloß getan haben, um diesen Freund zu verärgern. Selbst wenn wir uns am Anfang gar nicht besonders bedrückt gefühlt haben, kann diese Art von Selbstgespräch unsere Stimmung verschlechtern. Wenn unser Selbstgespräch uns vermittelt, wir seien ignoriert worden, sind wir vielleicht wütend. Wenn es uns sagt, dass wir die andere Person wohl irgendwie verärgert haben müssen, fühlen wir uns vielleicht schuldig. Wenn es uns sagt, dass wir vermutlich einen Freund verloren hätten, fühlen wir uns vielleicht einsam und traurig.
Häufig können dieselben Fakten auf mehrere verschiedene Weisen interpretiert werden. Unsere Welt ist wie ein Stummfilm, den jeder Einzelne von uns mit seinen eigenen Kommentaren unterlegt. Und unterschiedliche Interpretationen dessen, was gerade geschehen ist, können das beeinflussen, was als Nächstes geschieht. Ist unsere Interpretation positiv ausgefallen, so vergessen wir den Vorfall wahrscheinlich schnell. Bei einer negativen Interpretation kann es sein, dass wir in die Art von Selbstvorwürfen verfallen, wie sie Alice nach dem Treffen mit ihrem Chef an den Tag gelegt hat: Was habe ich falsch gemacht? Was stimmt mit mir nicht? Warum habe ich nur so wenige Freunde? Negative Gedanken tarnen sich häufig als Fragen, auf die es eine Antwort zu geben scheint. Fünf oder zehn Minuten später plagen uns die Fragen dann wahrscheinlich immer noch, ohne dass irgendeine Antwort aufgetaucht wäre.
Viele Situationen sind nicht eindeutig, doch unsere jeweilige Interpretation der Situation hat großen Einfluss darauf, wie wir anschließend reagieren. Das ist das ABC-Modell der Emotionen. Das A steht für die Fakten, die in einer Situation zum Tragen kommen – das, was eine Videokamera sehen und aufzeichnen würde. Das B ist die Interpretation, die wir einer Situation beimessen – dies ist die „fortlaufende Geschichte“, die häufig direkt unter der Oberfläche des Bewusstseins liegt. Sie wird oftmals als eine Tatsache aufgefasst. Das C ist unsere Reaktion und betrifft unsere Emotionen, unsere Körperempfindungen und unser Verhalten. Häufig sehen wir die Situation (A) und die Reaktion (C), sind uns aber der Interpretation (B) nicht bewusst. Wir denken, die Situation selbst habe unsere emotionalen und körperlichen Reaktionen verursacht, während es in Wirklichkeit unsere Interpretation der Situation war.
„Ich wusste, dass meine Arbeit nicht gut genug war“, sagte Alice nach dem Gespräch mit ihrem Vorgesetzten. Alices Vorgesetzter hatte das Treffen jedoch einberufen, weil er gemerkt hatte, dass Alice bis zur Erschöpfung arbeitete, und hoffte, ihr ein wenig von der Last abzunehmen, indem er ihr Unterstützung bei ihren Projekten anbot. Der Vorgesetzte hatte nicht einen Moment lang gedacht, dass Alice ihrer Sache nicht gerecht werde.
„Wendy und die Kinder haben es gestrichen satt, dass ich mich ständig selbst bemitleide“, berichtete Jim. „Sie werden mich nicht mehr viel länger ertragen können.“ Tatsächlich war es jedoch so, dass sich Jims Familie zu Tode ängstigte und alle versuchten, ihn irgendwie aufzumuntern oder zumindest wieder irgendeinen Funken Leben in ihm zu entfachen. Jim schämte sich seiner selbst jedoch zu sehr, um dies überhaupt zu bemerken.
Noch komplizierter wird es, weil unsere Reaktionen dann wiederum eigene Auswirkungen haben. Wenn wir uns niedergeschlagen fühlen, suchen wir uns wahrscheinlich die negativste Interpretation heraus und bauen diese weiter aus. Wenn wir gesehen haben, dass jemand auf der Straße einfach an uns vorbeigegangen ist, und unsere schlechte Stimmungslage uns zu der Deutung veranlasst hat, „er / sie hat mich absichtlich ignoriert“, verdüstert das unseren Zustand noch weiter. Die zunehmende Verdüsterung wiederum führt zu Fragen wie „warum hat diese Person mich ignoriert?“, was nur noch ein weiterer Beweis dafür zu sein scheint, dass wir nicht liebenswert seien: Das ist mir erst letzte Woche mit Herrn oder Frau Soundso genauso gegangen; ich glaube, niemand mag mich; ich kann einfach keine dauerhaften Beziehungen knüpfen; was stimmt mit mir nicht? Die Gedankenströme konzentrieren sich schließlich auf Themen wie Wertlosigkeit, Isolation und Unzulänglichkeit.
Wenn Ihnen diese Art von Gedankenströmen vertraut ist, hilft es vielleicht zu wissen, dass Sie mit solch negativen Denkmustern nicht alleine sind. Im Jahre 1980 haben Philip Kendall und Steven Hollon beschlossen, eine Liste der von ihren depressiven Patienten geäußerten Gedanken zu erstellen. Diese Liste finden Sie in dem Kasten „Automatisch auftretende Gedanken von Menschen, die an Depressionen leiden:“. Sie wird von Themen wie Wertlosigkeit und Selbsttadel beherrscht. Wenn wir uns im Moment wohl fühlen, sehen wir vielleicht ganz klar, dass diese Gedanken Verzerrungen sind. Doch wenn wir depressiv sind, können sie uns wie die absolute Wahrheit erscheinen. Es ist, als ob die Depression ein Krieg sei, den wir gegen uns selbst führen, und wir jeden Fetzen negative Propaganda, den wir irgendwo auftreiben können, als Munition verwendeten. Doch wer soll diesen Krieg gewinnen?
Die Tatsache, dass wir diese schädlichen, verzerrten Gedanken in Bezug auf uns selbst oft als unanfechtbare Wahrheit ansehen, zementiert die Verbindung zwischen gedrückten Gefühlen und selbstkritischen Gedankengängen nur noch mehr. Das zu wissen ist entscheidend, um zu verstehen, warum sich die Depression bei manchen Menschen durchsetzt und bei anderen nicht und warum sie es bei manchen Gelegenheiten tut und bei anderen nicht.
Wenn uns solche Gedanken einmal in einer bestimmten Situation beeinträchtigt haben, dann bleiben sie in Alarmbereitschaft, um bei einer anderen Gelegenheit erneut ausgelöst zu werden. Und wenn sie dann ausgelöst sind, drücken sie unsere Stimmung weiter nach unten. Sie rauben uns das bisschen an Energie, das wir noch haben, ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, wo wir all unsere Kräfte bräuchten, um mit dem Geschehenen fertig zu werden. Stellen Sie sich vor, wie es auf Sie wirken würde, wenn jemand den ganzen Tag hinter Ihnen stünde und Ihnen dauernd erzählte, wie unnütz Sie seien, während Sie verzweifelt bemüht wären, mit einer schwierigen Erfahrung fertig zu werden. Und nun stellen Sie sich vor, um wie vieles schlimmer es ist, wenn die Kritik und das harte Urteil Ihrem eigenen Geist entspringen. Kein Wunder, dass sie wahr zu sein scheinen – denn wer kennt Sie schließlich besser als Sie selbst? Solche Gedanken können uns völlig in Beschlag nehmen und eine leichte Betrübnis in ein verworrenes Gespinst von besessener Grübelei verwandeln.
Negative Gedanken können eine Depression auslösen oder verstärken, wenn wir uns in einer gedrückten Stimmung befinden. Wir können dann verdrießlich werden und denken: „Bei mir klappt doch nie etwas!“ Eine solche Stimmung kann dann ihrerseits Gedanken der Selbstkritik hervorrufen wie etwa: „Warum bin ich bloß so ein Versager?“ Während wir versuchen, unserem elenden Zustand auf den Grund zu kommen, sinkt unsere Stimmung weiter gegen Null. Denn indem wir Fragen, die mit dem Gefühl von Wertlosigkeit zu tun haben, nachgehen, bilden wir ein ganzes System an weiteren negativen Gedanken heraus, das in Zukunft jederzeit wieder mobilisiert werden kann.