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Der Adakoni-Zyklus: 5 Romane um die Raumflotte von Axarabor von Wilfried A. Hary Der Umfang dieses Buchs entspricht 364 Taschenbuchseiten. Dieses Buch enthält folgende Romane: Wilfried Hary: Rosanas Tränen Wilfried Hary: Neulich auf Tandora Wilfried Hary: Das Phantom des Adakoni-Kartells Wilfried Hary: Bedrohung aus dem Unsichtbaren Wilfried Hary: Die Senatorin von Tandora Zehntausend Jahre sind seit den ersten Schritten der Menschheit ins All vergangen. In vielen aufeinanderfolgenden Expansionswellen haben die Menschen den Kosmos besiedelt. Die Erde ist inzwischen nichts weiter als eine Legende. Die neue Hauptwelt der Menschheit ist Axarabor, das Zentrum eines ausgedehnten Sternenreichs und Sitz der Regierung des Gewählten Hochadmirals. Aber von vielen Siedlern und Raumfahrern vergangener Expansionswellen hat man nie wieder etwas gehört. Sie sind in der Unendlichkeit der Raumzeit verschollen. Manche errichteten eigene Zivilisationen, andere gerieten unter die Herrschaft von Aliens oder strandeten im Nichts. Die Raumflotte von Axarabor hat die Aufgabe, diese versprengten Zweige der menschlichen Zivilisation zu finden - und die Menschheit vor den tödlichen Bedrohungen zu schützen, auf die die Verschollenen gestoßen sind.
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Seitenzahl: 426
Der Adakoni-Zyklus: 5 Romane um die Raumflotte von Axarabor
Wilfried A. Hary
Published by BEKKERpublishing, 2020.
Title Page
Axarabor Fünf Romane
Copyright
Rosanas Tränen
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Neulich auf Tandora
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Das Phantom des Adakoni-Kartells
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Bedrohung aus dem Unsichtbaren
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Die Senatorin von Tandora
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VON WILFRIED A. HARY
Der Umfang dieses Buchs entspricht 364 Taschenbuchseiten.
Dieses Buch enthält folgende Romane:
Wilfried Hary: Rosanas Tränen
Wilfried Hary: Neulich auf Tandora
Wilfried Hary: Das Phantom des Adakoni-Kartells
Wilfried Hary: Bedrohung aus dem Unsichtbaren
Wilfried Hary: Die Senatorin von Tandora
Zehntausend Jahre sind seit den ersten Schritten der Menschheit ins All vergangen. In vielen aufeinanderfolgenden Expansionswellen haben die Menschen den Kosmos besiedelt. Die Erde ist inzwischen nichts weiter als eine Legende. Die neue Hauptwelt der Menschheit ist Axarabor, das Zentrum eines ausgedehnten Sternenreichs und Sitz der Regierung des Gewählten Hochadmirals. Aber von vielen Siedlern und Raumfahrern vergangener Expansionswellen hat man nie wieder etwas gehört. Sie sind in der Unendlichkeit der Raumzeit verschollen. Manche errichteten eigene Zivilisationen, andere gerieten unter die Herrschaft von Aliens oder strandeten im Nichts. Die Raumflotte von Axarabor hat die Aufgabe, diese versprengten Zweige der menschlichen Zivilisation zu finden - und die Menschheit vor den tödlichen Bedrohungen zu schützen, auf die die Verschollenen gestoßen sind.
EIN CASSIOPEIAPRESS Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von
Alfred Bekker
© Roman by Author
© Serienidee Alfred Bekker und Marten Munsonius
© dieser Ausgabe 2020 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.
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DIE RAUMFLOTTE VON Axarabor
von Wilfried A. Hary
Rosana wird auf einer unbedeutenden Randwelt geboren, deren Entwicklungsstufe so niedrig ist, dass es verboten ist, darauf zu landen. Doch nicht jeder hält sich daran, denn Rosana ist in den Augen gewisser äußerst dubioser Kräfte etwas Wertvolles. Und so wird sie unversehens zum Spielball von Mächten, in deren Hände man besser nicht fallen sollte, denn es gibt Schlimmeres als den Tod...
ROSANAS GEBURT VERLIEF völlig normal. Wenn man bedachte, dass sie sich in einer Umgebung ereignete, die man als mittelalterlich hätte bezeichnen können. So etwas wie Technik war auf Gotteswelt – so tatsächlich der Name, den die Bewohner ihrer Welt gegeben hatten - beschränkt auf rein mechanische Handwerksarbeiten. Anstelle von Medizin oder gar Ärzten stand das Gebet.
Es traf auch auf Geburten zu. So etwas galt als ein persönliches Werk Gottes, in das niemand hineinpfuschen durfte. Die Mutter musste allein damit zurechtkommen, nur unterstützt von Gott höchst selbst. Und wenn Gott entschied, dass sie dabei starb, dann starb sie halt eben, und niemand wagte es, die göttliche Weisheit bei diesem Vorgang zu hinterfragen.
Dass es auf derselben Welt nicht nur Gottesanbeter gab, war nicht bekannt. In den Weiten der Wildnis lebten einige Völker, die von derlei strengen Ansichten bislang verschont geblieben waren, und da niemand auf die Idee kam, dort nachzuschauen, wurden sie zu ihrem Glück auch nicht entdeckt.
Rosana unterschied sich bei ihrer Geburt von anderen Neugeborenen eigentlich nur darin, dass sie keinen Laut von sich gab. Auch nicht, als die Mutter sie abnabelte. Sie blieb ruhig und schaute nur mit weit aufgerissenen Augen in eine Welt hinein, die sie in keiner Weise begreifen konnte.
Noch nicht zumindest!
Sie blieb ruhig, auch noch nach Wochen. Nicht dass sie gar nicht in der Lage gewesen wäre, Laute von sich zu geben. Aber sie weinte nicht. Niemals. Wenn ihr unwohl war, klagte sie mit unartikulierten Lauten, doch niemals mit Babygeschrei.
Die Mutter nahm das als gottgegeben hin. Wie alles, was ihr Leben betraf. Und mit ihr alle anderen Mütter, die gemeinsam mit ihr die Kinder des Dorfes betreuten und versorgten. So wie es Gottes Wille schon immer gewesen war, seit Anbeginn der Zeit, als Gott mit einem einzigen Räusper Gotteswelt erschaffen hatte, nur um sich an seinen Gottesanbetern zu erfreuen.
So stand es geschrieben, so wurde es verkündet, so war es Naturgesetz!
Die Männer und Frauen lebten getrennt. Nur zu den vorgeschriebenen Zeiten, ganz nach dem Willen Gottes, durften sie zusammen sein, und wie Gott diese vorschrieb, das verkündete den Bewohnern des Dorfes ihr einziger Hohepriester.
Zumeist trat er dabei gar nicht persönlich in Erscheinung. Er war ja schon sehr alt und schickte dafür dann immer einen seiner vier Assistenten zum Marktplatz, um dort die Versammlung einzuberufen. Jeder kam, der nicht gerade außerhalb des Dorfes auf den Feldern arbeitete und nicht gerade bettlägerisch krank war, um das Wort Gottes in Empfang zu nehmen. Niemand würde jemals wagen, fernzubleiben ohne triftigen Grund, weil es nichts gab, was wichtiger war, als den Willen Gottes zu erfahren.
Rosana wurde drei Monate alt, was bei jedem Baby einen Wendepunkt darstellte. Denn jeder wusste ja, dass Gott Babys erst dann erleuchtete mit seinem eigenen Geist, wenn sie genau drei Monate alt wurden.
Dabei schien tatsächlich mit Rosana eine Veränderung vorzugehen. Möglicherweise war es ja nicht wirklich so, dass jedes Baby sich dabei schlagartig veränderte, wenn der göttliche Geist es berührte, aber wenn man es nur fest genug glaubte, konnte man es halt deutlich sehen.
Äußerstes Zeichen der göttlichen Geistesberührung bei Rosana jedenfalls war... ihr spontanes Lächeln!
Verzückt sahen es die Mütter, und als sie es weitersagten, wollten die noch kinderlosen Frauen es natürlich auch sehen, dieses von Gott persönlich erzeugte Lächeln im Antlitz der kleinen Rosana. Aber das war ihnen nicht erlaubt, und es wurde keine Ausnahme gewährt. Frauen ohne Kinder durften Kinder erst sehen, wenn diese alt genug waren, das große Kinderhaus zu verlassen, und dazu mussten sie erst einmal auf eigenen Beinen stehen und laufen können.
Rosanas Lächeln machte trotzdem die Runde. Sogar bei den Männern, die sich normalerweise überhaupt nicht für die Kinder interessierten. Sie hatten ja auch ganz andere Aufgaben zu bewältigen. Zum Beispiel waren sie zuständig für die Jagd nach Geschöpfen, die Gott nur deshalb leben ließ, damit seine Gottesanbeter genügend zu essen bekamen.
Aber das wusste ja sowieso jeder.
Rosana war eigentlich ein faules Kind, das auch noch mit einem halben Jahr immer noch am liebsten nur auf dem Rücken lag, interessiert umher sah und jeden anlächelte, der sich um Rosana kümmerte. Und Rosana hatte bis dato immer noch nicht geweint. Das war immerhin so ungewöhnlich, dass es inzwischen ein geflügeltes Wort gab:
„Rosanas Lachen!“
An dem Tag, an dem das halbe Jahr voll wurde, versammelten sich sämtliche Mütter im Kinderhaus, nur um sich um Rosana zu scharen. Es war ja der Tag der zweiten Berührung. Die dritte Berührung durch den Geist Gottes würde dann erst mit einem Jahr erfolgen. Aber was würde diesmal geschehen?
Das legendäre Lachen Rosanas konnte es ja nicht mehr sein. Das gab es ja schon. Und nun?
Kaum waren alle versammelt, als es geschah: Rosana lachte herzhaft und dann... drehte sich das Baby um und ging in die Krabbelstellung.
Aber in dieser Stellung blieb das Baby nicht lange. Es stand auf und sah sich beifallheischend um.
Ja, Rosana stand da wie die sprichwörtliche Eins. Als hätte sie nie etwas anderes getan als hier herumzustehen.
Wie war das überhaupt möglich? Wie konnte es sein, dass ein Baby, das sich niemals auf alle Viere begeben hatte, um herumzukrabbeln, wie man es von Babys in diesem Alter halt gewöhnt war, einfach so aufstand?
Gleichgewichtsprobleme hatte Rosana dabei offensichtlich gar keine.
Die Mütter, die das mit ihren eigenen Augen sahen, es aber zunächst trotzdem nicht glauben wollten, begannen auf einmal zu jubeln und zu applaudieren.
Und Rosana lachte Rosanas Lachen dazu. Die Kleine versuchte, mit ihren Händchen ebenfalls zu klatschen. Es sah irgendwie drollig aus. Die Mütter klatschten noch mehr und freuten sich über die wunderliche Rosana. Da war keine unter ihnen, die nicht der Meinung war, dass Gottes Geist Rosana irgendwie stärker berührt hatte als jemals zuvor irgendein anderes Baby.
Und dann machte Rosana ihre ersten Schritte!
Weit kam sie nicht. Dann fiel sie auf alle Viere und blieb in dieser Stellung so lange, bis ihre leibliche Mutter sie hoch hob und fest an sich drückte.
Rosana schien das zu freuen, und von diesem Tag an war Rosana allen anderen Babys weit voraus: Sie lief den ganzen Tag herum und durfte jetzt schon das Kinderhaus verlassen, um draußen das Dorf zu erkunden. Ganz allein, auf ihren anfangs noch ziemlich wackligen Beinchen, aber von Tag zu Tag immer sicherer werdend.
Mit sieben Monaten unterschied sich Rosana von viel älteren Kleinkindern nur noch in der Größe. Sie war ja mit ihren sieben Monaten noch entsprechend winzig.
Aber es verging ein ganzes Jahr seit ihrer Geburt, und Rosana hatte immer noch keine einzige Träne geweint. Sie verzog höchstens einmal unwillig die Miene, außerdem gab sie ganz gezielte, wenngleich Rosanas eigene Laute von sich, die inzwischen von jedem verstanden wurden – und da gab es ja wirklich niemanden mehr, der Rosana nicht kannte, auch nicht unter den Männern, die sich bisher zwar nie für Kinder interessiert hatten, bei Rosana aber ganz klar eine Ausnahme machten.
Die dritte Gottesberührung mit einem Jahr wurde natürlich vom gesamten Dorf voller Spannung erwartet. Der ziemlich altersschwache Hohepriester mit seinen vier Assistenten ließ es sich nicht nehmen, seine Hütte zu verlassen, von diesen Assistenten tatkräftig unterstützt, um dem Spektakel persönlich beizuwohnen. Nicht ohne ein wenig Theater, wenngleich ziemlich eingeschränkt, weil seine körperlichen Möglichkeiten eben ziemlich eingeschränkt waren inzwischen.
Dorfältester Sumins durfte als einziger unmittelbar bei dem Hohepriester weilen, während sogar dessen Assistenten einen Abstand von mindestens zwei Schritten einhalten mussten, falls sie ihren Hohepriester nicht stützen mussten. Ansonsten durften sie sich ihrem Hohepriester sowieso nur auf Aufforderung weiter nähern.
Rosana stand mitten unter der kleinen Menge. Es war ein wunderschöner Tag, wie auch Rosana ein Jahr vorher an einem solch wunderschönen Tag geboren worden war. Die Kleine genoss ganz offensichtlich die besondere Aufmerksamkeit, die man ihr zuteilwerden ließ. Doch diese Mauer aus Dorfbewohnern, die sie fest umschloss, schien irgendwie auch so etwas wie Angst in ihr zu erzeugen. Da waren also ziemlich widerstreitende Gefühle in ihr, als die göttliche Berührung stattfand.
Alle sahen es überdeutlich, und da gab es keinen unter ihnen, der nicht unwillkürlich den Atem anhielt:
Plötzlich riss Rosana weit ihre Äuglein auf, als könnte sie etwas sehen, was ihnen allen für immer verborgen bleiben würde. Niemand konnte sich ja daran erinnern, wie er selbst von Gott berührt worden war im Babyalter und auch später als Kleinkind, wenn beispielsweise mit drei Jahren die vierte und entscheidende Berührung stattfand.
„Was starrt ihr mich denn so an?“, beklagte sich Rosana mit piepsiger Stimme.
Ihr kleiner Körper zitterte. Nein, diese Worte konnten unmöglich von einem Kleinkind stammen, das noch niemals zuvor auch nur ein Wort gesprochen hatte und jetzt sogar einen zusammenhängenden Satz formulierte. Wohlgemerkt mit einem einzigen Lebensjahr!
Rosana drehte sich langsam um die eigene Achse.
„Sumins, du bist wahrlich ein weiser Mann. Das Dorf kann sich glücklich schätzen, dich als Oberhaupt zu haben!“
Ihr Blick ging weiter und blieb am Hohepriester hängen.
„Wäre da nicht der Hohepriester. Ich weiß, niemand darf deinen Namen sagen – den Namen, den du bei der entscheidenden Berührung mit drei Jahren endgültig erhalten hast. Aber Hohepriester sind halt nur Hohepriester. Sie brauchen keinen Namen mehr. Den brauchen nur seine Assistenten, bis einer von ihnen dein Amt übernimmt. Nun, lange wird es ja nicht mehr dauern, und dann wird das Dorf endlich einen der unfähigsten Hohepriester seiner Geschichte los, wie ich die Sache einschätze.“
Niemand bezweifelte mehr, dass hier nicht Rosana, die Einjährige, sprach, sondern Gott höchstpersönlich! Er hatte ihr Dorf besucht, war in den kleinen Körper eingefahren, nur um zu ihnen zu sprechen?
Sie drehte sich weiter um die eigene Achse.
„Ihr Männer, die ihr als einzige während der Jagd und auch für eure Arbeit auf den nahen Feldern das Dorf verlasst: Ihr wisst, dass es dort draußen auch noch andere Dörfer gibt. Sie sind weit genug entfernt und werden nicht gefährlich für uns. Aber es gibt auch Streuner, die aus ihren Dörfern verbannt wurden und sich zu Banden zusammengerottet haben. Das wisst ihr ebenfalls. Deshalb geht ihr niemals allein auf die Jagd, weil diese Streuner eine Gefahr wären.“
Sie sah jetzt wieder den Dorfältesten an.
„Du hast erkannt, dass dem Dorf Gefahr drohen könnte durch die Streuner, aber der Hohepriester, dessen ohnehin viel zu geringer Verstand auch noch zusätzlich vom zu hohen Alter getrübt ist, verweist stets auf Gottes Schutz. Dieser allein sei ausreichend, um das Dorf nachhaltig zu schützen gegen jegliche von außen drohende Gefahr. Aber glaube mir: Gottes Allmacht ist nur mit denjenigen, die weise genug sind, sich richtig zu entscheiden und nicht auf diesen Narren von Hohepriester zu hören!“
Der Hohepriester stieß einen dumpfen Laut aus. Plötzlich hatte er einen Dolch in der Hand. Es war ein Ritualdolch, den er schon lange nicht mehr benutzt hatte. Gemeinhin war das Opfern eines Tieres mit dem Ritualdolch das letzte Mittel, um Gott milde zu stimmen, falls einmal die Ernte zu schlecht ausfallen sollte beispielsweise, doch jetzt taumelte der altersschwache Hohepriester auf Rosana zu und stieß mit dem Dolch auf sie ein, ehe dies jemand verhindern konnte.
Die kleine Rosana war zu langsam, um dem Stich auszuweichen. Die spitze Klinge bohrte sich in ihre schmächtige Schulter und drang tief dort ein.
Beide stürzten zu Boden: Rosana und der Hohepriester, den alle Kräfte verließ. Röchelnd lag er auf dem Rücken. Seine Lippen formten Worte, die jedoch kaum verstanden werden konnten.
Zwei seiner Assistenten sprangen herbei und beugten sich über ihn. Sie verstanden, was er sagte, und gaben es an die Umstehenden weiter:
„Der Teufel ist in sie gefahren, nicht der Geist Gottes. Ihr – ihr – müsst den Teufel zurück in die Hölle schicken. Tötet Rosana!“
Rosana lag neben ihm. Die Spitze des Ritualdolches steckte in ihrem kleinen, zierlichen Körper. Sie röchelte nicht minder als der Hohepriester.
Nur der Dorfälteste hatte Mumm genug, sich um sie zu kümmern. Er zog den Dolch aus der blutenden Wunde. Das Blut quoll allzu stark aus ihrem kleinen Körper. Sie zitterte wie im Fieber.
Und da stahl sich die erste Träne ihres Lebens aus dem einen Augenwinkel. Der Schmerz, den die fürchterliche Wunde ihr bereitete, war dermaßen groß, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben zu weinen begann.
Doch die Tränen hielten sich nicht lange. Sie verdunsteten sogleich.
Der Dorfälteste war der erste, der darauf reagierte. Seine Augen wurden glasig. Er hatte den Dolch immer noch in der Hand. Jetzt wandte er sich an den Hohepriester, dem es ziemlich schlecht ging, weil ihn die Messerattacke offensichtlich zu sehr angestrengt hatte.
Ehe es die Assistenten verhindern konnten, stieß der Dorfälteste dem Hohepriester den Ritualdolch mitten ins Herz und machte dem Hohepriester damit ein für allemal ein Ende.
Doch die Assistenten bekamen jetzt ebenfalls glasige Augen. Sie stierten auf Rosana, die weinend ihre Blicke in die Runde gehen ließ.
Die Mauer aus Menschenleibern begann unruhig zu werden. Es ging ziemlich schnell. So wie Rosanas Tränen verdunsteten, verloren alle Umstehenden den Verstand und wirkten auf einmal wie lebende Tote.
Nur einer war wirklich tot dabei: Der Hohepriester, dessen weit aufgerissene Augen anklagend zum Himmel starrten.
NUR ROSANA BLIEB BEI Sinnen. Falls man das überhaupt so bezeichnen konnte, denn offensichtlich beeinträchtigte sie die furchtbare Verletzung doch sehr.
Der Dorfälteste richtete sich nach der Bluttat auf. Der Dolch entglitt seiner Hand. Er trat zurück.
Auch die beiden Assistenten, die sich um ihren Hohepriester hatten kümmern wollen, richteten sich jetzt auf. Mit seltsam eckigen Bewegungen kehrten auch sie zurück auf ihre Plätze.
Alle Menschen standen jetzt nur noch herum, mit starren, weit aufgerissenen Augen, bewegungslos.
Die kleine Rosana tastete mit einem Händchen die Stelle ab, wo der Blutstrom inzwischen versiegt war. Licht kehrte in ihre Augen zurück. Sie rappelte sich vom Boden auf.
Zwar war sie voll mit Blut verschmiert, aber ansonsten schien sie vergessen zu haben, überhaupt verletzt worden zu sein. Mit ungläubigen Augen sah sie in die Runde.
„Geht weg!“, befahl sie auf einmal.
Und alle Umstehenden gehorchten: Sie wandten sich ab. Die Mütter kehrten in ihren Bereich zurück, die kinderlosen Frauen in ihren eigenen, genauso wie die Männer, und alle taten so, als sei überhaupt nichts geschehen.
Nur einer blieb bei Rosana: Der tote Hohepriester.
Jetzt erst schien Rosana diesen zu bemerken.
Sie schrie leise auf vor Entsetzen. Es war das erste Mal in ihrem kurzen Leben, dass sie vom Tod konfrontiert wurde. Erschrocken wandte sie sich ab und lief hinüber zum Kinderhaus.
Die hölzerne Tür stand offen. Rosana floh regelrecht in das Innere.
Jemand schloss hinter ihr die Tür.
Eine Weile geschah auf dem Marktplatz gar nichts mehr. Doch dann tauchte der Dorfälteste wieder auf. Er wirkte jetzt wieder völlig normal. Als er jedoch den toten Hohepriester sah, den er ja selber erstochen hatte mit dem Ritualdolch, lief er herbei und beugte sich darüber.
Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass da jegliche Hilfe zu spät kam, rief er mehrere Namen. Das waren die besten Jäger seines Dorfes.
Zögernd tauchten sie auf. Sie waren vorhin doch selber mit dabei gewesen, doch jetzt schienen sie sich an nichts mehr erinnern zu können. Als sie den toten Hohepriester sahen, zeigten sie sich sogar bestürzt.
„Sollten wir nicht seine Assistenten rufen?“, schlug einer vor.
Der Dorfälteste schüttelte über sich selbst den Kopf.
„Ja, natürlich, du hast ja recht. Ich bin völlig verwirrt. Das kenne ich überhaupt nicht an mir. Was ist denn überhaupt passiert? Wer hat denn den Hohepriester mit seinem eigenen Ritualdolch erstochen?“
Er deutete auf den Dolch mit der blutverschmierten Klinge. Aber da war auch Blut neben dem Hohepriester, das nicht von ihm stammen konnte.
„Rosana!“, entfuhr es auf einmal Sumins. Er runzelte die Stirn und versuchte vergeblich, das Chaos in seinem Kopf zu ordnen. Jetzt konnte er sich zumindest daran erinnern, dass sie sich alle hier versammelt hatten anlässlich der dritten Gottesberührung, die dabei Rosana zuteilwerden sollte. Doch alles, was danach geschehen war, lag wie hinter einer dichten Nebelwand verborgen.
Er sah an sich hinab und entdeckte jetzt zum ersten Mal das Blut, das auch an ihm selbst klebte. Sogar an seiner Hand. Er verstand das nicht.
Sein hilfloser Blick traf die Jäger, doch auch diese verstanden nichts.
„Rufe die Assistenten!“, wies Sumins den einen an. Die anderen bat er, noch abzuwarten. Eigentlich hatte er ihnen befehlen wollen, den Leichnam vom Dorfplatz zu räumen, doch das war eigentlich eher die Aufgabe der Assistenten, die ja jetzt noch unter sich den nächsten Hohepriester bestimmen mussten. Für gewöhnlich schlug ein amtierender Hohepriester rechtzeitig einen seiner Assistenten vor, von dem er der Meinung war, am besten geeignet zu sein.
Ob und inwiefern dies hier der Fall war, entzog sich natürlich der Kenntnis des Dorfältesten. Überhaupt musste er zugeben, nie ein gutes Verhältnis zum Hohepriester gehabt zu haben. Normalerweise teilten sich Hohepriester und Dorfältester die Führung eines Dorfes. In ihrem speziellen Fall hatte sich der Hohepriester die meiste Zeit sogar gegen den Dorfältesten gestellt, was dessen Führung unnötig erschwert hatte.
Nun, in Zukunft würde dies zumindest anders ablaufen. Insofern war der Tod des Hohepriesters nicht wirklich ein Verlust für das Dorf. Eher im Gegenteil, wie der Dorfälteste im Stillen zugeben musste, obwohl er das natürlich niemals laut ausgesprochen hätte, um das Ansehen des Toten nicht zu beschmutzen.
Die vier Assistenten konnten sich ebenfalls an nichts erinnern. Noch nicht einmal daran, dass ihr Hohepriester tot war. Umso größer war ihre Bestürzung beim Anblick des Leichnams.
Aber dann kristallisierte sich einer der vier deutlich heraus. Der Hohepriester hatte ihn bereits zum kommenden Nachfolger bestimmt. Soviel Vernunft war in seinem umnebelten Verstand also doch noch gewesen am Ende.
Die vier Assistenten nahmen den leblosen Körper des Hohepriesters auf und brachten ihn in dessen Hütte, wie es Brauch war. Dort würden sie ihn aufbahren, salben und Segnen, um damit seiner Seele den Aufstieg in den Himmel zu erleichtern. Dort oben dann würde er für alle Ewigkeit im Antlitz Gottes weilen.
Der Dorfälteste indessen ging hinüber zum Kinderhaus. Er war der einzige Mann, der dies durfte. Ansonsten durften nur Mütter dieses Haus betreten. Auch die Mütter von Kindern, die schon gestorben waren, gehörten dazu. Einmal Mutter geworden, war jede Frau für immer Mutter. Mit der vorrangigen Aufgabe, sich um alle Kinder des Dorfes zu kümmern.
Als er das Kinderhaus betrat, waren die Mütter gerade dabei, Rosana zu säubern. Ihr kleiner, zierlicher Körper war immer noch blutverschmiert.
Mit großen, staunenden Augen sah Rosana dem Dorfältesten entgegen.
„Was ist überhaupt passiert?“, fragte er.
Die Mütter schauten betreten drein. Keine wagte es, ihn auch nur anzusehen. Erst als er die Mutter Rosanas direkt ansprach, murmelte diese verstört:
„Rosana war voller Blut. Wir müssen sie reinigen.“
„Aber wessen Blut ist das?“
„Ich weiß es nicht.“
„Das Blut des Hohepriesters?“
Alle sahen ihn jetzt an.
„Wie bitte?“
„Der Hohepriester ist tot. Er wurde mit seinem eigenen Ritualdolch erstochen, doch niemand kann sich daran erinnern. Ich auch nicht.“
Da erst sahen sie das Blut, das auch an ihm klebte.
„Und woher stammt dieses Blut?“
„Ich weiß es nicht!“, antwortete der Dorfälteste ehrlich. Er deutete auf Rosana. „Ist sie denn verletzt?“
„Nein!“, antwortete ihre Mutter. „Da ist nur viel Blut gewesen, aber keinerlei Wunde.“
Der Dorfälteste wusste nicht, wieso er die Schultern des Kleinkindes ganz speziell betrachtete, aber in der Tat, da war nichts zu sehen. Außer eben Blut, das die Mütter noch nicht völlig abgewaschen hatten.
„Was war, Rosana?“, wandte sich jetzt der Dorfälteste direkt an das Kind. „Wieso kannst du nicht sprechen?“
Denn er hatte irgendwie das Gefühl, dass Rosana selbst als einzige wusste, was auf dem Dorfplatz geschehen war. Ansonsten hatte jeder eine deutliche Gedächtnislücke, die ausgerechnet mit dem Tod des Hohepriesters zusammenfiel.
Resignierend wandte sich der Dorfälteste ab und verließ das Kinderhaus.
Die Mütter sahen ihm hinterher und fragten sich selbst, was sie wohl vergessen hatten - und wieso überhaupt.
Und auch Rosanas Mutter sagte zu ihrer Tochter voller Bedauern:
„Schade, mein Kind, dass du nicht sprechen kannst.“
Dann sah sie nach den anderen Kindern, die sich aus alledem heraushielten und sich in den hinteren Teil des Kinderhauses drängten. Sie waren schon daran gewöhnt, dass Rosana vom ganzen Dorf als etwas ganz Besonderes behandelt wurde. Sie wagten es nicht, etwas dagegen zu tun. Und wenn Rosana unter ihnen war, benahm sie sich ganz normal. Abgesehen davon, dass sie kein Wort von sich gab, nur diese seltsamen Laute, die sonst niemand ausstieß außer Rosana. Und abgesehen von der Tatsache, dass sie niemals weinte.
Niemals?
DIE ZEIT DANACH UNTERSCHIED sich praktisch gar nicht von der Zeit davor. Da sich niemand erinnern konnte an die Ereignisse, die zum Tod des Hohepriesters geführt hatten, wurde dies von allen verdrängt. Der Hohepriester wurde feierlich auf dem Gottesacker bestattet, der neue Hohepriester wurde bestimmt, und eigentlich war der Nutznießer des Ganzen ganz klar der Dorfälteste, denn der neue Hohepriester hatte kein Interesse mehr daran, stets und ständig die Entscheidungen des Dorfältesten zu torpedieren. Ganz im Gegenteil: Der Neue und der Alte arbeiteten bestens Hand in Hand zum Wohle des ganzen Dorfes.
Der Dorfälteste setzte sich auch endlich durch mit seiner Idee, einen Wachtrupp aufzustellen aus erfahrenen Jägern, die sehr gut mit Waffen umzugehen verstanden. Die Gefahr durch sogenannte Streuner, die als gottlos und vom Teufel besessen galten, war nicht von der Hand zu weisen, und der Dorfälteste war der festen Überzeugung, Gebete allein würden das Dorf nicht beschützen können. Ganz im Gegenteil: Gott sah es besonders gern, wenn seine Gläubigen tatkräftig seinen Willen unterstützten. Und Gottes Willen war nun einmal eindeutig, dass die Dorfgemeinschaft in Frieden lebte und in Sicherheit vor allen Gefahren, die von außen drohen könnten, eben auch gegen gottlose Streunerbanden.
Rosana blieb irgendwie der Mittelpunkt der Dorfgemeinschaft. Obwohl sie grundsätzlich nicht redete. Mit fortschreitendem Alter wurden die seltsamen Laute, die sie produzierte, immer differenzierter. Es waren wirklich nur einfache Laute, doch die Dörfler verstanden sogleich, was Rosana damit ausdrücken wollte, auf geheimnisvolle, unerklärliche Weise.
Ansonsten blieb Rosana ein außerordentlich freundliches kleines Kind, das jeden mit seinem Lächeln bezauberte, kaum Ansprüche erhob und am liebsten unter Erwachsenen weilte. Das Spiel mit anderen Kindern lag ihr nicht besonders. Nicht dass die anderen Kinder sie etwa meiden wollten, aber irgendwie schien Rosana ihnen suspekt zu erscheinen. Sie waren nicht gegen sie, aber auch nicht sonderlich für sie.
Es kam der Tag, an dem Rosana drei Jahre alt wurde. Ein ganz besonderer Tag wiederum, weil an diesem Tag ja die vierte und letzte Berührung Gottes erfolgte.
Es war wie an ihrem ersten Geburtstag: Die Dorfgemeinschaft versammelte sich auf dem Dorfplatz, wo sie Rosana in ihre Mitte nahm. Diesmal waren zum Unterschied zu ihrem ersten Geburtstag jedoch auch sämtliche Kinder mit anwesend, als absolute Ausnahme: Die Mütter hielten die Kinder auf den Armen, wenn sie jünger waren als drei Jahre. Ältere Kinder lebten ja nicht mehr im Kinderhaus, sondern sowieso unter den Frauen und Männern. Das hieß: Ab drei Jahre war man offizielles Vollmitglied der Dorfgemeinschaft. Jungen wurden von den Männern in Handwerk, Landwirtschaft und in der Jagd ausgebildet und lebten unter ihnen. Mädchen weilten unter den Frauen, die selber noch keine Kinder geboren hatten. Darunter gab es nur wenige ältere Frauen, die aus Gründen, die nur Gott selbst bekannt waren, keine eigenen Kinder bekommen konnten. Ansonsten gab es hier überwiegend junge Frauen, die noch nicht sechzehn Jahre alt geworden waren und somit noch nicht an den Paarungszeremonien teilnehmen durften.
Rosana würde nach der letzten Berührung Gottes kein Kleinkind mehr sein und mit vollendeten drei Lebensjahren in die Gemeinschaft der Frauen aufgenommen werden, wo sie alles lernen sollte, was Frauen können mussten, um die Dorfgemeinschaft am Leben zu erhalten.
Und jetzt waren alle gespannt auf den Augenblick der Berührung durch Gott persönlich!
Es war noch niemals passiert, dass eine solche Berührung unbemerkt erfolgt war. Ob man dabei wirklich etwas sehen konnte, war zwar nicht bewiesen, aber da jeder fest daran glaubte, zweifelte auch niemand daran, jedes Mal etwas wirklich Großes zu erleben bei einer solchen Berührung: nämlich die Anwesenheit Gottes, der dem Dorf ja immerhin einen persönlichen Besuch abstatten musste, um das Kind überhaupt berühren zu können.
Und dann geschah es:
Rosana hatte sich im Schneidersitz auf den Boden gesetzt und betrachtete die Wand aus Menschenleibern, die sie umgab, mit großen, staunenden Augen. In diese Augen trat auf einmal ein Licht. Und dann stand Rosana vom Boden auf und hob die Händchen zum Himmel. Sie breitete weit die Arme aus, wie um so Gottes Geist besser aufnehmen zu können. Sie warf sich in die Brust und... begann zu schweben. Nur ein paar Zentimeter über dem Boden, wobei ihre Augen so hell strahlten, dass dieses Licht sogar das Licht des Tages übertraf.
Die Menschen starrten und staunten. Ehrfurcht erfüllte sie bis ins Mark. Sogar die Kinder auf den Armen der Mütter vergaßen alles um sich herum. Alle hatten nur noch Augen für Rosana, die in einem Maße die Berührung Gottes erfuhr, wie es noch niemals zuvor geschehen war.
Immerhin: Was vor zwei Jahren geschehen war, das wusste ja niemand mehr. Außer vielleicht Rosana selbst, doch diese sprach ja grundsätzlich überhaupt nicht, also konnte sie darüber auch niemandem berichten.
Jetzt drehte sich der kleine, zierliche Körper der Dreijährigen um die eigene Achse. Das Licht aus ihren Augen strahlte auf die Menschen um sie herum, und jeder von ihnen fühlte sich jetzt berührt vom Geist Gottes, der über Rosana und deren Augen unmittelbar auf sie einwirkte.
Bis ihre Augen auf den Dorfältesten gerichtet waren. Hier stoppte ihr Körper die Drehbewegung.
„Sumins“, sagte Rosana mit piepsiger Kleinmädchenstimme, so laut und deutlich jedoch, als wäre das Sprechen etwas völlig Normales für sie, „du bist wahrhaft gesegnet und der beste Dorfälteste, den sich ein Dorf nur wünschen kann. Es hat sich erwiesen, dass du unentbehrlich bist für dieses Dorf, das ich ganz besonders liebe. Von daher gebührt allein dir die Ehre, in Gesundheit und jugendlicher Vitalität dein Alter zu überwinden, auf dass du möglichst lange meinem gelobten Dorf zur Verfügung stehst!“
Nur der Dorfälteste selbst und diejenigen, die sich um ihn scharten, konnten jedoch sehen, dass Rosana gesprochen hatte, ohne ihre Lippen zu bewegen! Und nicht über ihre Ohren hatten sie diese Worte erreicht, sondern sie waren direkt in ihren Köpfen aufgeklungen. Und deshalb zweifelte keiner unter ihnen daran, dass dies nicht die Worte Rosanas gewesen waren, sondern diejenigen von Gott selbst, der Rosana lediglich dazu benutzt hatte, persönlich zu dem Dorfältesten zu sprechen.
Alle, die es gehört hatten, waren wie paralysiert. Keiner wagte, sich zu bewegen, noch nicht einmal zu atmen.
Rosana öffnete jetzt den Mund und lachte ihr helles, kindliches Lachen, wie es speziell für Rosana so typisch war. Dann kehrte sie langsam zum Boden zurück und ließ ihre Ärmchen sinken.
So stand sie da, und als sie sich diesmal in der Runde umsah, war kein Leuchten mehr in ihren Augen. Sie wirkten wieder ganz normal. Genauso eben wie ihr helles Lachen, das bis tief in die Herzen der Menschen drang.
Sie drehte sich um die eigene Achse, als wollte sie tanzen, und dann jubelte die Stimme, die nur in ihren Köpfen zu hören war und nicht über ihre Ohren:
„Es ist vollbracht!“
War das wirklich noch Gott selbst, der durch sie zu ihnen sprach, oder war es Rosana? Aber wieso benutzte sie nicht ihren Mund, um zu sprechen, wie es von Anbeginn der Zeit an jeder Mensch tat, falls er nicht gerade stumm geboren war, weil es Gottes Willen entsprach?
Sie war halt Rosana und mit niemandem sonst vergleichbar. Gott selbst hatte sie ihnen geschickt, und das konnte nur bedeuten, dass ihr Dorf in der Tat ein gelobtes Dorf war, von Gott selbst auserkoren.
Der Dorfälteste fasste sich ans Herz. Seine Hand krampfte sich dort zusammen. Nicht weil er dort Beschwerden hatte. Ganz im Gegenteil: Vorher hatten ihn Beschwerden in der Brust gequält. Er hatte schon befürchtet, Gott würde ihn vor der Zeit schon zu sich holen. Deshalb hatte er inbrünstig gebetet, dieser Kelch möge noch an ihm vorübergehen.
Und dann das: Rosana hatte die Stimme Gottes in seinem Kopf ertönen lassen, und Gott hatte ihm persönlich Gesundheit und jugendliche Vitalität versprochen.
Der Schmerz in der Brust war hinfort! Soviel jedenfalls stand fest.
Probehalber bewegte Sumins seine Beine.
Wo waren die Schmerzen in den Knien und in den Hüften geblieben? Sie hatten ihm bereits arg zu schaffen gemacht, aber er hatte es vor der Dorfgemeinschaft natürlich verborgen. Niemand durfte sich Sorgen um sein Wohlergehen machen, denn damit würden auch die Sorgen um das Dorf an sich beginnen.
Sein Blick fiel auf seinen Stellvertreter. Er war der würdige Zweitälteste und der Einzige, der um die gesundheitlichen Probleme Sumins wusste. Er hatte sich ihm allein anvertrauen müssen, weil ja die Aussicht bestand, von ihm bald schon beerbt zu werden.
Doch jetzt war das anders geworden: Sumins fühlte sich tatsächlich völlig gesund, ja, so gesund wie noch niemals zuvor in seinem ganzen Leben. Er hatte sprichwörtlich das Gefühl, Bäume ausreißen zu können. Zumal seine Vitalität wirklich die eines Jugendlichen war, um nicht zu sagen, die eines normalen Jugendlichen sogar deutlich überlegen.
Es war eindeutig Gottes persönliches Geschenk! Und das war wohl der Grund, dass der Zweite es ihm voll und ganz gönnte, ohne jegliche Abstriche. Damit würde er zwar im wahrsten Sinne des Wortes der ewige Zweite bleiben, aber damit war er durchaus zufrieden. Weil auch er der Meinung war, dass es keinen besseren Dorfältesten geben könnte als Sumins. Nicht nur, weil Gott persönlich dies durch Rosana verkündet hatte. Eigentlich war der verstorbene Hohepriester der einzige Mensch im Dorf gewesen mit einer gegenteiligen Meinung. Aber die zählte ja seit zwei Jahren nicht mehr, weil er nicht mehr lebte.
Als Rosana den Kreis der Umstehenden verlassen wollte, machten sie ihr bereitwillig Platz.
Rosana wusste ja schon, wo die Frauen untergebracht waren, die keine Kinder geboren hatten. Jetzt ging sie zielstrebig darauf zu.
Zögernd folgten ihr die anderen Mädchen und Frauen. Es war so, als hätte sich Rosana zu ihrer Führerin erhoben, und keine der Frauen machte ihr das streitig. Obwohl sie erst drei Jahre alt war und für sie offensichtlich zum ersten und einzigen Mal richtig gesprochen hatte.
Wie würde es weiter gehen mit ihr? Würde sie auch in Zukunft zu ihnen sprechen?
Der Dorfälteste und seine unmittelbaren Zeugen würden natürlich im Dorf verbreiten, dass Rosana gesprochen hatte, ohne die Lippen zu bewegen, und jeder würde sich spätestens dann erinnern können, dass ihre Stimme tatsächlich nicht über ihre Ohren in ihren Verstand gelangt war, sondern unmittelbar im Kopf aufgeklungen war, wie auch immer dies möglich sein konnte. Aber es waren eindeutig Gottes Willen und Gottes persönliche Worte gewesen, also war von vornherein ausgeschlossen, es zu hinterfragen.
Rosana wurde auch in der kommenden Zeit von den Frauen im ihnen zugewiesenen Bereich als etwas Besonderes behandelt, doch sie wurde nicht wirklich ihre Anführerin. Obwohl sie als Rosana halt ihre Privilegien genoss. Dazu gehörte es auch, dass sie als einziges Mädchen zu den Männern gehen konnte, wann immer es ihr beliebte, um zu sehen, was diese so trieben.
Sogar der Wunsch, mitgenommen zu werden auf die Jagd, konnte ihr niemand verwehren. Eine völlige Unmöglichkeit normalerweise für ein kleines Mädchen, ja, sogar für jede Frau des Dorfes, weil es ganz klar den dörflichen Traditionen widersprach. Rosana bekam auch dieses Privileg zugebilligt, ohne dass jemand Grund zur Klage sah. Auch nicht der neue Hohepriester, der sich regelrecht darin sonnte, durch Rosana Gott selbst in seinem Dorf persönlich erlebt zu haben.
Obwohl Gott seine Worte an den Dorfältesten gerichtet hatte und nicht an ihn, empfand er das nicht als Diskriminierung seiner Person. Ganz im Gegenteil: Er würde jetzt erst recht mit dem Dorfältesten eng zusammenarbeiten.
Eben zum Wohle aller im Dorf!
ROSANA WAR NOCH NICHT ganz zehn Jahre alt, da war sie bereits eine Meisterin der Jagd. Feldarbeit fiel dem zierlichen Mädchen allerdings nach wie vor eher schwer. Sie mochte das sowieso nicht, auf dem Feld zu arbeiten, nach eigenem Bekunden. Viel lieber war sie mit den Jägern unterwegs, wo sie ihnen beweisen konnte, wie meisterlich sie jetzt schon mit dem Bogen umgehen konnte.
Nach wie vor sprach Rosana kein Wort. Zumindest nicht mit ihrem Mund. Damit produzierte sie eigenartige Laute, die jedoch von jedem verstanden wurden. Als wären diese Laute von einer Stimme begleitet, die man direkt in seinem Kopf aufklingen hörte.
So genau jedoch konnte das niemand beschreiben. Aber das war auch nicht nötig: Alle liebten Rosana, obwohl sie ganz und gar nicht den Traditionen folgte. So verschmähte sie die typischen Pflichten kinderloser Frauen, die ja für Wohl und Wehe der dörflichen Gemeinschaft verantwortlich waren, indem sie Essen für alle zubereiteten, erlegtes Wild weiter verarbeiteten, überhaupt für die allgemeine Reinigung des Dorfes zuständig waren, mit Ausnahme des Bereiches Kinderhaus und des reinen Männerbereiches, für den die Männer selbst zuständig waren. Und auch für den Bereich des Kinderhauses waren ja allein die Mütter zuständig. Niemand durfte diesen Bereich betreten. Außer eben... Rosana, für die es keinerlei Begrenzung gab. Das war ja auch nur logisch, weil es niemanden mehr gab, der nicht hundertprozentig davon überzeugt war, in ihr eine direkte Abgesandte Gottes zu sehen. Beweise gab es nach Meinung aller nun wirklich genug dafür.
Aus der lachenden Rosana war inzwischen längst die Jägerin Rosana geworden. Das Wild, das sie erlegte, wurde natürlich nicht von ihr ins Dorf gebracht, sondern von den Jägern, die stark genug für diese Arbeit waren. Vielleicht missfiel es dem einen oder anderen Jäger, dass Rosana mit dem Bogen besser umgehen konnte inzwischen als auch der erfahrenste unter ihnen, aber wenn ja, dann wagte das niemand zu äußern.
Rosana war mit Vollendung ihres zehnten Lebensjahres schließlich nicht mehr nur einfach die Jägerin Rosana – als einziges weibliches Wesen jemals wohlgemerkt! -, sondern endgültig und auch offiziell die Meisterjägerin Rosana. Aber wenn man sie so nannte, lachte sie nur fröhlich, und dann gab sie ihre eigenartigen Laute von sich, wodurch jeder erfuhr:
„Alles zum Wohle meines geliebten Dorfes!“
Es geschah genau einen Tag nach ihrem zehnten Geburtstag. Sie war mit vier der besten Jäger unterwegs. Sie hatten die Spur eines Wildrudels aufgenommen, was ihnen die Chance eröffnete, für viele Tage genügend Fleisch für ihr Dorf erlegen zu können. Obwohl es natürlich mühsamer und gefährlicher war, einem ganzen Rudel zu folgen als nur einem einzelnen Tier.
Als die Spur aus dem Bereich hinaus führte, in dem sie normalerweise für die Jagd unterwegs waren, wollten die Jäger stoppen. Sie argumentierten, ansonsten würden sie es möglicherweise nicht mehr schaffen, vor Einbruch der Nacht zurück zu sein im Dorf. Immerhin würden sie einiges zu schleppen haben.
Rosana war da anderer Meinung. Wie sonst auch, hatte sie mal wieder ihre eigene Meinung, die nicht unbedingt mit der von erfahrenen Jägern übereinstimmen musste. Ihr eigenes Argument war dabei ganz klar:
„Es ist nicht mehr so weit. Jetzt sind wir bis hierhin gekommen und sollten nicht vor diesem letzten Schritt zurückschrecken. Selbst wenn wir dadurch erst kurz nach Einbruch der Nacht zurück zum Dorf gelangen sollten: Es lohnt sich auf jeden Fall! Und wenn wir jetzt aufgeben, kehren wir immerhin mit leeren Händen zurück.“
Wer hätte es jemals schaffen sollen, Rosana erfolgreich zu widersprechen? Die Jäger waren zwar nicht begeistert, aber sie fügten sich dem Willen der Zehnjährigen.
Und in der Tat: Es war tatsächlich nicht mehr weit. Schon fünf Minuten später überraschten sie das Rudel. Der Wind stand supergünstig. Die Tiere würden sie erst wittern, wenn sie sich noch näher an sie heran wagten. Doch das war gar nicht nötig: Die erfahrenen Jäger legten mit ihren Bögen an, unterstützt von Meisterjägerin Rosana, und dann sirrten fünf Pfeile gleichzeitig los.
Die Pfeile trafen gezielt nur die schwächeren Tiere, nicht die stärksten. Bei einem Rudel von acht Tieren blieben also drei am Leben, die panikerfüllt die Flucht ergriffen. Aber sie würden sich wieder beruhigen, und Gott würde dafür sorgen, dass sie neue Nachkommen zeugten, damit der Wildbestand nicht unter eine Marke fiel, bei der die Jagd problematisch wurde und gar dem Dorf Hunger drohte.
Ein Problem jedoch gab es jetzt: Die vier Jäger konnten je nur eines der Tiere schleppen. Mit genügend Verschnaufpausen unterwegs würden sie es schaffen, ihr erlegtes Wild heim zu bringen, was aber war mit dem von Rosana erlegten Tier?
Ratlos sahen die vier Männer die Zehnjährige an, doch Rosana lachte dazu ihr glockenhelles Lachen, ging zu dem Tier hinüber, das sie erlegt hatte, barg erst einmal den kostbaren Pfeil, schnappte sich dann das Tier, das ein wenig größer und dadurch auch deutlich schwerer war als sie, und warf es sich quer über die eigentlich viel zu schmalen Schultern.
Wie konnte das denn sein? Sie tat dies mit einer Leichtigkeit wie kaum einer der starken Männer.
Die Jäger waren völlig konsterniert. Es war ja auch das erste Mal, seit Rosana mit ihnen auf die Jagd ging, dass sie ihr erlegtes Wild selber schulterte, in der gleichen Art und Weise, wie sie es bei den erfahrenen Jägern gesehen hatte.
„Wie ist das möglich?“, ächzte jetzt einer von ihnen.
Rosana lachte ihn an. Die rasche Lautfolge, die aus ihrem Mund kam, bedeutete:
„Erst jetzt bin ich stark genug dafür. Vorher hätte ich das gar nicht geschafft.“
„Aber du hast dich nicht geändert, nicht jedenfalls in den letzten Tagen und Wochen. Wo sind deine Muskeln? Du bist jetzt gerade mal zehn Jahre alt und...“ Der Jäger brach ab.
„...und nur ein Mädchen? Ja, das bin ich. Aber erst seit heute stark genug, um mein Wild selber zu tragen. Und seid ihr jetzt immer noch der Meinung, wir könnten es nicht bis Einbruch der Nacht schaffen? Es wird zwar knapp, aber es ist nicht unmöglich!“
Sprachs und setzte sich in Bewegung, grob in die Richtung, in der ihr Dorf liegen musste. Das waren viele Kilometer von hier. Das mit einem so schweren toten Tier auf den Schultern? Die Jäger konnten und wollten es immer noch nicht glauben. Doch sie machten das Spiel mit, schulterten ihr eigenes Wild und folgten der Zehnjährigen, die so leichtfüßig voran schritt, als hätte sie überhaupt keine schwere Last auf ihren Schultern.
Bis zur ersten Pause. Die allerdings nicht von Rosana reklamiert wurde, sondern von den keuchenden vier Männern.
Rosana lächelte dazu, zeigte sich solidarisch und tat wie die Männer: Sie legte für kurze Zeit das Wild ab.
Allein wie sie das handhabte mit ihren kleinen Händchen und ziemlich dünnen Ärmchen: Die vier Jäger sahen es zwar mit eigenen Augen, wollten es jedoch immer noch nicht so recht glauben.
Es gab noch mehrere dieser Pausen unterwegs. Zwangsläufig. Nicht für Rosana, aber für die vier Männer, die zunehmend erschöpfter waren. Aber dafür würden sie sich die nächsten Tage ausruhen dürfen, weil das Fleisch von fünf erlegten Tieren zusätzlich zu dem, was die Felder her gaben an Nahrung, leicht sogar eine ganze Woche lang reichen würde, für das ganze Dorf, wenn man es richtig einteilte.
Nach dem Sonnenstand zu urteilen, war es nicht mehr allzu lange bis zum Einbruch der Nacht, und das Dorf war noch nicht in Sicht. Ihrer Erfahrung nach würden sie es dennoch gerade noch schaffen, wenn sie jetzt keine zusätzliche Pause mehr einlegten.
Plötzlich stoppte Rosana mitten in der Bewegung. Sie warf ihr Wild ab.
Was war los mit ihr?
Als einer der Jäger sie fragen wollte, legte sie warnend den Finger an den Mund.
Jetzt lauschten sie erschrocken, aber da war nichts zu hören, zumindest nicht für ihre Ohren.
Rosana deutete in eine bestimmte Richtung, und dann hörten sie deutlich ihre Stimme in ihren Köpfen, ohne dass sie dazu auch nur die Lippen bewegte:
„Streuner! Eine Bande von sieben Männern. Sie haben auch Frauen, doch diese ließen sie zurück, nur wenige Minuten von hier. Wir waren zu unvorsichtig. Sie haben uns bereits entdeckt.“
Alarmiert warfen die vier Jäger ihre Beute ab und spannten die Bögen. Ihre Pfeile deuteten in die angewiesene Richtung.
Sie hörten immer noch nichts, obwohl sie davon ausgehen durften, ihre Sinne durch jahrelange Jagderfahrung enorm geschärft zu haben.
Rosana erklärte ihnen auf dieselbe lautlose Weise:
„Sie sind ebenfalls erfahrene Jäger, und jetzt teilen sie sich. Sie wollen uns einkesseln. Dann kommen sie aus sieben Richtungen gleichzeitig.“
Der eine Jäger wollte jetzt doch etwas sagen, aber Rosana warnte ihn wieder mit dem Finger vor dem zugespitzten Mund. Er blieb stumm.
Eigentlich hatte er fragen wollen, wieso sie nicht nach einer Seite hin ausbrachen, aber dann hätten sie ihre Jagdbeute zurücklassen müssen. Zwar hätten sie dadurch unbeschadet das Dorf erreichen können, aber ohne ihre Beute, die dann diesen gottlosen Streunern in die Hände gefallen wäre. War das zu verantworten?
Andererseits drohte ihnen jetzt der Tod. Vielleicht würden sie den einen oder anderen Streuner mit in den Tod nehmen, aber sie hatten nicht wirklich eine Chance gegen die Übermacht.
Rosana meldete sich wieder in ihren Köpfen:
„Legt jetzt sofort die Bögen nieder und stellt euch in der Gruppe zusammen. Ich komme zwischen euch!“
Sie sahen sie an, als hätten sie Rosana noch niemals zuvor gesehen, aber ihr Gesichtsausdruck war dermaßen energisch, dass sie einfach nicht anders konnten als ihr zu gehorchen. Aber was hatte sie überhaupt vor? Sollten sie sich denn diesen gottlosen Streunern ergeben? Die würden sie trotzdem töten und anschließend sich der Beute annehmen.
Doch Rosana schien ihre pessimistischen Gedanken zu erraten. Sie lächelte, während sie sich von ihnen umringen ließ, und sie hörten in ihren Köpfen:
„Lasst mich nur machen. Sie werden keine Chance haben!“
Und dann begann sie bitterlich zu weinen!
Die Tränen kullerten dick über ihre Wangen, kamen jedoch nicht weit, weil sie verdunsteten.
Die vier Jäger stierten darauf, weil sie auch das einfach nicht glauben wollten. Wieso weinte Rosana auf einmal? Sie weinte doch niemals.
Oder?
Es raschelte im Unterholz. Sekunden später tauchten die sieben Streuner auf. Sie wirkten wie lebende Tote, mit starren Augen wie aus Glas, mit hölzernen, marionettenhaften Bewegungen. Sie torkelten mehr als dass sie gingen - auf die Gruppe mit Rosana zu.
„Wir haben jetzt zwei Möglichkeiten“, hörten die Jäger Rosanas Stimme in ihren Köpfen: „Ihr könnt sie alle sieben töten, oder wir können jetzt unsere Beute wieder aufnehmen und einfach zurückkehren ins Dorf. Aber wenn wir sie nicht töten, bleiben sie eine Gefahr für uns. Möglicherweise sogar eine tödliche Gefahr. Ich weiß, dass sie zu allem entschlossen sind und keine Skrupel kennen.
Sprecht! Sagt mir eure Meinung dazu!“
Und sie sprachen. Erst durcheinander, weil jeder etwas dazu sagen wollte, während die sieben Streuner starr und steif einfach da standen. Sie würden sich nicht wehren. Soviel stand fest.
Die vier Jäger mussten sich zügeln, um zu Besonnenheit zurückzukehren.
„Töten!“, sagte einer. „Sonst lauern sie uns erneut auf. Vielleicht überfallen sie sogar das Dorf?“
„Das ist wohl nicht das größte Problem“, meinte der zweite, „denn Sumins hat ja Wachen eingeteilt. Wir wissen uns zu verteidigen. Wahrscheinlich wissen die Streuner das, sonst hätten sie möglicherweise längst schon versucht, uns anzugreifen.“
Der dritte meinte schließlich:
„Töten ist jedenfalls die bessere Option. Dann kommen sie uns auf jeden Fall nicht mehr in die Quere.“
Nur der vierte der Jäger hatte eine ganz andere Idee:
„Und was wäre, wenn wir sie gefangen nehmen würden?“
Alle sahen ihn an, auch Rosana.
„Nur so ein Gedanke!“, verteidigte er sich. „Wir sind Jäger, aber keine Mörder.“
„Aber wir sind auch verantwortlich für die Sicherheit unseres Dorfes!“, argumentierte der erste wieder.
Der zweite fragte:
„Gut, gefangen nehmen wäre eine Option, aber was machen wir dann mit ihnen im Dorf? Momentan sind sie nicht bei Sinnen, was aber, wenn sie wieder zu sich kommen? Sie werden alles tun, um zu fliehen. Das Problem mit ihnen wäre dadurch nur noch größer statt kleiner.“
„Stimmt doch einfach mal ab“, schlug jetzt Rosana vor. „Wer von euch ist dafür, sie zu töten?“
Zwei hoben die Hände. Zwei waren dagegen.
Rosana nickte. Ihre Stimme in ihren Köpfen meinte dazu:
„Gut, ich akzeptiere euren Willen. Ihr wollt sie nicht wirklich töten. Das wäre vielleicht auch zu mörderisch. Also schlage ich einen völlig anderen Weg vor, bei dem wir sie weder töten noch gefangen nehmen müssen.“
Erwartungsvoll sahen sie Rosana an.
Sie lächelte ihnen von unten herauf entgegen. Immerhin war sie nur halb so groß wie die vier starken Männer.
„Ich werde ihnen ganz einfach befehlen, mit ihren Frauen weiterzuziehen. Dann sind wir sie auf jeden Fall für immer los. Sie werden sogar völlig vergessen, dass es unser Dorf überhaupt gibt.“
Bevor die vier Jäger noch etwas dazu sagen konnten, erwachten die sieben Streuner wieder zum Leben, doch sie achteten überhaupt nicht auf Rosana und ihre vier Jagdgefährten, sondern marschierten schnurstracks davon.
Fassungslos sahen die vier Jäger ihnen hinterher. Sie hörten, dass sie rücksichtslos durchs Unterholz brachen. Es war ihnen jetzt offensichtlich egal, von weitem schon gehört zu werden.
Die Geräusche, die sie verursachten, entfernten sich allmählich, und Rosana schulterte wieder ihre Beute. Sie wartete, bis es ihr die vier Männer gleich taten.
„Rosanas Tränen!“, murmelte einer, immer noch fassungslos.
„Ja“, scherzte Rosana in ihren Köpfen: „Bringe sie niemals zum weinen. Das hat ungeahnte Folgen!“
Sie lachte dazu wieder ihr glockenhelles Rosana-Lachen.
Die vier Jäger beeilten sich, ebenfalls ihre Beute zu schultern und Rosana zu folgen, ehe sie noch den Anschluss verloren.
ZEHN JAHRE LANG WAR Rosanas Leben eigentlich ohne große Ereignisse verlaufen, einmal abgesehen von dem Tod des alten Hohepriesters, der als einziger gegen sie gewesen war und sogar versucht hatte, sie umzubringen. Und jetzt der Zwischenfall mit der Streunerbande, was den Dorfältesten bewog, die Dorfwache zu verstärken. Zumindest würde dies Streuner davor zurückschrecken lassen, das Dorf anzugreifen. Soviel jedenfalls stand fest, denn es hätte mit Sicherheit ansonsten schon vorher Konflikte mit Streunern gegeben. Anscheinend wurden sie immer mehr, was ihre Bedrohlichkeit wachsen ließ.
Der Dorfälteste sah den eigentlichen Grund für die Zunahme der gottlosen Streunerbanden darin, dass anscheinend viele Dörfer unliebsame Mitbewohner einfach verbannten, anstatt sie zu bestrafen, wie es für alle Menschen besser gewesen wäre. Und die Verbannten wollten natürlich unter allen Umständen überleben. Dabei wurden sie zunehmend rücksichtsloser. Eine Radikalisierung, die irgendwann zur Katastrophe führen würde, wenn diese Unsitte mit Namen Verbannung nicht aufhören würde. Deshalb gab es in Rosanas Dorf keine Verbannungen. Und eigentlich war es auch nicht nötig, jemanden zu bestrafen, weil auf Grund eines so weisen und gütigen Dorfältesten alles weitgehend reibungslos funktionierte und sowieso niemand Anlass zur Beschwerde sah. Zumal über allem Gottes Wort stand, das hier im Dorf niemals jemand brechen würde.
Was die Jäger nun über Rosana erzählten, wie sie mit dem Problem der Streuner umgegangen war, erzeugte in vielen so etwas wie Ehrfurcht. Andere wiederum empfanden dabei durchaus so etwas wie Furcht. Wäre Rosanas unnachahmliches Lachen nicht gewesen, hätte sich die Stimmung durchaus auch gegen sie wenden können. So aber verschwand die Furcht vor ihr sehr schnell wieder, und niemand empfand Rosana und die offensichtliche Macht, die mit ihr war, als bedrohlich. Eher im Gegenteil. Hatte sie denn nicht bewiesen, dass sie ganz und gar auf der Seite der Dorfbewohner stand? Also war sie doch eigentlich ein zusätzlicher Sicherheitsfaktor und keinesfalls eine Bedrohung, die sie irgendwann selber treffen konnte.
Es verging ein ganzes Jahr, während dem Rosana nach wie vor die Rolle einer Jägerin spielte. Mit ihr an ihrer Seite waren die Jäger erfolgreicher denn je, denn Rosana hatte den Instinkt, immer genau zu wissen, wo man jagdbares Wild finden konnte, ohne die Wildpopulation zu gefährden. Und sie gab niemals einen Schuss ab mit ihrem Bogen, der nicht hundertprozentig sein Ziel traf. Darüber hinaus benötigte sie auch niemanden mehr, der für sie die Beute heim ins Dorf brachte. Das erledigte sie selbst, obwohl niemand ihrem zierlichen Jungmädchenkörper dies zugetraut hätte.
Rosana wurde schließlich zwölf Jahre alt, und jeder akzeptierte, dass sie nach wie vor das einzige weibliche Wesen war, das mit den Jägern hinaus zog – und wahrscheinlich auch für alle Zeiten bleiben würde. Nur zur Bewachung des Dorfes, dafür teilte der Dorfälteste immer nur die Männer ein. Nicht weil er Rosana nicht zutraute, auch hier im wahrsten Sinne des Wortes ihren Mann stehen zu können, sondern er wollte Rosana das einfach nicht zumuten. Und Rosana hatte nichts dagegen. Sie ging sowieso lieber auf die Jagd. Wache schieben empfand sie als viel zu langweilig.
Mit ihren zwölf Jahren kannte sie das komplette Revier in- und auswendig. Sie konnte sich blind überallhin bewegen und fand immer ihr Ziel, im Umkreis von mindestens dreißig Kilometern. Sie lief unermüdlich auch stundenlang über Felder und Wiesen und durch Wälder, egal wie dicht sie bewachsen waren: Rosana fand immer den günstigsten Weg nicht nur für sich, sondern auch für die Jäger, die stets in ihrer Begleitung waren.