Der alltägliche Islamismus - Elham Manea - E-Book

Der alltägliche Islamismus E-Book

Elham Manea

0,0
15,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Warum fasst der Islamismus in den westlichen Gesellschaften immer stärker Fuß? Wir müssen uns eingestehen: Auch die Liberalen tragen ihren Teil dazu bei. Die einen trauen sich nicht, Kritik zu äußern, aus Angst als islamophob zu gelten. Bei anderen führt ein falsches Verständnis von Toleranz dazu, dass islamistische Botschaften nicht konsequent bekämpft werden. Davon profitiert vor allem der nicht-gewalttätige Islamismus, der zwar nicht mit Waffen kämpft, dessen Anhänger aber mit anderen Mitteln versuchen, unsere Gesellschaften schleichend zu verändern. Wenn wir unsere demokratischen Werte verteidigen wollen, müssen wir dieser Entwicklung entschieden entgegentreten.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 368

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Zum Buch

Der Islamismus verändert unsere Gesellschaft, selbst wenn er keine offene Gewalt anwendet. Auf dem Spiel stehen die hart erkämpften liberalen und säkularen Normen und Werte, welche die Würde und Rechte des Einzelnen schützen. Dagegen wird zu wenig unternommen, auch weil viele befürchten, ihre Kritik würde dem Rechtsextremismus Argumente liefern. Doch wir müssen uns positionieren und konkret gegen den Islamismus vorgehen, statt den Kopf in den Sand zu stecken.

Elham Manea zeigt, wo wir genauer hinsehen und uns wehren sollten: Damit Menschen aller Religionen und Kulturen friedlich miteinander leben können und freiheitliche Werte geschützt werden.

ELHAM MANEA

Der alltägliche Islamismus

Terror beginnt, wo wir ihn zulassen

Aus dem Englischen von Elsbeth Ranke und Claudia Van den Block

Kösel

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2018 Kösel-Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlag: Weiss Werkstatt, München

unter Verwendung eines Bildes von shutterstock/kaokiemonkey

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-22423-3V001www.koesel.de

Inhaltsverzeichnis

1. Vorwort

Weder noch!

Sind wir der IS?

Gewaltloser Islamismus

Die Bürde des weißen Mannes

2. Radikalisiert mit 16

3. Ist das Problem der Islam?

»Das Problem ist nicht der Islam, er ist eine Religion des Friedens«

»Das Problem ist der Islam: Eine Religion der Gewalt«

»Ja, Religion ist ein Problem, aber warum ist es überhaupt relevant?«

Eine Reform ist unumgänglich

Radikalisierung des Islams oder Islamisierung der Radikalität?

4. Die Ideologie wird den IS überleben: Zum gewaltlosen Islamismus

Neofundamentalismus: gesellschaftlicher Islamismus

Wahhabitischer Salafismus: der harte Islamismus

Politischer Islamismus: Bitte recht freundlich!

5. Wie gewaltloser Islamismus die Gemeinschaften verändert

Radikalisierung: Eine problematische Bezeichnung

Islamismus als Eroberungsauftrag

Ideologie als wesentliches Element für Radikalisierung

Geschlossene Gemeinschaften: Ein fruchtbarer Boden für Radikalisierung

Die Geschichte von Molenbeek in Belgien: Sie nannten ihn »ihren Helden«

6. Wie die Bürde des Weißen Mannes den Islamismus salonfähig macht

Das essentialistische Paradigma: Wenn man nur »den Muslim« sieht

Vier essentialistische Typen

Schweden: Der Macht die Wahrheit sagen?

7. Auf dem Rückzug: Der Kampf für Werte und Normen in Europa und Nordamerika

Der Maulkorb der Islamophobie: Halt den Mund, sonst …

Bei der Frau fangen sie an

Wenn Regeln selektiv gelten und der gesellschaftliche Zusammenhalt schwindet

8. Fazit

Anmerkungen

1. Vorwort

Weder noch!

Es ist ein Kuriosum, weder – noch zu sein. Wer weder rechts noch links ist, wer derart in der Mitte steht, zieht aus beiden Lagern erhebliches Misstrauen auf sich: Was meinen Sie mit weder-noch? Irgendetwas müssen Sie doch sein. Also?

Natürlich habe ich einen Standpunkt. Doch mich beschreibt eben genau das: weder rechts noch links. Zu dieser Klarstellung fühlte ich mich genötigt, als ich mich im Jahr 2010 meinen Kollegen in der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen vorstellte: »Mein Ziel ist alles, was den Rechten und der Würde der Frauen dient.« Pragmatisch, ja. Aber immer prinzipientreu. Also fangen Sie bitte nicht an, mich in ideologische Gefechte hineinzuziehen. Das bin einfach nicht ich.

Wenn ich mich aber keinem dieser ideologischen Lager zurechne, wofür stehe ich dann?

Ich stehe für Sie alle. Und die Summe von Ihnen allen ist nichts anderes als das Gesicht der Menschheit. Das ist mein Anliegen: Würde und Rechte dieser Einheit, des Menschen. Ich glaube an diese Menschheit, an diese Würde und an diese Rechte. Das ist meine Überzeugung, mein Grundsatz.

Warum ich das so deutlich sage? Bestimmt haben Sie für dieses Buch einen anderen Einstieg erwartet.

Wir haben ein Problem, und zwar ein globales, und dieses Problem hat einen Namen: Islamismus. Doch wir werden einfach nicht damit fertig, weil wir entweder nicht in der Lage sind, darüber zu reden, oder weil wir zu sehr damit beschäftigt sind, eine ideologische Schlacht auszutragen.

Der Islamismus droht die Menschen in den europäischen und nordamerikanischen Gesellschaften zu spalten. Als Gesprächsthema ist er vielen Menschen hier unangenehm. Nicht, weil sie keine Meinung dazu hätten. Sie wissen ganz einfach nicht, wie sich darüber reden lässt.

Manche scheuen sich, sich zu äußern, weil sie nicht besonders viel Vorwissen zu dem Problem mitbringen. Sie haben eine Meinung, wollen sich aber nicht auf ein noch nicht abgestecktes Gelände vorwagen; lieber überlassen sie das Reden denen, die ihres Erachtens mehr Ahnung davon haben. Sehr häufig qualifizieren sich diese Anderen für diese Aufgabe durch ihre religiöse Identität. Und am besten aufgestellt sind in der Debatte um Islam und Islamismus sehr häufig gerade die Islamisten selbst.

Andere kennen sich in der Problematik durchaus besser aus und machen sich ihre Sorgen, aber sie fürchten, mit einer Wortmeldung den Muslimen zu nahe zu treten. Unter keinen Umständen wollen sie sie kränken. Daher halten sie sich lieber zurück und unterwerfen sich aus einem merkwürdigen Respektverständnis heraus der Selbstzensur.

Und schließlich sind da die Ängstlichen. Ganz gewöhnliche Menschen. Auch sie lieben ihr Land, ihre Traditionen und ihr Erbe. Sie sehen, wie ihre jeweilige Gesellschaft sich wandelt. Dieser Wandel gefällt ihnen nicht; sie wissen, dass irgendetwas nicht stimmt, und suchen nach einer Erklärung dafür. Leider ist die Problematik sehr unscharf und verworren. In ihren Wortmeldungen neigen sie zu Wut und scharfen Attacken und bringen damit in Wirklichkeit ein Verlustgefühl zum Ausdruck – einen Identitätsverlust.

Komplizierter wird die ganze Sache noch dadurch, dass sie durch die ideologischen Auseinandersetzungen zwischen Rechts und Links zusätzlich geprägt wird.

Die Linke geht zunächst einmal davon aus, es gebe überhaupt kein Problem. Sicher, es gibt Dschihadisten, die sich – und andere – in Paris, Nizza, Berlin, London und Stockholm in die Luft jagen. Aber das sind nur orientierungslose, ausgegrenzte Jugendliche. Arme Verrückte. Wir haben sie in unseren Gesellschaften isoliert. Wir waren das. Wir – mit unserer Außenpolitik, unserem diskriminierenden Diskurs und unseren Medien, die den Islam als eine zur Gewalt neigende Wutreligion darstellen – der Vorwurf, diese Dschihadisten hervorgebracht zu haben, sollte sich gegen uns selbst richten.

In diesem ideologischen Lager gibt es auch Vertreter, die die Existenz eines Problems anerkennen, aber befürchten, wenn man die nötigen Schritte zu seiner Lösung unternähme, würde das nur ihren Gegnern rechts außen und deren Diskurs von »wir gegen sie« zusätzlichen Treibstoff liefern. Wenn sie das zulassen, so die Befürchtung, sähe es um sie selbst schlecht aus. Statt sich differenziert zu positionieren und konkrete Schritte zu unternehmen, stecken sie lieber den Kopf in den Sand.

Wenn man der extremen Rechten zuhört, mag diese Furcht verständlich scheinen. Dort gilt jede Person muslimischen Glaubens als potenzieller Terrorist. Muslime, Islam, Islamismus und Terrorismus sind für sie nur Synonyme, die in einen Topf geworfen werden. Sie machen Ausländer, Migration und Migranten für alle Probleme in ihrer Gesellschaft verantwortlich und missbrauchen den Islam am Ende als Aushängeschild für ihre rassistischen Forderungen.

Viele, die sich dem rechtskonservativen Spektrum zurechnen, scheuen diese Ansichten oder widersetzen sich ihnen ganz vehement. Damit befinden sie sich im Mainstream und bleiben zurückhaltend. Sie sehen vielleicht, dass es da ein Problem gibt, aber sie schrecken davor zurück, die schmerzlichen Maßnahmen zu ergreifen, die zu seiner Bekämpfung nötig sind. Zu kompliziert, zu teuer. Und zudem wahrscheinlich ein Dämpfer für die Wirtschafts- und Handelsbeziehungen ihrer Regierungen mit einigen ihrer engsten Partner – denken wir nur an die Golfstaaten. Auch das Geld spielt da eine ganz wesentliche Rolle.

In beiden politischen Lagern liegt der Fokus auf der militanten Form des Islamismus, auf Dschihadisten, Terroristen, auf denen, die brutale Gewalttaten verüben. Gewaltlose Formen des Islamismus bereiten ihnen weniger Sorgen: das Gedankengut und die religiösen Botschaften, die dieser Gewalt als Grundlage dienen. Doch diese Sorglosigkeit macht die Sache sehr viel komplizierter. Und Komplexität können beide politischen Lager nicht gebrauchen. Sie brauchen einfache Antworten und einfache Lösungen im Sinne von: Nein, hier geht es nicht um Krebs. Das sind nur harmlose Kopfschmerzen. Schlucken Sie einfach diese Tablette, dann geht es gleich vorüber. Ende der Diskussion.

Doch so wird es nicht funktionieren. Einfache Antworten und Fragen genügen nicht und sind kontraprodutiv. Die Polemik der extremen Rechten wird dadurch nur noch befeuert. Das eigentliche Kernstück ist die Ideologie des Islamismus. Genau darauf kommt es an.

Verstehen Sie jetzt, warum ich zu Beginn klarstellen musste, wo ich stehe? Wir haben ein Problem, und zwar ein globales, und dieses Problem hat einen Namen: Islamismus. Doch wir werden einfach nicht damit fertig, weil wir entweder nicht in der Lage sind, darüber zu reden, oder weil wir zu sehr damit beschäftigt sind, eine ideologische Schlacht auszutragen. Die vernebelt unser Urteilsvermögen und macht uns zu direkten und indirekten Komplizen des Mainstream-Islamismus, einer totalitären Ideologie. Während wir mit unserem Gezänk beschäftigt sind, übersehen wir die langsamen Veränderungen in unseren Gesellschaften, die ganz allmählich die größte Leistung der westlichen Gesellschaft unterminieren: die liberalen, universalen Normen und Werte, die die Würde und die Rechte des Einzelnen schützen.

Sind wir der IS?

Bei jedem terroristischen Akt erklingt der Chor der Selbstverleugnung. Wir bekommen zu hören, die Taten des IS hätten nichts mit Religion zu tun. Wir bekommen zu hören, der Islam sei eine Religion des Friedens und der Toleranz, wir hätten es da mit einer Gruppe Kranker zu tun, die die Botschaft des Islams verkehrten und die Religion nur als Deckmäntelchen für diese Grausamkeiten nutzten. Diese Terroristen seien Einzelgänger. Desorientiert und manipuliert.

Natürlich wurden die jungen Männer und Frauen, die dem IS beigetreten sind, manipuliert. Aber keiner kann mir erzählen, dass die Religion damit nichts zu tun hat. Das stimmt einfach nicht.

Viele, die den Islam inständig als »Religion des Friedens« bezeichnen, entstammen selbst einer muslimischen Tradition und sind von ihrer Meinung ehrlich überzeugt. Schließlich sind sie selbst die genuine Verkörperung dieser friedlichen Ausübung ihrer Religion. Sie sind Bürger ihrer europäischen und nordamerikanischen Heimatländer; sie gestalten ihre Gesellschaften mit und sind wie viele andere erfüllt von Angst und Wut. Sie verabscheuen die Grausamkeiten, die da im Namen ihrer Religion verübt werden, und verurteilen sie mit aller Vehemenz. Damit steigern sie sich in einen defensiven Diskurs hinein, um dem »schlechten Image« des Islams entgegenzutreten, das ihrer Meinung nach auf »tendenziöse Darstellung in den Medien« zurückgeht sowie auf diese fehlgeleiteten, kranken Menschen, die den Islam für ihre Zwecke pervertieren.

Doch genau da liegt ein Paradox. Die Vertreter dieser europäischen und nordamerikanischen Bürger muslimischen Glaubens – und das sind sehr viele – stehen oft alleine da, wenn sie versuchen, sich zu organisieren und etwas auf die Beine zu stellen. Die großen muslimischen Organisationen – also die organisierten Vertreter ihres Glaubens in ihren jeweiligen Mehrheitsgesellschaften – fallen ihnen in den Rücken.

Sehr deutlich wurde das beim Kölner Friedensmarsch am 17. Juni 2017. Die Organisatoren vom Liberal-Islamischen Bund wollten ein klares Zeichen gegen die jüngsten Bluttaten in mehreren europäischen Städten setzen – Manchester, London, Stockholm, Paris, Berlin und Brüssel. Nicht mit uns, lautete ihre Botschaft. Die Organisatoren hofften auf die Teilnahme von bis zu zehntausend deutschen Muslimen. Dann beschloss die Türkisch-Islamische Union (DITIB), die Dachorganisation von 896 muslimischen Ortsgemeinden in Deutschland, das Ereignis zu boykottieren. Präsent waren schließlich nur eine Handvoll Demonstranten, wenige Hundert Personen – eine bittere Enttäuschung für die Organisatoren.1

Und wie erklärte die DITIB ihre Positionierung? Sie gebarte sich als Opfer, ganz nach dem altbekannten Drehbuch solcher Islam-Organisationen. Die DITIB war so dreist zu erklären, der muslimische Friedensmarsch – nicht etwa die Vollführer dieser Grausamkeiten, die Kinder und Zivilisten töten, sondern genau dieser Friedensmarsch – »stigmatisiere die Muslime und verenge den internationalen Terrorismus auf sie, ihre Gemeinden und Moscheen«2.

Die Ausrede der DITIB ist scheinheilig. Gerade ihre Stilisierung als Opfer ist ein Teil des Problems. Schuld sind immer die anderen – wir haben damit nichts zu tun. ABER: Der IS ist unser Produkt.

Es ließe sich leicht nachweisen, dass der IS nicht für die wahre Lehre des Islams steht. Ein Kinderspiel! Und ja, ich glaube, dass der Islam das ist, wozu wir Menschen ihn machen. Jede Religion kann zu einer Botschaft der Liebe gemacht werden oder zu einem Schwert des Hasses, je nachdem, welche Menschen ihr anhängen. Und ja, es gibt eine friedliche Auslegung des Islams, die viele Anhänger hat. Doch es bleibt die Tatsache, dass schon lange daran gearbeitet wird, die Machenschaften des IS zum ideologischen Mainstream zu machen, in Moscheen nämlich, in denen bei jedem Freitagsgebet die »christlichen Kreuzritter«, »Juden« und »Ungläubige« verflucht werden.

Zum Mainstream machen sie auch die religiösen Vorbilder und Prediger, die Tag für Tag per Satellitenfernsehen eine Botschaft von Hass und Intoleranz gegen die »Anderen« aussenden, ganz egal, wer diese »Anderen« sind. Zum Mainstream machen sie – und das auch in unseren westlichen Ländern – Schulen und Koranschulen, in denen gelehrt wird, wer sich vom Islam abwende, werde mit dem Tod bestraft; man solle sich von den »Ungläubigen« fernhalten; Christen und Juden hätten »Kopfsteuern« zu bezahlen, um nicht weiter behelligt zu werden, andernfalls müssten sie sich Krieg und Versklavung stellen. Anders gesagt: Wenn sie sich nicht fügten, machten sie sich, ihre Kinder und ihren Besitz zur legitimen Kriegsbeute durch die Muslime. Das wird wirklich in unseren Koranschulen unterrichtet. Was mit den Anhängern »anderer Religionen« tatsächlich geschehen soll, bleibt unausgesprochen, aber wir können es zwischen den Zeilen sehr wohl herauslesen. Nie dagegen hört man in diesen Koranschulen, dass ein Bürger das Recht hat, sich frei für seine Religion zu entscheiden, oder dass unbesehen von Religion oder Glauben vor dem Gesetz jeder Bürger gleich ist.

Kein Wunder, dass wir das Gesicht dieses Extremismus heute überall offen besichtigen können: Bei den Mädchen in Nigeria, die bis heute von Boko Haram gekidnappt und verkauft werden, bei den jesidischen Frauen, die vom IS als Sklavinnen gehalten werden, bei den Angehörigen verschiedener irakischer und syrischer Minderheiten, die um ihr Leben fliehen, weil eine Ideologie sie aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit als minderwertige Untermenschen behandelt. Wir begegnen diesem Extremismus in Gesetzen muslimischer Länder, die ungestraft Bürger- und Menschenrechte verletzen und unter Zwang bestimmte religiöse Überzeugungen durchsetzen; wir müssen zusehen, wie er sich gleich einem Krebsgeschwür in »gescheiterten Staaten« in Nahost und Nordafrika sowie in südasiatischen Ländern ausbreitet. Und wir begegnen diesem Extremismus in den geschlossenen Gesellschaften innerhalb europäischer Mehrheitsgesellschaften und in der Radikalisierung junger Männer und Frauen innerhalb westlicher Gesellschaften, die sie zu Feinden ihrer neuen Heimat werden lässt. Schließlich begegnen wir ihm darin, wie er unsere Gesellschaften verändert, wo immer er weiter Fuß fasst.

Der IS ist das Produkt eines religiösen Diskurses – und dieser Diskurs ist heute in weiten Kreisen Mainstream geworden. Dieses Problem können wir nicht länger ignorieren. Wir müssen handeln, wir müssen das Problem beim Namen nennen und es mit allen nötigen Maßnahmen in Angriff nehmen. Sonst nämlich bezahlen wir selbst – die Menschen überall – einen hohen Preis für die Untätigkeit im Umgang mit diesem Extremismus.

Ob wir es wollen oder nicht: Wir sitzen alle im selben Boot.

Bekanntermaßen lebt die große Mehrheit der Opfer des gewaltbereiten islamischen Extremismus in muslimischen Ländern. Auf fünf Länder – Irak, Afghanistan, Nigeria, Syrien und Pakistan – entfielen 2016 drei Viertel aller Terrorismusopfer. Allein im Irak und Afghanistan kamen 14.339 Menschen bei terroristischen Anschlägen ums Leben.3 Doch offenbar wird dieses Signal nicht wahrgenommen. Der große Aufschrei kommt nur, wenn wir in unserer Nähe getroffen werden. Erinnern Sie sich noch an den Sturm der Entrüstung nach dem Massaker bei Charlie Hebdo? Ich habe damals aus Solidarität mit den Opfern und ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung eine der Mohammed-Karikaturen auf meiner Facebook-Seite veröffentlicht. Gefallen haben mir diese Karikaturen nicht, aber ich fand es nötig zu sagen, dass ich mich von diesem Massaker beleidigt fühlte und nicht von diesen Karikaturen.

Millionen gingen in Paris aus Solidarität mit den Opfern auf die Straße, und das war völlig richtig so. Und doch mutet es seltsam an, dass dieser Respekt und diese Solidarität nicht auf die nigerianischen Zivilisten ausgeweitet wurde, deren 16 Dörfer in derselben Woche von Boko Haram dem Erdboden gleichgemacht wurden – innerhalb weniger Tage restlos niedergebrannt! In derselben Woche! Die Opferzahl geht Schätzungen zufolge in die Hunderte, manchen Quellen zufolge waren es sogar 2000.4 Haben wir zu ihrem Gedächtnis Solidaritätsbekundungen gesehen? Unser Schweigen war geradezu ohrenbetäubend.

Ich will hier bei niemandem Schuldgefühle wecken. Aus psychologischer Sicht mag diese Reaktion auch ganz normal sein. Wir identifizieren uns mit dem, was uns am nächsten ist. Bei einer Diskussion über die Pariser Attentate im November 2015 sagte einer meiner Masterstudenten in einem Seminar über Islamismus: »In diesen Opfern im Club und in den Cafés sehe ich mich selbst.« Sie verbrachten ihren Abend so, wie wir es getan hätten: bei einer abendlichen Wochenendveranstaltung. Genauso gut hätte es diesen Studenten treffen können. Natürlich bezieht er diese Tragödie in stärkerem Maß auf sich als die Tragödie, die sich weit weg in Nigeria abgespielt hat – der Abstand ist hier nicht bloß rein geografisch.

Dennoch sollte uns der Tod dieser Menschen daran erinnern, dass dieser gewaltbereite Islamismus und vor allem seine ideologischen und religiösen Wurzeln uns betreffen müssen. Jeden von uns! Es gibt hier kein wir und sie. Wir sitzen alle im selben Boot, unabhängig von unserem Glauben, unserer Hautfarbe oder unserer Nationalität.

Es handelt sich um eine globale Bedrohung, und damit müssen wir uns gemeinsam auseinandersetzen.

Gewaltloser Islamismus

Oben sagte ich, der eigentliche Kern des Problems ist die Ideologie des Islamismus. Und was mir Sorgen macht, ist nicht die gewalttätige Form des Islamismus, sondern seine gewaltlose Form. Ich will hier erklären, was ich damit meine. Ich sehe den Islamismus als Spektrum, in dem die gewaltbereite Form den äußersten Rand besetzt. Junge Männer wachen nicht einfach eines Morgens auf und beschließen, sich in die Luft zu jagen und eine Gräueltat zu begehen. Sie wurden in einem Prozess indoktriniert, der sie zu einer Weltsicht und einem Narrativ der Opferrolle sozialisiert und sie zu der Überzeugung bringt, was sie da tun, sei ein Akt der Verteidigung – und damit legitim. Nicht alle, die dieser Ideologie anhängen, begehen terroristische Taten. Das tun nur ganz wenige. Doch ich argumentiere: Sich auf die Gewalt allein zu fokussieren, reicht nicht aus. Unsere erste Priorität sollten deren ideologische und religiöse Wurzeln sein sowie die Personen, die diese Formen bewerben.

Die Ideologie hat zwei Komponenten, eine politische und eine religiöse. Eben deshalb ist auch die Religion ein Teil des Problems. Gewaltloser Islamismus ist nicht nur eine totalitäre politische Ideologie mit einem starken Herrschaftsanspruch; auch die religiöse Interpretation des Islams legitimiert diese Herrschaft und sanktioniert ihre Ausübung. Nehmen wir ein Beispiel. Als der IS begann, jesidische Frauen zu entführen und sie auf Sklavenmärkten zu verkaufen, war von auffällig vielen prominenten religiösen Anführern nichts zu hören. Natürlich gab es die, die ganz deutlich sagten, die Sklaverei sei eine antike Praxis und dürfe nicht im Namen des Islams neu zum Leben erweckt werden. Doch von der al-Azhar mit Sitz in Kairo, die als höchste Autorität der Sunniten gilt und lange von einem salafistischen Islamverständnis geprägt war, gab es keine Verurteilung dieser Aktion des IS. Der al-Azhar-Scheich missbilligte die Gewalt des IS, erklärte, der IS stehe nicht für den Islam, sagte aber kein Wort zur Versklavung von Frauen.

Warum nicht? Ganz einfach. Aus der Sicht der al-Azhar kann die Verschleppung von Frauen als Sexsklavinnen in einem Krieg akzeptabel sein, wenn es unter den richtigen Umständen geschieht. Es muss ein legitimer Krieg sein. Diese Position wurde ganz klar in einer Fatwa (einer religiösen Rechtsauskunft) artikuliert, die 2014 von einer der führenden Wissenschaftlerinnen der al-Azhar-Universität, Professorin Suad Saleh, vorgetragen wurde. In einer Fernsehsendung sagte sie: »Muslime, die in einem legitimen Krieg gegen ihre Feinde Frauen gefangen nehmen, dürfen sie besitzen und als Sexsklavinnen benutzen (…), um sie zu demütigen.«5 Der Feind, auf den sie sich in ihrer Ansprache bezog, war Israel. Die Fatwa erntete in Ägypten einiges Stirnrunzeln.

Oder in Saudi-Arabien: Als nach den Gräueltaten des IS einige saudische Intellektuelle eine Fatwa mit einem eindeutigen Verbot der Sklaverei forderten, reagierten viele der einflussreichsten saudischen Scheichs, indem sie eilig den Worten von Scheich Saleh al-Fawzan beipflichteten, einem Mitglied im Rat der höchsten Religionsgelehrten und im Ständigen Komitee für Rechtsfragen. Vor Jahren wurde er mit den Worten zitiert, der Islam würde es nicht »verbieten, Frauen zu Sklaven zu nehmen: Die, die nach einem Verbot der Sklaverei rufen, sind Ignoranten, Ungläubige oder Atheisten. So lautet Gottes Regel.«6 Übrigens ist al-Fawzan der Verfasser des Lehrbuchs, nach dem saudische Kinder heute in ihrer Religion unterrichtet werden.7 Er erklärte öffentlich, die Versklavung sei Teil des Dschihad, des heiligen Krieges der Muslime.8 Wenn Sie nun finden, was er sagt, habe doch nichts mit uns hier in unseren europäischen und nordamerikanischen Gesellschaften zu tun, dann ist das zu kurz gedacht. Al-Fawzans Schriften und Fatwas werden in allen Schulen, Medresen und Moscheen unterrichtet und gepredigt, die von den Saudis finanziert werden.

Das Drehbuch, nach dem der IS sich entschloss, Frauen und Kinder zu versklaven, stammte also nicht von ihm selbst. Diese Taten werden bis heute von einer fundamentalistischen Interpretation des Islams als Mainstream verbreitet, und diese Interpretation beruht auf religiösen Schriften und der Geschichte der Religion.

Der gewaltlose Islamismus propagiert eine Ideologie des politischen Islams und zugleich eine radikale Interpretation des Islams. Auf deren verschiedene Formen werde ich später in diesem Buch noch zu sprechen kommen. An dieser Stelle sei nur gesagt, dass sie die Welt in zwei Lager teilt: die Gläubigen und die Ungläubigen. Die Gläubigen sollen das Banner des Islams hochhalten und ihn, wenn nicht mit Gewalt, so aber doch durch die Dawa, durch missionarisches Predigen, verbreiten. Dieser Ansicht nach ist der Islam nicht lediglich eine Religion: Er ist Staat und Religion. Religiöse Gesetze sollen Anwendung finden, und wer dieser Religion und ihren Gesetzen zuwiderhandelt, soll schwer bestraft werden. Die Herrschaft liegt demnach bei Gott. Zugleich unterstreicht diese Strömung, es sei die Bestimmung des Islams, die Welt zu beherrschen, und das Werkzeug, um dieses Ziel zu erreichen, sei der Dschihad. Natürlich gibt es Anlässe, die den Einsatz von Gewalt rechtfertigen. Doch zum Konzept des Dschihad findet überhaupt keine Diskussion statt. Die Menschen werden in Kategorien eingeteilt und dementsprechend behandelt: Die Gläubigen genießen ihre Rechte. Die Anhänger anderer Religionen, Glaubenslehren oder anderer islamischer Glaubensrichtungen ziehen den Kürzeren. In allen Predigten und Verlautbarungen dieser Strömung ist der Diskurs der Opferrolle eine Kernbotschaft, die das gesamte Narrativ über historische und aktuelle Belange prägt: Der Islam wird von außen her angegriffen, die Muslime sind eine verfolgte Gruppe.

Derzeit wird diese Form des Islamismus von einem komplexen Netzwerk von Organisationen und Bewegungen aktiv beworben. Sie kontrollieren Moscheen, Schulen, Medresen, Wohlfahrtsverbände, Sozialarbeit, Stiftungen bis hin zu Finanzhäusern. Das funktioniert international – weltweit vernetzt. Natürlich herrscht unter diesen Gruppen und Bewegungen eine große Vielfalt, und sehr häufig stehen sie auch im Wettbewerb gegeneinander. Einigkeit besteht aber in zwei Punkten: Der Islam wird angegriffen, und der Westen ist der Feind.

In westlichen Demokratien erheben ihre Organisationen und Bewegungen den Anspruch, als einzige Gruppe für die westlichen Muslime zu sprechen. Sie bestehen darauf, die Muslime als »homogene Gruppe« zu behandeln, erklären, die Menschenrechte würden »vom Westen diktiert«, und stellen ihre islamistischen Forderungen als die Forderungen aller Muslime dar. Häufig behandeln westliche Politiker diese Organisationen auch als »Repräsentanten aller Muslime«. Das aber wirkt sich umgekehrt wieder auf die westlichen Demokratien aus, deren laizistische, auf Menschenrechte gegründete Ordnung durch die Postulate der Islamisten untergraben wird. Das wiederum stellt die größten Errungenschaften der westlichen Demokratien infrage, insbesondere die Trennung von Staat und Religion, die Frauenrechte und die Meinungsfreiheit. Da die Politik sich gemeinhin sträubt, diese Normen und Werte zu verteidigen, während sich Linke wie Liberale gleichermaßen durch die Bürde des weißen Mannes belastet fühlen, konnten diese Bewegungen ihre Ideologie inzwischen weit in die muslimischen Gemeinschaften hineintragen. Sie kontrollieren vielerorts Koranschulen, Jugendarbeit und Moscheen – und damit spalten sie erfolgreich die Muslime von der Mehrheitsgesellschaft ab und machen sie zu geschlossenen Gesellschaften mit ihren eigenen Regeln und Normen.

Dieser Islamismus liefert den hauptsächlichen ideologischen Rahmen für die Weltsicht des gewaltbereiten Islamismus. Genau auf diesen Islamismus müssen wir ein extrem wachsames Auge werfen.

Die Bürde des weißen Mannes

Ich sagte oben, häufig stimmten die liberalen und linken westlichen Intellektuellen in den Chor derjenigen mit ein, die das Problem leugnen. Geprägt werden sie durch das, was ich anderen Orts das »essentialistische Paradigma« genannt habe: In diesem Verständnis werden die Menschen unterschiedlicher Nationalitäten auf ihre religiöse Identität reduziert und als homogene Gruppe behandelt, wobei ihre Kultur und ihre Religion »essentialisiert« werden.9

Weil das vielleicht ein bisschen abstrakt klingt, hier ein Beispiel: Ein Essentialist würde mich nicht als Frau mit doppelter Staatsbürgerschaft ansehen, als Akademikerin oder als Menschenrechtsaktivistin. Er würde mir nur meine religiöse Identität zuweisen. Für den Essentialisten bin ich eine muslimische Frau; mich markiert meine Religion. Vielleicht bin ich überhaupt nicht religiös, aber diese Möglichkeit scheint ihm gar nicht denkbar. Wenn jemand dem Islam angehört, dann ist er Muslim, und Muslime sind per se religiös: Sie essen halal, sie trinken keinen Alkohol, sie haben vor der Heirat keinen Sex, sie wollen alle Kopftuch tragen, sie wollen alle in der Schule beten, und sie wollen alle in ihrem Leben die Scharia anwenden.

Das ist im Grunde eine rassistische Sichtweise und ähnelt stark der Haltung der extremen Rechten, allerdings aus einer anderen Motivation heraus. Was Essentialisten motiviert, ist nicht Hass oder der Wunsch, jemandem zu schaden; es ist das Bedürfnis, zu schützen.

Essentialisten sind von der Bürde des weißen Mannes getrieben: einem starken Gerechtigkeitsempfinden, gepaart mit starken Schuldgefühlen wegen der kolonialen und imperialen Vergangenheit des Westens und seiner aktuellen Politik. Diese Bürde lässt den Drang aufkommen, die Rechte von Minderheiten oder den Menschen in ehemaligen Kolonien zu schützen. In ihrem Beschützerdrang aber machen sie sich am Ende zu ungewollten Verbündeten der Islamisten, die sie für authentische Stimmen ihrer Gemeinschaften halten. So kommen sie dazu, sich den Forderungen dieser Islamisten anzuschließen und das als Unterstützung der »Bürgerrechte der Muslime« zu titulieren.10

Interessanterweise üben, anders als ihre westlichen Kollegen, viele arabische Intellektuelle von Marokko bis Saudi-Arabien inzwischen lautstarke Kritik an den fundamental-religiösen Wurzeln des Terrorismus, zum Beispiel an der salafistischen Interpretation des Islams und ihrer gewaltlosen Ideologie, wie sie etwa die Muslimbruderschaft praktiziert. Allzu lange schon, so die Kritiker, werde diese in ihren Gesellschaften als Mainstream verbreitet. Diese Frage werde ich zu einem späteren Zeitpunkt in diesem Buch genauer erläutern.

Dass nicht wenige liberale und linke westliche Intellektuelle als Essentialisten agieren und obendrein von der Bürde des weißen Mannes getrieben sind, führt die westlichen Politiker auf einen sehr schmalen Grat. Natürlich können sie bei der Wahl ihrer muslimischen Gesprächspartner opportunistisch, ja zynisch vorgehen. Mit den Islamisten in ihren eigenen Gesellschaften zusammenzuarbeiten, kann ihnen Wählerstimmen einbringen, wenn man bedenkt, wie straff diese Gruppen sich häufig organisieren können.

Andere Politiker hingegen fürchten antimuslimische Gegenreaktionen und werben um die Unterstützung ihrer Bürger islamischen Glaubens sowie ganzer muslimischer Gesellschaften in ihrem Kampf gegen Radikalisierung und den IS. Damit konzentrieren sie sich auf den gewaltbereiten Extremismus und lassen seine ideologischen und religiösen Wurzeln außen vor. Der ehemalige US-Präsident Barack Obama etwa fiel auf mit seiner Weigerung, in seinen Reden Begriffe wie »radikaler Islam« oder »islamischer Terrorismus« zu verwenden; am exponiertesten im Februar 2015 bei einer Konferenz im Weißen Haus zur Bekämpfung des gewaltbereiten Extremismus. Nach den Gründen dafür befragt, erklärte er, es handele sich »nicht um religiöse Anführer; das sind Terroristen. Wir sind nicht im Krieg mit dem Islam. Wir sind im Krieg mit den Menschen, die den Islam pervertiert haben.«11 Ich respektiere zwar diese Überzeugung, doch würden viele arabische, muslimische Kommentatoren dieser Ansicht widersprechen und wortreich das Gegenteil nachweisen. Religiöse Anführer bringen mit ihrem Diskurs und ihrem Narrativ von Hass und Opferrolle die Terroristen in ihren Gemeinschaften erst selbst hervor.

Andere erkennen, welche Rolle die Ideologie spielt, und versuchen trotzdem, sich von deren religiöser Seite fernzuhalten. Die britische Premierministerin Theresa May etwa vertrat diese Position nach den terroristischen Attentaten in Manchester und Westminster im Juni 2017. Ihr zufolge ist das, was sie verbindet, »die ausnehmend böse Ideologie des islamistischen Extremismus« – eine Ideologie, die eine »Perversion des Islams« darstelle.12 Zu Recht sagte May, Sicherheitsmaßnahmen allein reichten zur Bekämpfung dieser Ideologie nicht aus. Effektiv bekämpfen lasse sie sich nur, wenn »die Menschen diese Gewalt aus dem Kopf bekommen«13.

Während ich diese Rede hörte, fragte ich mich, worin entsprechende Maßnahmen wohl bestehen würden. Auch darin, sich anzuschauen, was für ein Islam in britischen Moscheen und Koranschulen gelehrt wird, wie der salafistische und deobandische Fundamentalismus in den geschlossenen Gemeinschaften der britischen Muslime zum Mainstream gemacht wird, und wie sich in diesen Gemeinschaften immer mehr Scharia-Räte breitmachen? Oder würde man das alles lieber ignorieren? Und wenn wir schon von geeigneten Maßnahmen sprechen: Es war wirklich merkwürdig, dass die Premierministerin die Veröffentlichung einer Studie aus dem britischen Innenministerium über die Rolle Saudi-Arabiens bei der Extremismusförderung in Großbritannien zurückhielt. Aber die Entschlossenheit, den Extremismus zu bekämpfen, wird häufig durch die wirtschaftlichen Beziehungen zu den Golfstaaten verwässert.14

Ich hoffe, Ihnen ist jetzt klar, dass ich kein Interesse an einem polemischen Diskurs habe. Ich möchte Lösungen für ein Problem finden, das wir schon viel zu lange ignorieren. Wir müssen es beim Namen nennen und bis an seine Wurzeln vordringen, um das Phänomen überhaupt zu verstehen. Sonst drehen wir uns immer weiter im Kreis und lassen zu, dass der Islamismus unsere Jugend an sich bindet, unsere Gesellschaften verändert und deren schwer erkämpfte universelle Rechte, Normen und Werte untergräbt.

Ich möchte hier klarstellen und erklären. Ich habe mit angesehen, wie diese Form des Islamismus Gesellschaften verändert und den sozialen Zusammenhalt zerstört – sowohl in Ländern, in denen ich selbst gelebt habe, als auch in Ländern, die ich zu Forschungszwecken besucht habe. In mehr als 20 Jahren Forschung in arabischen Ländern sowie in islamischen Ländern in Europa und Afrika konnte ich die unterschiedlichen Formen des Islamismus aus jeweils unterschiedlichen Blickwinkeln beobachten: die Anpassung ihres Verhaltens und ihrer Rhetorik je nach Kontext; die Ausbreitung ihrer Ideologie und ihres religiösen Diskurses durch die Staatseliten, die ganz einfach eine zynische Überlebenspolitik verfolgen. Ich konnte mit ansehen, wie sie lokale Kultur und Geschichte zerstören, Familien entzweien, Sozialverhalten verändern und jeden verfolgen, der sich ihrer Weltsicht nicht anschließt. Ich konnte mit ansehen, wie sie ein krankhaftes, sexualisiertes Frauenbild propagieren, wie sie zum Hass gegen Minderheiten aufrufen und muslimische Gesellschaften von ihren Mehrheitsgesellschaften abgrenzen.

Auch persönliche Erfahrungen habe ich mit dieser Form des Islams: Mit 16 Jahren wurde ich radikalisiert. Mit diesen persönlichen Erfahrungen will ich beginnen, um zu zeigen, wie leicht es dazu kommen kann.

2. Radikalisiert mit 16

Erinnern Sie sich noch an die 1980er-Jahre? Das war nicht einfach ein anderes Jahrzehnt in einem anderen Jahrhundert. Wir haben es mit einer anderen historischen und politischen Epoche zu tun.

Beginnen wir daher mit einer Zeitreise.

Es war der Höhepunkt des Kalten Krieges. Laut Micah Zenko von der amerikanischen Denkfabrik Council on Foreign Relations »die unsicherste Zeit, um auf der Erde zu leben«15. Der damalige US-Präsident Ronald Reagan war überzeugt, die Sowjetunion und der Kommunismus seien ein Übel, das man von Grund auf bekämpfen müsse. Er führte daher die verdeckten CIA-Operationen fort, die sein Vorgänger Jimmy Carter nach dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan 1979 eingeleitet hatte. Er setzte jedoch auf eine selbstbewusstere Politik, die über bloße Eindämmung hinausging, und entwickelte in diesem Prozess eine Doktrin, die seinen Namen erhielt: die Reagan-Doktrin. Sie sollte ein Gegengewicht zur Doktrin des sowjetischen Staatschefs Leonid Breschnew darstellen, der 1968 erklärte, die sowjetische Einflusssphäre werde sich immer weiter ausdehnen. Die Reagan-Doktrin rief dagegen zur direkten Unterstützung der »Freiheitskämpfer« auf, die »ihr Leben aufs Spiel setzen – auf allen Kontinenten, von Afghanistan bis Nicaragua –, um der sowjetischen Aggression entgegenzutreten«16.

Die Zeitungen damals waren voller bunter Bilder des fotogenen Reagan, wie er im Oval Office die Afghanen willkommen hieß, die er »Freiheitskämpfer« nannte: islamistische Mudschaheddin, abgeleitet von dem arabischen Wort Dschihad. Diese Bilder sind Zeugnis von etwas, das wir offenbar vergessen haben. Damals arbeiteten die Vereinigten Staaten mit Islamisten und mit konservativ-autoritären muslimischen und arabischen Staaten zusammen – etwa Pakistan, Saudi-Arabien und Ägypten. Sie einten sich unter einem Ziel: die Sowjetunion und den Kommunismus zu bekämpfen. Auch Osama bin Laden war ein Produkt dieser Zeit. Unter dem Einfluss von Islamisten, die in Saudi-Arabien für die afghanische Sache warben, ging er nach Afghanistan und trug zur Finanzierung, Rekrutierung und Ausbildung dieser sogenannten Freiheitskämpfer bei. Entscheidend war seine Rolle auch bei der Entsendung arabischer Kämpfer – aus Ägypten, Algerien, dem Libanon, Kuwait, Türkei und Tunesien – nach Afghanistan, um gegen die Sowjet-Streitmächte anzugehen, die dort zur Unterstützung der kommunistischen afghanischen Regierung in Stellung waren.17

Auch der Terrorismus war in diesem Jahrzehnt ein Problem – damals allerdings motiviert durch linksradikales oder nationalistisches Gedankengut. Grausame terroristische Attentate und Entführungen gingen auf das Konto der Roten Brigaden, der RAF, der palästinensischen Fatah unter Abu Nidal und der IRA. Auch auf dieser Seite gab es Abstimmung und Zusammenarbeit mit radikal autoritären arabischen Staaten – dem Südjemen, Libyen, Syrien und dem Irak – sowie mit sowjetischen Blockstaaten.18

Es war das Jahrzehnt, in dem israelische Truppen sich vollständig von der Sinai-Halbinsel zurückzogen und gemäß dem Camp-David-Abkommen jüdische Siedlungen aufgegeben wurden. Der ägyptische Präsident Anwar al-Sadat, der dieses Abkommen unterzeichnet hatte, bezahlte dafür mit dem Leben; er wurde von Kämpfern genau jener islamistischen Gruppen ermordet, die er mit aufgebaut hatte, als er an die Macht gekommen war. Und es war das Jahrzehnt, in dem Israel den Südlibanon besetzte, als Vergeltung dafür, dass eine Splittergruppe der PLO versucht hatte, den israelischen Botschafter in Großbritannien zu ermorden, und gleichzeitig die PLO Städte an der israelischen Nordgrenze bombardiert hatte.19

Abgesehen von der Besetzung des Libanon durch Israel und der Ermordung von Präsident al-Sadat bekam ich von all diesen politischen Entwicklungen nichts mit.

Als wir Rabat, Marokko, verließen und nach Sanaa in der Arabischen Republik Jemen (Nordjemen) zurückzogen, war ich 16. Es war das Jahr 1982. Mein Vater, ein nordjemenitischer Diplomat, hatte gerade eine vierjährige Dienstzeit in Marokko beendet. Gemäß der üblichen Prozedur gingen wir für zwei Jahre zurück nach Sanaa, bevor es in ein anderes Land gehen sollte.

Ich liebte Marokko. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich vier Jahre am Stück in einem Land verbracht. Zuvor zogen wir immer und immer wieder von einem Land ins andere. Ein Jahr hier, zwei Jahre dort. Die längste Zeit im selben Land verbrachte ich in der Bundesrepublik Deutschland und im Iran, jeweils drei Jahre. Ich mochte den Wechsel und lernte früh, mit Abschieden umzugehen. Sich ganz offen auf das Land, in dem man lebt, einlassen, ehrliche, herzliche Freundschaften pflegen, aber nie zurückblicken, wenn man sich einmal verabschiedet hat. Nur vorwärtsschauen, dann vergeht irgendwann der Schmerz. Mit den Jahren wächst zwar der Überdruss an diesem ewigen Kreislauf. Damals aber war ich noch jung.

Während der vier Jahre in Marokko konnte ich etwas empfinden, das ich zuvor nie gekannt hatte: Ich hing an einem Ort. Dieses Gefühl empfand ich erst wieder, als ich seit mehr als 20 Jahren in der Schweiz lebte. Endlich ein Ort, den ich Heimat nennen konnte.

Natürlich lebte ich in einer Blase – der Blase der arabischen Diplomatenkinder. Mein Vater – ein einzigartiger Mann – bestand darauf, dass mein Bruder und ich Schulen besuchten, in denen Arabisch als Hauptsprache unterrichtet wurde. Er machte es nicht wie seine besten Freunde, die ihre Kinder auf amerikanische Schulen schickten – aber nicht etwa, weil er etwas gegen die englische Sprache oder gegen die USA hatte. Jedenfalls nicht grundsätzlich.

Nachdem er in seiner Jugend mit dem Kommunismus geflirtet hatte, hatte er während seines Studiums in der DDR den realen Sozialismus kennengelernt. Diese Erfahrung brachte ihn dazu, derartige Ideologien kategorisch abzulehnen; stattdessen war er überzeugt von der Notwendigkeit eines aufgeklärten Humanismus. Seine Motivation war also nicht die Ablehnung der angelsächsischen Kultur. Er vertrat einfach nur die Meinung: Wenn man sich selbst nicht kennt, kann man sich auch nicht auf andere einlassen. »Lernt eure Sprache, beherrscht sie, und danach könnt ihr andere Sprachen lernen – aber kennt zuerst euch selbst. Eure Sprache ist euer Tor zu eurem eigenen kulturellen Erbe.« So erklärte er es uns. Er war ein stolzer jemenitischer Humanist, und diesen Stolz gab er an uns weiter.

In Marokko landete ich also in einer irakischen Schule in Rabat, die als eine der besten galt. Die Unterrichtssprache war Arabisch, als Zweitsprache fungierte Englisch. Viele arabische Diplomaten schickten ihre Kinder dorthin: Die Schule, bekannt für ihr exzellentes Niveau, war dennoch kostenlos. Für diese Großzügigkeit gab es politische Gründe, die hier aber irrelevant sind. Außerdem wurden in Marokko sonst viele Fächer auf Französisch unterrichtet, was für viele arabische Schüler problematisch war; so kamen wir zusammen.

Diese Schule hat mich tief geprägt. Dort lernte ich eine wichtige Lektion: Jungen sind nichts Besonderes. Ich war gemischte Klassen gewohnt. Bis auf die Schule im Jemen war in allen Schulen, die ich besuchte, vom Kindergarten und durch die Grundschule die Koedukation praktiziert worden. In dieser irakischen Schule dagegen ging es anders zu: Im ersten Jahr der Oberschule war ich das einzige Mädchen. Wir waren 13 Schüler, außer mir nur Jungen. Die ersten Monate in diesem Jahr waren sehr belastend. Zwei Jungen, ausgerechnet die Jemeniten, beschlossen, mich mit allen Mitteln zu schikanieren. Sie versuchten mich aufzuziehen, sich über mich dummes Mädchen lustig zu machen. Und sie schlossen eine Wette ab, dass ich nie und nimmer eine so gute Schülerin werden würde wie sie – und der eine war ein hervorragender Schüler. Auch die anderen Jungen aus anderen Ländern brachten sie gegen mich auf. Es waren sehr schwierige Monate als das gemobbte Mädchen unter all den Jungen. Doch ich weinte nie vor ihnen. Kein einziges Mal. Natürlich weinte ich nachts allein in meinem Zimmer. Aber vor ihnen blieb ich fest, wehrte mich und lernte verbissen. Meine Noten entschieden die Wette zu meinen Gunsten – ich war Klassenbeste und blieb das für den Rest meiner Schulzeit.

Obwohl diese Monate schwierig waren, hatten sie einen tiefen, nachhaltigen Einfluss auf meine Beziehung zu den Jungen. Irgendwie gewann ich ihren Respekt. Die Schikanen hörten mit den Jahren auf, sie vertrauten mir und sahen mich als ihre beste Freundin. Jungen waren nichts, wovor man Angst haben musste – das lernte ich aus dieser Erfahrung. Man muss sich nur wehren. Sie können auch Freunde sein, und ja, ich merkte, wie unsicher sie in Wirklichkeit waren.

Diese vier Jahre in der irakischen Schule in Rabat waren noch von etwas anderem geprägt: von der Freiheit, die wir hatten, und davon, dass ich mich trotzdem konzentrieren konnte. Es war Ende der 1970er-, Anfang der 1980er-Jahre. Damals war Marokko noch nicht von der konservativ-religiösen Welle erfasst, die wir heute überall in der arabisch-muslimischen Welt beobachten. Wir lebten als Kinder privilegierter Herkunft auf einer Insel der Seligen. Wir machten uns nicht klar, dass andere Menschen in Armut und Entbehrung lebten – obwohl das in Marokko und in unseren Herkunftsländern Realität war. Nein, wir waren mit uns selbst beschäftigt – mit der Schule, mit Partys, Tanzabenden, Musik und allem, was Kinder in unserem Alter machten. Damals waren Sex, Alkohol und Drogen allgegenwärtig. Ich hielt mich von dem meisten davon fern – natürlich probierte ich Alkohol und rauchte auch –, aber weiter ging ich nicht. Selbstverständlich hätte ich mich nur zu gern verliebt und einen Freund gehabt. Die Jungen sahen in mir aber ihren Kumpel – das war die Kehrseite davon, dass ich mir ihren Respekt erworben hatte.

Abgesehen davon konzentrierte ich mich. Ja, »konzentriert« beschreibt genau das, was ich seit meiner Kindheit war. Konzentriert auf die Schule, aufs Lernen, ich las jedes Buch, das ich in die Hände bekam. Den Samen für dieses Bedürfnis hatte mein Vater in mir gelegt. »Bildung ist euer Ausweg.« Er brauchte das gar nicht laut zu sagen; sein Leben war das beste Zeugnis davon.

Wie meine Mutter stammte er aus ärmlichen Verhältnissen. Sein Vater starb, als er sechs war, und er musste in verschiedenen Jobs arbeiten, während er die einzige Schule in Sanaa besuchte. Seine Mutter, eine ausnehmend starke Frau, die keinen mit Samthandschuhen anfasste, erklärte ihm trocken: »Dein Halbbruder und deine Halbschwester haben einen Vater. Du hast deine Schule.« Wie Nadeln durchdrangen diese Worte seine Seele. Er wusste, woran er war. Jeden Tag stand er im Morgengrauen auf und ging in die Moschee, um dort zu lernen. Es war der einzige Ort in Sanaa, an dem es elektrischen Strom gab. Seine Tante ließ ihn abends nicht die Lampe benutzen; das Öl war zu teuer. Sein Fleiß brachte ihm ein Stipendium ein. Er war einer der »famous fourty«, der ersten 40 nordjemenitischen Schüler, die das Land verließen und im Ausland studierten. Ich brauchte keine Ermahnung über die Bedeutung der Bildung. Sie war der Ausweg. Außerdem war ich ein Mädchen – und jemenitische Mädchen, die in der Schule keinen Erfolg haben, werden verheiratet. Manche werden auch trotz hervorragender Noten verheiratet. Zum Glück fanden weder mein Vater noch ich, dass das eine gute Lösung gewesen wäre.

Bestimmt ist Ihnen aufgefallen, dass ich kaum über meine Mutter spreche. Ich will das hier nicht tun; vielleicht später im Buch. Jetzt von ihr zu erzählen, macht mich traurig. Genau in diesen vier Jahren in Marokko begann ihre psychische Krankheit. Ich war zwölf, als klar wurde, dass es die liebevolle Mutter von einst nicht mehr gab; sie saß irgendwo in der Falle. Selten benutze ich das Wort Hass, wenn ich meine Gefühle beschreibe. Doch ihre Krankheit hasste ich, und ich hasse sie bis heute. Diese Krankheit nahm sie mir weg. Und vor allem steht diese Krankheit für alle Belange der Frau, die sich meines Erachtens in den arabisch-muslimischen Ländern ändern müssen. Die Krankheit kam nämlich nicht aus heiterem Himmel – sie war ein Symptom der tiefen sozialen Missstände in unseren Gesellschaften. Jetzt aber lassen wir sie beiseite. Es reicht zu wissen, dass ich in diesen vier Jahren mit ihrer Krankheit kämpfte.

Vor diesem persönlichen Hintergrund kam ich also 1982 nach Sanaa – hinter mir ließ ich ein Land, eine Schule und Freunde, die ich liebte. Frei im Kopf, konzentriert aufs Lernen, im Kampf mit einer psychisch kranken Mutter. Meine Familie war privilegiert – gebildet. Den Ton gab in unserer Familie mein Vater mit seiner humanistischen Weltsicht an. Wir waren laizistisch, würde ich sagen. Er selbst war ein agnostischer Freidenker, von Religion hielt er nicht viel – von allen Religionen, besonders aber vom Islam. Meine Mutter wurde seit dem Beginn ihrer Krankheit immer religiöser. Doch sie war auch von ihrer Erziehung geprägt; sie wuchs im ägyptischen Mahalla al-Kubra in einem religiösen, aber toleranten Umfeld auf. Von ihr lernte ich etwas über Religion, von ihr und meinem persönlichen Mentor, Scheich al-Shawadfy. Über ihn werde ich später berichten.

Abgesehen davon waren wir überhaupt nicht religiös. Der Ramadan wurde traditionell begangen, aber gefastet wurde bei uns nicht. Mein Bruder und ich versuchten es. Es war aber mehr eine Herausforderung an unsere Willenskraft, die mit der Zeit an Reiz verlor. Nur Mutter fastete. Bestimmt fühlte sie sich damit ziemlich einsam. Aber wir alle respektierten die Tradition – wir aßen möglichst diskret und nur kleine Mahlzeiten – und warteten geduldig auf das Fastenbrechen am Abend, wenn wir gemeinsam das Iftar-Mahl hielten.

Was für ein Schock also war meine Ankunft im Jemen. Nicht dass ich nicht wusste, was mich dort erwartete. Aber ein Schock blieb es trotzdem. Wenn ich in den Jemen reise, reise ich zurück in die Geschichte. Das meine ich gar nicht despektierlich. Ich liebe den Jemen. Der Jemen und meine Mutter, das sind meine Wunden – ich trage den Schmerz, zu wissen, wie es hätte sein können, aber nie sein durfte. Doch es fühlt sich wirklich so an, als hätte man eine Epoche verlassen und beträte eine andere – dabei ist es eine Parallelwelt mit einer völlig anderen sozialen Ordnung.

Marokko war in Bezug auf Frauen und soziale Gebräuche entspannter, zumindest in den Kreisen, in denen ich mich bewegte – und das war ein immenser Kontrast zum Norden des Jemen. In Rabat sah man damals nirgends Frauen mit Kopftüchern. Nur ältere Frauen trugen die traditionelle Dschellaba, aber in bunten Farben. In Sanaa trugen Mädchen Kopftuch und nahmen später den Sharshaf, das zweiteilige schwarze Gewand, das die Frau von Kopf bis Fuß bedeckt, dazu noch einen Schleier, der das Gesicht verdeckt. Das ersparte mir mein Vater. Er glaubte an nichts davon und machte das in seiner Familie auch deutlich. In Rabat gaben sich junge Männer und Frauen zur Begrüßung Küsschen. In Sanaa kann ein junges Mädchen, das mit einem männlichen Fremden gesehen wird, einen Stammeskrieg auslösen und sich selbst schwere Bestrafung zuziehen. In der Gesellschaft herrscht völlige Geschlechtertrennung. Wenn man ein Haus betritt, bekommt man kein weibliches Gesicht zu sehen, es sei denn, man bewegt sich in Kreisen mit weniger konservativen Gewohnheiten.