Frauen und die Scharia: Die Auswirkungen des Rechtspluralismus in Großbritannien - Elham Manea - E-Book

Frauen und die Scharia: Die Auswirkungen des Rechtspluralismus in Großbritannien E-Book

Elham Manea

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Beschreibung

Mit ihrem Buch „Frauen und die Scharia“ untersucht die Schweizer Politologin Elham Manea die Auswirkungen des Rechtspluralismus auf Menschen- und insbesondere Frauenrechte. Dabei zeigt sie am Beispiel Großbritanniens, wie die Scharia mit dem Anwachsen des muslimischen Bevölkerungsteils zunehmend als Parallelrecht Anwendung findet, unterstützt und befördert durch staatliche Stellen. Das Modell Großbritanniens gilt in der Diskussion um religiöse Minderheiten und die Frage, ob Recht und Rechtsprechung des Islam teilweise in die bestehenden Rechtssysteme integriert werden sollten, die in vielen europäischen Ländern geführt wird, als Vorbild. Die Autorin zeigt anhand vieler Beispiele aus eigener Feldforschung auf, wie „Sharia Councils“ im Vereinigten Königreich v.a. muslimische Frauen und Mädchen von den Rechten ausschließen, die ihnen nach britischem Recht eigentlich zustehen. Eindrucksvoll belegt Manea, dass Rechtspluralismus nicht zum Schutz von Minderheiten beiträgt, sondern vielmehr die Schwächsten in den Minderheitengruppen benachteiligt, sie sogar gefährden und ihrer Grundrechte berauben kann.

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Seitenzahl: 573

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ibidem-Verlag, Stuttgart

 

Table of Contents

Vorwort

Die Autorin

Danksagungen

Einführung in die Debatte

Kapitel 1 Eine kritische Überprüfung des essentialistischen Paradigmas

Erstes Merkmal: Kombination von Multikulturalismus und Rechtspluralismus in einem sozialen Kontext

Zweites Merkmal: Gruppenrechte

Drittes Merkmal: Kulturrelativismus

Viertes Merkmal: Die Bürde des weißen Mannes

Kapitel 2 Islamisches Recht im Westen: Der Fall Großbritannien

Einwanderung, Rassismus und pluraler Monokulturalismus

Befürworter des islamischen Rechts im Westen: Die Essentialisten

Kapitel 3 Rechtspluralismus in der Praxis

Das Erbe des Millet-Systems in der arabischen MENA-Region

Die Folgen des Rechtspluralismus aus Staatsbürgerschafts- und Menschenrechtsperspektive

Stratifizierte Bürgergesellschaft und das Syndrom der doppelten Diskriminierung

Kapitel 4 Islamisches Recht und Menschenrechtezwischen Theorie und Realität:Großbritannien als Vorzeigebeispiel

Ein essentialistisches Argument für das islamische Recht: Rowan Williams und die Freiheit, aus Gewissensgründen aus den universellen Menschenrechten auszusteigen

Eine universalistische Antwort auf das Argument von Rowan Williams

Würde UND Menschenrechte: Beides gehört zusammen

Scharia-Recht in Großbritannien: Eine anthropologische Version des Rechts

Ein essentialistisches akademisches Argument für das islamische Recht

Islamisches Recht und universelle Menschen- und Frauenrechte

Kapitel 5 Islamismus und islamisches Recht im Westen: Das Offensichtliche aussprechen? Großbritannien als Beispiel

Die Konstruierung der muslimischen Gemeinschaft: Die Landschaft herausbilden

Die Landschaft des britischen Islams

Gesellschaftlicher und politischer Islamismus im britischen Kontext

Die Konstruktion der britischen muslimischen Gemeinschaft

Der britische Kontext

Maßnahmen der islamistischen Bewegungen, gesellschaftlich oder politisch

Die britische Politik und der Einsatz von Mittelsleuten, um die "asiatische Wählerschaft" zu gewinnen

Die Zusammenhänge herstellen: Über die Bedeutung dieser Verbindungen

Kapitel 6 Verortung der Debatte in der Realität von Frauen: Scharia-Recht – angefochten

Der Kontext der Frauen

Querschnitt der Frauen, die sich an Scharia-Gerichte wenden

Erster Falltypus: Religiöse Scheidung

Zweiter Falltypus: Heirat außerhalb des Vereinigten Königreichs

Dritter Falltypus: Ehe außerhalb des Zivilrechts in Großbritannien

Warum Frauen sich an Scharia-Gerichte wenden

Scharia-Recht angefochten: Ein folgenreicher Diskurs

Frauenorganisationen und die Scharia in Großbritannien

Fazit: Zeit für einen Paradigmenwechsel Ein folgenorientierter Ansatz für Menschenrechte und Menschenwürde

Das essentialistische Paradigma

Politische Empfehlungen

Epilog

Rechtspluralismus in den deutschsprachigen Ländern: Eine vorläufige Einschätzung

Beziehungen von Staat und Religion in Österreich, Deutschland und der Schweiz

Vorbemerkungen zu Schiedsgerichtsbarkeit und Mediation: Die Schweiz als Fallbeispiel

Vorläufige Ergebnisse

Das Dilemma der "nur religiösen Ehen" in Deutschland

Schlussbetrachtung

Impressum

ibidem-Verlag

 

 

 

 

 

 

Für meinen Mann, den Wind unter meinen Flügeln.

 

Vorwort

Als vor einigen Jahren der Missbrauchsskandal von Rotherham offenkundig wurde, war Europa schockiert. Von 1997 bis 2013 hatten pakistanischstämmige Männer 1.400 weiße Mädchen aus der Unterschicht vergewaltigt und zur Prostitution gezwungen. Obwohl es zahlreiche Hinweise gab, sahen Mitarbeiter von Behörden, Polizei und Politik weg, weil sie Angst hatten, als Rassisten denunziert zu werden.

Wer verstehen will, wie es so weit kommen konnte, muss sich mit aktuellen Debatten zu Rassismus, Kulturrelativismus und Rechtspluralismus auseinandersetzen, die viele europäische Gesellschaften nachhaltig lähmen und zu einer Erosion der Menschenrechte geführt haben. Auch andere Berichte irritieren nämlich. Da ist zum einen der islamische Extremismus, dessen Vertreter von vielen Wohlmeinenden zu Opfern eines angeblich strukturell verankerten "antimuslimischen Rassismus" stilisiert werden, zum anderen aber auch der Umstand, dass sich mitten in Europa muslimische Parallelgesellschaften herausgebildet haben, in denen islamistische Hardliner die Spielregeln des täglichen Zusammenlebens diktieren. Dort, wo sich die Mehrheitsverhältnisse in der Bevölkerung zugunsten der Muslime entwickeln, geraten selbst staatliche Einrichtungen unter Druck. So wurden beispielsweise 2019 in Nordengland schulische Unterrichtseinheiten, in denen es um Toleranz gegenüber Homosexuellen gehen sollte, nach Protesten muslimischer Eltern aufgegeben. Vielfach erfolglos von der Schulaufsicht gerügt, wird in vielen Schulen inzwischen eine strikte Trennung zwischen Jungen und Mädchen praktiziert. Auch andere repressive Normen werden im Namen des Islam durchgesetzt. Opfer dieser Islamisierung sind vor allem muslimische Mädchen, die von Mitschülern genötigt werden, sich "islamisch" zu kleiden und sich "sittsam" zu verhalten.

Wer angesichts dieser Zustände erwartet, dass sich die Wissenschaft des Themas annimmt, dass Migrations- und Ungleichheitsforscher, Soziologen, Ethnologen, Erziehungs- und Politikwissenschaftler große Forschungsprogramme auf den Weg bringen, um das Phänomen in seinen vielfältigen Facetten interdisziplinär und international zu untersuchen, wird enttäuscht. Das Gegenteil ist der Fall. Islamismus und Parallelgesellschaften gelten als Reizworte, die diejenigen sorgsam zu vermeiden haben, die sich um die Einwerbung finanzieller Mittel für Forschungsprojekte bemühen. Aber es ist nicht nur die Terminologie, die unter Verdacht steht, sondern auch der Gegenstand der Forschung selbst. Die Schattenseiten von Migration und Islam gelten weithin als tabuisiert und jeder, der sich damit befasst, muss damit rechnen, als "rechts", "islamophob" oder "rassistisch" abgestempelt zu werden. Für eine akademische Karriere sind diese Formen des Mobbings, deren Wahrheitsgehalt nicht überprüft werden muss, gewöhnlich verheerend. Aus diesem Grund herrscht weithin Schweigen in den Wissenschaften.

Lediglich in Frankreich, wo streitbare Intellektuelle sich einer Islamo-Gauche genannten islamistisch-linken Allianz standhaft widersetzen, gibt es ein signifikantes Korpus belastbarer empirischer Daten zu segregierten muslimischen Gemeinschaften. Dafür stehen beispielsweise Gilles Kepel, der Doyen der Islamismusforschung, oder der Islamwissenschaftler Bernard Rougier, der eine Gruppe von Studenten vier Jahre lang in französische Vorstädte geschickt hatte, um die örtlichen Verhältnisse in Augenschein zu nehmen. Sie besuchten Moscheen, Cafés und Fußballplätze und unterhielten sich mit den dort lebenden Menschen. In 150 Kommunen entdeckten sie bedrückende Parallelgesellschaften, in der es keine Bildung mehr für Kinder gibt, sondern nur noch islamistische Indoktrination, und in denen der Staat und seine Repräsentanten durch weitgehende Abwesenheit auffallen. Die Frauen sind dort aus der Öffentlichkeit verbannt und gehalten, sich zu verschleiern, wenn sie aus dem Haus gehen. Andernfalls laufen sie Gefahr, vergewaltigt zu werden. Rougiers Monographie Les territoires conquis de l'islamisme hat für erhebliche Verunsicherung gesorgt, und der französische Präsident Emmanuel Macron kündigte daraufhin ein entschiedenes Vorgehen gegen diese Missstände an. Die Frage steht seitdem im Raum, ob es sich nur um spezifisch französische Probleme oder um die Spitze eines europäischen Eisberges handelt.

Elham Manea hat jetzt ein Buch vorgelegt, das sich mit ähnlichen Verhältnissen in Großbritannien befasst. Sie hat mit Imamen, Politikern und Menschenrechtsaktivisten gesprochen und analysiert, was die Akzeptanz muslimischer Normen in einer sich tolerant gebenden multikulturellen Gesellschaft für Frauen in muslimischen Communities bedeutet. Die Gemeinsamkeiten mit den französischen Verhältnissen sind frappierend. Im Namen des Islam werden minderjährige Mädchen verheiratet, häusliche Gewaltverhältnisse gerechtfertigt und Frauenrechte negiert. Ermöglicht wird diese Diskriminierung muslimischer Frauen und Mädchen durch nichtmuslimische Advokaten des Kulturrelativismus, die dafür werben, Elemente des islamischen Rechts anzuerkennen. Rechtspluralismus lautet das Zauberwort, das in diesem Zusammenhang als Synonym für weltoffene Diversität präsentiert wird. Darunter, so deckt Elham Manea kenntnisreich auf, verbirgt sich allerdings keine schöne neue Welt, in der gelebte kulturelle Vielfalt die Gesellschaft bereichert. Rechtspluralismus bedeutet vielmehr einen Rückfall in eine überwunden geglaubte patriarchalische Vergangenheit bzw. eine partielle Angleichung britischer Rechtsnormen an diejenigen, die in der islamisch geprägten Welt vorherrschen.

Im islamischen Recht, so Manea, existiert keine Gleichheit der Geschlechter. Die Dominanz des Mannes gehört ebenso zum religiösen Normenkatalog wie die Pflicht der Frau, sich dem Gatten zu unterwerfen. Männer erhalten das Privileg der unbeschränkten sexuellen Verfügbarkeit der Ehefrau, und sie können bis zu vier Frauen heiraten, darunter auch Mädchen, die noch nicht die Pubertät erreicht haben. Es ist ihnen sogar gestattet, die Ehefrau zu schlagen, wenn diese es an Gehorsam und Unterwürfigkeit mangeln lässt. Die Scheidung ist für Männer einfach, für Frauen nur unter Auflagen möglich. Dabei verlieren diese dann automatisch die Vormundschaft für ihre Kinder. Vor Gericht zählen die Aussagen zweier Frauen so viel wie die eines Mannes, und eine ähnliche Benachteiligung besteht auch hinsichtlich des Erbes. Diese in den religiösen Texten niedergelegten Diskriminierungen sind keineswegs allein theoretischer Natur, führt Manea aus. Sie werden in den Familiengesetzen muslimischer Länder ausbuchstabiert und prägen den Alltag in den Familien und Gemeinschaften.

Während Frauenrechtlerinnen in islamisch geprägten Ländern große Anstrengungen unternehmen, das Familienrecht zu reformieren, und sich dabei auf die Menschenrechte, die Aufklärung und den Säkularismus beziehen, versuchen Islamisten in Großbritannien den umgekehrten Weg zu gehen. Sie beanspruchen Sonderrechte, um Regularien zu implementieren, die sich gegen die Menschenrechte und die Aufklärung richten. Ihr Fundament ist ein rückwärtsgewandter patriarchalischer Islam, der vor allem für Mädchen und Frauen nichts Gutes verheißt.

Elham Manea ist es gelungen, Licht ins Dunkel eines ausgeblendeten Bereichs der Migrationsforschung zu bringen, der nicht nur in Großbritannien stärker beachtet werden sollte. Sie fordert einen Paradigmenwechsel in den Wissenschaften und einen Abschied von theoretischen Konzepten, die wenig hilfreich sind, wenn es darum geht, die Errungenschaften der Frauenbewegung für die Bürgerinnen Europas ungeachtet ihres religiösen oder kulturellen Hintergrunds zu bewahren. Für alle, die sich ohne intellektuelle Scheuklappen mit der Gegenwart europäischer Einwanderungsgesellschaften befassen wollen, ist das Buch ebenso ein Muss wie für diejenigen, die sich um die Zukunft der Rechte von Frauen und Mädchen sorgen.

Frankfurt am Main, im Februar 2022Susanne Schröter

 

Die Autorin

 

Elham Manea ist Privatdozentin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Zürich. Sie lehrt und forscht in den Bereichen Rechtspluralismus und islamisches Recht, Politik der arabischen Halbinsel, Gender und Politik sowie Politischer Islam. Außerdem ist sie Autorin und Menschenrechtsaktivistin und berät staatliche und internationale Organisationen zu den Themen Islamismus, Gender und Länder in Konfliktzonen (Jemen). Sie ist die Vizepräsidentin der Schweizerischen Eidgenössischen Kommission für Migration und Mitglied des österreichischen Beirats der Dokumentationsstelle für politischen Islam. Zu ihren letzten Buchveröffentlichungen gehören "Der alltägliche Islamismus" (2018).

 

Danksagungen

Ich habe mehrere Bücher veröffentlicht, doch dieses hier liegt mir besonders am Herzen. Denn dieses Buch habe ich mit einer bestimmten Absicht geschrieben. Es ist Ausdruck einer mehr als zwei Jahrzehnte währenden Enttäuschung über einen Diskurs zu Differenz und Identität, der einige postmoderne Kreise kennzeichnet. Es war unumgänglich, diesem Diskurs einen Namen zu geben – das essentialistische Paradigma – und dieses Buch zu schreiben.

Es ist der Höhepunkt einer vierjährigen Forschungsarbeit und das Ergebnis intensiver Diskussionen und Beratungen mit Kollegen und Freunden. Die Liste derer, die das Manuskript gelesen und kommentiert haben, ist lang. Ihnen allen bin ich dankbar. Insbesondere möchte ich meinen Schweizer Kollegen und Freunden Helene Aecherli, Prof. Anke von Kügelgen, Prof. Antonius Liedhegener, Prof. Livia Schubiger, Dr. Dorothea Weniger und Prof. Judith Wyttenbach für ihr wertvolles, kritisches Feedback und für ihre Kommentare zu diesem Buch danken.

Ich hatte das Glück, Teile meines Buches im Jahre 2014 in Bern den Kollegen der Universitäten von Witwatersrand, Bern und Basel präsentieren zu können. Ich möchte ihnen allen für ihre kritische Beurteilung danken.

Ich stehe nicht zuletzt in der Schuld vieler Personen im Vereinigten Königreich, die großzügig ihre Kontakte, ihre Zeit, ihr Wissen und ihre Fachkenntnisse mit mir geteilt haben. Sie haben meine Feldforschung erleichtert und meinen Aufenthalt im Vereinigten Königreich mit ihren Diskussionen bereichert. Ohne sie hätte dieses Buch nicht fertiggestellt werden können. Ich bin mir bewusst, dass einige von ihnen aus verschiedenen Gründen hier nicht erwähnt werden wollen, und ich werde das respektieren. Sie wissen, wer sie sind, und ich bin ihnen sehr dankbar.

Besonderen Dank möchte ich Gita Sahgal für die unschätzbaren Einsichten aussprechen, die sie mit mir geteilt hat. Ich schätze die Zeit, die mir Baroness Caroline Cox während meiner Recherchen geschenkt hat, und auch ihr bin ich sehr dankbar, ebenso wie Jenan Al Jabiri, Rashad Ali, Salma Dean, Shaista Gohir, Dr. Usama Hasan, Habiba Jaan, Gina Khan, Tehmina Kazi, Maryam Namazie, Charlotte Proudman und Tahmina Saleem. Darüber hinaus bin ich Helen Snively zu Dank verpflichtet, die mich bei diesem Vorhaben begleitet und das Manuskript professionell redigiert hat. Abschließend möchte ich diejenigen um Verzeihung zu bitten, die ich vielleicht zu erwähnen vergessen habe.

Ich habe das Glück, meinen Mann Thomas und meine Tochter Selma an meiner Seite zu wissen. Ihre fortdauernde Liebe, Ermutigung und Unterstützung waren es – selbst bei meinen haufigenphysischen und mentalen Abwesenheit –, die dieses Buch erst ermöglicht haben.

 

Einführung in die Debatte

Alles begann mit einer Medienkontroverse in der Schweiz. Das Buch in Ihren Händen ist das direkte Resultat hieraus. Auslöser war ein kurzer Artikel eines Professors für Sozialanthropologie an der Universität Fribourg. Die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus widmete ihr Bulletin TANGRAM vom Dezember 2008 dem Thema "multikulturelle Gesellschaft". In dieser Ausgabe veröffentlichte Professor Christian Giordano (verstorben im Dezember 2018) einen Artikel mit dem Titel "Rechtspluralismus: Ein Werkzeug für den Multikulturalismus?"

Es dauerte einige Wochen, bis die Medien das Bulletin und mit ihm den Artikel in die Hände bekamen. Eine angesehene Sonntagszeitung, die NZZ am Sonntag, diskutierte die Implikationen von Giordanos Argument, interviewte ihn und veröffentlichte einen Artikel mit der Überschrift "Scharia-Gerichte für die Schweiz: Freiburger Professor fordert spezielle Gesetze für Muslime und andere Gruppen".

Als arabische Akademikerin, die den Islam als ihre Religion betrachtet und die die Bedingungen aller Geschlechter in der Region des arabischen Nahen Ostens und Nordafrikas (MENA) eingehend erforscht hat, als Frauenrechtlerin, die sich in verschiedenen Kampagnen für Geschlechtergerechtigkeit engagiert hat, und als Frau, die die schwerwiegende Folgen der Anwendung des Scharia-Gesetzes gesehen hat, wusste ich nur zu gut, was dieser Vorschlag nach sich ziehen würde. In der folgenden Woche veröffentlichte dieselbe Sonntagszeitung meine Antwort auf Giordanos Vorschlag mit dem Titel "Das islamische Recht in der Schweiz wäre verheerend" im Meinungsteil.1

Diese Debatte veranlasste mich, das Thema weiter zu recherchieren und schließlich dieses Buch zu schreiben.

Die vorliegende Schrift kritisiert einen Denkansatz, der für den postkolonialen und postmodernen akademischen Diskurs des Westens charakteristisch geworden ist: Eine Denkweise, die darauf besteht, Menschen als "homogene Gruppen" zu behandeln, ihre Kulturen und Religionen zu essentialisieren, besondere Gesetze und eine besondere Behandlung für Gruppen innerhalb einer Gesellschaft zu fordern, die menschenrechtlichen Konsequenzen ihres akademischen Diskurses zu unterschätzen und die Stimmen von Menschen aus eben jenen "Kulturen" als "nicht authentisch genug" zu verwerfen. Ich nenne dies das essentialistische Paradigma.

Dies ist auch ein Buch über den Kontext, in dem sich dieser Diskurs abspielt. Oft sind diese westlichen Akademiker zu ahnungslosen Verbündeten von Islamisten geworden, die eine Ideologie des Islamismus propagieren, die den Islam essentialisieren will, und die vorgeben, die einzige Instanz zu sein, die für die Muslime spricht. Sie bestehen darauf, als "homogene Gruppe" behandelt zu werden, und behaupten, dass die Menschenrechte eine "westliche Zumutung" seien; zugleich verletzen sie diese Rechte ungestraft. Was die westlichen Akademiker nicht zu bemerken scheinen, ist der totalitäre Gehalt, der der Ideologie des Islamismus inhärent ist, und sein Ziel unterdrückerischer politischer Herrschaft.

Beide Ausprägungen der Essentialisten argumentieren, dass das islamische Recht im Namen des Multikulturalismus in die westlichen Rechtssysteme eingebracht werden sollte. Großbritannien ist ein bekanntes, und ich wage zu behaupten: ein katastrophales Beispiel für dieses Experiment.

Als Antwort auf derlei Bestrebungen stellt dieses Buch eine Kritik am Diskurs der Essentialisten und zugleich eine Verteidigung der Universalität der Menschenrechte dar.

Ich behaupte, dass wir, um die Ernsthaftigkeit und Schwere der Forderung der Essentialisten zu verstehen, den Kontext des Rechtspluralismus und seine tatsächliche Praxis betrachten müssen. Wir müssen auch die Konsequenzen der Einführung von "Sondergesetzen" für "bestimmte Gruppen" kennen. Dies sind die Konsequenzen, auf die es ankommen sollte. Und auch für diese kann das britische Beispiel reichlich Belege liefern.

Aber ich greife mir selbst voraus. Lassen Sie mich Ihnen zunächst die damalige Debatte vorstellen und erklären, warum ich zur Überzeugung gelangt bin, dass ein Paradigmenwechsel notwendig ist.

***

Was hatte Professor Christian Giordano eigentlich gesagt?

Ich möchte einen Absatz seines Artikels zitieren, der sein Argument am besten illustriert:

"Europa befindet sich angesichts massiver Migrationswellen an einem Wendepunkt: Es hat die Wahl, auf der Einzigartigkeit und der Unumstösslichkeit der existierenden, ausschliesslich auf dem positiven Recht basierenden Rechtssysteme zu beharren oder zu versuchen, diese zu pluralisieren, und damit offiziell die Existenz unterschiedlicher Ansprüche an das Recht und unterschiedlicher Rechtskulturen anzuerkennen. Ein solcher Rechtspluralismus kann selbstverständlich nicht auf der Errichtung von vollständigen und autonomen parallelen Rechtsprechungen gründen. Ein starker Rechtspluralismus bleibt in der westlichen Welt offenkundig inakzeptabel. Es geht vielmehr darum, in bestimmten Bereichen des positiven Rechts andereRechtsmechanismen zu integrieren, mithilfe derer kultureller und soziostruktureller Vielfalt Rechnung getragen wird. Selbstverständlich müssen Hierarchien zwischen den verschiedenen juristischen Segmenten, die ein pluralistisches Rechtssystem ausmachen, geschaffen und respektiert werden, um die Rechtsgültigkeit der Verfassung, die unbedingt säkular sein muss, und die Wahrung der Menschenrechte sowie der demokratischen Grundprinzipien des Rechtsstaates zu garantieren (Hefner, 2001: 3). Hinzu kommt aber, dass die Individuen die freie WahI haben sollten,, zu entscheiden, weichen zu entscheiden, welchen Rechtsmechanismen und dazugehörigen Verfahren sie unterworfen werden möchten."2

Giordano schlug vor, dass die Schweiz einen, wie er es nannte, schwachen Rechtspluralismus3 einführen sollte, also einigen Gruppen mit unterschiedlichem kulturellen oder religiösen Hintergrund zu gestatten, ihre eigenen Gesetze in bestimmten Bereichen der Rechtsprechung anzuwenden. In seinem Interview mit der NZZ am Sonntag räumte er ein, dass er mit seinem Vorschlag bewusst provozieren wolle; gleichwohl sei er der Meinung, dass in der Schweiz die Zeit für eine solche Debatte reif sei. Er argumentierte, dass die Anwesenheit von Migrantinnen und Migranten aus "sehr entfernten Kulturkreisen" diese Rechtsumstellung erforderlich mache: "Die kulturelle Distanz ist zu groß. Und so sehr sich diese Migranten auch assimilieren, es bleibt immer ein Unterschied; das gilt auch für unser Rechtssystem."

Des Weiteren schlug er die Einführung von Scharia-Gerichten und anderer religiöser Gerichte vor. Solche Gerichte sollten sich insbesondere mit Zivilsachen, aber auch mit Straftaten und Körperverletzungen befassen. Natürlich könne er die Vorstellung islamischer Urteile, die zu körperlicher Bestrafung führten, nicht tolerieren. Er bekräftigte, dass die Menschenrechte unter keinen Umständen verletzt werden dürften. Körperliche Züchtigung solle vielmehr "in Geldstrafen umgewandelt" werden. "Natürlich müssten die Menschenrechte in einem Schweizer Scharia-Gericht vollumfänglich gewahrt bleiben".

Leichter gesagt als getan. Es ist nicht möglich, die Menschenrechte vor einem Scharia-Gericht vollständig einzuhalten.

Vereinfacht ausgedrückt, sind es oft Frauen und Kinder, die einen hohen und schmerzhaften Preis für derlei gut gemeinte Vorschläge zahlen.

Stellen Sie sich eine 36-jährige, geschiedene Mutter im Jemen vor, die neben einem Imam steht, der ihren 18-jährigen Sohn in den Vereinigten Staaten anruft, um dessen Erlaubnis zu erhalten, dass seine Mutter wieder heiraten darf. Was, wenn er Nein sagt? Der Imam wird sich weigern, die Trauung zu vollziehen. Sie braucht die Erlaubnis ihres Vormunds, um heiraten zu dürfen. Da ihr Vater gestorben ist, ist ihr Sohn zu ihrem Vormund geworden.

Stellen Sie sich eine religiöse Rechtsprechung vor, die kein Mindestalter für die Eheschließung festlegt. Wenn ein Mädchen als "heiratsfähig" eingestuft wird, kann ihr Vormund sie verheiraten, und es spielt keine Rolle, ob sie neun, zwölf oder dreizehn Jahre alt ist. Wenn sie ihre Monatsregel bekommen hat und ihr Vormund sie als "ehetauglich" erachtet, wird sie verheiratet, gleichgültig, ob mit neun, zwölf oder dreizehn Jahren. Allzu oft, wenn eine sehr konservative Auslegung des Islam wieder erwacht, geben Imame hierzu gerne ihren Segen. "Je früher, desto besser", wie ein berühmter Scheich vor einem Scharia-Gericht in Großbritannien in einem aufgezeichneten Video meinte.4

Stellen Sie sich ferner eine religiöse Rechtsprechung vor, die Ihnen sagt, dass es für Sie als Ehefrau keine Rolle spielt, wie viele Jahre Sie in Ihrer Ehe verbracht haben. Wenn Sie sich scheiden lassen, beträgt Ihr gesamter finanzieller Anspruch drei Monate Unterhalt. Was wäre, wenn eine Frau 30 Jahre lang verheiratet wäre? Falls sie sich nicht mit Eigentum und Bankguthaben auf ihren eigenen Namen "abgesichert" hat, erhält sie dennoch nur Unterhalt für drei Monate. Drei Monate Unterhalt sind die Regel.

Stellen Sie sich eine religiöse Rechtsprechung vor, die Ihnen sagt, dass Sie sich als Mann von Ihrer Frau scheiden lassen können, indem Sie das Wort "geschieden" dreimal aussprechen – einfach so! Ihre Frau hat kein Einspruchsrecht, da Sie sich so entschieden haben. Die ganze Macht liegt allein in Ihren Händen. Doch wenn wiederum sie sich für die Scheidung entscheidet, muss sie ein quälendes Gerichtsverfahren durchlaufen, bis sie schließlich geschieden werden kann. Selbst in dieser Situation braucht sie Ihre Erlaubnis, um sich scheiden zu lassen, und ohne diese Erlaubnis muss sie entweder einen Schaden nachweisen oder ihre finanziellen Ansprüche aufgeben.

Stellen Sie sich eine religiöse Rechtsprechung vor, die eine Mutter ihres Rechts auf das Sorgerecht für ihre Kinder beraubt, wenn sie sich entschließt, nach ihrer Scheidung wieder zu heiraten.

Stellen Sie sich ein System vor, das Ihnen sagt, dass Sie als Tochter Anspruch auf die Hälfte des Anteils Ihres Bruders am Erbe Ihrer Eltern haben. Er hat Anspruch auf das Doppelte Ihres Anteils, weil er männlich ist. Sein Geschlecht legt seinen Anteil fest.

Vergegenwärtigen Sie sich dies alles und sagen Sie mir dann: Wie sollen wir die Menschenrechte – die die Gleichheit von Männern und Frauen und die Freiheit von Diskriminierung ungeachtet der Religion und des Geschlechts beinhalten – vor einem Scharia-Gericht uneingeschränkt wahren?

Beachten Sie, dass ich hier "bewusst" – um ein Wort von Giordano zu verwenden – von einem akademisch-juristischen Diskurs abgewichen bin. Ich habe absichtlich zu einer Sprache gegriffen, die die Konsequenzen von Giordanos Vorschlag in aller Deutlichkeit veranschaulicht. Es sind die Konsequenzen, auf die es in dieser ganzen Debatte ankommt: Die Konsequenzen für das tägliche Leben von Frauen und Kindern. Und es sind Konsequenzen, die am häufigsten die Schwächsten und die am wenigsten Privilegierten in den unterschiedlichen Gemeinschaften muslimischer Frauen treffen.

Eine gebildete und emanzipierte muslimische Frau wird in der Lage sein, für ihre Rechte zu kämpfen. Sie wird wissen, dass diese "rechtlichen Mechanismen" freiwillig sind. Sie wird die Schlupflöcher in der islamischen Rechtsprechung kennen, und es gibt derlei viele. Wenn sie kein islamisches Schiedsverfahren will, kann sie sich einfach an das Zivilgerichtssystem wenden. Sie wird in der Lage sein, zu verhandeln und ihre eigene Handlungskompetenz zu nutzen. Aber stellen Sie sich eine junge Frau vor, die aus ihrem Dorf in ein westliches Land gebracht wurde, um einen Cousin zu heiraten, die kaum die hiesige Sprache spricht, sich ihrer Rechte nicht bewusst ist und die fest in einer missbräuchlichen Ehe und einer patriarchalischen Familienstruktur verfangen ist. Diese Frau wird nicht in der Lage sein, zu verhandeln oder ihre Macht zu nutzen, um ihre Rechte wahrzunehmen.

Eine junge Frau, die in einer geschlossenen und soziale Kontrolle über die Frauen ausübenden Gemeinschaft aufwächst, wird in ähnlicher Weise Angst davor haben, gegen den Strom der Regeln zu schwimmen, die von den Ältesten und Anführern der Gemeinschaft diktiert werden. Allzu oft wird dieser jungen Frau bedeutet, dass Gott diese ungerechten Regeln angeordnet hat, weil er es besser wisse – und wer sei sie denn, dass sie es wage, die Fairness dieser Entscheidungen in Frage zu stellen? Wird sie das Urteil der "Richter" eines Scharia-Gerichts wirklich ablehnen können?

Ein System, das es denjenigen mit den größten Privilegien erlaubt, sich an ihre Rechte zu klammern, während es Diskriminierung und Missbrauch für die am wenigsten Privilegierten fortschreibt, ist kein faires System. Es ist willkürlich und von Natur aus parteiisch. Als solches kann es die Beachtung der Menschenrechte nicht garantieren. Das ist das Kernproblem des Vorschlags, einen abgeschwächten Rechtspluralismus im westlichen Kontext einzuführen.

***

Doch das ist noch nicht alles.

Meine Antwort auf Giordanos Vorschlag hat drei Aspekte. Diese legen den Weg frei für Überlegungen, die ich in diesem Buch vorstellen werde.

Erstens macht der spezifische Kontext der Schweiz und ihrer aus islamischen Ländern stammenden Migranten einen solchen Vorschlag sinnlos. Giordano argumentierte in der NZZ-Sonntagszeitung, dass Muslime sich nicht integrieren können, weil sie an Rechtssysteme gewöhnt sind, die dem Schweizer System kulturell fremd sind. Diese Behauptung ist nicht nur falsch, sie widerspricht auch rechtlichen Tatsachen.

Die Mehrheit der muslimischen Einwanderer stammt aus der Türkei und aus den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens. Die Türkei ist säkular – die Scharia ist nicht Teil ihres Rechtssystems. Tatsächlich basiert das türkische Familienrecht auf dem Schweizer Familienrecht. In Bosnien gibt es seit 1946, als die Scharia per Gesetz abgeschafft wurde, kein Scharia-Gericht mehr. Und Albanien wendet eine Mischung aus Zivil- und Gewohnheitsrecht an, die keinen Raum für islamisches Recht lässt.5

Angesichts dieser Tatsachen ist es bizarr, zu verlangen, dass die Schweiz die abstrakte Idee eines Scharia-Gesetzes für Personengruppen einführt, deren Herkunftsländer nicht einmal islamisches Recht in ihrem Rechtssystem anwenden. Diese Idee wirft auch viele Fragen auf über das mit diesem Argument verwendete Paradigmenprisma.

Dieses Prisma ist die anthropologische Version des Rechts: eine Version ohne jeglichen historischen, politischen oder gar juristischen Kontext. Vorgestellt wurde mir dieser Begriff erstmals von Tahmina Saleem, Mitbegründerin der britischen muslimischen Frauenorganisation Inspire.6 Sie beschrieb mir, wie britische Gerichte dann, wenn sie sich mit Fällen befassen, in die britisch-pakistanische Bürger involviert sind, eine Version des islamischen Rechts akzeptieren, die es nicht einmal im pakistanischen Rechtssystem selbst gibt. Ich werde später, in Kapitel 4, auf dieses Konzept zurückkommen.

Zweitens: Rechtspluralismus wird in den Ländern der MENA-Region bis auf sehr wenige Ausnahmen praktiziert. In Ländern wie Syrien, Libanon und Ägypten wendet jede Gemeinschaft für Familienangelegenheiten ihre eigenen religiösen Gesetze an. Aber dieses System ist kaum ein Modell, dem man nacheifern sollte, erst recht nicht, wenn es um Aspekte der Geschlechtergerechtigkeit, der Gleichberechtigung und der Menschenrechte geht. Tatsächlich beschrieb der Arab Human Development Report (AHDR) mit dem Titel "Towards the Rise of the Arab Woman" die Folgen der Anwendung dieser religiösen Gesetze als eine Form der "gesetzlich sanktionierten Diskriminierung".7

Den AHDR haben arabische Experten verfasst – die besten auf diesem Gebiet. Ihre Kritik zeugt von einem kritischen Diskurs in der MENA-Region über religiöse Gesetze und insbesondere über das islamische Recht. Dieser Diskurs hat immer wieder sowohl die Genderfrage als auch die Problematik der Anwendung des Scharia-Rechts für Familienangelegenheiten beleuchtet. Viele arabische und muslimische Intellektuelle, Schriftsteller und Aktivisten, Männer wie Frauen, haben sich mit der Genderfrage befasst und betont, dass die Emanzipation der Frau eine Voraussetzung für die Entwicklung der arabischen Gesellschaft ist. Sie machten zugleich deutlich, dass diese Emanzipation nicht ohne eine Änderung der Familiengesetze erreicht werden kann, die das Leben der Frauen reglementieren.8

Interessant ist, dass diejenigen, die die Einführung des islamischen Rechts in den westlichen Rechtskontext vorschlagen, diesen kritischen Diskurs oft ignorieren und sie das islamische Recht und die Scharia als etwas Gegebenes und Einheitliches betrachten, genau so, wie dies Islamisten tun. Diese Wahrnehmung korreliert mit einer anderen, ähnlichen Annahme, die sie treffen: dass Muslime homogen seien und sich zunächst und ausschließlich als religiöse Personen verstünden. Islamisten argumentieren ganz ähnlich. Ich werde diesen Punkt und die Rolle der Islamisten in Kapitel 5 näher erläutern.

Bezeichnenderweise zeigt meine Forschung über die politischen Folgen der Anwendung des Rechtspluralismus im arabischen Kontext überraschende Folgen für den Zusammenhalt und die nationale Einheit einer Gesellschaft auf. Vereinfacht ausgedrückt: Der religiöse Charakter der angewandten Familiengesetze verfestigt die soziale Fragmentierung in ihren jeweiligen Gesellschaften. In Syrien etwa machen alle Familiengesetze, unabhängig davon, um welches religiöse Familienrecht es sich handelt, es Mitgliedern verschiedener religiöser oder konfessioneller Gemeinschaften praktisch unmöglich, untereinander zu heiraten. Diese Gesetze haben erheblich dazu beigetragen, Ehen zwischen Angehörigen verschiedener Sekten, Religionen und Stämme zu verhindern. Tatsächlich halten sie, indem sie Mischehen behindern, die Gesellschaft im Zustand der Spaltung. In mehreren Ländern haben diese Gesetze auf diese Weise die Entwicklung eines sozialen Zusammenhalts und einer nationalen Identität sabotiert. Weit davon entfernt, ein Beispiel zu sein, dem man nacheifern sollte, zeigen diese Erfahrungen die negativen politischen und menschenrechtlichen Konsequenzen des Rechtspluralismus auf. Diesen Aspekt werde ich in Kapitel 4 näher untersuchen.9

In meiner Antwort auf Giordanos Vorschlag erwähnte ich auch die Möglichkeit, dass, wenn die Schweiz den Muslimen die Tür zu "religiösen und archaischen Sonderrechten" öffnen würde, andere nichtmuslimische Migrantengruppen die gleiche Behandlung für sich einfordern würden. Diese Möglichkeit ist, wie ich später erfuhr, in Großbritannien mittlerweile Realität geworden. Gita Sahgal, die Direktorin des Centre for Secular Space (Zentrum für säkularen Raum) und Gründerin von Women against Fundamentalism (Frauen gegen Fundamentalismus), erklärte mir, dass die Führer einiger britischer Hindu- und Sikh-Gruppen genau beobachteten, was die britischen Muslime täten, und dass sie für sich das Gleiche wollten: "Es gibt bereits informelle Kastenräte, die alle möglichen Entscheidungen zu Zwangsheirat, Heirat, Scheidung [und] Sorgerecht treffen."10

Zum Dritten habe ich eine Gemeinsamkeit in der Denkweise von denjenigen herausgearbeitet, die die Einführung paralleler religiöser Rechtsprechungen im westlichen Kontext befürworten: das sogenannte "Winnetou-Syndrom".

Winnetou ist ein fiktiver indianischer Held in einigen Romanen (die später verfilmt wurden), die Karl May (1842–1912) auf Deutsch geschrieben hat. Die Romane wurden zu Bestsellern – auch wegen ihrer romantischen Zeichnung eines imaginierten einfacheren Lebens in einem engen Kontakt zur Natur. Diese romantische Wahrnehmung anderer Kulturen scheint mir im Paradigma der Essentialisten deutlich zu dominieren. Es lässt sie fürchten, dass sie die edlen Anderen beleidigen und ihnen ihre eigenen Gesetze und Werte aufzwingen könnten. Offenbar lautet das Argument, dass wir Einwanderern aus fernen Kulturen nicht unsere eigenen Werte aufzwingen können.

Zum Zeitpunkt meiner Antwort dachte ich, dass hinter der Fassade der scheinbaren Toleranz eine Arroganz steckt, die ein Gefühl der Überlegenheit sichtbar werden lässt. Heute bin ich in meinem Urteil weniger hart. Deutlicher sehe ich heute vielmehr die Schuld des weißen Mannes (und der weißen Frau) und die Last des Vermächtnisses der Kolonialisierung. Ich beobachte eine aufrichtige Angst davor, das zu beleidigen, was die Menschen als das "Andere" wahrnehmen: Personen, die sie offensichtlich nicht verstehen. Ich sehe ebenso eine echte Überzeugung, dass dieser Andere anders sei und deshalb anders behandelt werden sollte. Daher das Winnetou-Syndrom – ein Ausdruck, der von Thomas Kessler, ehemaliger Delegierter für Migrations- und Integrationsfragen im Schweizer Kanton Basel-Stadt, geprägt wurde. Kessler sagte, er habe dies erfahren, als er sich mit dem Thema Zwangsheirat in seinem Kanton beschäftigte: "Man will den edlen Wilden so lange [wie] möglich in seinem Reservat belassen."11

Bei all meinen Überlegungen betone ich einen entscheidenden Punkt: Das Schweizer Recht ist vorbildlich in der Achtung der Menschen- bzw. Frauenrechte und der Geschlechtergerechtigkeit. Das ist wichtig. Wir sprechen über ein Gesetz, das die Rechte der Frauen bei Familienangelegenheiten garantiert, eines, das auf den universellen Menschenrechten und der Anwendung der zentralen Menschenrechtskonventionen der Vereinten Nationen beruht. Die Schweizer haben eine Weile gebraucht, um an diesen Punkt zu gelangen – das Familienrecht wurde 1988 geändert, und 1971 erhielten Frauen das Wahlrecht. Doch heute können wir auf diese Errungenschaft stolz sein.

Das gilt nicht für das islamische Recht. Es entspricht nicht den internationalen Menschenrechtsnormen, und allzu oft verletzt seine Anwendung in der Rechtsprechung (sog. fiqh-Entscheidungen) eben diese Rechte. Wir sprechen also über zwei sehr unterschiedliche Arten von Rechtsvorschriften: Eine, die Rechte garantiert und schützt, und eine andere, die dies nicht tut. Mein Argument ist nur dann stichhaltig, wenn wir eine Gesetzgebung haben, die die universellen Menschenrechte und die Bürgerrechte respektiert, denn die Absurdität des Vorschlags wird deutlich, sobald wir die beiden Arten von Rechtsvorschriften vergleichen. Befürworter des Rechtspluralismus fordern, ein paralleles Rechtssystem einzuführen, das die Rechte von Frauen verletzt, und es dann zu nutzen, um die systematische Diskriminierung von Frauen und Kindern unterschiedlichen Glaubens zu legitimieren. Auf diesen Punkt werde ich in Kapitel 4 ausführlich eingehen.

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Ich bin mir des Ausdrucks, den ich hier verwende, sehr bewusst: "essentialistisch". Das war keine willkürliche Entscheidung, sondern Absicht. Und es schmerzt mich, ihn zu benutzen, zumal mir bewusst ist, dass in manchen akademischen Kreisen viele empört sein werden, wenn sie als Essentialisten bezeichnet werden.

Wie können sie das sein? In ihrer Perspektive widersetzen sie sich vehement orientalistischen Diskursen. Sie glauben fest daran, dass sie für die Anti-These zum Essentialismus stehen. Schutz ist eindeutig ihre Motivation – sprich: der Schutz von Minderheiten, von Unterdrückten und natürlich von Muslimen.

Aber so sehr ich auch von ihren noblen Absichten überzeugt bin, bestehe ich dennoch darauf, dass einige postmoderne Diskurse nicht zu einem besseren Schutz beigetragen haben – eher zu einer Verletzung. Ich benutze das Wort Essentialist, um dieses Paradigma zu beschreiben, und wegen des Prismas, durch das es die Welt sieht:

1. Das Paradigma insistiert darauf, dass eine Gruppe von Menschen aufgrund ihrer Religion oder Kultur unveränderliche Merkmale aufweist.

2. Es ignoriert, dass jede Gruppe durch verschiedene politische, soziale und religiöse Faktoren konstruiert wird.

3. Es behauptet, dass eine Person in erster Linie ein religiöses Wesen und Teil einer übergeordneten religiösen Ganzheit ist.

4. Es versäumt, die komplexen verschiedenen Schichten der Identität zu erkennen – und dass eine Person sich erst gar nicht dieser religiösen Identität anschließen will.

5. Es verkennt das dynamische Wesen von Kultur, Religion, Gesellschaft und sicherlich auch von Identität.

6. Das Paradigma fürchtet, dem "Anderen" das aufzunötigen, was dieser als "westliche" Werte empfindet, und legitimiert dabei schwere Menschenrechtsverletzungen. Weil internationale Menschenrechtsstandards als "westliche" Werte betrachtet werden, die auf andere Gesellschaften oder auf Gruppen, die in westlichen Gesellschaften leben, nicht anwendbar seien, wird auf raffinierte Weise autoritären Regierungen und islamistischen Fundamentalisten in die Hände gespielt, die einen ähnlichen Diskurs nutzen, um ihre beschämende Bilanz an Menschenrechtsverletzungen zu legitimieren.

7. Und schließlich ignoriert das Paradigma die Entwicklungen und Kämpfe, die in islamischen Ländern selbst stattfinden: für die Änderung von Familiengesetzen, die Frauen und Kinder diskriminieren, für Staaten, die alle ihre Bürger repräsentieren, schließlich für die Achtung der Meinungsfreiheit, der Freiheit zur und von Religion und die Trennung von Religion und Staat. Da das Paradigma diese Forderungen als universalistisch betrachtet, weist es sie als nicht authentisch genug zurück. Mit anderen Worten, es bestimmt sich selbst zum Schiedsrichter darüber, wer im Namen von "Muslimen" und "Minderheiten" sprechen sollte.

Angesichts der Folgen dieses Paradigmas besteht mein Anliegen darin, diese Art des westlichen postmodernen Diskurses zu dekonstruieren und zu zeigen, wie es den Boden bereitet für einen Diskurs der Gleichgültigkeit – einen Diskurs, der schwerwiegende Folgen für das Leben vieler Menschen hat.

 

1Elham Manea: "Islamisches Recht in der Schweiz wäre verheerend", NZZ am Sonntag, 4. Jan. 2009.

2 Christian Giordano: "Der Rechtpluralismus: Ein Instrument für den Multikulturalismus?" Eidgenössische Kommission gegen Rassismus, BulletinTANGRAM, Nr. 22 (Dez. 2008), S. 74–77.

3 Der erste, der die binäre Unterscheidung zwischen starkem und schwachem Rechtspluralismus einführte, war der Anthropologe John Griffiths. Siehe John Griffiths: "What is Legal Pluralism?", Journal of Legal Pluralism, 32 (24), 1986.

4 Scheich Haitham al-Haddad, http://www.youtube.com/watch?v¼thoP4EjtmzE (Zugriff am 24. Jan. 2014; das Video wurde später von YouTube entfernt). Das Video und seine Niederschrift sind auf Haitham al-Haddads Blog "The Islamic Far-Right in Britain under Islamic Supremacy" zu finden: http://tifrib.com/haitham-al-haddad/ (Zugriff am 6. April 2015).

5Manea: "Islamisches Recht in der Schweiz wäre verheerend".

6 Tahmina Saleem, Interview der Autorin, Luton, 27. Jan. 2013.

7 Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen; Arabischer Bericht über die menschliche Entwicklung 2005: Towards the Rise of Women in the Arab World (New York: Vereinte Nationen, 2006).

8 Elham Manea: "Islamisches Recht in der Schweiz ist gefährlich", NZZ am Sonntag, 3. Juli 2011.

9Elham Manea: The Arab State and Women's Rights: The Trap of Authoritarian Governance (London: Routledge, 2011), S. 197–198.

10 Gita Sahgal, Interview der Autorin, London, 24. Jan. 2013.

11 Martin Beglinger: "Bis dass der Zwang euch bindet", Das Magazin, Tages-Anzeiger, Bd. 24 (2007), S. 18.

Kapitel 1Eine kritische Überprüfung des essentialistischen Paradigmas

Wie Sie vielleicht an der Art und Weise meiner Argumentation bemerkt haben, habe ich mich selbst auf einen Weg der Transformation, des Lernens und der Forschung begeben. Ich habe dadurch gelernt, dass das, womit wir es zu tun haben, nicht allein die absurde Auffassung einer einzelnen Person ist. Giordanos Vorschlag ist die Spitze eines Eisberges.

Er ist Ausdruck eines paradigmatischen Denkens – ich nenne es das essentialistische Paradigma –, und dieses Denken hat vier bestimmte ideologische Merkmale. Das erste Merkmal ist eine Kombination von Multikulturalismus und Rechtspluralismus in einem sozialen Kontext. Das zweite Merkmal betrifft Gruppenrechte, das dritte ist der Kulturrelativismus und das vierte die Bürde des weißen Mannes.

Erstes Merkmal: Kombination von Multikulturalismus und Rechtspluralismus in einem sozialen Kontext

Schon der Titel von Giordanos Artikel "Rechtspluralismus: Ein Werkzeug für den Multikulturalismus?" enthält zwei wichtige Begriffe: Rechtspluralismus und Multikulturalismus. In ihrer Kombination führen die Begriffe zu einem relativistischen Ansatz in Bezug auf grundlegende Menschenrechte und auf Geschlechtergerechtigkeit. Die Forderung, die beiden Begriffe in einem sozialen Kontext zu kombinieren, ist ein grundlegendes Merkmal des essentialistischen Paradigmas.

Wie Kenan Malik, ein linksgerichteter, in Indien geborener englischer Denker, neige auch ich dazu, zwischen zwei Arten von Multikulturalismus zu unterscheiden. Die eine Art nennt Malik die gelebte Erfahrung von Vielfalt: "Die Erfahrung, in einer Gesellschaft zu leben, die weniger insular, sondern lebendiger und kosmopolitischer ist."11

Diese Art des Multikulturalismus begrüße ich und ich mache ihn mir zu eigen. Denn dieser Typus schätzt das Zusammenleben von Menschen mit unterschiedlichen Wurzeln und Ursprüngen auf der Grundlage von gegenseitigem Respekt und Akzeptanz. Die Herkunft, Hautfarbe, Rasse, Religion oder das Geschlecht eines Menschen wird nicht als geringer angesehen als die eines anderen. Wir sind gleich, weil wir Menschen sind. Punkt.

Um mit den Worten von Anne Phillips, der britischen Professorin für politische und Gendertheorie, zu sprechen: Es handelt sich um eine Art des Multikulturalismus, der auf den Rechten des Einzelnen und nicht auf denen von Gruppen beruht.22

Es ist freilich die zweite Art des Multikulturalismus, die ich kritisiere und problematisch finde. Gemeint ist, was Malik Multikulturalismus als politischen Prozess bezeichnet. Hierbei geht es darum, mit dieser Vielfalt umzugehen, und dies bringt eine Reihe von Strategien mit sich, die die Vielfalt zu institutionalisieren suchen. Bei diesem Typus werden die Menschen in ethnische und kulturelle Schubladen gesteckt. Die individuellen Bedürfnisse und Rechte werden anhand der Schubladen definiert, in denen die Menschen sich befinden, und diese Schubladen werden für die Gestaltung der Politik genutzt.33 Diese Politik wird in Großbritannien betrieben.

Wenn Multikulturalismus als ein politischer Prozess mit der Politik des Rechtspluralismus kombiniert wird, führt dies ebenfalls dazu, Menschen in Schubladen einzuteilen: nach Herkunft, Kultur, Religion und letztlich nach Geschlecht. Dies grenzt Menschen voneinander ab und platziert sie in parallele rechtliche Enklaven. Jede Enklave wird von einem anderen Regelwerk regiert: Regeln, die den gleichen Vorstellungen von Recht und Gerechtigkeit, die in der erweiterten Gesellschaft vorherrschen, folgen können – oder auch nicht. Infolgedessen werden Menschen nicht als einzelne Mitglieder einer größeren Gesellschaft oder Nation definiert, die auf alle ihre Mitglieder dieselben Regeln und Gesetze anwendet. Stattdessen werden sie vornehmlich als Mitglieder einer kulturellen oder religiösen Gruppe verstanden. Jede Gruppe hat angeborene und kulturelle Wesensmerkmale, die eine besondere Behandlung und damit besondere Gesetze erfordern, damit die Gruppe überleben kann. Dieser letzte Aspekt wird oft als "Gruppenrechte" bezeichnet.

Zweites Merkmal: Gruppenrechte

Der Idee der Gruppenrechte ist ein zweites Merkmal des essentialistischen Paradigmas, ein Begriff, den bekanntermaßen der Vater des Rechtspluralismus vertritt, der kanadische Philosoph Charles Taylor. Ich bin mir bewusst, dass auch andere Philosophen und Wissenschaftler den Diskurs über Gruppenrechte beeinflusst haben. Ich nehme Taylors Arbeit hier als Beispiel; insbesondere seine Idee der Politik der Anerkennung, die er in seinem Sammelband "Multiculturalism: Examining the Politics of Recognition" vorgestellt hat, hat einen Großteil des Denkens der Rechtspluralismus-Befürworter beeinflusst. Auch er bezieht sich auf die Politik des Multikulturalismus. Aber Taylor tut dies in Hinblick auf die Forderungen nach Anerkennung, die Minderheiten oder subalterne Gruppen selbst stellen:

"Die Forderung nach Anerkennung wird in diesen letztgenannten Fällen durch die unterstellten Verbindungen zwischen Anerkennung und Identität dringlich, wobei der letztgenannte Begriff so etwas wie das Verständnis einer Person von dem bezeichnet, was sie ist – von ihren grundlegenden definierenden Eigenschaften als Mensch also. Die These ist, dass unsere Identität zum Teil durch Anerkennung oder durch ihre Abwesenheit, oft auch durch die Verkennung anderer geprägt wird [Hervorhebung im Original]. Dadurch kann eine Person oder eine Gruppe von Menschen einen realen Schaden, eine reale Entstellung erleiden, wenn Menschen oder die Gesellschaft um sie herum ein einengendes, erniedrigendes oder verächtliches Bild von ihr selbst auf sie zurückspiegeln. Nichtbestätigung oder Verkennung kann Schaden zufügen, kann eine Form der Unterdrückung sein, die jemanden in einer falschen, verzerrten und reduzierten Seinsweise gefangen hält."44

Taylor erläutert seine Idee anhand einiger Beispiele. Schwarze hätten in weißen Gesellschaften gelitten, die auf sie ein erniedrigendes Bild von sich projizierten – und einige Schwarze hätten dieses Bild verinnerlicht. In ähnlicher Weise seien Frauen in bestimmten Gesellschaften dazu gebracht worden, ein Bild von sich selbst als minderwertig anzunehmen, und sie hätten das Bild ihrer eigenen Minderwertigkeit verinnerlicht. Die Selbsterniedrigung beider Gruppen werde zu einem der mächtigsten Instrumente ihrer eigenen Unterdrückung. Deshalb müssten sie sich von dieser aufgezwungenen und zerstörerischen Identität freimachen. Taylor sagt, dass das Verkennen der Identität dieser Gruppen durch eine Gesellschaft nicht nur dazu führt, dass ihnen der ihnen gebührende Respekt nicht erwiesen werde. Es füge auch Schaden und schwere Verletzungen zu, die den Opfern einen lähmenden Selbsthass aufbürdeten: "Die gebührende Anerkennung ist nicht nur eine Höflichkeit, die wir den Menschen schulden. Sie ist ein lebenswichtiges menschliches Bedürfnis."55

Die Gesellschaft mag in der Tat ein erniedrigendes Bild auf ein Individuum projizieren – aufgrund seiner Hautfarbe, seines Geschlechts und/oder seiner Religion. Doch der Prozess ist kompliziert und nicht so einfach, wie Taylor ihn beschreibt.

Ich möchte ein persönliches Beispiel anführen, um diesen Punkt zu veranschaulichen.

Ich erinnere mich noch, wie ich mich fühlte, als ich vor 26 Jahren in die Schweiz kam. Plötzlich wurde ich mir meiner Hautfarbe sehr bewusst. Ich bin Araberin mit jemenitischen und ägyptischen Wurzeln, und nie zuvor hatte ich auch nur einen zweiten Gedanken an meine Hautfarbe, an Bronze oder Hellbraun, verschwendet. Tatsächlich war ich stolz auf mein Aussehen. Vielleicht finden Sie es seltsam, hier das Wort "Stolz" zu lesen. Aber ich bin in einer liebevollen Familie aufgewachsen – in einer Familie, die mir das Gefühl gab, dass ich sowohl wertvoll als auch schön bin. Dieses Gefühl blieb mir erhalten, als ich mit einem Fulbright-Stipendium nach Washington, DC, zog, um dort einen Master-Abschluss zu machen. Dort lebte ich in einem multikulturellen Kontext und fühlte mich anerkannt. Ich merkte auch, dass mich unter anderem meine Hautfarbe irgendwie "exotisch" machte, was mich als junge, alleinstehende Frau sehr beliebt machte.

In der Schweiz war es nicht die Tatsache, dass man mich nicht anerkannte, die mir meine Hautfarbe bewusst machte. Mein Mann und ich tendierten dazu, mit Schweizern zu leben und Kontakte zu knüpfen, die so waren wie wir: gebildete Menschen mit Berufen, die sie in direkten Kontakt mit der Welt um sich herum brachten. Unsere Nachbarn seit fast zwei Jahrzehnten sind offen und einnehmend. Mit einigen pflege ich enge und herzliche Beziehungen. Es ging also nicht um Wertschätzung. Was mich vielmehr auf meine Hautfarbe aufmerksam machte, war das Gefühl, dass ich mich durch sie von den anderen abhob. Das, was mir das Gefühl gab, anders zu sein, war also nicht ein tatsächlich erniedrigendes Bild, welches mir vonseiten der Gesellschaft vermittelt wurde, sondern bloß die Tatsache, in einer rein weißen Gesellschaft "farbig" zu sein. Es hat eine Weile gedauert, bis ich mich mit diesem Gefühl des Unbehagens gegenüber meiner Hautfarbe auseinandergesetzt habe: um seine Wurzeln zu erkennen und das Wissen zu verinnerlichen, dass "anders sein" nicht "weniger zu sein" bedeutet und um einmal mehr zu der Überzeugung zu gelangen, dass eben dies meine Hautfarbe ist und dass sie schön ist.

Auf der anderen Seite versuchten einige Menschen, mir als Mädchen, das in einem jemenitischen sozialen Kontext lebte, den Eindruck zu vermitteln, ich sei "ein minderwertiges Wesen" und "sollte mich so verhalten wie andere Mädchen". Es versteht sich von selbst, dass ich mich natürlich nicht so verhielt, wie sie dachten, dass ich mich verhalten sollte.

Ich sagte bereits, dass ich in einer liebevollen Familie aufgewachsen bin. Meine Eltern liebten und respektierten mich. Wichtiger noch war, vor allem im patriarchalischen und stammesgeschichtlichen Kontext des Nordjemen, dass ich einen Vater hatte, der die Vorstellung, ein Mädchen sei weniger wert als ein Junge, nicht teilen wollte. Das war keine Selbstverständlichkeit. Mein Vater kam zu diesem Schluss nur auf einem persönlichen Weg der Bildung und Reife. Seine Ausbildung und seine anschließenden Reisen als Diplomat waren sicherlich entscheidend für diesen Prozess. Er war es, der mir immer das Gefühl gab, dass ich ein freier Mensch und unabhängig bin und dass ich danach streben könne, das zu sein, was ich sein möchte. Diese Überzeugung spiegelte sich in meiner Erziehung wider, und in der Tatsache, dass ich Dinge tun durfte, die andere Mädchen der Familie väterlicherseits nicht taten.

Der sichere Hafen, den meine Familie für mich bildete, stand in krassem Widerspruch zu einigen der Botschaften, die ich aus dem gesellschaftlichen Umfeld erhielt. Ich erinnere mich noch lebhaft an einen Vorfall, als ich 11 Jahre alt war und am Rande unseres Viertels spazieren ging. Eine Gruppe von halbwüchsigen Jungen begann, Steine auf mich zu werfen, sie nannten mich "Hure", weil ich Hosen trug und meine Haare nicht bedeckte. Diese Jungs vermittelten eine Botschaft, die sie aus ihrem eigenen familiären und sozialen Kontext verinnerlicht hatten: Mädchen tragen ein Kopftuch und später einen Sharshaf, die beiden schwarzen Tücher, die die Frau von Kopf bis Fuß bedecken, ergänzt durch ein weiteres Tuch, mit dem das Gesicht verdeckt wird. Und jedes Mädchen, das kein Kopftuch und später den Sharshaf trägt, ist kein "ordentliches" Mädchen. Ich kann davon ausgehen, dass die Verwendung des Wortes "Hure" ein Ausdruck ihrer kindlichen Überzeugung von dieser Botschaft war.

Trotz des Schmerzes, den ich aufgrund dieses Vorfalls empfand, beachten Sie bitte, dass ich bewusst das Wort "einige" verwendet habe, als ich mich auf die Botschaften bezog, die ich aus meinem sozialen Umfeld erhielt. Das ist wichtig, denn während einige dieser Botschaften negativ waren – und zwar sehr negativ, wie im oben geschilderten Vorfall –, waren andere positiv, und wieder andere waren neutral. Meine Familie knüpfte Kontakte zu Gruppen von Familien, die die gleichen Normen bezüglich der Wahrnehmung von Mädchen und ihrer Rechte teilten. Von dieser Gruppe erhielt ich das Signal der Akzeptanz. Ein Mädchen zu sein war keine Ursache von Schande oder eine Belastung. Die väterliche Seite meiner Familie hingegen hatte gelernt, meine "Andersartigkeit" auf eine Weise zu akzeptieren, die ihre Botschaft "neutral" machte: "Du magst vielleicht nicht so sein, wie wir glauben, dass sich Mädchen in unserem gesellschaftlichen Kontext verhalten sollten, aber wir akzeptieren dich".

Ich stimme daher mit Taylor überein, dass die Gesellschaft manchmal ein erniedrigendes Bild auf den Einzelnen projiziert, aber ich neige auch dazu, die Situation als vielschichtiger zu betrachten. Die Gesellschaft ist nicht homogen, sie ist komplex und setzt sich oft aus Untergruppen zusammen. Die Botschaft, die ich von meinem gesellschaftlichen Umfeld erhielt, war ebenfalls nicht homogen oder statisch, und sie änderte sich je nach den Untergruppen, mit denen ich in Verbindung trat.

Am wichtigsten ist, dass einer Person manchmal eine religiöse, eine geschlechtsbezogene oder eine kulturelle Identität aufgezwungen werden kann, auch wenn sie sich selbst nicht in gleicher Weise wahrnimmt. Denken Sie an eine Person, die als Muslim bezeichnet, als Muslim "wahrgenommen" und als Muslim "behandelt" wird, obwohl diese Person möglicherweise gar nicht religiös ist oder es vorzieht, durch ihre Nationalität identifiziert zu werden. Hier in der Schweiz möchte ich als Bürgerin wahrgenommen werden, als Schweizerin arabischer Herkunft. Das ist es doch, was wir mit anderen Menschen anderer Religionen tun: Wir identifizieren sie über ihre Nationalität, nicht über ihre Religion. Warum also darauf bestehen, mich auf eine religiöse Identität zu reduzieren?

Dies scheint freilich nicht das Argument von Charles Taylor zu sein. Und genau so, wie er die von der Gesamtgesellschaft ausgehende Botschaft als in sich homogen betrachtet, tendiert er auch dazu, Identität und damit Kultur und Gesellschaft als etwas Statisches zu sehen, als etwas, das sich nicht ändert – als ein Ganzes, das angeborene und vorgegebene Züge hat.

Identität ist für ihn, "wer wir sind, woher wir kommen", und damit "der Hintergrund, vor dem unsere Geschmäcker und Wünsche, unsere Meinungen und Bestrebungen einen Sinn ergeben". Aber in seinem Paradigma existiert Identität nicht in einem Vakuum. Sie ist sehr stark mit dem Konzept dessen verflochten, was er "Authentizität" nennt: "Es gibt eine bestimmte Art des Menschseins, die meine Art ist. Ich bin aufgerufen, mein Leben auf diese Weise zu leben und nicht in der Nachahmung des Lebens eines anderen."66 Dieser "Begriff legt Wert darauf, mir selbst treu zu sein. Wenn ich es nicht bin, verfehle ich den Sinn meines Lebens; ich verfehle, was Menschsein für mich ist [Hervorhebung im Original]."77

Diese Vorstellung von authentischer Identität hat zu dem geführt, was er die "Politik der Differenz" nennt, wobei Unterscheidungen zur Grundlage einer differenzierten Behandlung gemacht werden:

"Das Ziel besteht darin, die Verschiedenheit wertzuschätzen, nicht nur jetzt, sondern für immer. Wenn es uns nämlich um Identität geht, was ist dann legitimer als das Bestreben, sie niemals zu verlieren?"88

Die Wertschätzung von Unterschieden erfordert die Einführung einer Politik der "kollektiven Ziele", die auf das "kulturelle Überleben" ausgerichtet ist. Taylor besteht darauf, dass eine Gesellschaft mit starken kollektiven Zielen immer noch liberal sein kann, wenn sie "zugleich in der Lage ist, die Vielfalt zu respektieren, insbesondere im Umgang mit Menschen, die die gemeinsamen gesellschaftlichen Ziele nicht teilen; und vorausgesetzt, die Gesellschaft kann angemessene Garantien für die Grundrechte bieten"99.

Abgesehen von den Grundrechten hält es Taylor für durchaus möglich, dass die Rechte des Einzelnen eingeschränkt werden, wenn der Staat sich auf den Schutz der kollektiven Ziele konzentriert. Er räumt auch ein, dass das Streben nach dem kollektiven Ziel wahrscheinlich eine unterschiedliche Behandlung von Insidern und Outsidern erfordert.

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Charles Taylors Identitätskonzept befasst sich nicht mit Identität auf individueller Ebene. Er konzentriert sich auf die kollektive Identität einer kulturellen Gruppe. Bei dieser Kulturgruppe kann es sich um Ureinwohnergruppen oder um Frankokanadier handeln, insbesondere aus Quebec. Es könnte auch eine Gruppe sein, die durch ihr Geschlecht gekennzeichnet ist, zum Beispiel Frauen. Es könnte sich um eine religiöse Gruppe handeln, wie zum Beispiel die Muslime. Seine Hauptmotivation bei der Beschreibung der Politik der Anerkennung und damit der Differenz ist die Angst davor, der Kultur einer Minderheit eine hegemoniale Kultur "aufzuzwingen". Taylors Ziel ist es, und das sollte betont werden, Minderheitenrechte zu schützen, zu bewahren und zu gewährleisten, dass sie nicht verletzt werden. Aus dieser Perspektive ist sein Ziel also gewiss nobel.

Das Problem liegt in seinem Versuch, sicherzustellen, dass die kollektive Identität einer kulturellen Gruppe überleben kann. Hier tappt er in eine essentialistische Falle: Die Konzentration auf die authentische Identität einer kulturellen Gruppe setzt voraus, dass sie grundlegende unveränderliche Züge aufweist. Diese Annahme ignoriert freilich die Tatsache, dass Kulturen sich verändern, dass sie nicht statisch sind. Was wir gestern noch als Teil unserer kulturellen Normen und Identität betrachtet haben, mag heute als ziemlich abscheulich erscheinen.

Hinzu kommt, dass Minderheitengruppen nicht homogen sind, wie Taylor annimmt. Sie stellen nicht einen einheitlichen kulturellen Block mit ähnlichen, standardisierten Merkmalen und Eigenschaften dar. Häufig haben Angehörige von Minderheitengruppen einen vielschichtigen Bestand an Identitäten, die sie in verschiedenen Zusammenhängen unterschiedlich zum Ausdruck bringen. Taylor ignoriert auch die Machtstrukturen innerhalb von Minderheitengruppen, die die Angelegenheit erschweren, insbesondere, wenn einige beanspruchen, Vertreter einer bestimmten kulturellen Gruppe zu sein, und sich damit das Recht anmaßen, zu definieren, was die authentische Identität ihrer Gruppe ist und was nicht.

Taylor versuchte, ein bestimmtes Recht für bestimmte Personengruppen zu schützen, aber seine Bemühungen führten zu einem Fiasko. Warum verwende ich das Wort Fiasko? Weil wir, wenn wir das Konzept der Gruppenrechte propagieren, auch die Verletzung von Menschenrechten in Minderheitengruppen als Ausdruck unterschiedlicher kultureller Konzepte von Recht und Gerechtigkeit rechtfertigen. Die Rechte von Frauen werden genau aus diesem Grund ungestraft verletzt. Tatsächlich wird eben dieses Argument auf internationaler Ebene von tyrannischen Regimes der Unterdrückung angeführt. Die Folgen der Verbreitung dieses Modells sind daher nicht nur auf nationaler, sondern auch auf internationaler Ebene spürbar.

Kultur verändert sich. Falls Sie das vergessen haben sollten, möchte ich Sie daran erinnern.

Denken Sie daran, dass zwischen 1877 und Mitte der 1960er Jahre das "Jim-Crow"-Rassentrennungssystem in den Südstaaten der Vereinigten Staaten als durchaus akzeptabel galt. Das System behandelte Schwarze wie eine degenerierte Kaste und wie Bürger zweiter Klasse. Es schloss sie aus von öffentlichen Verkehrsmitteln und öffentlichen Einrichtungen, von der Berufung als Geschworene vor Gericht und vom Zugang zu bestimmten Arbeitsplätzen und Stadtvierteln. Und es regulierte streng die sozialen Interaktionen zwischen den Ethnien. Zu jener Zeit war es ganz normal, dass es getrennte Krankenhäuser, Gefängnisse, Schulen, Kirchen, Friedhöfe und öffentliche Einrichtungen für Schwarze und Weiße gab. Diese Gesetze und diese Politik wurden durch eine ganze Reihe religiöser, erzieherischer und "wissenschaftlicher" Diskursen unterstützt und gefördert. Die gängige christliche Auslegung lehrte damals, dass "die Weißen das auserwählte Volk, die Schwarzen aber dazu verdammt waren, Diener zu sein, und dass Gott die Rassentrennung unterstütze".1010 Wissenschaftler (Schädelkundler, Eugeniker, Phrenologen und Sozialdarwinisten) untermauerten den Glauben, dass Schwarze den Weißen intellektuell und kulturell von Natur aus unterlegen seien, über alle Bildungsstufen hinweg. Die Medien trugen ihren Teil dazu bei, indem sie Schwarze üblicherweise als "Nigger, Waschbären und Schokos" bezeichneten und in "ihren Artikeln anti-schwarze Stereotype verstärkten".1111

In jenen Tagen unterlagen sowohl Schwarze als auch Weiße kulturellen Normen, die vorgaben, wie sie miteinander umgehen sollten. So durfte zum Beispiel ein schwarzer Mann einem weißen Mann nicht die Hand reichen, um ihm die Hand zu schütteln, da eine solche Geste soziale Gleichheit implizierte. Unter keinen Umständen durfte ein schwarzer Mann einer weißen Frau anbieten, ihr die Zigarette anzuzünden; dies unterstellte zudem Intimität, und jede Intimität zwischen einem schwarzen Mann und einer weißen Frau konnte mit Lynchjustiz bestraft werden.1212

Vor 50 Jahren war diese Kultur der Rassendiskriminierung in einigen Südstaaten durchaus akzeptabel. Viele Weiße betrachteten das "Jim-Crow"-Rassentrennungssystem als Bestätigung dessen, in Taylors Worten: "Wer wir sind und woher wir kommen"; als solches war es "der Hintergrund, vor dem unsere Vorlieben und Wünsche, unsere Meinungen und Bestrebungen einen Sinn ergeben". Als andere begannen, Änderungen dieser Gesetze zu fordern – und damit dieser Bestandteile der Lebensweise des Südens –, empfanden Weiße derlei Forderungen als gleichbedeutend mit der Auferlegung einer "Nachahmung des Lebens anderer" und mit der Beschädigung einer "bestimmten Art des Menschseins, die die eigene ist".1313

Ich weiß, ich provoziere jetzt. Aber wenn wir Taylors Argument über Authentizität, Identität und Kultur für bare Münze nähmen, würde das bedeuten, dass die Weißen in den Südstaaten "geborene Rassisten" waren und dies vielleicht immer noch sind. Das war "ihre Art zu sein". Rassismus und der Glaube, den Schwarzen überlegen zu sein, wäre "fest damit verbunden, wie sie ihrem Leben einen Sinn geben", und von daher sollten wir ihre "Andersartigkeit wertschätzen, nicht nur heute, sondern für immer". Schließlich "war das ihre Kultur" – sollten wir also nicht nach deren "Überleben" trachten? Wie schrecklich würde diese Argumentation wohl klingen?

Aber es ist ja auch nicht zutreffend, oder? Menschen sind keine geborenen Rassisten. Sie werden zu Rassisten gemacht – von einer ganzen Reihe von Institutionen, Einrichtungen der Religion, der Wissenschaft, der Medien und der Bildung eingeschlossen. Diese Institutionen und ihre Diskurse haben das Jim-Crow-System der Rassendiskriminierung unterstützt und aufrechterhalten. Ich erwähne sie absichtlich, weil Kulturen nicht im luftleeren Raum wirken. Sie können aufrechterhalten oder verändert werden, je nach den Kontexten, in denen sie operieren, und je nach den Systemen, die sie unterstützen. Deshalb war es kein Zufall, dass, sobald Männer und Frauen, Schwarze und Weiße sowohl aus den Süd- als auch aus den Nordstaaten begannen, die intellektuellen Grundlagen der Diskriminierung anzugehen und sich ihnen zu widersetzen, schließlich die Kultur des Kastensystems zu zerfallen begann, und mit ihr die Normen, die es aufrechterhielten.

Was für die "hegemoniale" Kultur gilt, gilt auch für die "Minderheitenkultur": Die Minderheitenkultur verändert sich, sie funktioniert nicht im luftleeren Raum. Sie kann aufrechterhalten oder verändert werden, je nach Kontext, in welchem sie operiert, und je nach den Systemen, die sie aufrechterhalten. Dieser Gedanke wird in den Kapiteln 2 und 5 klarer werden, wo ich auf die südasiatischen Gemeinschaften von Pakistani und Bangladeschis im Vereinigten Königreich eingehe, die später als muslimische Gemeinschaften bezeichnet wurden.

Außerdem ist eine Minderheitengruppe ist nicht homogen. Sie stellt keinen einheitlichen kulturellen Block mit ähnlichen und standardisierten Merkmalen und Eigenschaften dar. Die Vielfalt innerhalb einer Minderheitengruppe kommt in unterschiedlichen Formen zum Ausdruck, sowohl auf individueller als auch auf Gruppenebene.

Nehmen wir das Beispiel einer jungen Frau, die ich im Januar 2013 in London während eines Meetings von Mitgliedern einer kleinen LGBT-Selbsthilfegruppe für Muslime namens "Imaan" traf, Arabisch für "Glauben".1414

Die junge Frau ist südasiatischer Herkunft, Atheistin und Lesbierin, und sie trägt ein Kopftuch. Ich werde sie Leila nennen. Sie trägt das Kopftuch wegen des Drucks der islamischen Gemeinschaft in ihrer Nachbarschaft in Birmingham. Sie will es eigentlich nicht tragen, aber sie lebt in einer abgeschotteten Community, in der ein Verstoß gegen die auferlegten Regeln ihr und ihrer Familie Schaden zufügen würde. Deshalb nimmt sie den leichteren Weg und trägt es. Wenn sie es aber trägt, wird sie sofort in eine religiöse Schublade gesteckt: Muslimin. Ihr Auftreten als Frau mit Kopftuch verwandelt sie von einer Frau in eine muslimische Frau, und normalerweise ist eine muslimische Frau eine religiöse Person. Aber sie ist Atheistin. Die größere Gesellschaft ist nicht in der Lage, diesen Teil von ihr zu sehen – wenn sie den Schleier trägt, dann muss sie gläubig sein. Es versteht sich von selbst, dass ihr Glaube oder, besser gesagt, ihr Mangel daran, ein Geheimnis ist, das sie innerhalb ihrer Gemeinschaft für sich behält.

Obendrein ist sie lesbisch. Wie passt das in das Prisma unserer ethnischen Schubläden? Sie passt in keine der kulturellen oder ethnischen Schablonen, in die wir sie gerne einordnen würden: weder in ihrer Gemeinschaft, die ihren Mitgliedern ihre Werte aufzwingt, noch in der größeren Gesellschaft. Sie ist eine komplexe Person mit verschiedenen Identitäten. Doch alles, was wir sehen, wenn wir sie anschauen, ist eine religiöse Identität, an die sie selbst nicht glaubt.

Auf individueller Ebene kann daher eine ethnische oder religiöse Zuordnung eine Person aus zwei Gründen oft nicht beschreiben: weil eine bestimmte Person verschiedene Identitäten hat, und weil die Zugehörigkeit zu einer religiösen Gruppe diese Person nicht automatisch religiös oder zu einem Teil der Gruppe macht.

Zudem ist eine Minderheit auf Gruppenebene nicht homogen. Denken Sie an die muslimische Gemeinschaft (Singular) in Großbritannien. In den 1960er Jahren wurden diese Menschen als südasiatische Gemeinschaften (Plural) bezeichnet. Hierzu gehörten Migranten aus Pakistan, Indien und Bangladesch. Innerhalb dieser nationalen Gruppierungen waren sie in ihren religiösen Bekenntnissen und ethnischen Hintergründen immer noch sehr vielfältig. Damals wäre es, so sagten mir viele Interviewpartner, schwierig gewesen, eine Frau zu finden, die einen Schleier trägt, geschweige denn eine Burka. Sie identifizierten sich damals über ihre Nationalitäten und manchmal auch über ihre regionale Zugehörigkeit, zum Beispiel zu Mirpur, einem Distrikt und einer der größten Städte in der pakistanischen Kaschmir-Region. Sie mögen ihre Religion ausgeübt haben, doch war dies nicht das Prisma, durch das sie mit der Welt interagierten. Es war nicht der Mantel, den sie mit sich herumtrugen. Ihre Religion war nicht die Identität, die sie betonten.

Aus Gründen, die ich in den Kapiteln 2 und 5 erläutern werde, führte Großbritannien eine multikulturelle Politik ein, die in Wirklichkeit den Gemeinschaften (Plural) eine religiöse Identität aufzwang und unbeabsichtigt die Herausbildung der muslimischen Gemeinschaft (Singular) erleichterte: eine erfundene, keine eingebildete Gemeinschaft, um Benedict Andersons Begriff zu verwenden. Als die Regierung diese erfundene Gemeinschaft schuf, geschah dies nicht, um damit Vielfalt in einem britischen Kontext zu zelebrieren. Stattdessen wurde eine Gruppe von lautstarken Islamisten zu auserwählten "Community Leaders" erhoben. Diese repräsentierten allerdings nicht die Mehrheit innerhalb ihrer Gemeinden. Mehrere von mir befragte Personen, die Islamismus und Extremismus in Großbritannien kompetent beurteilen können, heben diesen Punkt hervor. Die "Gemeinde" hat diese sogenannten Führer nicht gewählt, und die Führer genossen damals auch nicht die Unterstützung der Mitglieder. Ihre Forderungen spiegelten ihre eigene politische Agenda wider: die Verbreitung ihrer Richtung des politischen Islamismus. Aber indem die Regierung sie in diesen auserwählten Status erhob, versetzte sie diese Führer in die Lage, die kulturellen und religiösen Bedürfnisse ihrer Gruppe zu definieren. Sie waren die gatekeeper, Torwächter, der "muslimischen Minderheit".

Das Geld, die Ressourcen und die Unterstützung, die sie von der britischen Regierung zusätzlich zu jener aus den Golfstaaten erhielten, halfen ihnen, eine Fülle von Bildungs-, religiösen und karitativen Einrichtungen zu schaffen. Nun verfügten sie über die Mittel, ihre islamistische Richtung unter den Mitgliedern ihrer Gemeinden zu verbreiten. Wichtiger noch, sie trugen dazu bei, das zu schaffen, was ich als geschlossene Gemeinschaften bezeichne, mit patriarchalischen Machtstrukturen, die soziale Kontrolle über ihre Mitglieder ausüben und diejenigen einschüchtern, die die von ihnen festgelegten sozialen Regeln ablehnen. Geschlossene Gemeinschaften wie jener, in der Leila lebt. Sie trägt einen Schleier, nicht weil sie will, sondern weil sie muss. Sie wagt es nicht, sich als Lesbe oder Atheistin zu bekennen, weil sie weiß, dass sie für einen solchen Akt der Rebellion gegen die Art und Weise, wie sich eine ordentliche muslimische Frau verhalten soll, teuer zu bezahlen hätte.

Ich bin ganz sicher, dass Charles Taylor nicht wusste, wohin ihn seine Ideen führen würden. Er ging davon aus, dass es möglich sei, dass die Rechte des Einzelnen durch das Staatsziel, kollektive Zwecke zu schützen, eingeschränkt würden. Aber es kam ihm nicht in den Sinn, dass Menschen entweder eine Gemeinschaft erfinden oder die grundlegenden Menschenrechte ihrer Mitglieder verletzen würden. Leider ist genau dies das Ergebnis seines theoretischen Ansatzes; eines Ansatzes, der die politischen und sozialen Kontexte dessen ignoriert, was er beschreibt. Er suggeriert einfach eine ihres Kontextes entleerte Idee und missachtet dabei die Mechanismen und Institutionen, die sie entweder aufrechterhalten oder verändern. Ich komme damit zum dritten Merkmal des essentialistischen Paradigmas: dem Kulturrelativismus.

11 Kenan Malik: Multiculturalism and its Discontents (London: Seagull Books, 2013), S. 7–8.

22 Anne Phillips: Multiculturalism Without Culture (Princeton University Press, 2007), S. 162–163. Ich bin mir der unterstützenden Position von Phillips gegenüber den Scharia-Räten in Großbritannien bewusst, ich betrachte dies jedoch nicht als Grund, ihre nuancierte und hervorragende Auseinandersetzung mit Multikulturalismus zu verwerfen.

33 Ebd.

44 Charles Taylor: