Der amerikanische Prätendent - Mark Twain - E-Book

Der amerikanische Prätendent E-Book

Mark Twain

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Beschreibung

Samuel Langhorne Clemens (geboren 30. November 1835 in Florida, Missouri; gestorben 21. April 1910 in Redding, Connecticut) - besser bekannt unter seinem Pseudonym Mark Twain - war ein US-amerikanischer Schriftsteller. Mark Twain ist vor allem als Autor der Bücher über die Abenteuer von Tom Sawyer und Huckleberry Finn bekannt. Er war ein Vertreter des Literatur-Genres "amerikanischer Realismus" und ist besonders wegen seiner humoristischen, von Lokalkolorit und genauen Beobachtungen sozialen Verhaltens geprägten Erzählungen sowie aufgrund seiner scharfzüngigen Kritik an der amerikanischen Gesellschaft berühmt. In seinen Werken beschreibt er den alltäglichen Rassismus; seine Protagonisten durchschauen die Heuchelei und Verlogenheit der herrschenden Verhältnisse.

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Der amerikanische Prätendent

Zur ErklärungDas Wetter in diesem Buche123456789101112131415161718192021222324AnhangImpressum

Zur Erklärung

Der hier dem Publikum von neuem vorgeführte Obrist Mulberry Sellers ist dieselbe Persönlichkeit, die als Eschol Sellers vor Jahren in der ersten Ausgabe der Erzählung » The Gilded Age« erschien, später in den folgenden Ausgaben desselben Buches als Beriah Sellers und endlich in dem später von T. Raymond gespielten Drama als Mulberry Sellers auftrat.

Der Name Eschol wurde in Beriah umgewandelt, um einen Eschol Sellers zufriedenzustellen, der aus den ungeheuren Tiefen völliger Unbekanntheit aufstieg, und durch die Drohung mit einer gerichtlichen Klage wirksam unterstützt, sein Gesuch anbrachte, dann besänftigt seines Weges ging und nicht wiederkam. In dem Drama mußte Beriah aufgegeben werden, um einem andern Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu genügen, und Mulberry wurde an die Stelle gesetzt in der Hoffnung, daß die Reklamanten nun endlich der Sache müde sein und den Namen unangefochten passieren lassen würden. Bis jetzt hat derselbe das Feld ungestört behauptet; wir wagen es deshalb wieder mit ihm, und fühlen uns diesmal verhältnismäßig sicher, zumal wir den Schutz des Verjährungsgesetzes genießen.

Hartford 1891Mark Twain.

Das Wetter in diesem Buche

In diesem Buche gibt es kein Wetter. Es gilt den Versuch, ein Buch auch ohne Wetter durchzubringen. Da es der erste derartige Versuch in der Romanliteratur ist, kann er möglicherweise mißlingen, aber für einen verwegenen Menschen schien es der Mühe wert, das Wagestück zu unternehmen, und der Verfasser war gerade in der Laune dazu.

Schon mancher Leser, der eine Erzählung zu Ende lesen wollte, war dies nicht imstande wegen der durch das Wetter verursachten Verzögerungen. Nichts hemmt aber auch das Fortschreiten des Verfassers so sehr, wie die Notwendigkeit, sich immer nach einigen Seiten zu unterbrechen, um das Wetter zu beschreiben. Es ist also einleuchtend, daß beständige Störungen durch das Wetter für den Leser wie für den Verfasser gleich nachteilig sind.

Selbstverständlich ist das Wetter in einer von menschlichen Schicksalen handelnden Erzählung nicht zu entbehren. Das wird zugestanden. Aber es sollte nur da auftreten, wo es nicht im Wege ist, wo es den Fluß der Erzählung nicht unterbricht. Auch sollte es das brauchbarste Wetter sein, das überhaupt zu haben ist, kein dummes, geringwertiges Dilettantenwetter.

Das Wetter ist eine literarische Spezialität, und nur eine geübte Hand vermag darin gute Arbeit zu liefern. Der Verfasser des vorliegenden Buches versteht nur einige unbedeutende, gewöhnliche Arten von Wetter zustande zu bringen, und selbst diese nicht sehr gut. Es erscheint ihm deshalb am klügsten, das für sein Buch nötige Wetter von geeigneten und anerkannten Meistern auf dem Gebiete zu entlehnen – natürlich unter Angabe der Quelle. Dieses Wetter ist am Ende des Buches, wo es also nicht im Wege steht, zu finden (siehe Anhang). Der Leser wird ersucht, dort nachzuschlagen und sich von Zeit zu Zeit beim Lesen selbst zu bedienen.

1

Ein unvergleichlich schöner Morgen glänzt über den ländlichen Gefilden Englands. Auf einem mäßigen Hügel erhebt sich ein majestätisches Gebäude, die efeubewachsenen Mauern und Türme von Schloß Cholmondeley, einem großartigen Überbleibsel und Zeugen der herrschaftlichen Gewalt des Mittelalters. Das ist einer der Landsitze des Grafen von Roßmore, Ritter und so weiter, der zweiundzwanzigtausend Acker englischen Bodens besitzt, ein Londoner Kirchspiel mit zweitausend Miethäusern sein eigen nennt und sich mit einem jährlichen Einkommen von 200 000 Pfund, so gut es eben geht, durchschlägt. Der Vater und Begründer dieser stolzen alten Linie war kein Geringerer als Wilhelm der Eroberer; die Mutter derselben ward in der Geschichte nicht namentlich verzeichnet, da ihr Erscheinen nur eine zufällige Episode und ebenso ohne weitere Folgen war wie das der Gerberstochter von Falaise.

In einem Frühstückszimmer des Schlosses waren an diesem schönen frischen Morgen zwei Personen und die erkalteten Überreste eines verlassenen Mahles zu sehen. Eine von diesen Personen ist der alte Lord; groß, aufrecht, mit breiten Schultern, weißem Haar und einer finstern Stirn ist er ein Mann, der in jedem Zug, jeder Stellung und Bewegung Charakter verrät und seine siebzig Jahre so leicht trägt, wie die meisten Männer ihre vierzig. Der andre ist sein Sohn, ein träumerisch blickender junger Mann, dem man ungefähr sechsundzwanzig Jahre geben würde, der aber den Dreißigen näher ist. Es ist nicht schwer herauszufinden, daß Offenheit, Herzensgüte, Redlichkeit, Einfachheit und Bescheidenheit die Hauptzüge seines Charakters sind; daher kommt es, daß er, mit der ganzen Wucht seines Namens bekleidet, einigermaßen an ein in einer Rüstung steckendes Lamm erinnert. Sein Name und Titel lautet: der erlauchte Kirkendbright Llanover Marjoribanks Sellers, Viscount Berkeley von Cholmondeley.

Er steht an einem großen Fenster; in seiner Haltung liegt achtungsvolle Aufmerksamkeit auf das, was sein Vater sagt, aber auch achtungsvoller Widerspruch gegen die von demselben vorgebrachten Behauptungen und Argumente. Der Vater geht redend auf und ab, und sein Ton zeigt, daß die Temperatur seines Gemütes bereits Sommerhitze erreicht hat.

»So sanftmütig du auch bist, Berkeley, so weiß ich doch sehr gut, daß, sobald du den Entschluß gefaßt hast, zu tun, was deine Begriffe von Ehre und Gerechtigkeit von dir fordern, alle Beweise und Vernunftgründe dir gegenüber verschwendet und ebenso wirkungslos auch Spott, Überredung, Bitte und Befehl sind. Meiner Ansicht nach –«

»Vater, wenn du die Sache ohne Vorurteil und Leidenschaft ansehen wolltest, müßtest du zugeben, daß ich durchaus keine übereilte, unüberlegte, eigenwillige Handlung begehen will, die nicht durch Tatsächliches zu rechtfertigen wäre. Ich habe den amerikanischen Prätendenten auf die Grafschaft Roßmore nicht ins Leben gerufen, ich habe weder nach ihm gespürt, noch fand ich ihn oder zwang ihn deiner Beachtung auf. Er fand sich selbst und drängte sich in unser Leben –«

»Und hat mir das meinige seit zehn Jahren zur Hölle gemacht mit seinen langweiligen Briefen, seinen wortreichen Betrachtungen und ackerlangen Beweisen –«

»Die du dich nie herbeiließest zu lesen. Und doch wäre es nicht mehr als billig, daß man ihm Gehör schenkte. Es würde sich dann entweder zeigen, daß er der rechtmäßige Graf Roßmore ist – in welchem Fall das von uns einzuhaltende Verfahren klar zutage läge – oder es stellte sich heraus, daß er keine Ansprüche hat, in welchem Fall unser Weg ebenso klar vor uns liegen würde. Ich habe seine Beweisstücke gelesen, Vater. Ich habe sie aufmerksam geprüft, geduldig und gründlich studiert. Es scheint, daß die Kette vollständig ist, und daß kein wichtiges Glied in derselben fehlt. Ich glaube, er ist der rechtmäßige Herr des Besitzes –«

»Und ich ein Usurpator – ein namenloser Bettler – ein Landstreicher! Bedenke, was du sagst! –«

»Vater, wenn er der rechtmäßige Graf ist, wolltest und könntest du – wenn die Tatsache einmal fest stände – einwilligen, ihm seinen Titel und sein Eigentum einen Tag, eine Stunde, eine Minute lang vorzuenthalten?«

»Du redest Unsinn – Unsinn – hellen Blödsinn. Höre mich an! Ich will ein Geständnis ablegen, wenn du es mit diesem Namen bezeichnen willst. Ich las diese Beweisstücke nicht, weil ich dazu keine Veranlassung hatte. Sie sind mir schon aus der Zeit des Vaters dieses Prätendenten und meines eignen, also seit vierzig Jahren bekannt. Die Vorfahren dieses Menschen haben die meinigen seit fast hundertfünfzig Jahren fortwährend mit ihren Angelegenheiten bekannt gemacht. Die Wahrheit ist, daß der rechtmäßige Erbe nach Amerika auswanderte, mit dem der Familie Fairfax oder ungefähr zu derselben Zeit – in den Wildnissen von Virginia ging seine Spur verloren; er verheiratete sich und züchtete Wilde für den Prätendentenmarkt, schrieb aber nicht nach der Heimat, und wurde schließlich für tot gehalten: sein jüngerer Bruder trat in den Besitz der Erbschaft. Dann starb der Amerikaner wirklich, und augenblicklich machte sein ältester Sprößling seine Ansprüche geltend – in einem noch vorhandenen Brief – starb aber, ehe sein im Besitz befindlicher Oheim Zeit – oder vielleicht Lust – gehabt, zu antworten. Der unmündige Sohn dieses ältesten Sprößlings wuchs heran – es entstand eine lange Pause, wie du siehst – und nun legte er sich auf das Briefeschreiben und Beweiseliefern. Von den Nachkommen hat nun einer nach dem andern dasselbe getan bis auf den gegenwärtigen Narren. Es war eine ganze Reihenfolge von Bettlern, nicht einer von ihnen war je in der Lage, die Kosten der Überfahrt nach England oder eines anzustrengenden Prozesses zu bestreiten. Die Fairfax hielten doch ihre Rechte und Titel aufrecht und haben sie bis auf den heutigen Tag nicht verloren, obgleich sie in Maryland leben; ihr Freund büßte die seinigen durch eigne Nachlässigkeit ein. Du siehst nun wohl ein, daß die in dieser Angelegenheit vorliegenden Tatsachen uns unweigerlich zu folgendem Ergebnis führen: Vom moralischen Gesichtspunkte aus ist der amerikanische Landstreicher der rechtmäßige Graf von Roßmore; nach dem Gesetz aber hat er nicht mehr Recht auf das Erbe als sein Hund. So! Bist du nun befriedigt?«

Es entstand eine Pause, dann blickte der Sohn auf das in die eichene Täfelung geschnitzte Wappen und sagte mit einem wehmütigen Ton seiner weichen Stimme: »Seitdem heraldische Symbole eingeführt sind, ist der Wahlspruch dieses Hauses gewesen: Suum quique – jedem das Seine. Nach deinem eignen, rückhaltlos aufrichtigen Bekenntnis, mein Herr und Vater, ist das Motto ein Sarkasmus geworden. Wenn Simon Lathers –«

»Behalte diesen verwünschten Namen für dich! Seit zehn Jahren verletzt er mein Auge und quält mein Ohr, bis zuletzt meine eignen Schritte sich im Takte des hirnverwirrenden ›Simon Lathers – Simon Lathers‹ bewegen. Und nun bist du, um sein Dasein unvergänglich, unsterblich in meinem Innern zu erhalten, entschlossen zu – – zu – – ja, wozu hast du dich nun eigentlich entschlossen?«

»Ich werde nach Amerika zu Simon Lathers gehen und den Platz mit ihm tauschen.«

»Was? Das Recht auf die Grafschaft in seine Hände geben?«

»Das ist meine Absicht.«

»Diese ungeheure Verzichtleistung willst du ausüben, ohne nur den abenteuerlichen Fall vom Parlamente prüfen zu lassen?«

»Ja,« antwortete der Sohn, aber nicht ohne ein verlegenes Zögern.

»Bei allem, was wunderbar ist, ich glaube, du bist wahnsinnig. Gewiß hast du wieder mit jenem Esel beratschlagt – oder mit dem Radikalen, wenn du diese Bezeichnung vorziehst, obgleich die Worte gleichbedeutend sind – mit Lord Tanzy von Tollemache?«

Der Sohn antwortete nicht, und der alte Lord fuhr fort:

»Ja, du gestehst es ein. Dieser Laffe, eine Schande für seine Familie und seinen Stand, hält alle Standesprivilegien und den ererbten Rang für eine Usurpierung, den Adel für lügnerischen Flitter, und alle aristokratischen Institutionen für Betrügerei; Rangunterschiede sieht er wie gesetzlich gestattete Verbrechen und Schurkereien an und achtet kein Brot für ehrliches Brot, das ein Mann nicht durch seine eigne Arbeit erwirbt. – Arbeit – bah!« – Der alte Patrizier schüttelte bei diesen Worten eingebildeten Arbeitsstaub von seinen weißen Händen. – »Du bist zu denselben Ansichten gelangt, wie ich vermute?« fügte er mit spöttischem Lächeln hinzu.

»So ist es. Ich sage das ohne Scham, denn ich fühle keine. Und dadurch ist auch mein Entschluß, mein Erbe ohne Widerstreben abzutreten, erklärt. Ich wünsche mich aus einer mir falsch erscheinenden Stellung und Existenz zurückzuziehen und mein Leben von neuem zu beginnen – es im rechten Sinn zu beginnen, auf der Grundlage bloßer Männlichkeit, ohne die Unterstützung eingebildeter Vorzüge; zum Ziel will ich gelangen oder fallen nur durch wirkliches Verdienst oder den Mangel eines solchen. Ich werde nach Amerika gehen, wo alle Menschen gleich sind und alle gleiche Aussichten auf Erfolg haben; ich will leben oder sterben, schwimmen oder sinken, gewinnen oder verlieren, einzig nur als Mann, ohne daß mir der Schein eines unrechtmäßigen Glanzes zu Hilfe kommt.«

»Hört! Hört!« – Die beiden Männer sahen einander einige Sekunden fest in die Augen, dann fügte der ältere nachdenklich hinzu: »Entschieden verrückt, ent–schie–den.«

Nach einem kurzen Schweigen sagte er, wie wenn er das bis dahin hinter Wolken verborgene Sonnenlicht plötzlich hervorbrechen sähe: »Nun, eine Genugtuung wird mir bleiben – Simon Lathers wird hierher kommen, um sein Eigentum zu übernehmen, und ich – werde ihn in die Pferdeschwemme stürzen. Dieser arme Teufel ist in seinen Briefen immer so demütig, so mitleidsbedürftig, so ehrerbietig, so erfüllt von heiliger Scheu für unsre große Abkunft und hohe Stellung, so besorgt, uns zu versöhnen und als Verwandter anerkannt zu werden, der in seinen Adern etwas von unserm berühmten Blute hat; und bei alledem so armselig, so kahl und abgerissen, so verlacht und verachtet von dem liederlichen und gemeinen Volk um ihn her; der kriechende, unerträgliche Landstreicher! Schon einen seiner knechtischen, ekelhaften Briefe zu lesen – – Nun?«

Diese Unterbrechung galt einem stattlichen Diener, dessen Rumpf mit farbigem Plüsch, glänzenden Metallknöpfen und Kniehosen geschmückt war, während sein Kopf ein künstliches, sorgfältig gepudertes Lockengebäude trug. Er stand mit geschlossenen Hacken und vorgebeugtem Oberkörper an der Türe und hielt einen silbernen Teller in der Hand.

»Die Briefe, Mylord.«

Mylord nahm sie, und der Diener verschwand.

»Unter andern auch ein amerikanischer Brief. Von dem Landstreicher natürlich! Doch beim Zeus, da ist eine Veränderung vor sich gegangen! Diesmal ist es kein Briefumschlag von braunem Papier, der, in irgendeinem Laden gestohlen, noch die Firma des Kaufmanns trägt; o nein, ein ganz anständiges Kuvert mit einem auffallend breiten Trauerrand – für seine Katze vermutlich, da er Junggeselle war – und mit rotem Lack geschlossen, mit einem Klumpen von der Grütze einer halben Krone und – wahrhaftig mit unserm Wappen als Siegel! Auch der Wahlspruch fehlt nicht. Die ungeübte, gespreizte Handschrift ist nicht mehr zu sehen; erhält sich wohl einen Sekretär – einen Sekretär, der mit einem kühnen Schwung und Zug schreibt. O wahrhaftig, unsre dortigen Verhältnisse scheinen sich zu verbessern, unser bescheidener Landstreicher hat eine Umwandlung erfahren!«

»Bitte, lies den Brief!«

»Ja, diesmal will ich ihn lesen, der Katze wegen!«

» Washington, 2. Mai. 14,042 Sechzehnte Straße.

Mylord!

Ich erfülle die schmerzliche Pflicht, Ihnen anzuzeigen, daß das Haupt unsers erhabenen Hauses nicht mehr ist. Der hoch- und edelgeborene erlauchte Simon Lathers, Lord Roßmore, ist aus diesem Leben geschieden (»Endlich dahin – das ist eine unaussprechlich kostbare Nachricht, mein Sohn!«) auf seinem Landsitz in der Umgebung des Weilers Duffys Corner, im großen alten Staate Arkansas – und sein Zwillingsbruder starb mit ihm, beide wurden durch einen Balken erschlagen beim Richten eines Räucherhauses, ein Ereignis, das durch die Sorglosigkeit aller Anwesenden unter der von übermäßigem Genuß des ›Gemischten‹ hervorgerufenen Heiterkeit veranlaßt wurde. (»Gepriesen sei das ›Gemischte‹, welcher Art es auch sei; nicht, Berkeley?«) Dies geschah vor fünf Tagen, und kein Sproß unsers alten Geschlechts war zugegen, um ihm die Augen zuzudrücken und ihn mit den seinem historischen Namen und seinem hohen Rang gebührenden Ehren zu bestatten – tatsächlich liegt er noch auf Eis, er und sein Bruder; Freunde veranstalteten eine Sammlung – aber ich werde anordnen, daß ihre edlen Überreste so bald als möglich Ihnen zu Schiff zugesendet werden (»Gerechter Himmel!«), damit deren Beisetzung in der Familiengruft unsers Hauses und mit den gehörigen Feierlichkeiten stattfinden kann. Unterdessen werde ich an meinem Hause einige Wappenschilder zum Zeichen der Trauer anbringen lassen, und Sie werden gewiß auf Ihren verschiedenen Gütern dasselbe tun.

Ich habe Sie noch darauf aufmerksam zu machen, daß durch dieses betrübende Ereignis ich als einziger Erbe zur Besitzergreifung sämtlicher Titel, Würden, Ländereien und Güter unsrer aufrichtig betrauerten Verwandten berechtigt bin und daß ich, so peinlich mir diese Pflicht auch ist, in Kürze von dem Oberhause die Einsetzung in die Würden und das Eigentum beanspruchen muß, die sich gegenwärtig in Ihrem, des Titularlords, unrechtmäßigen Besitz befinden.

Mit der Versicherung ausgezeichneter Hochachtung und warmer verwandtschaftlicher Ergebenheit verbleibe ich

Ew. Titularlordschaft gehorsamer Diener Mulberry Sellers, Graf Roßmore.«

»Ungeheuerlich! – Nun, dieser ist wirklich interessant. Seine Unverschämtheit ist kolossal – ja geradezu erhaben. Findest du nicht, Berkeley?«

»Nein! Er scheint wenigstens nicht kriechen zu wollen.«

»Kriechen? – Er kennt die Bedeutung des Wortes nicht einmal. Trauerschilder! Zur Erinnerung an diesen Landstreicher und seinen brüderlichen Doppelgänger. Und mir will er die irdischen Überreste schicken! Der vorige Prätendent war ein Narr – aber dieser hier ist entschieden ein Wahnsinniger. Und was für einen Namen er führt! Mulberry Sellers – da liegt Musik drin! Simon Lathers – Mulberry Sellers – Mulberry Sellers – Simon Lathers – das klingt wie Maschinengerassel und Sägen. Simon Lathers – Mulberry Sel– Gehst du schon?«

»Wenn du erlaubst, Vater!«

Der alte Edelmann blieb, nachdem sein Sohn ihn verlassen hatte, eine Weile sinnend am Fenster stehen. In Worte gekleidet, würden seine Gedanken gelautet haben: »Er ist ein guter Junge und liebenswert: mag er seinen eignen Weg gehen! Es würde doch nichts nützen, ihm entgegenzutreten, im Gegenteil die Sache vielleicht verschlimmern. Meine Beweisgründe und das Zureden seiner Tante haben nichts ausgerichtet; wir werden nun sehen, was Amerika für uns tut, welchen Einfluß Gleichheit und Brüderlichkeit und harte Zeiten auf die geistige Gesundheit eines überspannten englischen Lords auszuüben vermögen. Seiner Grafschaft entsagen und ein Mann sein! Ja wohl!«

2

Einige Tage, bevor Oberst Mulberry Sellers den erwähnten Brief an Lord Roßmore schrieb, saß er in seiner »Bibliothek«, einem Raum, welcher zugleich sein Besuchszimmer, seine Gemäldegalerie und seine Werkstatt war. Je nach Verhältnissen und Umständen nannte er das Gemach bald mit einem dieser Namen, bald mit einem andern. Er war mit der Herstellung eines Gegenstandes beschäftigt, der aussah wie ein zerbrechliches mechanisches Spielzeug, und schien sehr eifrig bei seiner Arbeit. Sein Haar war weiß, aber im übrigen war er so jugendlich lebhaft, schwärmerisch und unternehmend wie je. Seine liebevolle alte Gattin saß in seiner Nähe; sie hielt eine schlafende Katze auf ihrem Schoß und sah mit nachdenklichem, aber zufriedenem Ausdruck bald auf diese, bald auf die Strickerei, an der sie arbeitete. Das Zimmer war groß und hell und sah behaglich und gemütlich aus, obgleich das Mobiliar bescheiden und nicht im Überfluß vorhanden war und auch die kleinen Spielereien und Zieraten, die ein Wohnzimmer schmücken, nicht zahlreich oder kostbar genannt werden konnten. Aber frische Blumen standen in den Fenstern, und es herrschte ein nicht näher zu bestimmendes Etwas vor, das die Gegenwart eines mit gutem Geschmack und geschickter Hand begabten Wesens verriet. Selbst die greulichen Farbendruckbilder an den Wänden beleidigten das Auge kaum; sie schienen dahin zu gehören und übten immerhin einen gewissen Zauber aus; denn wer sie ansah, der konnte den Blick nicht wieder abwenden, und die Bilder verfolgten ihn bis an sein seliges Ende – es gibt ja solche Bilder. Einige von diesen Abscheulichkeiten waren Landschaften, andre karikierten die See, wieder andre waren auffallende Porträte, alle aber waren Verbrechen gegen die Kunst. Die Porträte waren zwar sämtlich als diejenigen hervorragender, verstorbener Amerikaner zu erkennen, hier mußten sie jedoch, nachdem von kühner Hand entsprechende Zettel angebracht worden waren, als »Grafen von Roßmore« Dienste tun. Das neueste derselben hatte die Fabrik als Andrew Jackson verlassen, tat aber nun sein möglichstes als »Simon Lathers, Lord Roßmore, regierender Graf«. An der einen Wand hing eine alte Eisenbahnkarte von Warwickshire; diese war bezeichnet mit »Die Roßmoreschen Besitzungen«. Auf der entgegengesetzten Seite hing eine andre Karte, die den Hauptschmuck der ganzen Anordnung bildete und ihrer Größe wegen dem Fremden zuerst ins Auge fiel. Einst hatte sie nur den Titel »Sibirien« geführt, aber jetzt waren die Worte »Das zukünftige« jenem vorangesetzt; noch andre Benennungen waren mit roter Tinte eingetragen, Städte mit großer Einwohnerzahl waren über das weite Land ausgestreut an Punkten, wo heutigestags weder Städte noch Einwohner zu finden sind. Eine von diesen Phantasiestädten, deren Bevölkerung auf 1 500 000 angegeben war, trug den unaussprechlichen Namen »Libertyorloffskoizalinski« und eine noch stärker bevölkerte im Mittelpunkt gelegene war als Hauptstadt bezeichnet und mit »Freiheitsliebjovanovich« benamset.

Das Herrenhaus – wie der Oberst sein Haus gewöhnlich nannte – war ein alter, baufälliger, zweistöckiger Holzbau von mittlerer Größe, welcher irgend einmal angestrichen worden war, dies aber schon fast vergessen hatte. Es stand ganz außen in der ärmlichsten Gegend von Washington und war früher irgend jemandes Landhaus gewesen. Der das Gebäude umgebende vernachlässigte Hof war mit einem Staket umfriedet, welches der Aufrichtung dringend bedurfte und dessen Tür nicht zu öffnen war. Am Haustor waren mehrere bescheidene Blechschilder angebracht. Auf dem größten derselben stand: Oberst Mulberry Sellers, Notar und Agent. Durch die andern erfuhr man, daß der Oberst Materialisator, Hypnotiseur und Kurpfuscher war. Er war ein Mann, der immer und überall etwas zu tun fand.

Ein weißhaariger Neger, der eine Brille und schadhafte weiße Baumwollhandschuhe trug, trat ins Zimmer, verbeugte sich ehrfurchtsvoll und meldete: »Harre Washington Hawkins!«

»Ist es möglich! Führ ihn herein, Dan'l, führ ihn herein!«

Der Oberst und seine Gattin waren in einem Augenblick auf den Füßen, und im nächsten drückten sie freudig die Hände eines stämmigen, etwas niedergeschlagen aussehenden Mannes, der, seiner allgemeinen Erscheinung nach zu urteilen, fünfzig Jahre alt sein, seinem Haar nach zu schließen, aber deren hundert zählen mochte.

»Ah, Washington, mein Junge, das ist eine große Freude, dich wiederzusehen. Setze dich, setze dich und mache es dir bequem. So – du bist übrigens unverändert, – ein wenig gealtert, nur ein klein wenig, wir würden dich aber überall wiedererkannt haben; nicht wahr, Polly?«

»O ja, gewiß, Berry; so wie er jetzt aussieht, würde sein Vater ausgesehen haben, wenn er am Leben geblieben wäre. Aber, lieber Gott, woher kommen Sie eigentlich so überraschend? Ich muß mich erst besinnen, wie lange es her ist, seit –«

»Ich meine, es ist wenigstens fünfzehn Jahre her, Mrs. Sellers.«

»Ja, ja, wie die Zeit vergeht, und was für Veränderungen –«

Die Stimme versagte ihr plötzlich, und ihre Lippen zuckten; die beiden Männer warteten rücksichtsvoll, bis sie sich gefaßt haben und weiter reden würde; aber nach einem kurzen Kampf wandte sie sich ab, drückte ihre Schürze gegen die Augen und verließ leise das Zimmer.

»Dein Anblick hat das arme Ding so lebhaft an die Kinder erinnert; – ja, ja, sie sind alle tot bis auf das jüngste. Aber verbannen wir den Kummer, wir haben keine Zeit, ihm nachzuhängen; vorwärts mit dem Tanz des Lebens, mein Wahlspruch ist: ungetrübte Freude, und ob es auch vielleicht keinen Tanz und keine ungetrübte Freude zu kosten gibt, man wird sich doch bei diesem Grundsätze jederzeit besser befinden; jederzeit, Washington. Ich, der ich ein gutes Stück dieser Welt gesehen habe, weiß das aus Erfahrung. Nun sage mir aber, wo du alle diese Jahre gesteckt hast, und ob du von dort oder woher du sonst kommst.«

»Ich glaube, das wirst du schwerlich erraten können, Oberst. Ich komme von Cherokee-Strip!«

»Du scherzest!«

»So wahr ich lebe!«

»Das kann dein Ernst nicht sein. Hast du wirklich dort draußen gelebt?«

»Nun ja, wenn man das leben nennen kann; es ist ja freilich ein ziemlich starker Ausdruck für wilde Kaninchen und gedämpfte Bohnen, für getäuschte Hoffnungen und Armut in allen ihren Spielarten.«

»Und Luise war mit dir dort?«

»Ja, und auch die Kinder.«

»Noch jetzt dort?«

»Ja, ich konnte sie nicht mitbringen.«

»Oh, ich kann mir schon denken, du mußtest hierher kommen – irgendein Anspruch an die Regierung. Sei nur ganz ruhig – ich werde mich der Sache schon annehmen.«

»Aber ich habe keinen Anspruch an die Regierung.«

»Nein? Willst wohl Postmeister werden? Schon gut; überlast es nur mir; ich werde das besorgen.«

»Aber es handelt sich ja gar nicht um eine Postmeisterstelle – du bist auf ganz falschem Wege.«

»Nun aber beim Himmel, Washington, warum gehst du nicht mit der Sprache heraus und sagst mir, um was es sich handelt? Weshalb bist du so verschlossen und mißtrauisch gegen einen alten Freund, wie ich einer bin? Glaubst du, ich könne kein Geheim–«

»Es ist gar kein Geheimnis dabei, du läßt mich nur nicht –«

»Nun sieh, alter Freund, ich kenne die Menschen, und ich weiß, daß, wenn ein Mann nach Washington kommt, mag er nun vom Himmel herab oder gar von Cherokee-Strip kommen – er irgend etwas will. Aber ich weist auch, daß er es in der Regel nicht erlangt, daß er bleibt, um etwas andres herauszuschlagen, was er aber ebenfalls nicht erreicht; dasselbe Schicksal hat er mit dem nächsten, dem folgenden und so weiter, aber er hält aus, bis er nahezu ausgezogen und dann zu arm ist und sich auch zu sehr schämt, um heimzukehren – selbst nach Cherokee-Strip. Schließlich bricht ihm das Herz, und man veranstaltet eine Sammlung, um ihn zu begraben. – Unterbrich mich nicht – ich weiß, was ich sage. War ich nicht glücklich und angesehen draußen im fernen Westen? Das weißt du. Als erster Bürger in Hawkeye, von jedermann hochgeachtet, war ich eine Art Selbstherrscher, tatsächlich eine Art Selbstherrscher, Washington. Aber sie ließen mir keine Ruhe, ich sollte als Gesandter nach St. James gehen, der Gouverneur und die Bürgerschaft bestanden darauf, du weißt es; ich willigte endlich ein – es war nicht loszukommen, ich mußte es tun. So kam ich hierher. Einen Tag zu spät, Washington. Was für kleine Dinge doch oft den Gang der Weltgeschichte ändern! Ja, mein Lieber, die Stelle war schon besetzt. Nun war ich aber einmal da; ich erbot mich daher zu einem Kompromiß und war bereit, nach Paris zu gehen. Der Präsident bedauerte sehr und so weiter, aber dieser Posten gehörte nicht dem Westen. Nun saß ich wieder auf dem Trocknen; es war aber nicht zu ändern, und ich mußte ein wenig herabsteigen – wir alle kommen eines Tages so weit, uns dazu entschließen zu müssen, lieber Freund, und es ist noch nicht das Schlimmste, wie man es auch ansehen mag – ich mußte also herabsteigen und mich erbieten, Konstantinopel anzunehmen; beachte das wohl, Washington, denn es ist vollkommen wahr – nach einem Monat verlangte ich China; im nächsten bat ich um Japan; das Jahr darauf war ich ganz unten angelangt und bewarb mich mit Tränen und Bangen um das niedrigste Amt, welches die Regierung der Vereinigten Staaten zu vergeben hat, das eines Feuersteinschleifers in den Kellern des Kriegsministeriums – und beim Himmel, ich erhielt nicht einmal das!«

»Feuersteinschleifer?«

»Ja; ein Amt, das zur Zeit der Revolution im vorigen Jahrhundert geschaffen wurde. Die Musketenfeuersteine für die militärischen Posten wurden vom Kapitol geliefert. Das geschieht noch jetzt, denn obgleich die Feuersteingewehre nicht mehr im Gebrauch und die Forts eingestürzt sind, ist doch die Verordnung nicht zurückgenommen worden – sie wurde übersehen und vergessen, und die Plätze, wo das alte Ticonderaga und andre sonst standen, erhalten nach wie vor ihr bestimmtes Quantum von Feuersteinen jährlich.«

Nach einer Pause sagte Washington sehr nachdenklich: »Wie merkwürdig mir das alles erscheint – als Gesandter für England mit einem jährlichen Gehalt von zwanzigtausend Dollar auszuziehen und dann nicht einmal den Posten eines Feuersteinschleifers zu erhalten mit –«

»Drei Dollar per Woche. So geht's im Leben, Washington – das ist ein treues Bild menschlichen Strebens und Kämpfens; und das Ergebnis? Man strebt nach dem Palast und verdirbt schließlich in der Gosse.«

Es entstand ein neues nachdenkliches Stillschweigen. Dann sagte Washington, indem ernstes Mitgefühl aus seiner Stimme klang:

»Und so hast du, nachdem du gegen deinen Willen hierhergekommen bist, nur um deinen Begriffen von patriotischer Pflicht zu genügen und dem eigennützigen Verlangen der öffentlichen Meinung zu willfahren, gar nichts erreicht?«

»Nichts?« – Der Oberst sprang auf und blieb stehen, um seinem Erstaunen Luft zu machen. »Nichts, Washington? Ich frage dich: ist es nichts, lebenslängliches Mitglied, und das einzige lebenslängliche Mitglied eines diplomatischen Korps zu sein, das bei dem größten Staate der Welt akkreditiert ist – nennst du das nichts?«

Jetzt war die Reihe verblüfft zu sein an Washington. Er war stumm vor Staunen, aber seine weitgeöffneten Augen und die ehrerbietige Bewunderung, die seine Züge ausdrückten, waren beredter als Worte. Der in seinem Stolz verwundete Oberst war beruhigt; er nahm zufriedengestellt seinen Platz wieder ein, beugte sich vor und sagte eindringlich:

»Was schuldete man nun einem Manne, der durch eine in der Weltgeschichte noch nie dagewesene Erfahrung sich auszeichnete – einem Manne, der sozusagen für immer diplomatisch geweiht war dadurch, daß er, wenn auch nur vorübergehend und gesuchsweise, zu jedem einzelnen diplomatischen Posten im Bereiche seiner Regierung in Beziehung gestanden hatte, von dem eines außerordentlichen Gesandten und bevollmächtigten Ministers am Hofe zu St. James bis herunter zu dem eines Konsuls auf einem Guanofelsen in der Sundastraße – dessen Gehalt in Guano zahlbar ist – einem Guanofelsen, welcher durch einen vulkanischen Ausbruch verschwand, einen Tag nur, ehe man auf der Liste der Bewerber bis herunter zu meinem Namen gelangt war. Gewiß, etwas Einziges und Erhabenes war man mir schuldig, das der Größe dieser unvergleichlichen und denkwürdigen Erfahrung entsprach – und ich erhielt es. Durch einstimmige Wahl der Gemeinde, durch Akklamation von seiten des Volkes, durch jene gewaltige Äußerung, welche Gesetze und Verfassungen beiseiteschiebt und gegen deren Rechtsspruch es keine Berufung gibt, wurde ich zum lebenslänglichen Mitglied des diplomatischen Korps ernannt, zur Vertretung der zahlreichen Staaten und Völker der Erdkugel bei dem republikanischen Hofe der Vereinigten Staaten von Nordamerika. Und man geleitete mich mit einem Fackelzug nach Hause.«

»Das ist wunderbar, Oberst, wahrhaftig wunderbar.«

»Es ist die erhabenste amtliche Stellung in der ganzen Welt.«

»Das will ich meinen, und die mächtigste.«

»Das ist das rechte Wort dafür. Bedenke nur: ich runzele die Stirn – und der Krieg ist da; ich lächle – und die kämpfenden Nationen legen die Waffen nieder.«

»Aber wie furchtbar – die Verantwortung meine ich.«

»Das ist gar nichts. Verantwortung ist mir keine Last, ich bin daran gewöhnt, bin immer daran gewöhnt gewesen.«

»Und die Arbeit – die Arbeit! Mußt du allen Sitzungen beiwohnen?«

»Wer? Ich? – Wohnt der Kaiser von Rußland etwa allen den Konferenzen der Gouverneure der verschiedenen Provinzen bei? Er sitzt zu Hause und gibt nur seinen Willen kund.«

Washington schwieg einen Augenblick, dann entschlüpfte ihm ein tiefer Seufzer.

»Wie stolz war ich noch vor einer Stunde; wie geringfügig erscheint mir jetzt meine kleine Standeserhöhung! Oberst, der Grund, weshalb ich nach Washington kam, ist – ich bin Kongreßdelegierter für Cherokee-Strip!«

Der Oberst sprang auf und brach in die begeisterten Worte aus:

»Gib mir die Hand, mein Junge – das ist eine wunderbare Neuigkeit! Ich gratuliere dir von ganzem Herzen. Meine Prophezeiungen haben sich bewahrheitet, ich sagte immer, du habest das Zeug zu einem großen Manne in dir, du seiest für eine hohe Stellung geboren und werdest sie erreichen. Frage nur Polly, ob es nicht so ist.«

Washington war durch diese unerwartete Demonstration halb betäubt.

»Aber, lieber Oberst, es ist ja gar nichts dabei; diesen kleinen, schmalen, verlassenen Streifen von Gras und Sand vertreten – das ist ungefähr geradeso, als wenn man eine Billardtafel zu vertreten hätte, noch dazu eine außer Gebrauch gesetzte.«

»Nein, nein, es ist großartig, ein Vorzug, der gerade hier von bedeutendem Einfluß ist.«

»Unsinn, Oberst, ich habe nicht einmal eine Stimme abzugeben.«

»Das tut nichts, du kannst Reden halten.«

»Nein, das kann ich nicht, die Bevölkerung zählt nur zweihundert Seelen.«

»Das schadet nichts.«

»Sie hatten gar nicht das Recht, mich zu wählen, wir werden nicht als staatliches Gebiet angesehen, es existiert kein gesetzkräftiger Beschluß darüber, die Regierung hat durchaus keine offizielle Kenntnis von uns.«

»Darüber mache dir nur keinen Kummer, das werde ich in Ordnung bringen. Ich werde die Sache durchsetzen und euch in kurzer Zeit zu einem staatlich organisierten Gebiet machen.«

»Das wolltest du wirklich, Oberst? Das ist zu gut von dir und sieht dir ganz ähnlich, du alter, wahrer, treuer Freund.«

In Washingtons Augen traten Dankestränen.

»Es ist so sicher, als ob es schon geschehen wäre, mein Junge. Gib mir die Hand. Wir wollen uns zusammen vor den Wagen spannen und werden die Sache dann schon vorwärts bringen.«

3

Mrs. Sellers kam jetzt zurück; sie hatte ihre Fassung wiedererlangt und fing nun an, nach Hawkins Frau und Kindern zu fragen, nach deren Anzahl und so weiter. Das von ihr angestellte Verhör förderte einen umständlichen Bericht über alle freudigen und traurigen Erlebnisse zutage, welche die Familie während eines halben Menschenalters im fernen Westen befallen hatten. Der Oberst wurde abgerufen, und Hawkins ergriff die Gelegenheit, sich zu erkundigen, wie das Schicksal in den letzten fünfzehn Jahren gegen den Oberst verfahren sei.

»Oh, es ist mit ihm immer in derselben Weise verfahren, es könnte gar nicht anders, wenn es auch wollte, er würde es nicht zulassen.«

»Das kann ich mir wohl denken.«

»Wie Sie sehen, verändert er sich nicht, nein, nicht im geringsten; er bleibt immer Mulberry Sellers.«

»Das sehe ich deutlich.«

»Immer noch der alte, pläneschmiedende, großmütige, weichherzige, hoffnungsvolle, sorglose Unglücksvogel; und jedermann liebt ihn, als ob er ein Glückskind wäre.«

»Das war immer so und ist ganz natürlich; er ist so zuvorkommend und gefällig, und sein ganzes Wesen macht es einem leicht, ihn um Hilfe oder einen Gefallen anzugehen. Man fühlte sich ihm gegenüber nie verlegen, hatte nie, wie bei andern, eine Scheu davor, ihn in Anspruch zu nehmen.«

»Und so ist es noch jetzt; man muß sich eigentlich darüber wundern, denn er ist nur zu häufig schmachvoll behandelt worden von solchen, die ihn als Leiter zum Hinaufsteigen benutzt hatten und ihn dann zurückstießen, wenn sie ihn nicht mehr brauchten. Eine Zeitlang schmerzt ihn so etwas, sein Stolz ist verletzt, das zeigt sich dadurch, daß er sich von der Sache abwendet und darüber zu sprechen vermeidet, und manchmal dachte ich schon: nun hat er endlich eine Lehre erhalten und wird künftig vorsichtiger sein; – aber behüte Gott! – In einigen Wochen hat er alles wieder vergessen, und jeder eigennützige Lump, der Gott weiß woher kommt, bringt es, wenn er ein klägliches Gesicht macht, zustande, sich gestiefelt und gespornt in sein Herz einzuschleichen.«

»Auf diese Weise werden Ihrer Geduld harte Proben auferlegt.«

»O nein, ich bin daran gewöhnt, und es ist mir lieber, daß er so ist, als anders. Wenn ich ihn einen Unglücksvogel nenne, so meine ich, er ist das der Welt gegenüber; für mich ist er es nicht. Ich weiß nicht, ob ich ihn anders wünschen möchte, sehr viel anders gewiß nicht. Ich muß ihn manchmal schelten, selbst mit ihm brummen, aber ich glaube, ich würde das auch tun, wenn er ein andrer wäre; – ich bin nun einmal so. Aber ich brumme viel weniger und bin viel zufriedener, wenn er Mißerfolge hat, als wenn das nicht der Fall ist.«

»Also hat er doch nicht immer Unglück,« sagte Washington, in dessen Gesicht es freudig aufleuchtete.

»Er, o Gott bewahre! Er hat manchmal einen Treffer, wie er es nennt, und das ist dann eine Zeit der Unruhe und des Besorgtseins für mich, denn das Geld fliegt dann nur so herum – und wer dann zuerst kommt, der mahlt eben auch zuerst. Er füllt dann das Haus von oben bis unten mit Krüppeln und Blödsinnigen, verlaufenen Katzen und allen Arten von Armen und Elenden, die andre Leute nicht wollen, die er aber mag; und wenn dann die Armut wiederum an die Türe klopft, dann muß ich die meisten von ihnen hinauswerfen, damit wir nicht alle verhungern; und das macht ihn unglücklich und mich natürlich auch. Da haben wir zum Beispiel den alten Dan'l und die alte Jenny, die der Sheriff nach dem Süden verkaufte, als wir vor dem Kriege Bankrott machten; nach dem Frieden kamen sie aus den Baumwollplantagen hierher gewandert, ganz abgearbeitet, ausgehungert und hilflos und ohne einen Funken von Arbeitskraft in ihrer alten Haut; wir selbst waren sehr in Not, es fehlte uns fast an den Brosamen, die das Leben erhalten sollten. Er aber öffnete die Tür weit, und nach der Art, wie er jene empfing, hätte man meinen können, sie kämen auf sein Flehen hin direkt vom Himmel herab. Ich nahm in beiseite und sagte: ›Mulberry, wir können sie nicht behalten; wir haben selbst nichts; wir können sie nicht ernähren.‹ Darauf sah er mich fast beleidigt an und sagte: ›Sie abweisen? Und sie sind doch so vertrauensvoll zu mir gekommen, als ob – siehst du, Polly, dieses Vertrauen muß ich mir doch einst vor langer Zeit erworben und gewissermaßen einen Wechsel darüber ausgestellt haben, so etwas erhält man nicht als Geschenk – und wie kann ich nun eine solche Schuld nicht anerkennen? Du siehst, wie arm sie sind, wie alt und freundlos, und – und –;‹ aber ich schämte mich schon und unterbrach ihn; ich fühlte neuen Mut und sagte: ›Wir wollen sie behalten, der Herr wird weiter sorgen.‹ Er war sehr erfreut und schickte sich an, eine von seinen übermäßig hoffnungsvollen Reden zu halten, aber er gab es gleich wieder auf und sagte nur: ›Ich will auf jeden Fall.‹ Das war vor vielen Jahren, und Sie sehen, die alten Geschöpfe sind noch hier.«

»Aber sind sie Ihnen nicht bei der Hausarbeit behilflich?«

»In der Hausarbeit? Kein Gedanke daran. Sie täten es, wenn sie könnten, die armen Alten, und glauben wahrscheinlich einen Teil zu verrichten, aber es ist der reine Aberglaube. Dan'l bewacht die Haustüre und besorgt dann und wann einen Ausgang; manchmal tut einer von ihnen oder tun beide, als ob sie hier herum abstauben wollten – aber das geschieht nur, weil sie gern hören wollen, was vorgeht, und glauben, ihren Senf dazu geben zu müssen. Während der Mahlzeiten sind sie aus demselben Grunde bei der Hand. Aber tatsächlich müssen wir ein junges Negermädchen halten, das für sie sorgt, und eine Negerfrau, um die Hausarbeit zu tun und bei der Bedienung der Alten zu helfen.«

»Nun, ich meine, sie müßten auf diese Weise sehr glücklich sein.«

»So kann man es wohl nicht nennen. Sie streiten sich fast fortwährend – meistens über Religion, weil Dan'l ein Wiedertäufer ist und Jenny strenge Methodistin und an eine besondre Vorsehung glaubt, was Dan'l nicht tut; er hält sich für eine Art Freidenker. – Sie spielen und singen gemeinschaftlich Hymnen, die sie auf der Plantage gelernt haben, klatschen und schwatzen fortwährend und haben sich aufrichtig lieb; für Mulberry hegen sie die größte Verehrung, und er hat Nachsicht mit all ihren schlechten Manieren und Torheiten, und so – nun, sie sind im Grund genommen doch wohl glücklich. Ich mache mir nichts daraus, ich habe mich an sie gewöhnt, wie ich mich an alles gewöhnen kann, wenn Mulberry mir hilft. Ich frage nicht danach, was geschehen mag, so lange er mir erhalten bleibt.«

»Möge es ihm wohl gehen und er bald wieder einen sogenannten Treffer machen!«

»Damit er wieder Lahme, Blinde und Krüppel zusammenrufen und das Haus in ein Hospital verwandeln kann? Denn das würde er tun, ich habe es schon oft genug erlebt. Nein, Washington, ich wünschte, seine Treffer möchten für den Rest seiner Tage recht mäßige sein.«

»Ganz wohl – aber ob er große oder kleine oder gar keine Treffer hat, wir wollen doch hoffen, daß es ihm nie an Freunden fehlen wird; das kann auch, wie ich meine, nie der Fall sein, so lange es hier herum Leute gibt, die wissen –«

»Ihm an Freunden fehlen?« Sie warf den Kopf mit einem gewissen Stolz zurück – »wahrhaftig, Washington, Sie können mir keinen nur irgend erwähnenswerten Mann nennen, der ihn nicht lieb hätte. Ich sage es Ihnen im Vertrauen, es hat mich verzweifelt viel Mühe gekostet, seine Freunde davon abzubringen, ihm irgendein Amt aufzuladen. Sie konnten es ebensogut wissen wie ich, daß er für so etwas nicht taugt; es gibt ja keinen zweiten Menschen, dem es so schwer wird, etwas abzuschlagen wie ihm, Mulberry Sellers im Amt! Du meine Güte! Sie wissen, wie das gehen würde. Die Leute würden von allen Weltteilen herkommen, um eine solche Merkwürdigkeit zu sehen. Da wäre ich schon lieber mit dem Niagarafall verheiratet und hätte dann ein für allemal meine Ruhe.«

Nach einer kleinen Weile des Nachdenkens, in der sie wieder auf die Bemerkung zurückkam, die das Thema ihrer Rede gebildet hatte, fügte sie hinzu: »Freunde? Wahrhaftig, kein Mann hat deren je mehr gehabt, und solche Freunde: Grant, Sherman, Sheridan, Johnston, Longstreet, Lee – wie oft haben die in demselben Stuhl gesessen, in dem Sie jetzt sitzen!«