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Diplomarbeit aus dem Jahr 2004 im Fachbereich Pädagogik - Pädagogische Soziologie, Note: 1,0, Freie Universität Berlin, Sprache: Deutsch, Abstract: In meiner Diplomarbeit untersuche ich den Amoklauf von Erfurt als "diskursives Ereignis", d.h. als ein Stück gesellschaftlicher Rede, das beschreibt, wie über das Ereignis gedacht wird, was über es gesagt und vor allem nicht gesagt wird. Dazu wurden über einen Zeitraum von zwei Wochen die Artikel von drei renommmierten Tageszeitungen, einer Wochenzeitung und eines Magazins ausgewertet. Dabei stellt sich heraus, das drei Themen im Vordergrund stehen: Die Diskussion über die Wirkung von Gewaltdarstellungen in den Medien, die Täterpersönlichkeit und die Schule als gesellschaftliche Institution und Ort des Amoklaufs. Meine Analyse zeigt, daß sowohl bei der Diskussion der Medienwirkung als auch der Täterpersönlichkeit reale Handlungsgründe gar nicht erst vorkommen: So wird in der Debatte um Gewalt in Computerspielen, die gesellschaftiche Realität zugunsten der virtuellen ausgeblendet und der Amoklauf mit der Jugendlichkeit des Täters in Verbindung gebracht, die mit dem Alltag der Erwachsenen nichts zu tun hat. Die Diskussion um die Täterpersönlichkeit vereigenschaftet der Tat und ignoriert ihre Begründetheit in den Verhältnissen wie sie für den Täter bedeutungsvoll waren, womit sie zu einem singulären Ereignis wird, das mit anderen Bewältigungsweisen von Schule nichts zu tun. Die Schule gerät ebenfalls in den Fokus der Aufmerksamkeit, wird aber nicht in ihrer gesellschaftlichen Funktion begriffen (Auslese für die kapitalistische Berufshierarchie), sondern konstruktiv kritisiert: So gilt das Thüringische Schulsystem als besonders hart, und der Umgang mit den Schulverlieren könnte etwas sensibler erfolgen. Insgesamt ist der Diskurs um den Amoklauf von Erfurt dadurch gekennzeichnet, daß eine Kritik an der Lebensbedingungen entweder abgewehrt wird oder nur als konstruktive zugelassen wird.
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Veröffentlichungsjahr: 2011
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Am Vormittag des 26. April 2002 betrat der 19-jährige ehemalige Schüler des Gutenberg-Gymnasiums in Erfurt - Robert Steinhäuser - zum Zeitpunkt der mündlichen Abiturprüfungen das Schulgelände, und erschoss in wenigen Minuten acht Lehrerinnen, vier Lehrer, eine Schülerin, einen Schüler, einen Polizisten und anschließend sich selbst. Dieses Ereignis sorgte weltweit für Entsetzen und Trauer. Tagelang war der ‚Amoklauf1von Erfurt’ auf den Titelseiten der einheimischen Presse. „Deutschlands schlimmster Tag“ („Bild“-Zeitung) war gekennzeichnet durch den bis dato opferreichsten Amoklauf in der Geschichte der Bundesrepublik. Das Entsetzen speiste sich aber nicht nur aus dem Entsetzen über die Tat und der Trauer über die siebzehn Todesopfer, sondern auch daraus, dass eine derartige Form von mörderischer Gewalt an deutschen Schulen nicht für möglich gehalten wurde: „So jedenfalls wurde er zum Tag eines Verbrechens, das es so noch nicht gegeben hatte, nicht mal in Amerika und natürlich [!] nicht in Deutschland, nicht in einer Schule und nicht durch einen so jungen Täter“ (Spiegel, Art. 5: 119). So geriet wenige Monate nach der Veröffentlichung der Ergebnisse der PISA-Studie (dem sog. „PISA-Schock“) das deutsche Bildungssystem erneut in eine Krise bzw., es verschärfte sich die schon bestehende. Entgegen dem erbetenen Moratorium von Bundespräsident Rau, die allge-
1DerBegriff „Amoklauf“ bzw. „Amokläufer“ wird im Diskurs uneindeutig bis widersprüchlich diskutiert. Die Bandbreite reicht von einem alltagssprachlichen Gebrauch, wo unter einem Amoklauf ein irrationaler, pathologischer, eruptiver, wahnhafter (selbst-) mörderischer Gewaltausbruch verstanden wird, bis zu hin zu Positionen, die sich an klinischen Definitionen anlehnen, die das Phänomen Amok als „kultur-gebundenes psychiatrisches Krankheitssyndrom“ (WETTER 2002) betrachten (vgl.FAZ,Art. 5,12 ;FR,Art. 2, 8 ;SZ,Art. 3;Zeit,Art. 2).
In der klinischen Psychologie wird versucht, mit Hilfe der festgestellten psychopathologischen Gemeinsamkeiten von Amoktätern, ein Ablaufbild eines typischen Amoklaufs zu konstruieren (vgl. WETTER 2002). Der Versuch Gemeinsamkeiten bezüglich der Psychopathologie des Täters herauszuarbeiten, gestaltet sich dabei schwierig, da die Täter vor der Tat „auffällig unauffällig“ (s.u.) sind und nach der Tat meistens nicht mehr am Leben. So fehlen reliable und valide Daten zur Charakterisierung der Täter. Allgemeiner Konsens besteht aber darin, „dass es sich bei den Tätern in der Regel um narzisstische oder Borderline-Persönlichkeitsstörungen handelt“ (ebd.). Aktuelle Untersuchungen gehen davon aus, dass jede zweite Amoktat von einem akut psychischen kranken Täter durchgeführt wird. Forensisch müsse die Bewertung der Tat als Bewusstseinsstörung diskutiert werden: Auch wenn der Auslöser der Tat überraschend und kurzfristig sei, sei die Tat meist gut vorgeplant und vorbereitet. Fraglich sei daher, ob die strafrechtliche Verantwortung hier eingeschränkt werden könne, denn wenn die eigentliche Tötungsabsicht in einem Zustand getroffen wurden sei, wo die Entscheidung zu der Tat nicht durch eine nennenswerte Geistesstörung beinträchtig gewesen sei, dann wäre der spätere Kontrollverlust bei der Tatausübung als weniger gravierend zu bewerten (vgl. ebd.).
Da diese Charakterisierung von Amokläufern bzw. Amokläufen bewusstes, intentionales Handeln nicht per se ausschließt, kann der Begriff Amoklauf m.E. ohne Anführungsstriche in einem, der Spezifik menschlichen Handelns adäquaten, Diskurs über „begründetes Handeln“ verwendet werden (vgl. Kap. III A 4 a), so dass nicht von vornherein, weiterführende Fragen durch Pathologisierungen des Täters abgeschnitten werden müssen, sondern Amokläufe als begründetes Verhalten potentiell konzeptualisierbar bleiben. Ich verwende „Amok“ in diesem Sinne als neutralesBeschreibungskonzept,da Spekulation über den psychischen Zustand von Robert Steinhäuser hier nicht am Platz sind. Unter einer Amoktat verstehe ich daherexzessive Gewalttaten,„beidenen in der Regel[scheinbar wahllos]Menschen umgebracht oder verletzt werden und der oder die Täter dabei den eigenen Tod billigend in Kauf nehmen oder sich hinter- her selbst töten“(ebd.; Klammer: F.B.).
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meine Ratlosigkeit nicht mit voreiligen Erklärungen zu überspielen versuchen, um sich stattdessen Zeit für die Trauer um die Opfer zu nehmen (vgl. HUISKEN 2002: 125), folgte die übliche Mischung aus ferndiagnostischen Expertisen, Spekulationen über mögliche Motive des Täters und Erklärungsversuchen auf unterschiedlichem Niveau, der Schultragödie auf den Fuß. Generelles Kennzeichen der verschiedenen Deutungen der Tat, ist die Subsumtion des ‚Falls’ Robert Steinhäuser unter die jeweiligen wissenschaftlichen bzw. alltäglichen Theorien. Eine eigene Erörterung des Falls findet dagegen kaum statt.
Schnell waren die ‚üblichen Verdächtigungen’ bei der Hand, wie sie schon aus der Jugendgewaltdebatte bekannt waren: Die erste Abteilung von Reaktion betrachtet den Amoklauf als ein unerklärliches, singuläres Phänomen, das einer wissenschaftlichen Aufhellung weder bedürftig noch zugänglich sei. Der zweite Typ von Erklärungsmustern bezieht sich auf die Frage der medialen Gewalt und sieht in Robert Steinhäuser ein Opfer eines ausufernden Medienkonsums und zunehmend brutaler werdenden Gewaltdarstellungen in den Medien. Ein drittes Erklärungsmuster beschäftigt sich mit der seelischen Verfassung des Täters, der sich in die Scheinwelt seiner Computerspiele zurückgezogen habe. Er habe getrennt von der Realität in seiner eigenen Welt gelebt. Seine Wahrnehmung sei also der Wirklichkeit nicht angemessen gewesen, auch gerade seine Wahrnehmung der Schulwirklichkeit sei als irrational zu bezeichnen und habe keinen Realitätsgehalt gehabt. Die diagnostizierte ‚Verrücktheit’ des Täters korrespondiert dann wiederum mit der mit Bundespräsident Johannes Rau verordneten Fassungslosigkeit, da der Amoklauf hier seinen Referenzpunkt nicht in der außerindividuellen Realität hat, sondern zirkulär in dem ‚geschlossenen System’ Robert Steinhäuser.
Allerdings werden nichtnurdie bekannten Erklärungsversuche wieder in Anschlag gebracht, da sich in der Debatte um den Amoklauf von Erfurt etwas Neues feststellen lässt. Im Gegensatz zu früheren Diskussionen gerät hier das Schulwesen selbst, also nicht nur das Erfurter Gymnasium, die Schulleitung oder die thüringische Schulpolitik, sondern das deutsche Schulsystem als solches, in den Fokus der Aufmerksamkeit. Eventuell lässt sich die Schulkritik vor dem Hintergrund der PISA-Debatte verstehen, wo das deutsche Schulsystem mit seinem hierarchisch gegliederten Sekundarbereich und dem extrem frühen Verteilen der Schüler auf die verschiedenen Schulformen schon einmal - zumindest bei korrekter Rezeption der Ergebnissein die Kritik geraten war. Die auf den ersten Blick außergewöhnlich radikal erscheinende Schulkritik, die sozusagen das deutsche Schulsystem fundamental einer kritischen Betrachtung unterzieht, bezieht sich größtenteils auf den Leistungsdruck, dem die Schüler ausgesetzt sind, und mit dem sie allein gelassen werden. Im Zuge dieser - neben den ‚üblichen Verdächtigen’bemerkenswerten Verallgemeinerung möglicher Ursachen für den Schüleramoklauf, die das gängige individuumszentrierte Paradigma überschreitet, wurden sogar Verhältnisse auf gesamtgesellschaftlicher Ebene in den Blickpunkt der Aufmerksamkeit gerückt. Sogar oder ausgerechnet von höchster politischer Stelle wurden gesellschaftliche Entwicklungen mit dem Amoklauf von Erfurt in Verbindung gebracht. Exemplarisch kann dafür die Aussage von Bundesinnenmi- nister Schily gelten, der in der ARD-Talkshow „Sabine Christiansen“ vom 28.04.2002, die
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Frage nach den Ursachen des Amoklauf auf gesamtgesellschaftlicher Ebene stellt: „ Ich glaube, wir sollten den Schock, den wir alle verspüren, auch dazu benutzen, einmal tiefer darüber nachzudenken, in welches Fahrwasser unsere Gesellschaft eigentlich geraten ist“. Die Debatte um den Amoklauf von Erfurt ist also erstaunlich breit. Es finden sich in ihr die üblichen Erklärungsmuster, die bei Erörterungen zum Thema ‚Jugendgewalt’ zu finden sind, wie auch bemerkenswert weitgehende Problematisierungen gesellschaftlicher Entwicklungen. Das macht m.E. den Erfurter Diskurs interessant. Sollte es etwas möglich sein, das der Erfurter Diskurs sogar grundlegende Gesellschaftskritik, die an die Wurzeln des Problems reicht, ermöglicht? Oder besteht der kritische Gehalt, die Tiefe der Analyse nur bei oberflächlicher Betrachtung und stellt sich im Nachhinein als bloße Rhetorik heraus? Diesen Fragen möchte ich in meiner Diplomarbeit nachgehen. Ich möchte in diesem Sinne untersuchen, welches kritische Potential in dem Diskurs enthalten ist bzw. welche Verkürzungen und Vereinseitigungen das jeweils Sagbare einschränken. Neutraler formuliert, geht es mir darum, herauszuarbeiten, welche Deutung der Schultragödie über den Diskurs transportiert wird, welches ‚Bild’ von diesem Ereignis, was den Tod von siebzehn Menschen zur Folge hatte, in der Öffentlichkeit erzeugt wird. Die Relevanz einer diskursanalytischen Untersuchung besteht darin, dass mit Diskursen nicht schlicht einfach Formen gesellschaftlicher Rede gemeint sind, sondern dass mit Diskursen positive Wahrheitsfunktionen konstituiert werden, wodurch festgelegt wird, in welcher Weise man selbstverständlich über ein Ereignis zu reden hat und auf welche nicht. Dadurch, dass die Machtbestimmtheit der Diskurse eine Definitionsmacht darüber einschließt, welche Redeweisen und Denkmöglichkeiten als wahr zugelassen werden oder als unwahr aus dem Sagbaren ausgeschlossen werden, üben sie Macht aus, da sie Wissen transportieren, das individuelles und kollektives Bewusstsein speist. Das jeweils Sagbare stellt dabei das Wissen bereit, auf dessen Grundlage individuelles und kollektives Handeln Wirklichkeit gestaltet. Kurz: Da Diskurse über die Konstitution des jeweils gültigen Wissens, auch bestimmte Praktiken nach sich ziehen, ist es nicht gleichgültig, welche Deutung des Amoklaufs von Erfurt über den Diskurs transportiert wird (s. Abb. unten). In Abhängigkeit davon, ob die Ursachenerforschung konsequent betrieben wird oder ob der Untersuchungsgegenstand selber nur in bestimmter Weise vorkommen darf und bestimmte Denkmöglichkeiten ausgeschlossen werden, wird es möglich sein, in Zukunft ähnliche Eskalationen, zu verhindern.
In der Debatte um den Amoklauf von Erfurt geht es also in erster Linie um die Frage nach dem ‚Warum?’. Dabei sind die einzelnen Erklärungsversuche zwar weniger als wirkliche Versuche einer Annäherung an das Tatgeschehen zu sehen, denn als Schuldzuweisungen, die jeweils Argumentetaktischbenutzen, statt unvoreingenommen zur Aufklärung des Geschehens beizutragen (vgl. HUISKEN 2002: 74f.), sie bilden aber dennoch die Grundlage für das Gerüst meiner Arbeit, da sie sozusagen die Haupterklärungsmuster darstellen. Diese kommen in unterschiedlichen Varianten vor, so dass ich die Hauptkapitel jeweils im Hinblick auf die einzelnen Erscheinungsformen der Hauptdeutungsmuster untergliedert habe.
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In Abschnitt II. beschreibe ich meine Untersuchungsmethode. Dieser Abschnitt ist in zwei Teile gegliedert: Im ersten allgemeinen Teil, versuchen ich zu begründen, warum m.E. ein diskursanalytisches Vorgehen einer ideologiekritischen Reflexion bedarf, im zweiten Teil, werden diese Überlegungen im Hinblick auf meine Fragestellung konkretisiert. Abschnitt III. stellt den eigentlichen Hauptteil meiner Arbeit dar. Dort analysiere ich den Diskursstrang um den Amoklauf von Erfurt und bewerte ihn kritisch bezüglich seines Erkenntnisgehaltes. Dabei bilden die drei Grunderklärungsmuster: die Rolle medialer Gewaltdarstellungen, die psychische Verfasstheit des Täters und die Bedeutungskonstellation Schule, die Grundlage für die Grobgliederung des Kapitels. Diese werden allerdings durchaus kontrovers diskutiert, so dass die spezifischen Ausprägungsformen der Erklärungsmuster die Basis für die nochmalige Untergliederung der drei Hauptthemen im Diskurs darstellen. Abschließend fasse ich - in Abschnitt IV. - die Ergebnisse aus der Analyse der Themen und Unterthemen des Diskurses zu einer Gesamtbeurteilung des Diskurses zusammen. Das verwendete Datenmaterial - die analysierten Artikel - sind in einem Verzeichnis in den Anhang gestellt worden. Dort findet sich auch eine kurze Auseinandersetzung mit HUISKENS (2002) Erfurt-Analyse, die bei der Verwertung seiner Überlegungen nicht ausbleiben konnte.
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A. Allgemeine Überlegungen: Diskursanalyse und/oder Ideologiekritik?
Im Folgenden wird es darum gehen, die methodische Grundlage dieser Arbeit zu beschreiben. Dabei werde ich mich mit zwei Konzepten auseinandersetzen, mit deren Hilfe ich den Erfurter Diskurs untersuchen möchte.
Die Auseinandersetzung mit dem öffentlichen Diskurs nach dem Erfurter Attentat, der so weite Kreise zog, setzt natürlich eine geeignete Methode voraus, mit der dieses diskursive Ereignis adäquat analysiert werden kann. Die Bezeichnung der öffentlichen Debatte als „Diskurs“ legt dabei schon eine „Diskursanalyse“ als Instrument nahe. Das Problem herbei ist, dass eine explizite Methode von Diskursanalyse mit der diskursive Formationen in bestimmten Gesellschaften systematisch zu analysieren wären, trotz der der empirischen Arbeiten Foucaults, nicht vor liegt (JÄGER 2001c: 111). Der Duisburger Germanist Siegfried JÄGER versucht diese Lücke zu schließen, indem er in seiner „Kritischen Diskursanalyse“ (KDA) den, meines Wissens, einzigen Ansatz vorlegt, der einen praktischen Leitfaden enthält, mit dem Diskursanalysen durchgeführt werden können. JÄGERS KDA war, in diesem Sinne, auch die Grundlage für zahlreiche diskursanalytische Untersuchungen, die sich in seinem Arbeitszusammenhang z.B. dem Themenbereich Rassismus in den Medien u.a.m., gewidmet haben.
Gleichzeitig geht es mir aber nicht nur um die entsprechende Analyse des Diskurses, sondern auch um eine ideologiekritische Auseinandersetzung mit den gewonnenen Daten. Der „Amoklauf von Erfurt“ ist als diskursives Ereignis deswegen sehr wichtig, weil es einen unheimlichen breiten Diskurs induziert hat, der sich in seiner kritischen Attitüde - zumindest auf den ersten Blick - von vorangegangen ähnlichen Diskurssträngen unterscheidet. Der Diskurs um das Erfurter Attentat richtet sich vornehmlich auf die Frage nach den Ursachen des Schulmassakers, um ähnliches in der Zukunft verhindern zu können. So steht auch im Zentrum meiner Arbeit, die Frage nach den angebotenen Erklärungsmustern und damit verbunden, die Untersuchung ihrer strategischen Funktion im Diskurs, sowie - in Abhängigkeit davon - ihre wissenschaftliche Stimmigkeit.
Wie in jedem anderen öffentlichen Diskurs, bzw. anderen Spezial- bzw. Alltagsdiskursen waren auch hier vielfältige ideologische, d.h. verkürzte und widersprüchliche Denkfiguren zu erwarten, deren Analyse eben die Strategien der unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen ans Licht bringen soll, durch die, statt der „kontinuierliche[n] Großzügigkeit des Sinns“ die „aufgezwungene Knappheit“ regiert (FOUCAULT 1996: 44). Das Ziel ist also, die impliziten und expliziten Deutungsmuster des Erfurter Attentats daraufhin zu untersuchen, inwieweit durch die jeweilige theoretische Fassung der Erklärungsversuche eine unverkürzte wissenschaftliche Durchdringung der Ereignisse behindert wird, indem genau die Denkfiguren benutzt werden,
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die den gesellschaftlichen Status quo durch Konfliktvermeidung mit den gesellschaftlich Herrschenden sichern sollen.
Bei der Suche nach einem Konzept von Ideologiekritik bin ich auf das Buch „Einführung in die Ideologiekritik von Gerhard HAUCK (1992) gestoßen. Deswegen stand für mich zunächst die Frage nach dem Verhältnis der beiden Konzepte zueinander im Vordergrund, also die Frage ob sie sich wechselseitig ergänzen könnten, sich ausschlössen oder miteinander zu verbinden wären.
Um die Methode der Diskursanalyse zu skizzieren, ist zunächst eine Klärung der Grundbegriffe sinnvoll, um so die Möglichkeiten und Ziele von Diskursanalyse - so wie sie JÄGER versteht - aufzuzeigen.
Der Diskursbegriff wird heute weitgehend inflationär benutzt. Es gibt kaum wissenschaftliche Theoriegebäude - zumindest in den Sozialwissenschaften - in denen nicht in irgendeiner Weise von Diskursen die Rede ist. Insofern ist der Diskursbegriff aus der akademischen Debatte kaum noch wegzudenken. Der Terminus Diskurs wird in diesen Zusammenhängen meist einfach synonym mit Rede bzw. Text gesetzt und ist größtenteils zu einem Modewort geworden (vgl. JÄGER 2001c: 120). Im Gegensatz zur dieser alltagssprachlichen Verwendung des Diskursbegriffs, bemüht sich JÄGER um die Begründung eines wissenschaftlichen Diskursbegriffs, der sich an FOUCAULT und LINK orientiert (ebd.).
M.E. sind zwei Punkte bei der Unterscheidung von Text und Diskurs bzw. Textanalyse und Diskursanalyse zentral: Zum einen wird bei einer Textanalyse der Sinn selbstreferentiell aus den Text selbst herausgedeutet, während aus diskursanalytischer Sicht die einzelnen Diskursfragmente (als thematisch einheitliche Textteile) als Bestandteile eines oder mehrerer Diskursstränge betrachtet werden, die zusammen den gesellschaftlichen Gesamtdiskurs bilden. Deswegen sind einzelne Texte auch als Spuren diskursiver Aktivität zu sehen, die also nur verständlich werden können, wenn sie als Teile vergangener und gegenwärtiger diskursiver Formationen betrachtet werden. Sprachliche Formanalyse ist zwar notwendiger Bestandteil von Diskursanalyse, da Diskursfragmente meist in sprachlicher Form vorliegen, wird aber erst dann zur Diskursanalyse, wenn Texte (besser: Diskursfragmente) als Bestandteile von Diskurssträngen aufgefasst werden, die den elementaren Gegenstand der Untersuchung ausmachen. Diskursanalyse zielt - um das schon vorwegzunehmen - auf die jeweiligen Diskursstränge und ihre Verschränkungen miteinander (vgl. ANGERMÜLLER 2001: 8, JÄGER 2001c: 119,158,173, JÄGER 2002a). Von strukturalistischen Zugängen grenzt sich Diskursanalyse insofern ab, als dass Texte als Produkte gesellschaftlicher Praxis gesehen werden, d.h. der Text nicht ausschließlich als isoliertes Produkt eines Autors gefasst wird. Und im Unterschied zu einer klassischen Hermeneutik, zielt diskursanalytisches Vorgehen - nach ANGERMÜLLER - „weniger auf den Inhalt, das letztlich Intendierte oder die Sinnsubstanz, als auf die Formen, Mechanismen und Regeln, durch die Text und Kontext diskursiv verknüpft sind.“ (ANGERMÜLLER 2001: 8). Ein zweiter zentraler Punkt für diesen Diskursbegriff ist die Charakterisierung von Diskur- sen als Materialitäten und damit Diskurstheorie als materialistische Kulturtheorie, die Diskurse
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als gesellschaftliche Produktionsmittel auffasst (JÄGER 2001c: 116,147), „da sie Wissen trans-portieren, das kollektives und individuelles Bewusstsein speist. Dieses zustande kommende Wissen ist die Grundlage für individuelles und kollektives Handeln und die Gestaltung von Wirklichkeit“ (JÄGER 2001b: 304). Damit wird der Diskurs von allen widerspiegelungstheoretischen Ansätzen unterschieden, die Diskurse lediglich als Ausdruck von Wirklichkeit sehen und damit vergessen, dass Diskurse gegenüber der Wirklichkeit ein Eigenleben führen, (JÄGER 2001c: 144) d.h., dass sie selber, vermittelt über die Tätigkeit der Subjekte, Wirklichkeit, durch Regulierung von Wissen und Bedeutungszuweisungen, produzieren:
„Diskurse sollen hier - vorläufig formuliert - als eine artikulatorische Praxis begriffen werden, die soziale Verhältnisse nicht passiv repräsentiert, sondern diese als Fluss von sozialen Wissensvorräten durch die Zeit aktiv konstituiert und organisiert. Diese Auffassung von Diskurs markiert einen entscheidenden Perspektivenwechsel gegenüber allen widerspiegelungstheoretischen argumentierenden sozial- und sprachwissenschaftlichen Ansätzen: Dem Diskurs wird damit ein völlig anderer Stellenwert beigemessen, da er selbst als gesellschaftliche und Gesellschaft bewegende Macht (Kraft, Power) verstanden wird.“ (ebd.: 23)
Damit bezieht sich JÄGER auf den an FOUCAULT angelehnten Diskursbegriff, der selber - so JÄGER - niemals im marxistischen Sinne ideologiekritisch argumentiert habe, sondern diskurs-theoretisch: „Diskurse repräsentieren die Wirklichkeit nicht, siekonstituierensie“ (ebd.: 23). Die aktiv gestaltende Macht der Diskurse wird von JÄGER insofern betont, als sie für das Verhältnis von Macht und Diskurs von Wichtigkeit sei:
„[…] ob ein Diskursfragment (oder Text) nur - wie auch immer verzerrt - einen Bereich der Wirklichkeit sprachlichausdrücktoder ob er Elemente enthält, die für die vergangene, gegenwärtige oder auch zukünftigeGestaltung von Wirklichkeitentscheidend sind, das macht einen Unterschied ums Ganze aus. Passiver Repräsentation steht aktiv gestaltende Macht gegenüber.“ (ebd.: 24)
„Diskurse üben als ´Träger´ von (jeweils gültigem) ´Wissen´ Macht aus; sie sind selbst ein Macht-faktor, indem sie geeignet sind, Verhalten und (andere) Diskurse zu induzieren. Sie tragen damit zur Strukturierung von Machtverhältnissen in einer Gesellschaft bei.“ (Jäger 2001b: 302)
Die These, dass Macht diskursiv (durch Ausschließungs- und Einschränkungsmechanismen des gesellschaftlich gültigen Wissens und generell durch Subjekt- und Gesellschaftskonstituierung (ebd.: 150)) durchgesetzt wird, veranschaulicht FOUCAULT (1996), indem er Diskurse nicht als Ausdruck geschichtlicher Kämpfe sieht, sondern als Kampf- bzw. Machtmittel selbst:
„[…] und der Diskurs - ist auch nicht bloß das, was die Kämpfe oder die Systeme der Beherrschung in Sprache übersetzt: er ist dasjenige, worum und womit man kämpft; er ist die Macht, deren man sich zu bemächtigen sucht.“ (1996: 11)
An anderer Stelle wird die obige Charakterisierung von Diskursen als eigenständige Materialitäten, die selber Wirklichkeit konstituieren, womit der Existenz einer prädiskursiven Wirklichkeit, die sich quasi „pur“ im Bewusstsein der Menschen ausdrückt, eine Absage erteilt wird, von FOUCAULT, wie folgt erläutert:
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„Der Diskurs ist nicht ein Spiel von vorgängigen Bedeutungen aufzulösen. Wir müssen uns nicht einbilden, dass uns die Welt ein lesbares Gesicht zuwendet, welches wir nur zu entziffern haben. Die Welt ist kein Komplize unserer Erkenntnis. Es gibt keine prädiskursive Vorsehung, welche uns geneigt macht. Man muss den Diskurs als eine Gewalt begreifen, die wir den Dingen antun; jedenfalls als eine Praxis, die wir ihnen aufzwingen.“ (ebd.: 34f.)
Die Charakterisierung von Diskursen als eigenständige Materialitäten fußt also darauf, dass sie Resultante des gesamtgesellschaftlichen Tuns der Subjekte sind und über Ausschließungsprozeduren bzw. Einschränkungsprozesse (vgl. FOUCAULT 1996) jeweils gültiges Wissen konstituieren, was vermittelt über das Bewusstsein der Subjekte und deren Handlungen, Wirklichkeit selber herstellt. In diesem Sinne definiert LINK Diskurs als: „ […] institutionalisierte, geregelte redeweisen, insofern, sie an handlungen gekoppelt sind und also machtwirkungen ausüben.“ (LINK, zit. n. JÄGER 2001c: 127; Kleinschreibung im Org.) Wie schon oben deutlich geworden ist, wird hier wieder darauf abgehoben, dass Diskurse nicht alsAusdruckgesellschaftlicher Praxis von Interesse sind, sondern weil sie dem Zweck dienen, Machtwirkungen auszuüben. Dies geschieht - nach LINK - eben dadurch, dass sie institutionalisiert und geregelt und an Handlungen gekoppelt sind (JÄGER 2001c: 128). JÄGER erweitert diese Definition, indem er den Diskurs von vornherein als geregelt begreift: „ Der Diskurs ist, ganz allgemein formuliert, ja nichts anderes als der ´Flussvon Wissen durch die Zeit´; und wenn dies so ist, dann ist davon auszugehen, dass der Diskurs immer schon mehr oder minder stark strukturiert und also ´fest´ und geregelt (im Sinne von konventionalisiert bzw. sozial verfestigt ist“ (ebd.: 129) Diskurse (s.o.) sind also mit Macht verknüpft aber auch mit Gegenmacht, hegemoniale Diskurse können kritisiert werden,
„[…] indem sie analysiert werden, ihre Widersprüche und ihr Verschweigen bzw. die Grenzen der durch die abgesteckten Sag- und Machbarkeitsfelder aufgezeigt werden, die Mittel deutlich gemacht werden, durch die die Akzeptanz nur zeitweilig gültiger Wahrheiten herbeigeführt werden soll - von angeblichen Wahrheiten also, die als rational, vernünftig oder gar als über allen Zweifel erhaben dargestellt werden soll.“ (JÄGER 2001b: 298f.)
Wenn die kritisch zu analysierenden Machtwirkungen dadurch ausgeübt werden, dass eine diskursive Formation, ein begrenztes positives Feld von Aussage-Häufungen, darstellt (JÄGER 2001c: 130, in Anlehnung an LINK), und umgekehrt dann andere mögliche Aussagen, Fragestellungen, Blickrichtungen usw. ausgeschlossen sind, dann hat Diskursanalyse folgerichtig die Aufgabe, eben diese Sagbarkeitsfelder sowie die entsprechenden Strategien, die das jeweils Sagbare und Nicht-Sagbare konstruieren, herauszuarbeiten:
„Diskursanalyse erfasst somit auch das jeweils Sagbare in seiner qualitativen Bandbreite bzw. alle Aussagen, die in einer bestimmten Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit geäußert werden (können), aber auch die Strategien, mit denen das Feld des Sagbaren ausgeweitet oder auch eingeengt wird, etwa Verleugnungsstrategien, Relativierungsstrategien etc.. Das Auftreten solcher Strategien verweist oft auf Aussagen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer bestimmten Gesellschaft nicht sagbar sind, da es besonderer ´Tricks´ bedarf, wenn man sie doch äußern will. Das Sagbar- keitsfeld kann durch direkte Verbote und Einschränkungen, Anspielungen, Implikate, explizite
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Tabuisierungen aber auch durch Konventionen, Verinnerlichungen, Bewusstseinregulierungen etc. eingeengt oder auch zu überschreiten versucht werden. Der Diskurs als ganzer ist die regulierende Instanz; er formiert Bewusstsein.“ (ebd.: 130)
Im Zentrum seiner KDA steht - so JÄGER - folglich die Frage, wie gesellschaftlich gültiges Wissen produziert, reproduziert und welche Auswirkungen dieses Wissen für die Konstituierung von Subjekten und die Gestaltung der Gesellschaft insgesamt hat. Mit Wissen sind alle Arten von Bewusstseinsinhalten gemeint bzw. die Bedeutungen, mit denen jeweils historische Menschen die sie umgebende Wirklichkeit deuten und gestalten (JÄGER 2001b: 297). Die gestalterische Kraft von Diskursen speist sich aus der Tatsache - so JÄGER - dass Menschen ihre Wirklichkeit auf dem Hintergrund von Bedeutungen bzw. des jeweiligen Wissens oder Unwissens verstünden und gestalteten (JÄGER 2002a). Die Wirklichkeit sei nur in der Form vorhanden, wie sie den, in die sozio-historischen Diskurse verstrickten Menschen, Bedeutung zugewiesen bekomme. Insofern sei auch keine Wirklichkeit außerhalb der diskursiven, denkbar (JÄGER 2002a). Diskursanalyse geht es i.d.S. „folglich auch nicht nur um Deutungen von etwas bereits vorhandenem, also nicht (nur) um die Analyse einer Bedeutungszuweisung post festum, sondern um die Analyse der Produktion von Wirklichkeit, die durch die Diskurse - vermittelt über die tätigen - Menschen geleistet wird“(JÄGER 2001b: 301).
Diskursanalyse beansprucht in diesem Zusammenhang politische Relevanz: JÄGER sieht in ihr ein Instrument gesellschaftlich reaktionäre Tendenzen zu kontakarieren (JÄGER 2002a). Die Deutungsmuster bzw. die Bedeutungszuweisungen in unserer Gesellschaft sind ja, wie oben schon dargestellt, - für JÄGER - nicht bloß unverbindliche symbolische Handlungen, sondern konstituieren subjektives Bewusstsein, was sich in entsprechenden Handlungen niederschlagen könne.2So könne z.B. die verwendete Kollektivsymbolik bei der rassistischen Darstellung von
2Hier taucht ein Problem auf, das sich durch viele Formulierung JÄGERS zieht: Subjekte werden grammatikalisch und auch inhaltlich als Objekte dargestellt. So ist oft von „Wirkung“ der Diskurse u.ä. die Rede, wobei natürlich - wie JÄGER an anderer Stelle betont - nur Subjekte handeln können. Allerdings wird so m.E. der Eindruck erweckt, als gäbe es eine Art Determinationszusammenhang zwischen dem Diskurs als ‚Über-Subjekt’ und dem Individuum als bloße ‚Knetmasse’. Sicherlich gibt es keine individuelle Subjektivität außerhalb von Gesellschaft, insofern auch nicht außerhalb von diskursiven Formationen, dennoch kann sich trotzdem jedes Subjekt - zumindest potentiell - bewusst zu die jeweiligen Diskursen verhalten; zumal ja kein gesamtgesellschaftlicher Diskurs in dem Sinne existiert, dass er als homogen zu bezeichnen wäre. Deswegen wäre es m.E. sinnvoller, davon zu sprechen, dass die Individuen in dem Maße an den Diskurse ‚weiterstricken’, wie sie sie als funktional im Sinne ihre subjektiven Lebensinteressen erfahren. Nach HOLZKAMP sind i.d.S. Diskurse „in ihrer den Individuen zugekehrten Seite als ‚gesellschaftliche Bedeutungsstrukturen’ aufzufassen - d.h. als bestimmte verallgemeinerte Handlungsmöglichkeiten und Handlungsbeschränkungen, die von Individuum übernommen, aber auch in bewusstem ‚Verhalten’ dazu reflektiert und verändert werden können“ (HOLZKAMP 1997: 288f.). Das Verhältnis Diskurs und Individuum stellt sich dann so dar: Diskurse als gesellschaftliche Bedeutungskonstellationen beinhalten Handlungsmöglichkeiten und Handlungsbeschränkungen, die als Prämissen in die interessen-fundierten Handlungsgründe der Individuen eingehen (vgl. ebd.). So haben z.B. institutionell-rassistische Diskurse die Funktion, die Prämissenlage so einzuschränken (‚Ausländer leben auf unsere Kosten’), dass die Begründungsmuster individueller Handlungen im Sinne herrschender gesellschaftlicher Interessen beeinflusst werden (vgl. ebd.: 294).
Die Rede von ‚Wirkungen’ ist auch deshalb problematisch, weil eine Diskursanalyse, die z.B. Diskurse in den Printmedien zum Gegenstand hat, sich auf einergesellschaftlichenEbene bewegt (wenn sie Aussagen über den gesamten Mediendiskurs machen will) und nicht auf der Ebene individueller Subjektivität. In-
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Einwanderern als „Fluten“, „Läuse“ oder sogar als „Schweine“ durchaus dazu führen, dass viele Menschen entsprechende Bedeutungszuweisungen vornähmen, wodurch die Ausländer wirklich als „Fluten“ gesehen würden, die man abwehren müsse oder als „Laus“ bzw. „Schwein“, dass man zerquetschen oder abschlachten müsse (JÄGER 2002a).3Insofern wird Diskursanalyse als genuinpolitischerAnsatz verstanden,
„weil er politische Mittel gegen undemokratische Entwicklungen bereitstellt; weil er das Gefühl der Ohnmacht gegenüber der Herrschaft der harten Fakten und der harten Männer, der Gewalt der Durchkapitalisierung und Instrumentalisierung unseres Alltags und unserer Lebensbedingungen abbauen kann und einem fatalistischen oder zumindest resignativen Gefühl Paroli bieten kann, das dazu beiträgt, einer heute herrschenden Elite von Dummköpfen und Reaktionären den politischen Durchmarsch zu gestatten.“ (JÄGER 2002a)
In diesem Sinne hat Diskursanalyse eine praktische Relevanz, weil sie die entsprechenden Mittel bereitstellt, um zu zeigen, dass politische Perspektivveränderungen nötig und möglich sind und so in politische Prozesse eingreifen kann (JÄGER 2002a). Dies geschieht auch dadurch, dass Diskursanalyse herausarbeitet, was sagbar und nicht sagbar sei (Sagbarkeitsfeld, s.o.) und deshalb Vorstellungen, die eine Lösung von Problemen verhindern, herausstellen und bearbeiten könne (JÄGER 2002b).
Zusammengefasst zielt JÄGERS Interesse auf den Zusammenhang von Gesellschaft, Individuum und Sprache (JÄGER 2001c: 12). Im Unterschied zu bloßen Auseinandersetzungen mit FOUCAULTS Diskurstheorie geht es JÄGER darüber hinaus um die Entwicklung von „Grundla-gen[…]für einVerfahrender Diskursanalyse, mit dessen Hilfe empirische Arbeiten durchge-wieweitIndividuen, die diskursiven Elemente für sich als Handlungsprämissen akzentuieren, ist empirisch offen und im Rahmen einer solchen Untersuchung nicht zu beantworten.
3Obwohl JÄGER sich explizit gegen sprachmagische bzw. idealistische Missverständnisse ausspricht, d.h. gegen die Vorstellung, dass Sprache selber Wirklichkeit verändern könne bzw. Wirklichkeit nur über Diskurse hergestellt werde (obwohl er auch dort widersprüchlich argumentiert), erwecken solche Formulierungen den Anschein, als seien Individuen quasi grundlos bzw. durch fortlaufende Verabreichung von Inhalten, Symbolen und Strategien (vgl. JÄGER 2001c: 169f.) dazu motiviert, z.B. ausländerfeindliche Symbolik zu verinnerlichen. Allerdings bleibt dann die Frage offen, wieso manche sich von rassistischen Diskursen beeinflussen lassen und andere nicht. Wie schon in der obigen Fußnote angesprochen, besteht prinzipiell die Möglichkeit sich bewusst zu z.B. ausländerfeindlichen Diskursen zu verhalten und die angebotenen Prämissen zurückzuweisen. JÄGER selbst, ist das beste Beispiel dafür, dass ohne eine Distanzierungsmöglichkeit von Diskursen bzw. Auswahlmöglichkeit zwischen mehreren Diskursen für je meine Handlungsbegründungen, eine kritische Analyse gar nicht denkbar ist. Wenn man also die Akzeptanz von ausländerfeindlichen Diskursen nicht tautologisch aus sich selbst heraus erklären will - die Menschen akzeptieren diese Kollektivsymbolik und die damit verbundene Sichtweise, weil sie gelernt haben, sie zu akzeptieren - muss man die subjektive Grundlage der Wirkmächtigkeit solcher Diskurse analysieren. Nach OSTERKAMP wurzelt die subjektive Grundlage für die Akzeptanz rassistischen Gedankenguts in der Angst, durch die gesellschaftliche Entwicklung - gerade in Krisenzeiten - überrollt, ins Abseits gedrängt zu werden. Das Deutungsangebot die Ausländer als „Flut“ wahrzunehmen, biete eben die Möglichkeit, die wirklichen gesellschaftlichen Ursachen von z.B. wirtschaftlicher Krise zu verdrängen und nach der Logik des geringsten Widerstandes, den Konflikt mit den Herrschenden zu vermeiden, um ihn anderer Stelle auf Kosten der jeweils Schwächeren (vermeintlich) zu lösen (vgl. OSTERKAMP 1991: 53). Insofern wirken JÄGERS Formulierungen, gerade da, wo es um ‚Wirkungen’ von Diskursen geht, doch wieder idealistisch, da das Bewusstsein nicht in Auseinandersetzung mit dem je konkreten Sein steht, also mit den jeweiligen gesellschaftlichen Lebensbedingungen, sondern unabhängig davon, einfach schon deshalb von Diskursen konstituiert wird, weil es sie gibt. Warum aber gerade spezielle Diskurse zu bestimmten Zeiten hegemonial sind und andere nicht, bleibt dabei unbeantwortet.
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führt werden können“ (ebd.: 120). In diesem Sinne soll seine KDA, geeignete Beschreibungs-und Materialaufbereitungsverfahren für die empirische Analyse von Texten und Diskursen bereitstellen, um Hilfestellung für Bearbeitung „brisanter Themen“ zu geben, was letztendlich dem Ziel diene, „Möglichkeiten dafür zu eruieren, wie die Kunst zu erwerben ist, - wie Michel FOUCAULT sagt - ´nicht dermaßen regiert zu werden´“ (ebd.:9). JÄGER weist ausdrücklich darauf hin, dass sein vorgeschlagenes Verfahren als Bereitstellung einer „Werkzeugkiste“ zu sehen sei, „mit der man durchaus kreativ und eigenständig umgehen solle“ (ebd.: 121). Zunächst wird Diskursanalyse also als ein ausschließlich beschreibendes Verfahren gekennzeichnet, das außer der Darstellung von Sachverhalten nichts weiter leisten könne (ebd.: 222). Allerdings enthält Diskursanalyse - nach JÄGER - schon per se ein kritisches Moment, da bereits die Beschreibung von Diskursen, durch das Aufzeigen der Mittel, mit denen Wahrheit produziert wird bzw. die Beschreibung der Wahrheiten selbst, aufzeigt, in wessen Interesse, welche Wahrheiten diskursiv transportiert werden (ebd.: 223). So geht es nicht darum, Diskurse (s.o.) alsAusdruckvon etwas zu sehen, kritisch wird Diskursanalyse dann, wenn die herausgearbeiteten Sachverhalte,kritisiertundbewertetwerden, um Widerstand dagegen zu leisten, „dermaßen regiert zu werden“.
Noch einmal zusammengefasst, meint Diskursanalyse die Beschreibung der analysierten Diskursstränge. Aber erst wenn die gefundenen diskursiven Sachverhalte wohlbegründet bewertet und kritisiert werden, wird Diskursanalyse zu Kritischer Diskursanalyse (ebd.: 224). Allerdings taucht an diesem Punkt ein Problem auf, da JÄGER Möglichkeiten der Kritik aufzeigen will, ohne sich dabei auf ‚irgendwelche Wahrheiten’ zu berufen (ebd.: 173). So stellt sich natürlich der Frage, was denn dann der Maßstab der Kritik sein kann, wenn es nicht mehr um den Aufweis der inhaltlichen Falschheit des dargestellten Wissens geht. Diese Frage, die untrennbar mit der Frage nach Wahrheit verbunden ist, beantwortet JÄGER so, dass Wahrheit kein wissenschaftsinternes Problem sei, sondern ein gesellschaftlich humanes. Der Maßstab lautet dann folgerichtig: Sind die herrschenden Normen und Gültigkeiten, die in den jeweiligen Gesellschaften hegemonial sind, dem Dasein der Menschen und jedes Individuums dienlich oder eher abträglich (ebd.: 227f.). Dementsprechend ist der Fluchtpunkt der Kritik - so JÄGERdas Bild eines allgemeinen universalen Menschen, den es so zwar nicht gäbe, aber jede spezifische Moral bezöge sich auf eine allgemeine Moral in der jeweiligen Gesellschaft. Deswegen sei es die Aufgabe von Diskursanalyse, herauszuarbeiten, ob die faktisch gültige Moral mit den moralischen Ansprüchen der Gesellschaft übereinstimme oder nicht und in welchem Interesse sie als Wahrheit gehandelt werde (ebd.: 230). So erschließt sich der Maßstab der Kritik nicht aus einem gesellschaftlichen Standpunkt, nämlich dem der Beherrschten, weil nur sie an der Aufdeckung „brisanter Sachverhalte“ interessiert sein können, sondern aus der moralisch richtigen Entscheidung für die Position der Unterdrückten. So definiert JÄGER, Kritik dann gerade nicht als gedankliches Tun, das Wahrheit beanspruchen könne, sondern als eine „´Haltung´, eine ´Tugend´ ein ´Ethos´ […]“ (ebd.: 225). Maßstab der Kritik ist also eine allgemein menschliche Moral, die im Sinne aller ist. Was allerdings Inhalt solcher Normen ist, die alle Menschen unter-
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schreiben könnten, könne nur friedlich unter den Menschen ausgehandelt werden, indem man sich auf diese diskursiven Kämpfe einlasse (ebd.: 228). In Anlehnung an FOUCAULT zielt Diskursanalyse - nach JÄGER - auf die Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen. „Ihre Resultate, ebenso wie eingenommene Standpunkte und Haltungen aber sind Mittel, mit denen jede/r sich auf die diskursiven Auseinandersetzungen einlassen kann“ (ebd.: 234). Wenn Diskursanalyse über die Analyse das Sagbarkeitsfeldes, das jeweils gültige Wissen herausarbeitet, mit dem sich Menschen deutend auf Wirklichkeit beziehen, stellt sich die Frage, wie denn das Nicht-Sagbare sagbar gemacht werden kann. Mit dem Nicht-Sagbaren sind ja nicht nur z.B. Umkehrschlüsse bzw. Negationen von Aussagen gemeint, die dann dazu dienen könnten, Implikate deutlich zu machen (z.B. ob das halbgefüllte Glas als halbleer oder halbvoll bezeichnet wird), sondern Wissen, das dem jeweiligen Diskurs selber gar nicht zu entnehmen ist, da es aus dem Sagbarkeitsfeld ausgeschlossen ist.
Der Widerspruch lässt sich m.E. nur auflösen, indem das Nicht-Sagbare vor dem Hinter-grund solcher wissenschaftlichen Ansätze reflektiert wird, die das Nicht-Sagbare sagbar machen können. Das Wissen, das jeweils ‚unter den Tisch fällt’ lässt sich nur anhand des Vergleichs mit seinem Gegenteil identifizieren. Woher soll sonst die Erkenntnis über das Nicht-Sagbare stammen? Insofern ist ein Vergleichsmaßstab notwendig, der nicht, unter den zu herauszuarbeitenden Verkürzungen leidet.4Woher soll aber eine entsprechend unverkürzte Argumentation stammen, die eben nicht aufgrund von Herrschaftsinteressen, von gesellschaftlichen Widersprüchen abstrahiert? Die Möglichkeit das Nicht-Sagbare zu sagen, setzt doch diskursive Zusammenhänge voraus, die nicht in dem Maße von gesellschaftlichen Herrschaftseinflüssen bzw. -interessen, die JÄGER selber für das Resultat von Diskursverläufen verantwortlich macht (ebd.: 223), kontaminiert sind.
Die Analyse, inwieweit Wahrheit als diskursiver Effekt durch Herrschaftseinflüsse konstruiert wird, ist die grundlegende Aufgabe von Konzepten wie Ideologiekritik. So fasst HAUCK (1992) sein Ideologiekritikkonzept so zusammen, dass ‚Wahrheit der Sieg des besseren Argu-
4Soarbeitet z.B. HOLZKAMP (1997: 300-341)vor dem Hintergrund des Ansatzes der Kritischen Psychologie heraus,dass im psychoanalytischen Rassismusdiskurs, Rassismus nur als individual-pathologisches Phänomen diskutierbar sei. Es bliebe so ausgeblendet, das Rassismus nicht Ausfluss individueller Aggressivität sei, sondern das für Individuen in widersprüchlichen gesellschaftlichen Lebenslagen staatlichrassistische Bestechungsangebote zu Prämissen werden könnten, je nach dem, ob sie als im subjektiven Lebensinteresse liegend betrachtet würden oder ob die Individuen ihre kurzfristige Privilegierung auf Kosten anderer wegen der darin liegenden Selbstentmächtigung, nicht in ihrem Lebensinteresse aufgehoben sähen. Rassistische Handlungen von Individuen seien daher, von deren Standpunkt aus, als in ihrem Lebensinteresse begründet anzusehen. Die Prämissenlage sei dabei insofern widersprüchlich, als das rassistisch handelnde Individuum um der Sicherung kurzfristiger Vorteile willen, möglicherweise seine langfristigen Lebensinteressen dadurch verletze, dass es seine eigene Machtlosigkeit gegenüber den herrschenden Verhältnissen durch Akzeptanz des ‚Teile-und-Herrsche’-Prinzips verstärke, und damit die allgemeine Ausbeutung in der Klassengesellschaft festige. So wird dann der psychoanalytische Rassismusdiskurs als Konfliktvermeidungsstrategie mit den Herrschenden charakterisiert, weil er selber Konflikte abwehre. So handele es sich bei Rassismus nicht um Projektion von frühkindlichen Konfliktkonstellationen und der daraus erwachsenen Aggressivität in die Gegenwart, sondern umgekehrt würden die, aus der gegenwärtigen Situation (den gesellschaftlichen Widerspruchsverhältnissen) entstandenen Aggressionen, in die Vergangenheit verlagert, was entsprechend den Vorteil habe, sich nicht mit gesellschaftlichen Konflikten auseinander setzen zu müssen.
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ments’ sei, während Ideologie „auf die kürzeste Formel gebracht, der Sieg der Herrschaft im Diskurs [sei]“ (1992: 132). Mit dem Ideologiebegriff untrennbar verbunden ist der Ideologie-vorwurf,d.h.die Behauptung der inhaltlichen Falschheit des ideologischen Denkens. Hierbei geht es nicht nur um die Falschheit von Einzelaussagen, sondern auch darum, dass diese unter-einander verknüpft sind und so ein verzerrtes Gesamtbild ergeben, was die Unabänderlichkeit der herrschenden Verhältnisse behauptet (vgl. die Funktion des gesamtgesellschaftlichen Diskurses). Allerdings beinhaltet Ideologiekritik - nach HAUCK - nicht nur die Frage nach Wahrheit oder Falschheit im strikt empirischen Sinn, sondern auch das Aufzeigen der immanenten Widersprüche oder Tautologien, die vorgeben, Aussagen über Realität treffen zu können. Auch damit könne Realität verschleiert werden. Dies mache auch einen großen Teil von ideologiekritischer Arbeit aus; die inneren Widersprüche einer Theorie durch interessierte Blindheit aufzuzeigen, sei eines der gängigsten Mittel einer ideologischen Auseinandersetzung (ebd.: 117). Die Behauptung der inhaltlichen Falschheit muss aber - in diesem Zusammenhang - nicht für sich selber den Anspruch haben, selbst im Besitz einer absoluten und ewigen Wahrheit zu sein. Wahrheit beansprucht nur, die besseren Argumente zu haben, die jeder, nach ernsthafter Prüfung anerkennen müsse. Der Wahrheitsanspruch beinhaltet, dass alle ernsthaften Zweifel, d.h. alle Gegenargumente ausgeräumt sind, die tatsächlich zu dieser Zeit existent sind; alle möglichen Zweifel auszuräumen sei dabei ein Ding der Unmöglichkeit, was nicht von Menschen geleistet werden könne. Erst wenn neue Zweifel auftauchen, müsse deswegen die Frage nach Wahrheit neu diskutiert werden (ebd.: 119).
So gesehen ist die Kritik am Wahrheitsanspruch der Ideologiekritik, von diskursanalytischer Seite nicht wirklich treffend. Dass Wahrheiten diskursive Effekte sind, die durch die jeweiligen Ausschließungs- und Einschränkungsmechanismen gesellschaftlich gültigen Charakter bekommen, ist dabei m.E. unstrittig. Auch das diese Wahrheiten im Plural existieren, also parallel immer mehrere Deutungsmuster von Wirklichkeit miteinander konkurrieren und Wahrheiten „veralten“ können, ist im Allgemeinen kein Streitpunkt. Allerdings wird m.E. ein Wahrheitsbegriff bzw. Wahrheitsanspruch damit nicht obsolet. Gerade wenn Wahrheit untrennbar mit Macht verbunden ist und mehrere Wahrheiten nebeneinander existieren können, obwohl sie sich teilweise widersprechen, wäre doch daraus zu folgern, eben Wahrheit so zu definieren, dass Wahrheit das ist, was in einem idealtypisch vorgestellten herrschaftsfreien Diskurs5, der nicht von partikularen Interessen durchsetzt ist, also dem besseren Argument folgen kann, als wahr ausgehandelt werden kann. Zumal auch JÄGER letztlich wieder bei einem herrschaftsfreien Diskurs landet, da sein Fluchtpunkt der Kritik ja eine universelle Moral darstellt, die aber auch frei ausgehandelt werden müsse (s.o.), also gerade solche Bedingungen voraussetzt, dass sich ein Allgemeininteresse durchsetzen kann, was nur insofern denkbar ist, als das diese Aushandlungsprozesse eben nicht durch partikulare Herrschaftsinteressen verunmöglicht werden.
5Ich möchte hier nicht zwei unterschiedliche Diskursbegriffe - von Habermas bzw. Foucault - miteinander vermischen. Nützlich ist es aber - aus ideologiekritischer Sicht - das idealtypisches Kriterium „Herrschaftsfreiheit“ als Hinweis oder Unterscheidungsmöglichkeit von ideologischen (im herrschaftslegiti- mierenden Sinn) und weniger ideologischen Diskursen zu verwenden.
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