Der Aufbruch - Carsten Stroud - E-Book
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Der Aufbruch E-Book

Carsten Stroud

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Beschreibung

»Genial, das Beste hat er sich bis zum Schluss aufgehoben.« STEPHEN KING Niceville, im Süden der USA: An einem Wochenende kommt es zu mehreren brutalen Morden – verübt von unbescholtenen Bürgern. Die Täter berichten von einer mysteriösen Stimme, die sie angestachelt habe. Ermittler Nick Kavanaugh ist aufs Äußerste gefordert. Und zu allem Übel scheint sein Adoptivsohn Rainey in die Ereignisse verstrickt. Aber was ist der eigentliche Grund dafür, dass sich in Niceville immer mehr Menschen in eiskalte Killer verwandeln? Der Schlüssel zu allem liegt in der mit pechschwarzem Wasser gefüllten Senke am Rande der Stadt. Und während Nick und seine Helfer versuchen, das Böse zurückzudrängen, hat es sich längst in den Köpfen der Menschen eingenistet. Ist es überhaupt noch aufzuhalten? ›Der Aufbruch‹ ist ein rasanter, sich über alle Genregrenzen hinwegsetzender Mix aus Hardboiled-Thriller, Mystery und Horror – hochgelobt vom großen Stephen King.

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Seitenzahl: 644

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»Carsten Strouds Niceville-Trilogie ist genial, und das Beste hat er sich bis zum Schluss aufgehoben. DER AUFBRUCH ist brillant geschrieben, eine geradezu hypnotische Lektüre. Das hier liest sich vielleicht wie ein Werbetext, aber das ist es nicht. Es ist ein aufrichtiger Fan-Brief. Ich mochte NICEVILLE. Aber erst bei DER RÜCKKEHR habe ich verstanden, was ich hier vor mit hatte. Die Action-Szenen sind großartig, und der Sound hat ein bisschen was von Chandler, ein bisschen was von Vonnegut und ist doch durch und durch Stroud. Ich hoffe sehr, dass diese drei Bände zusammen veröffentlicht werden, sodass die Leser deren volle Wucht spüren und die Vielfältigkeit des breiten Figurenensembles erleben können. Meiner Meinung nach hat NICEVILLE einen Platz verdient zwischen den großen Orten im Reich der Imagination wie Mittelerde, Narnia und Arkham. Ich bewundere die schiere Energie und die Reichweite des Ganzen. Außerdem gibt es diesen umfassenden, vergnügt-deftigen Humor, der für mich das Tüpfelchen auf dem i ist, und der die dunkle Seite von Abel Teague und Konsorten aufbricht. NICEVILLE überquert mit einer Selbstverständlichkeit Genre-Grenzen, springt über diese Kluft, die unbedeutendere Autoren verschluckt, wie ein fettes Motorrad über umgestürzte Bäume. Es gibt wirklich nichts Vergleichbares, und mir bleibt nichts zu sagen außer Bravo. Also: Bravo!

Steven King

PS: Ich mag Rainey Teague immer noch nicht. Und vertraue ihm schon gar nicht.«

Die Niceville-Trilogie

Niceville. Eine Kleinstadt im Süden der USA. Ein nicht enden wollender Fluch. Eine mit pechschwarzem Wasser gefüllte Senke, die über der Stadt thront. Menschen, die verschwinden. Andere, die zu Monstern mutieren. Und mittendrin Nick Kavanaugh, Ex-Militär und Ermittler, dessen Familie und gesamte Existenz bedroht wird, durch das Böse, das in Niceville schlummert. Wird es ihm gelingen, dem Spuk ein Ende zu bereiten? Ein rasanter Mix aus Hardboiled-Thriller, Fantasy und Horror – eine packende, sich über alle Genregrenzen hinwegsetzende Trilogie, hochgelobt vom großen Steven King.

Bereits lieferbar:

Band 1: Niceville

Band 2: Die Rückkehr

Band 3: Der Aufbruch (erscheint Anfang November)

Band 3: Der Aufbruch

In der südamerikanischen Kleinstadt Niceville geraten die Dinge vollends außer Kontrolle: An einem Wochenende finden zwei sadistische Massenmorde statt. Die Täter berichten von einer mysteriösen Stimme, die sie zu ihren Taten angestachelt habe. Sind sie besessen? Kommissar Nick Kavanaugh ist erst mal damit beschäftigt, seine Familie zusammenzuhalten, die vom Adoptivsohn Rainey tyrannisiert wird.

Derweil taumelt ein Halbtoter durch die Stadt und eine Frau versucht, Seelen zu ernten. Der Schlüssel zu allem scheint in der mit pechschwarzem Wasser gefüllten Senke am Rande der Stadt zu liegen. Als Nick dem heimtückischen leiblichen Vater Raineys begegnet, kommt er der Lösung auf die Spur …

Carsten Stroud

war Bootsbauer an der Baja California und Berufstaucher in der US Army. Er hielt sich in geheimer Mission in den gefährlichsten Gegenden der Dritten Welt auf. Er ist Journalist und preisgekrönter Sachbuchautor, seine Romane sind Bestseller in den USA.

Carsten Stroud hat drei erwachsene Kinder und lebt heute mit seiner Frau in Toronto. Sein erster ins Deutsche übersetzte Roman ›Niceville‹ erschien 2012 im DuMont Buchverlag, der Nachfolgeband ›Die Rückkehr‹ 2013.

Es geht weiter.

Band 3 der Niceville-Trilogie

Carsten Stroud

DER AUFBRUCH

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Daniel Hauptmann

eBook 2015 Die amerikanische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel ›The Reckoning‹ bei Vintage Books/Penguin Random House LLC, New York. © 2015 by Esprit D’Escalier © 2015 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln Alle Rechte vorbehalten Übersetzung: Daniel Hauptmann Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln Umschlagabbildung: © Eric Isselée – Fotolia.com eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

Der Dinge, welche am meisten fürs Vergessen geeignet sind, erinnern wir uns am besten.

Gracian (1647)

Ein grausamer Mensch weidet sich an Tränen, er wird nicht durch sie gebrochen.

Publilius Syrus (1.

Im Jahre 1814 versammelten sich die Einwohner von Niceville unter einem vollen Herbstmond am Ufer des Tulips, um über das Böse zu beratschlagen, das sich in ihrer Stadt ausgebreitet hatte, und um zu überlegen, was dagegen unternommen werden konnte.

Der Pfarrer Amity Suggs war der Ansicht, man habe es mit dem heiligen Zorn Gottes zu tun. Doktor Cullen glaubte, es müsse etwas mit dem Trinkwasser nicht stimmen. Der eher hellhäutige Schwarze John Brass erklärte, dass schon immer eine Kalona Ayeliski, eine Rabenspötter-Dämonin, an diesem Ort hauste, und man die Stadt daher verlassen sollte. So ging die Debatte lange Zeit hin und her.

Letztlich verkündete der Ältestenrat, woran man sich halten sollte: „Gott wird die Rechtschaffenen schützen. Sünder werden bestraft. Gehet christlich eurer täglichen Arbeit nach und lasset die heidnischen Nächte vorüberziehen.“ Über zweihundert Jahre lang hielt dieser Pakt.

Dann, in einer verregneten Freitagnacht im Oktober, brach die Hölle los.

* * *

Am Freitag, um halb zehn Uhr abends, befand sich die gesamte Familie Morrison wohlbehütet in ihrem weißen, stuckverzierten Heim in 1329 Palisade Drive in den Glades. Die Glades waren ein kurz nach dem Zweiten Weltkrieg errichtetes Art-déco-Viertel im Nordwesten von Niceville. Anfangs lag ein Hauch des Alten Hollywoods über dem Viertel, aber mit den Jahren wurde es lediglich immer älter.

Die kurvigen, schattigen Straßen in den Glades waren von Palmen, Zypressen und Virginiaeichen gesäumt. Der strömende Regen verlieh sämtlichen Straßenlaternen einen dunstigen Heiligenschein und prasselte auf die roten Ziegeldächer der Häuser nieder. Die Abflussrinnen der Straßen quollen beinahe über vor Herbstlaub und Schlammwasser. Dichter Nebel zog durch die Bäume. In der warmen Luft lag der schwere Friedhofsgeruch von feuchter Erde.

Im Inneren des Hauses der Morrisons herrschte eine friedliche, gemütliche Stimmung. Das Abendessen war eingenommen, der Tag klang ruhig aus. Doug, das Familienoberhaupt, war ein kleiner, rundlicher Mann mit freundlichen Gesichtszügen, der als forensischer Techniker bei der Polizei von Niceville arbeitete. Ellen, die Mutter, arbeitete als Krankenschwester auf der Säuglingsstation im »Our Lady of Sorrows«-Krankenhaus in Cap City. Jared, der dünne elfjährige Sohn mit seinen großen Ohren und zotteligem braunem Haar, lag bäuchlings vor dem 52-Zoll-Samsung-Fernseher. Auf seinem Rücken machte es sich eine übergroße und übergewichtige Maine-Coon-Katze namens Mildred Pierce bequem, die wie ein feinjustierter Motor schnurrte.

Und Ava, die fünfzehnjährige Tochter, beugte sich in ihrem zartrosafarbenem Kinderzimmer bei verschlossener Tür über ihren iMac und skypte mit Julia, ihrer allerbesten Freundin auf der ganzen Welt, mit der sie schadenfroh kichernd über die neue Mitschülerin in ihrer Klasse an der Sacred-Heart-Highschool herzog.

Neben ihrem schwarzen Haar und blauen Augen besaß Ava einen Körper, den ein liebender Gott einem 15-jährigen Mädchen niemals anvertraut hätte und dessen machtvoller Wirkung sie sich nur vage bewusst war. Sie gehörte zur Cheerleader-Truppe der Sacred Heart und liebte es, die gegnerischen Spieler sonntagnachmittags bei Footballspielen zu verspotten. An Werktagen fuhr sie mit ihren Freundinnen nach der Schule in die Innenstadt, wo die Mädchen in den marineblauen Röcken ihrer Sacred-Heart-Schuluniform und ihren scharlachroten Blazern mit dem Schulwappen entweder durch die Galleria Mall bummelten oder mit der Peachtree-Straßenbahn durch die Gegend fuhren. Sobald sie das Schulgelände verließen, zogen sie die Röcke weit nach oben und zeigten ihre blässlichen Schenkel und Kniestrümpfe. Wenn sie sich hinsetzten, achteten sie absichtlich nicht auf die Position ihrer Beine und spürten und genossen jeden einzelnen missbilligenden Blick. »Na ja, das machen alle so, oder nicht?«, hätte Ava erwidert, wenn man sie darauf angesprochen hätte, denn sie wusste rein gar nichts über die Gefahren, denen sie sich dadurch aussetzten.

Die Polizisten gingen davon aus, dass Ava vermutlich gar nicht gehört hatte, was im Erdgeschoss vor sich ging – das Läuten der Türklingel oder was auch immer es war –, denn sie saß oben in ihrem Zimmer, trug Kopfhörer und war mit ihrem Skype-Telefonat beschäftigt.

Unten im Erdgeschoss gab es jede Menge Hinweise darauf, was in jener Nacht geschehen war, angefangen in der Diele. Die Mitarbeiter der Spurensicherung waren sich ziemlich sicher, dass es hier begonnen hatte, als der Vater Doug die Tür geöffnet hatte.

Was auch immer es war, es hatte sich seinen Weg vom Eingangsbereich aus nach innen gebahnt und überall Spuren seiner Taten hinterlassen, an den Wänden, der Decke, dem Wohnzimmerteppich, der Treppe. Überall fanden sich Spuren, aber die schlimmsten waren im ersten Stock zu sehen, in Avas Zimmer.

* * *

Ab halb zehn Uhr abends verwandelte sich das Haus der Familie Morrison in den Glades in das reinste Fegefeuer. Da waren Schreie, Rufe, flehende Bitten, aber die Nachbarn hörten wegen des hämmernden Donners und des peitschenden Regens kein Wort. Aus diesem Grund konnten die Ereignisse im Haus die nächsten zweieinhalb Stunden ungestört stattfinden. Kurz nach Mitternacht wurden die Lichter ausgeschaltet und eine Art bestürzte Stille legte sich über 1329 Palisade Drive.

Wenige Minuten später erschien in der Tür neben der Garage eine schlurfende Gestalt, die einen grünen Müllbeutel trug, gemächlich die Einfahrt hinunter und dann unter den Bäumen weiter spazierte und dabei immer wieder in den Lichtkreis der Straßenlaternen trat. Die in einen dunkelgrauen Regenmantel gehüllte Gestalt erreichte das Ende des Blocks, trat nach links in die Finsternis und war verschwunden.

Fünf Minuten vergingen. Dann rollte ein marineblauer Cadillac Fleetwood über die Kreuzung Palisade Drive/Lanai Lane und zog einen Schleier Regenwasser hinter sich her. Der Caddy erreichte die Ampelanlage an der River Road, überquerte die Kreuzung bei Rot – was ordnungsgemäß von einem Blitzer aufgenommen wurde –, beschleunigte dann Richtung Südosten und tauchte im Verkehr auf der River Road stadtauswärts unter, ein leuchtend blaues Ungetüm, das in den Straßenlichtern glitzerte, mit schwarz getönten Scheiben und einem hell erleuchteten Armaturenbrett, das das Gesicht des Fahrers beleuchtete. Mit bebender Brust und den wuchtigen Hände in der Zehn-vor-Zwei-Stellung auf dem schwarzen Lederlenkrad ruhend, ließ er die Glades Richtung Süden hinter sich, so schnell der Caddy nur fahren konnte.

Steig niemals aus dem Wagen aus

0:55Uhr in derselben Nacht.

Unten in Tin Town fuhr der Streifenwagen eines Staff Sergeants mit dreißig Dienstjahren – sein Name war Frank Barbetta – die Miracle Mile entlang, Tin Towns Hauptstraße.

Tin Town war für Niceville das, was Compton für Los Angeles oder die South Side für Chicago darstellte. Die Miracle Mile wurde so genannt, weil es, sollte man je versuchen, nach Mitternacht an ihr entlang zu spazieren, an ein Wunder grenzte, wenn man eine Meile weit kam. Die Einwohner Tin Towns nannten sie nur The Mile.

Frank Barbetta war ein liebenswerter, aber zäher Cop, der auf der Mile den Ruf als fairer und sympathischer Polizist genoss, der nicht leicht zu reizen war, niemals seine Waffe ziehen musste, in dreißig Jahren niemanden erschossen hatte und lediglich sein Gehirn, Muskeln und gelegentlich einen in der Nähe stehenden Stuhl einsetzte, um Konfliktsituationen unter Kontrolle zu bringen. Kurzum, ein traditioneller Revierbulle, der niemandem die Seele aus dem Leib prügeln würde, der nicht zuvor inständig darum gebettelt hatte.

In Tin Town betrachtete man ihn als eine Art Wyatt Earp. Er war jemand, der genau wusste, dass die Nutten, Junkies, Biker, Idioten und Gauner alle zum Stadtbild gehörten und demnach zu den Bürgern zählten, die es zu beschützen und zu versorgen galt. Im Grunde entsprach dies der Wahrheit.

Kurz gesagt kam sich Frank Barbetta in jener verregneten Freitagnacht wie ein gütiger Gott in seinem persönlichen Himmelsreich vor, der mit der Welt im Reinen war. Eine Einstellung, von der das Schicksal magisch angezogen wird und über die es sich allzu gern köstlich amüsiert.

* * *

Tin Town war in gewisser Weise durch den Tulip entstanden. Breit und tief entsprang der Fluss aus der Belfair Range 90Meilen im Norden und wurde auf seinem Weg durch die weiten Grastäler immer stärker, bis er um die hohe Kalksteinwand, die den Nordosten der Stadt überragte, einen Bogen schlug und durch Nicevilles Zentrum knallte wie ein Interstate Highway.

Der Fluss musste allerdings eine scharfe Kurve um eine steinige Untiefe südlich der Armory Bridge machen. Hier strudelte und brauste das Wasser eine schlammige Ebene entlang, auf der ein Haufen Fischerhütten mit Wellblechdächern auf Pechkieferpfählen stand, die man ins Kiesbett gerammt hatte.

Rohrkolbengewächse und Sauergrashalme hingen über angespülten Müllbergen, Bierdosen und allerlei toten Dingen. Mindestens einmal wöchentlich verfing sich eine herrenlose Leiche in den Gräsern, ein aufgedunsener Körper mit blauer Haut, dessen Augen, Lippen und Ohren von den Karpfen im Fluss abgebissen worden waren. Aus den zylinderförmigen Kaminrohren auf den Dächern stieg Rauch auf und durch Fensterläden schien gelbliches Licht, das sich auf der Wasseroberfläche widerspiegelte. So wie die tin roofs, die Wellblechdächer, Tin Town seinen Namen verliehen, so verliehen die warmen Tage und frostigen Nächte der Stadt im Herbst ihre Nebel und Schleier.

Die Miracle Mile, die sich im regenüberströmten Fenster von Barbettas Streifenwagen spiegelte, war zu beiden Seiten mit von Maschendraht umzäunten, neonbeleuchteten Bikerbars, Tattoo-Studios und Billig-Discountern gesäumt. Es gab sechs verschiedene Läden mit vergitterten, kugelsicheren Fenstern, in denen man sich einen Kurzzeitkredit zu dreißig Prozent fälligen Zinsen pro Tag leihen oder einen fremden Ehering gegen Bares verpfänden konnte, vorausgesetzt, es steckte kein Finger mehr darin.

* * *

Ungefähr auf halber Strecke der Mile, zwischen einem Lebensmittelladen und einem Waschsalon mit Selbstbedienung, stand ein zehngeschossiges Sandsteinhotel mit aufgesprühten Gang-Graffitis an allen Außenwänden. Über dem Eingang hing ein Schild, auf dem in fetten, schwarzen Buchstaben stand:

NUR BARGELD, KEINE KREDITKARTEN!!!

KEINE ERMÄSSIGUNG FÜR RENTNER

SIE HATTEN DOPPELT SO VIEL ZEIT,

UM DAS VERDAMMTE GELD AUFZUTREIBEN!!!

An der bröckligen Ziegelfassade hing ein wie ein riesiges Kreuz geformtes Neonschild, das aus den Wörtern MountRoyal und Hotel bestand, wobei sich die Wörter im Buchstaben T überschnitten.

* * *

In Zimmer 304 des MountRoyal wohnte ein Mann, dem viel durch den Kopf ging. Er war groß und schlank, mit grobknochiger Statur, langem grauen Haar und einem Gesicht, das aussah, als sei es aus Sandstein gemeißelt, stand am Fenster und beobachtete den Streifenwagen aus Niceville, wie er nach Süden Richtung Flussbett fuhr. Die Nummer auf dem Dach verriet ihm, dass es sich um Frank Barbettas Wagen handeln musste. Der Mann am Hotelfenster kannte Barbetta aus längst vergangenen Tagen, als er selbst als Staff Sergeant für die State Troopers auf Streife gegangen war.

Gute Erinnerungen, zumindest die meisten, während manch andere besser vergraben blieben. Erinnerungen, wie sie ihm heute Nacht durch den Kopf gingen.

Wo war er mit seinen Gedanken?

Er konnte sich deutlich ans Türeneintreten, an Barschlägereien und an Verfolgungsjagden mit der Highway Patrol erinnern, an Autoüberschläge, verstümmelte Leichen und gelegentliche Schusswechsel. Er konnte sich an unzählige wilde Nächte erinnern, in denen er mit Jimmy Candles, Marty Coors und dem einzig wahren Coker die Gegend unsicher gemacht hatte; auch den Tod seiner Frau hatte er noch so klar vor Augen, als sei es erst gestern geschehen, und ebenso konnte er sich noch an alle möglichen Kleinkriege und Skandale und Eskapaden des typischen Polizistenlebens erinnern, das er über dreißig Jahre lang geführt hatte.

Aber all das gehörte der Vergangenheit an. Ihn beschlich das starke Gefühl, dass vor kurzem sehr viel geschehen war, lebensverändernde Ereignisse, aber als er versuchte, sich konkret vor Augen zu rufen, worum es sich handeln könnte, fiel es ihm nicht ein. Nichts bis zu dem Moment jetzt und hier, als er am Fenster in Zimmer 304 des MountRoyal-Hotels stand und Barbettas Streifenwagen die Mile entlang fahren sah. Nicht einmal bei seinem eigenen Namen war er sich nicht ganz sicher.

Auf jeden Fall trug er einen großen, goldenen Ring am rechten Mittelfinger, auf dem das Wappen des United States Marine Corps prangte. Außerdem hatte er eine prall gefüllte Brieftasche bei sich, mit knapp tausend Dollar in bar sowie einer blauen Bankkarte aus Plastik, auf der sowohl das Wort MONDEX als auch das Emblem einer Art Bank prangte, der PNG Bank.

In die Karte war ein Mikrochip integriert, aber der Mann hatte keine Ahnung, was zum Teufel eine MONDEX-Karte war oder wieso er eine besaß. Er müsste danach googlen.

Darüber hinaus fand sich ein Mitarbeiterausweis von Wells Fargo, auf dem ein Foto von ihm – ja, das war ganz sicher er – zu sehen war, und laut der Karte hieß er Charles Danziger. Des Weiteren steckte in der Brieftasche ein Führerschein mit einer Adresse, Rural Route 19 in Cullen County, und einem Bild, das ihm grob ähnelte, bloß wirkte es so, als hätte man es nach seinem Tod aufgenommen, denn er sah darauf verdammt krank und fahruntauglich aus.

Auf dem Führerschein stand ebenfalls, dass sein Name Charles Danziger lautete, und dass er bei Nachtfahrten Kontaktlinsen tragen musste.

Eine dritte Karte besagte, dass er ein voll zahlendes Mitglied des Retired State Patrol Officers Clubs für pensionierte Cops war und den Rang eines Staff Sergeants innehatte, und auf der Rückseite waren eine ganze Reihe von Auszeichnungen aufgelistet.

Der Mann begutachtete die verschiedenen offiziellen Plastikkärtchen und fand, dass ein vernünftiger Mensch zu dem Schluss kommen könnte, dass er wirklich Charles Danziger hieß.

Okay, ich bin bereit zu akzeptieren, dass ich Charles Danziger heiße, aber was zum Teufel ist mit mir passiert? Ein Blackout?

Vom Alkohol oder durch Drogen?

Nein.

Nicht ich.

In all seinen wilden Jahren hatte er kein einziges Mal Drogen genommen, abgesehen vom Oxycontin gegen die im Einsatz zugezogenen Verletzungen, und seine einzige Schwäche war Wein. Coker hingegen war ein Mann, dem seine Pharmazeutika lieb und teuer waren. Ein riskantes Hobby für einen Staff Sergeant des Belfair und Cullen County Sheriff’s Department und den berühmtesten Polizei-Scharfschützen im gesamten Bundesstaat.

Aber nicht Charlie Danziger. Er trank zwar gerne Pinot Grigio, aber kein Mann mit einem Funken Selbstachtung würde sich mit ein paar Flaschen Pinot Grigio ins Koma saufen.

Der Streifenwagen hielt an der Kreuzung und das Licht des Hotelschildes erleuchtete das Innere des Fahrzeugs und den Fahrer, einen großgewachsenen, grauhaarigen Sizilianer mit tief liegenden, dunklen Augen und einem kraftvollen Kiefer.

Frank Barbetta.

Danziger überlegte, ob er das Fenster öffnen und nach ihm rufen sollte, aber aus irgendeinem Grund entschied er sich dagegen. Der Streifenwagen fuhr im Verkehr auf der Mile davon, die Reifen zischten auf der glatten Fahrbahn und zogen einen Schleier Regenwasser hinter sich her.

Danziger drehte sich vom Fenster weg, er fühlte sich hundemüde, deprimiert und wie von der Realität abgeschnitten. Außerdem tat seine Brust jetzt auch noch höllisch weh. Es war kein Herzinfarkt, denn er hatte bereits einen erlitten und wusste genau, wie sich das anfühlte.

Nein, es fühlte sich eher so an, als hätte man ihn mitten in die Brust getreten. Zweimal. Zwei merklich schmerzhafte Stellen. Keine Prellung, aber Schmerz, ein tiefer, stechender Schmerz. Ein Rätsel, genau wie alles andere.

Nun ja, er erinnerte sich immerhin, dass da eine Flasche eiskalter Pinot Grigio in einem Kübel auf der Kommode stand. Er durchquerte den Raum, fummelte den Verschluss ab, puhlte die Plastikfolie von einem dieser billigen Pappbecher, die das Hotel bereitstellte, und goss sich einen ordentlichen Schluck ein.

Er musste schlafen. Vielleicht würde der Morgen Klarheit mit sich bringen. Während er seine Gedanken hinunterschluckte, warf er einen Blick in den Spiegel über der Kommode. Etwas leicht Ungewöhnliches fiel ihm auf.

Er sah sich selbst nicht darin.

Danziger stand vor dem Spiegel, wie versteinert, sein Atem stockte. Statt auf sein Spiegelbild blickte er auf einen Flecken bestelltes Land, das neben dicht stehenden Pinien und Weiden lag. So wie die Schatten auf die Erde fielen, musste es beinahe Sonnenuntergang sein. In der Ferne standen dunkle Gestalten, die den Acker bearbeiteten, anscheinend Gräben aushoben, mit Schaufeln und Äxten in der Hand, in gekrümmter Haltung, und irgendwie aussahen, als wären sie verprügelt worden.

Ein Karren wurde von einem Paar Ochsen gezogen. Darauf lagen runde, weiße Steine, oder eventuell Melonen. Ihm kam in den Sinn, es könne sich auch um Schädel handeln, ein finsterer Gedanke, der ihm ganz und gar nicht ähnlich sah.

Kein Geräusch drang von der Szenerie zu ihm, bloß dieses im Spiegel schwebende Bild des Ackerlands und der gebückten, dunklen Gestalten, die den Boden umgruben. Als er seine Hand langsam ausstreckte, um das Glas zu berühren, verschwand das Bild.

Jetzt sah er sich selbst im Spiegel, das Bild eines erschöpften Mannes mit hartem Blick, dem eine Menge durch den Kopf ging. Er drehte sich vom Spiegel weg und dachte: Vergiss es, leg dich einfach schlafen.

Aber er fand keinen Schlaf.

Stattdessen lag Danziger dort, in der Dunkelheit, lauschte dem Regen, wie er gegen das Fenster prasselte, dem Geräusch des Straßenverkehrs von unten, und sah das Trugbild aus dem Spiegel vor seinem geistigen Auge, den Acker bei Sonnenuntergang, die Arbeiter, der Karren, auf dem sich runde, weiße Steine türmten, die ihn an Schädel erinnerten.

Er hatte den Acker schon einmal gesehen, irgendwo, und tief unten im limbischen System seines Gehirns hatte er das Gefühl, er würde ihn erneut sehen.

* * *

LESEN SIE, WIE ES WEITER GEHT:

Carsten Stroud

DER AUFBRUCH

Roman

€ 18,99

LESEN SIE, WAS ZUVOR GESCHAH:

Band 1

Carsten Stroud

NICEVILLE

Roman

€ 7,99

Niceville. Eine Kleinstadt im Süden der USA, idyllisch, altmodisch und noch immer fest in den Händen der Gründerfamilien. Hier lässt es sich leben. Aber irgendetwas läuft schief in Niceville. An einem Sommertag verschwindet der kleine Rainey Teague. Zehn Tage später wird er gefunden – in einer alten Gruft. Er liegt im Koma. Nick Kavanaugh, der Ermittler, steht vor einem Rätsel. Niceville findet keine Ruhe mehr. Merle Zane und Charlie Danziger überfallen eine Bank und machen sich mit 2,5Millionen Dollar aus dem Staub. Nach einer Meinungsverschiedenheit knallen sie sich gegenseitig ab. Beide überleben schwerverletzt.

Niceville wird zu einem Ort ohne Gnade. Während eines infernalischen Wochenendes überschlagen sich die Ereignisse. Liegt ein Fluch über Niceville? Geht er aus von einem mit schwarzem Wasser gefüllten Loch indem Felsen oberhalb der Stadt? Man sagt, etwas lebt darin. Doch was?

Band 2

Carsten Stroud

DIE RÜCKKEHR

Roman

€ 7,99

Ein kleiner Ort im Süden der USA wird zum Schauplatz einer Folge nie da gewesener, schockierender Ereignisse, und mit einem Mal ist alles anders als je zuvor.

Der Learjet einer Delegation dubioser chinesischer Unternehmer gerät kurz nach dem Abflug in einen Schwarm pechschwarzer Krähen, stürzt ab und explodiert. Ein Excop wird gefasst, in seinem Hummer-SUV liegen 100.000Dollar eines kürzlich verübten Banküberfalls. Doch ihm gelingt die Flucht, weil der Gefangenentransport in einen bestialischen Unfall verwickelt wird, bei dem ein Hirsch eine nicht unerhebliche Rolle spielt. Der Excop verschanzt sich in einem Laden für Survivalausrüstung und provoziert eine üble Schießerei. Gleichzeitig betritt ein Gentleman die Bühne, bis auf die Zähne bewaffnet und skrupellos, denn drei Machos im Knast haben einen Plan. Auf dem Highway rast ein tiefergelegter Sportwagen, verfolgt von einer Streife, mit über dreihundert Sachen in eine Reihe schaulustiger Trucker. Der kleine Rainey hört eine Stimme aus der Vergangenheit und mutiert von einem normalen Jungen in ein gnadenloses Monster. Und mittendrin der Ermittler Nick Kavanaugh und seine Frau Kate, die versuchen, Ordnung in das Chaos zu bringen. Aber über Niceville liegt ein Fluch, der nicht enden will …