Der Ball ist rosa - Anja Goerz - E-Book
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Der Ball ist rosa E-Book

Anja Goerz

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Beschreibung

Der Fußballstar Henning sieht einer großen Karriere entgegen. Wäre da nur nicht das Gerücht über seine angebliche Homosexualität, das sich dank der Klatschpresse beharrlich hält. Für seinen Agenten Arne steht fest: Henning braucht eine Freundin – und so engagiert er das Model Isabella als Begleiterin für seinen Schützling: Fortan soll sie sich als Spielerfrau an Hennings Seite zeigen. Doch nichts läuft so rund, wie Arne sich es vorgestellt hat: Henning hält sich nicht an seine Anweisungen, und auch Isabellas Ex-Freund ist wenig begeistert, dass sie wieder liiert ist …

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Anja Goerz

Der Ball ist rosa

Roman

Eins

Isabella Wunder starrte auf die hellgrau gestrichene Wand, an der eine Setkarte neben der nächsten hing. Lauter schöne Mädchen, die von der Agentur »Bella Maria« vertreten wurden. Gesichter, die man zum Teil bereits in Werbespots im Fernsehen, auf den großen Plakatwänden der Modehersteller und in Parfum-Kampagnen in Zeitschriften gesehen hatte. Ihr eigenes Porträt hing ziemlich weit rechts, nahe der Wand, man musste sich schon ein wenig recken aus dieser Position vor dem Schreibtisch, um sie gut zu erkennen. Aber sie gehörte eben auch leider gerade nicht zum »heißen Scheiß« wie Ricarda, die in einem Kirchenchor entdeckt worden war und deren dunkle Rehaugen sie von der Wand herunter förmlich hypnotisierten.

Die Namensgeberin der Agentur stürmte mit einem »Hallo, mein Herzchen, entschuldige die Verspätung« in ihr Büro, ließ Tüten und Taschen neben den Schreibtisch fallen, fuhr mit der einen Hand den Computer hoch und wählte gleichzeitig eine Kurzwahl auf dem Telefon. »Sigrid? Bring mir doch bitte mal einen doppelten Espresso, ja?« Sie schaute kurz auf zu Isi, aber die schüttelte den Kopf. »Nein, sonst nichts. Vielen Dank, meine Beste.« Grußlos wurde der Hörer zurück auf die Gabel gelegt.

Maria war die Schönheit ihrer Jugendtage noch deutlich anzusehen, obwohl ihre aktive Zeit auf dem Laufsteg bereits einige Jahre zurücklag. Niemand allerdings wusste genau, wie alt Maria wirklich war. Sie trug die schwarzen Haare immer zu einem streng gebundenen Knoten am Hinterkopf, die zierliche Figur steckte meist in wehenden Kleidern, die aussahen, als würden sie mehr kosten als ein Kleinwagen, dazu trug sie trotz ihrer Körpergröße von 1,86 Metern immer High Heels. Ohne Ferrari-roten Lippenstift hatte Isi ihre Chefin noch nie gesehen, ohnehin konnte sie sich nicht vorstellen, dass Maria ungeschminkt aus dem Haus ging oder mal einen Sofakartoffeltag mit Chips und Prosecco einlegte. Immer wie aus dem Ei gepellt, immer geschmackvoll und immer gut informiert über aktuelle Trends und Gerüchte. Sie nannte alle Mädchen, die sie unter Vertrag hatte, »Hase« oder »Mäuschen« oder »Herzchen« und meinte das auch so.

Isi jedenfalls hatte noch nie ein böses Wort von ihr gehört, nicht einmal, als sie bei einer ihrer ersten Schauen für ein großes Label beim Umziehen einen riesigen Schlitz von oben nach unten in das Kleid gerissen und der Designer beinahe einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte. Sein Versuch, Isi wegen dieses Missgeschicks um ihr Honorar zu bringen, war an Maria Thalmann gescheitert.

Jedes Mal, wenn Isi in dem edel und stilvoll eingerichteten Büro saß, beschlich sie ein leichtes Unwohlsein. Sie hing an Maria und an der Agentur, und jedes Mal, wenn die Chefin sie um einen Besuch bat, wuchs die Angst, dass Maria ihr sagen würde, sie sei nun endgültig zu alt oder zu ungefragt und solle sich eine andere Agentur suchen. Was schwierig werden würde, da sie inzwischen deutlich über dem Model-Einstiegsalter lag. Andererseits war Heidi Klum ja auch noch gut im Geschäft.

Sigrid, Marias Assistentin, brachte den Espresso auf einem kleinen Tablett, zusammen mit einem kleinen Glas Wasser und einem Päckchen Pfefferminzbonbons. Sie verschwand genauso schnell, wie sie im Büro erschienen war.

Währenddessen hatte Maria ihren Computerbildschirm gescannt, die Maus hin und herbewegt und einige Zeilen getippt. Nun schob sie sich auf ihrem Designerdrehstuhl ein Stück vom Schreibtisch weg und schaute Isi an.

»Ja, Engelchen, da bist du nun also.« Sie schaute einfach nur, und Isi spürte, wie sie bis unter die Haarwurzeln errötete. Sie rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her.

»Wie schön, dich zu sehen, gut siehst du aus. Für die Castings morgen bin ich ganz optimistisch. Die Jovanotta, die müsste eigentlich genau das Richtige für dich sein, schneidert doch für richtige Frauen mit richtigen Formen, nicht für so schmale Bretter, hast du die Termine alle bekommen?«

Isi nickte. »Ja, alles klar. Ich bin bereit.«

Maria rutschte an ihren Schreibtisch zurück, griff nach der Tasse und stürzte den heißen Espresso in einem großen Schluck herunter. »Unglaublich, was da inzwischen so los ist bei der Fashion Week, hast du von Bengt Bengtsen gehört? Allein schon der Name.« Sie schüttelte den Kopf. »Der ist doch noch nicht einmal volljährig, oder? Auf jeden Fall sah er beim letzten Mal, als ich den in Mailand gesehen habe, aus, als käme er gerade vom Konfirmandenunterricht. Na gut, das wäre auf jeden Fall eine schöne Chance für dich. Der ist zwar komplett irre, aber darauf fahren ja alle in der Szene gerade ganz gewaltig ab. Ich halte die Kleider nicht für tragbar, aber ich bin vielleicht auch einfach zu alt für gürtelartige Rocksaumlängen. Du mit deinen Beinen kannst dir das natürlich leisten. Warten wir einfach mal ab, die müssen sich ja alle in den kommenden Tagen entscheiden. Aber deswegen bist du ja auch nicht hier.«

Isi hörte sich selbst seufzen und Maria zog die Augenbrauen hoch. »Entspann dich, Hase. Ich habe dich nicht herbestellt, weil ich schlechte Nachrichten habe, das ganze Gegenteil ist der Fall. Du weißt ja, es ist in den vergangenen Monaten nicht gerade einfacher geworden, Kunden für dich zu interessieren.« Sie deutete hinter sich, auf die Bilder der anderen Models an der Wand. »Inzwischen sind viele neue Mädchen in der Agentur, jünger als du, außerdem ist dein Look gerade nicht so angesagt, da erzähle ich dir auch nichts Neues.« Sie fixierte Isis Brüste. »Aber du weißt, ich mag dich sehr und ich glaube an dich, ich mag deine Natürlichkeit und schätze deinen Fleiß und deine Zuverlässigkeit, deswegen habe ich mich immer darum bemüht, Jobs für dich zu finden.« Sie griff nach einer Mappe aus roter Pappe, die oben auf einem Stapel Papiere auf ihrem Schreibtisch lag, und klappte sie auf. »Ich habe ein Angebot für dich.«

»Ein Angebot? Also ohne Casting? Was ist es denn? Werbung oder Fotos?«

»Nun sei doch nicht so ungeduldig.« Maria machte ein Geräusch wie »tstststs« und schob einige Blätter in der Mappe unschlüssig hin und her. »Tja, was soll ich sagen. Also, weder noch.« Sie lächelte Isi an. »Es ist ein, wie kann ich es am besten erklären? Also, es ist ein Angebot, das dir auf jeden Fall für mindestens ein Jahr ein sicheres Einkommen bescheren würde, allerdings …«

Isi spürte, dass ihre Handflächen feucht wurden. Sie hasste es, so dermaßen auf die Folter gespannt zu werden. Maria dagegen liebte den großen Auftritt. Sie erhob sich aus ihrem Designersessel und setzte sich vor Isi auf die Schreibtischkante. »Also, es ist eigentlich kein Auftrag, der offiziell über die Agentur reingekommen ist, sondern mehr so etwas wie ein Freundschaftsdienst.« Sie verschränkte die Finger ineinander und sah Isi an. »Du kannst natürlich ablehnen, aber ich glaube, dieses Angebot entspricht nicht nur genau deinen Fähigkeiten, sondern würde dir auch dabei helfen, endlich in der gewünschten beruflichen Richtung durchzustarten.«

»Du meinst als Schauspielerin?« Isi spürte, wie die Aufregung einem angenehmen Kribbeln Platz machte. Eine Serienrolle, das wäre ein Traum. Darauf könnte man aufbauen. Das hatten doch schon ganz andere Mädchen bewiesen. Erst eine kleine Betrügerin oder Geliebte im Vorabendprogramm und später Hauptrollen in Kinofilmen. So hatte sie sich das in ihren schönsten Träumen schon oft ausgemalt.

Maria nickte. »Ja, schauspielerisches Talent ist unbedingt erforderlich. Deshalb habe ich auch sofort an dich gedacht, als die Anfrage kam. Also, ein sehr guter Bekannter eines alten Schulfreundes von mir, der kümmert sich inzwischen um Profisportler, macht da so eine Mischung aus Management und PR-Beratung. Diese Sportler sind ja zum Teil wie die kleinen Kinder.« Sie wedelte mit den Händen. »Ich weiche ab, entschuldige, mein Schatz. Ich mache es kurz und komme einfach mal gleich auf den Punkt: Dieser Bekannte meines Freundes jedenfalls sucht eine Frau, die sich als Freundin eines seiner Mandanten ausgibt.«

Isi wurde bewusst, dass ihr der Mund offen stand. Sie schloss ihn, schluckte und stotterte eine Frage heraus. »Wwwwwie bitte? Ich glaube, ich meine, was? Ich wollte sagen, dddddas habe ich wohl nicht richtig verstanden.«

Maria lächelte gönnerhaft und legte ihr eine Hand aufs Knie. »Ich weiß, das kommt jetzt überraschend, aber du solltest jedenfalls darüber nachdenken und nicht gleich ablehnen. Auch wenn es zugegebenermaßen eine sehr ungewöhnliche Anfrage ist. Ich hatte so etwas auch noch nie, weiß aber von Kolleginnen aus anderen Agenturen, dass das durchaus nicht ungewöhnlich ist bei Prominenten. Nicht nur bei Sportlern, auch Schauspieler haben sich schon über Agenturen wie meine so etwas wie Walkerinnen bestellt.«

»Walkerinnen?« Isi hatte immer noch das Gefühl, dass jeden Moment das Team der Versteckten Kamera aus einem der Wandschränke springen würde. Es konnte sich bei Marias Vorschlag doch nur um einen Witz handeln. »Was … wie … was müsste ich da denn machen? Wie genau stellen die sich das denn vor? Freundin ist ja ein weiter Begriff, das kann ja alles sein von … Ich meine, gehts um einen Radprofi oder einen Tennisspieler?«

»Dazu kann ich dir noch gar nichts sagen. Es geht um einen Sportler und du müsstest dich als seine Freundin ausgeben. Zum Beispiel mit ihm einige Red-Carpet-Events besuchen, ihn auch mal bei einem Wettkampf anfeuern und vielleicht auch mal ein Shooting mit ihm zusammen für irgendeine Frauenzeitschrift machen. Genaueres kann ich dir da noch nicht sagen, das würde sich dann sicher auch nach und nach ergeben. Den Namen des Kandidaten weiß ich selber noch nicht, die sind da natürlich sehr vorsichtig, wen sie ansprechen, damit das keine Kreise zieht. Stell dir bitte mal vor, das kommt heraus und irgend so ein mieses Schmierblatt schreibt darüber, dann kann der Typ seine Karriere aber mal vergessen.«

Isi wusste nicht, ob sie gleich einen Lachanfall bekommen oder ob der plötzlich einsetzende Brechreiz sich durchsetzen würde. »Ich soll also so etwas wie eine Scheinehe eingehen?«

»Ach Unsinn, Kindchen. Du sollst den doch nicht heiraten.« Maria lachte operettenhaft und tätschelte ihr mütterlich die Hand. »Du musst den Menschen nicht einmal küssen. Na gut, vielleicht mal ein kleiner Schmatzer auf die Wange für die Fotografen am roten Teppich, aber ansonsten sollst du ja nur so tun, als ob. Comprende?«

»Moment mal. Ich versuche das mal zu verstehen. Ich würde also einen Sportler daten, allen erzählen, dass wir ein Paar sind, und dafür gibt‘s dann Geld?« Isi hatte große Mühe, ihre Gedanken zu sortieren.

»So sieht es aus.« Maria lächelte und setzte sich wieder auf ihren Stuhl. »Und nicht zu knapp, mein Mädchen. Es gibt ein monatliches Fixum und dann je nach Aufwand weitere Prämien. Ganz sicher geht es nicht um einen Tischtennisprofi aus der Dritten Liga, wenn ich mir die ersten Honorarvorschläge so ansehe. Diese Geheimnistuerei lässt ja auch darauf schließen, dass es sich um einen sehr prominenten Sportler handelt. Die vereinbarten Shootings würden natürlich sowieso separat abgerechnet werden. Also, wenn zum Beispiel die Gloria mit euch eine Fotostrecke machen will, dann müssen die das honorieren wie sonst auch.« Sie trank ihr Wasser aus, klappte die rote Mappe wieder zu und legte die gefalteten Hände darauf. »Lass es einfach erst mal sacken, Isabella. Denk in Ruhe drüber nach, aber vergiss dabei nicht, dass es mit Jobs auf dem Laufsteg in deinem Alter bald vorbei ist. Sicher, in der Werbung kannst du sicher noch den einen oder anderen Euro absahnen, aber auch da wird‘s langsam eng. Für deine geplante Schauspielkarriere wäre so ein Leben an der Seite eines berühmten Sportlers sicher nicht das Schlechteste. Wer weiß, vielleicht wird sogar eine ganz ordentliche Schmuckdesignerin aus dir? Denk drüber nach, und wenn du Fragen hast, dann kannst du mich jederzeit anrufen, okay? Ich brauche dann spätestens Ende der Woche ein Signal von dir in dieser Sache.« Sie stand auf und reichte Isi die Hand. Deutlicher hätte das Signal zum Aufbruch nicht ausfallen können. »Und Isabella, nicht vergessen. Dieser Deal, und auch schon das Angebot, sind absolut vertraulich zu behandeln, klar? Wenn davon etwas an die Öffentlichkeit gerät, dann wird nicht nur nichts aus diesem Job, sondern dann werde ich auch deine Setcard mit Freuden von dieser Wand entfernen.« Sie deutete hinter sich, und zum allerersten Mal, seit sie Maria kannte, spürte Isi hinter dem freundlichen Lächeln einen Hauch eisiger Kälte über den Schreibtisch wehen.

Zwei

Isi sah sich in der Lobby des noblen Hotels am Potsdamer Platz um und konnte einen tiefen Seufzer nicht unterdrücken. Hübsch zu sein war heutzutage wirklich nichts Besonderes mehr. Auch in den vergangenen Jahren war es bei den Castings für die Berliner Fashion Week bereits zugegangen wie im Designer-Outlet beim Schlussverkauf, aber einen solchen Andrang hatte sie heute bei den Bewerbungen für die Modenschauen der kommenden Wochen nicht erwartet. Allein in diesem Hotel hatten vier Designer zur Begutachtung gebeten, danach würde sie quer durch die Stadt zum Atelier eines angesagten Newcomers hetzten müssen, um gegen Abend in einem anderen Hotel, auf der anderen Seite der Stadt, zwei weitere Termine wahrzunehmen. Trotzdem war sie Tag für Tag froh, nicht auf ihren Vater gehört zu haben, der eine Lehre bei der Standortverwaltung der Bundeswehr vorgeschlagen hatte. Im Büro wäre sie zwischen Katzenkalendern und schlechtem Kaffee ganz sicher irgendwann eingegangen wie eine alte Primel.

Es machte den Anschein, als seien die Mädchen heute busweise nach Berlin verfrachtet worden. Auf den wenigen Sitzmöglichkeiten in der Lobby verteilten sich junge Frauen unterschiedlichster Nationalitäten und verschiedenster Optik. Isi hörte Gesprächsfetzen in Russisch oder Polnisch, andere redeten auf Englisch mit ihren Freundinnen und wieder andere riefen mit deutlich schweizerischem Einschlag nach jemandem, den sie im Gewühl aus den Augen verloren hatten. Lange blonde Haare, schwarze Bobs, rote Locken, Rastafrisuren, Sommersprossen, getönter oder natürlich dunkler Teint, bleiche europäische und asiatische Gesichter, für jeden Geschmack war eine Schönheit dabei. Bekannte Frauen, auf die Isi auch gehofft hatte, waren nicht darunter. Weder eine Modelkollegin aus ihrer Agentur noch eines der Mädchen, die sie im vergangenen Jahr hier kennengelernt hatte.

Isi musste zugeben, dass die Konkurrenz um einen Platz auf dem Laufsteg deutlich zugenommen hatte. In diesem Jahr konnte sie auf den ersten Blick kein Model erkennen, das den erforderlichen Maßen nicht gerecht wurde. Im Gegenteil, ihrem Eindruck nach war der Trend weg von allzu dürren Mädchen, der kurz spürbar gewesen war, schon wieder vorbei. Stattdessen war es in diesem Jahr mit dem Magertrend schlimmer als je zuvor. Knochige Ärmchen ragten aus schwarzen Rollkragenshirts, Beine, die dünner waren als die Oberarme ihrer Schwester, waren in Lackstiefel gesteckt worden, und auf den versammelten Schlüsselbeinknochen hätte man ohne Weiteres »Played-A-Live«, den Hit des dänischen Safri-Duos trommeln können. Sie selbst entsprach dem aktuell modernen androgynen Typ überhaupt nicht, war eher der Typ Mädchen, den Heidi Klum in ihrer Show zuerst auf Diät gesetzt und dann mit Lauftraining gefoltert hätte.

Isi schaute sich um und konnte weiter hinten, auf dem Fußboden neben einer Sitzecke, noch ein Fleckchen freien Teppich entdecken. Hier ließ sie sich nieder und zog einen kleinen Handspiegel und ihr Schminktäschchen aus der riesigen Handtasche, um ihr Make-up zu überprüfen. Den leicht fettigen Hautglanz überdeckte sie rasch mit einem hellen Puder, den Lippenstift frischte sie mit einem Gloss auf, und zum Abschluss gab sie einen Tropfen Handcreme auf die Fingerspitzen, verrieb sie und strich sich damit über die langen hellblonden Haare, um ihnen mehr Glanz zu verleihen. Der prüfende Blick in den kleinen Spiegel ließ sie zufrieden lächeln. Frisch, aber nicht zu aufgedonnert, die Haare hinter die Ohren gestrichen, um der Jury den freien Blick auf ihr klar geschnittenes Gesicht zu ermöglichen, perfekt.

Am liebsten wäre sie heute gar nicht hergekommen, sondern gleich zu ihrer Schwester gefahren, um das seltsame Angebot von Maria mit ihr zu besprechen. Sie hatte kaum geschlafen in der vergangenen Nacht, und wenn sie dann doch weggenickt war, dann hatte sie Bilder vor Augen gehabt, in denen sie von einem nackten Sumo-Ringer abgeleckt wurde, während sie dabei fotografiert wurde, oder sie sah sich selbst an der Seite eines hässlichen, verknitterten Golfspielers mit Überbiss auf einem roten Teppich.

Isi kontrollierte, ob sie ihre neuen Setcards und ihr Buch eingepackt hatte, und checkte kurz auf ihrem Handy den Maileingang. Von der Agentur war eine Auflistung der heutigen Termine gekommen. Ihre Schwester hatte eine SMS mit der Botschaft »Viel Glück« geschickt. Die hatte gut reden. Jana war zwar mit ihren 29 Jahren nur sieben Jahre älter als Isabella, aber der erklärte Liebling der Eltern, denn sie hatte in deren Augen immer alles richtig gemacht.

Ihre Schwester lebte mit Mann und zwei Söhnen in einem der besseren Viertel von Berlin in einer schicken Villa mit sechzehn Zimmern. Die sie vermutlich in den kommenden Jahren nach und nach mit weiteren eigenen Kindern füllen würde. Inzwischen war Jana mit dem dritten Kind schwanger und hatte bereits angedeutet, dass ihre Familienplanung damit noch lange nicht abgeschlossen war.

Isi war es schon ein Rätsel, wie ihre Schwester es bei ihren beiden Wirbelwindkindern, die allerdings wirklich bezaubernd waren, überhaupt noch einmal geschafft hatte, mit ihrem Mann Sex zu haben. Zumal der wegen seines Jobs als PR-Berater nicht gerade häufig zu Hause war. Immerhin waren die beiden nun schon seit sieben Jahren verheiratet. Isi hatte damals halbherzig versucht, ihr die Hochzeit auszureden. Ihrer Ansicht nach grenzte es an Beklopptheit, sich als 22-Jährige für den Rest des Lebens auf einen Mann festzulegen, noch dazu auf einen wie Karsten. Aber ihre Schwester war offenbar mehr an Eintönigkeit und Beständigkeit interessiert als an aufregendem Sex und den Entdeckungen, die man in einer Welt voller großartiger Männer machen konnte. Tatsächlich war wohl auch eine Menge Liebe im Spiel bei dieser Beziehung. Janas Mann Karsten war durchaus attraktiv, aber in Isis Augen so langweilig wie ein Herrenmodel aus dem Otto-Katalog. Unsexy und glatt. Ohne besonderen Witz oder interessante Charaktereigenschaften. Irgendetwas musste er aber wohl richtig machen, sonst wäre ja nicht bereits das dritte Kind unterwegs.

Isi hatte bislang keine Erklärung dafür gefunden, wie Schwestern so unterschiedlich sein konnten. Während in ihrem Leben eine achtwöchige Beziehung zu einem Mitschüler in der neunten Klasse bisher das Beständigste in Sachen Beziehung gewesen war, hatte Jana mit Karsten ihre Kindergartenliebe geheiratet.

Beruflich war ihre Schwester ähnlich zielstrebig. Schon in der Grundschule hatte sie die Schülerzeitung mit »Jana hilft«, einer Beratungskolumne rund um Schwierigkeiten mit Lehrern, Hausaufgaben und Erziehungsberechtigten, versorgt. Nach dem Abi verfasste sie eher nebenbei mit dem Buch Über den Mythos von Klassenbesten ihren ersten Bestseller. Seitdem erschien jedes Jahr pünktlich kurz vor der Frankfurter Buchmesse ein neuer Ratgeber von ihr mit Titeln wie Keine Angst vor der ersten Liebe – ein Ratgeber für Eltern, Versagen als Chance – aus dem Neustart einen Karrierestart machen oder auch Stillen, bis der Arzt kommt – wann man sich gegen die Übermütter wehren muss.

Isi hatte keines dieser Bücher gelesen, da sie nicht zu den Frauen gehörte, die sich den Mann fürs Leben oder Reichtum durch die Lektüre eines Sachbuches erhofften. Außerdem hatte sie noch nie ein Kind gestillt oder sich als Versagerin gefühlt. Gerade jetzt fragte sie sich allerdings, ob ihre Schwester auch schon einen Ratgeber mit dem Titel Treffen Sie die richtige Entscheidung – Herz gegen Bauch oder Wenn das Herz nicht so will wie der Kontostand geschrieben hatte.

Jana ignorierte ihr Desinteresse und empfahl ihr in jeder Situation, wie jetzt nach der Trennung von Gerrit, entsprechende Lektüre. Glücklich getrennt – warum der Falsche einen auf den richtigen Weg bringen kann hieß die neueste Empfehlung von Jana. Das Buch lag nun auch in der großen Tasche, die sie zum Casting mitgebracht hatte. Sie blätterte lustlos darin herum, um die Wartezeit zu überbrücken, und las die Überschriften: »Machen Sie den Test: War er wirklich der Richtige?«, »Kennen Sie sich selbst so gut, dass Sie einen anderen Menschen kennenlernen wollen?«, »War es wirklich Liebe?«.

Gerrit war ein Arschloch. Das hatte sie einfach viel zu spät erkannt.

Er war attraktiv, ein bisschen wie der junge George Michael, wuschelige schwarze Haare, die immer ein wenig aussahen, als sei er gerade aus dem Bett gestiegen, warme braune Augen mit langen geschwungenen Wimpern, für die manche Kollegin von Isi morden würde, und Grübchen, die vieles vergessen ließen. Wenn Gerrit noch dazu seine breite, schwarz gefasste Nerd-Brille aufsetzte, um in Kochbüchern zu blättern oder sich in eine Zeitung zu vertiefen, dann hatte Isi ihre Liebe zu diesem Mann von den Fußspitzen bis in die Stirn gefühlt. Gerrit konnte sich gut ausdrücken und war nach außen hin ein echter Gentleman, mit Gewohnheiten wie Autotür aufhalten und in den Mantel helfen. Gerrit hatte eine Bar und eine Diskothek am Gendarmenmarkt in Berlin-Mitte und zwei weitere Bars in Charlottenburg und Wilmersdorf. Alle Läden wurden von eigenen Geschäftsführern betreut und beaufsichtigt und der Chef musste sich nur ab und an einmal abends sehen lassen. Allerdings zog sich dieses »nach dem Rechten sehen« an manchen Tagen bis weit nach Mitternacht.

Wenn Gerrit dann aber mal früher zu Hause bei Isi war, hatte er sich häufig wie der letzte Pascha verhalten. Isi, bring mir doch mal dies, Isi, hol mir mal das. Ausgehen war ihm zu anstrengend, er saß lieber auf dem Sofa und streamte folgenweise amerikanische Serien, wenn er zum Beispiel aus dem Büro kam, wo er sich um die Buchhaltung gekümmert hatte.

Als Isi, nach dem ersten Liebesrausch, begonnen hatte, sich darüber zu beschweren, lachte er nur und verwöhnte sie dann ausgiebig mit Kuscheleinheiten oder kochte ihr ein tolles Essen zur Versöhnung. Einige Wochen später hatte er ihr bei einem Streit lapidar an den Kopf geworfen, sie solle doch froh sein, dass er für reichlich Bewegung in der Beziehung sorge, so würde sie jedenfalls nicht ansetzen. Als Model müsse sie schließlich auf eine Topfigur achten. Isi hatte daraufhin ihn gebeten, sich zu bewegen, und zwar schnurstracks aus ihrer Wohnung heraus, dorthin, wo der Pfeffer wächst. Und sie hatte ihn aufgefordert, dortzubleiben, mindestens bis zum St. Nimmerleinstag. Natürlich war es Gerrit nicht zu blöd gewesen, beim Verlassen der Wohnung ein »Das wird dir noch leidtun« zu zischen, und das Schlimmste war, dass er recht behalten hatte. Sie vermisste ihn schrecklich. Oder nein, vielleicht nicht gerade Gerrit und seine furchtbaren Manieren und sein Machogehabe und seinen Befehlston, aber sie vermisste seinen warmen Körper morgens beim Aufwachen. Sie vermisste es, von ihm »Isi-Mausi« genannt zu werden, und es fehlte ihr, dass jemand in ihrer Wohnung auf sie wartete, wenn sie von einem Shooting oder Werbedreh zurückkam. Gut, vielleicht war es wirklich nicht Gerrit, der ihr in ihrem Leben fehlte, sondern ganz einfach irgendein Mann, der da war und sie wärmte und ihr nette Sachen sagte. Für diese Erkenntnis brauchte sie das Buch ihrer Schwester ganz sicher nicht zu lesen. Vielleicht sollte sie doch noch beruflich umsatteln und ebenfalls in das Geschäft mit den Beratungsbüchern einsteigen? Oder doch zugeben, dass ihr Gerrit nicht so ganz egal geworden war?

»Isabella Wunder?« Ein sehr dünner Mann mit einem stylishen Kurzhaarschnitt und einem wichtig aussehenden Klemmbrett vor der Nase lief durch die Lobby und rief ihren Namen. Die Hose hatte der Typ ganz sicher bei H&M in der Kinderabteilung gekauft, und von Frauen verstand der wahrscheinlich so viel wie Isi von Automotoren. »Isabella Wunder?« Wahrscheinlich der Assi von einer der angesagten Designerinnen, bei denen ihre Agentur für heute einen Castingtermin vereinbart hatte. Isi hob die Hand und machte dem Männchen ein Zeichen, damit er seine Stimmbänder nicht noch weiter ruinierte. Sie rappelte sich auf und raffte ihre Sachen zusammen, um wieder einmal um einen lausig bezahlten Job auf dem Laufsteg zu kämpfen. Der dünne Mann sagte ihr Stockwerk und Zimmernummer des Designers, bei dem sie sich heute als Erstes zeigen sollte, und wies ihr den Weg zu den Fahrstühlen.

Vor der Suite im obersten Stock des Hotels warteten bereits etwa dreißig Mädchen in einer langen Schlange darauf, vorgelassen zu werden. Isi reihte sich ein und suchte ihr Telefon im Durcheinander ihrer Tasche. Die Wartezeit konnte sie mit Facebook überbrücken oder versuchen, ihren Rekord bei Candy Crush einzustellen. Auf mindestens eine Stunde schätzte sie die Wartezeit, dann würde sie ihr Buch bei dem Designer und den Assistentinnen oder Assistenten abgeben, ein-, zweimal auf und ab laufen, mit etwas Glück auch noch eines der Kleider vorführen und eine Setcard dalassen. Und mit noch mehr Glück hätte sie in einigen Tagen eine positive Antwort und durfte auf einer der Schauen der Fashion Week laufen.

»Hey Isi, endlich ein bekanntes Gesicht.« Zarter Vanilleduft umwehte Isabella, als eine zarte Rothaarige ihr um den Hals fiel, die aus dem Castingzimmer herausgestöckelt war. Lena, die von der gleichen Agentur wie Isi vertreten wurde, trug ein enges schwarzes Kleid zu knallroten Seidenstrumpfhosen und Mega-High-Heels. »Ich habe schon unten in der Lobby immer geguckt, wen ich hier kenne, aber bei den Massen verliert man ja voll schnell den Überblick.« Lena rutschte mit dem Rücken an der Wand entlang auf den Boden, ließ die Plastiktüte fallen, die sie immer mit sich herumschleppte, und zog sich die Pumps von den Füßen. »Ich Depp hab natürlich meine Turnschuhe zu Hause vergessen, ich kann dir gar nicht sagen, wie mir die Füße wehtun, und der Tag fängt ja gerade erst an. Wahrscheinlich werde ich ab mittags nur noch weinen und mich selbst bedauern.«

Isi deutete grinsend auf ihren Plastikbeutel. »Großes Gepäck?« Lenas Tick mit der Plastiktüte hatte in der Agentur bereits die Runde gemacht. In diesem Beutel transportierte sie Zahnbürste, Schminktäschchen und mindestens zwei frische Slips mit sich herum. Ergänzt wurde dieses Equipment durch mehrere Kreditkarten in einer winzigen Clutch, die ebenfalls in die Plastiktüte passte und auch als Abendtäschchen eingesetzt werden konnte. Leichtes Gepäck für ihre ständigen Reisen rund um die Welt. Wie zum Beweis wühlte Lena aus dieser Tasche ein Päckchen Kaugummi und bot Isi davon an. »Ja, meine Reisetasche. Ich muss mit der Abendmaschine noch zu einem Shooting nach Barcelona. Bin aber morgen Mittag wieder da. Fährst du auch noch zu Mirabell Mieze ins Atelier zum Casting?«

»Ja, aber erst mal habe ich hier noch Termine.«

»Ich auch noch zwei.« Sie blickte auf ihre Uhr und nickte. »Ja, ich habe hier im Hotel noch einen Termin in einer Stunde, dann leiste ich dir jetzt noch Gesellschaft. Wenn du Lust hast, können wir nachher zusammen zu der Mieze fahren, ich habe einen Fahrer unten. Wir müssen aber unbedingt an irgendeinem Schuhladen anhalten, damit ich mir Turnschuhe oder Ballerinas kaufen kann, sonst werde ich bekloppt.« Isabell war erleichtert. Mit Lena zusammen würde die Wartezeit wie im Flug vergehen.

Die beiden hatten sich in der Agentur kennengelernt, als neue Fotos für die Setcards der hauseigenen Models gemacht wurden. Auf Anhieb hatten sie sich verstanden, und sowohl das zum Teil übliche Gezicke sowie Neid aufeinander war ihnen fremd. Sie trafen sich danach auch außerhalb der Jobs, um gemeinsam tanzen zu gehen oder zu joggen. Lena war deutlich erfolgreicher als Isi. Als 16-Jährige war sie im Urlaub an einem Strand in Frankreich angesprochen worden, ob sie nicht Lust auf Modefotos habe, und damit hatte ihre steile Karriere begonnen. Natürlich bekam ein Model ihrer Klasse für die heute in der ganzen Stadt verteilten Castings einen eigenen Fahrer von der Agentur gestellt. In den vergangenen Wochen waren Isi und Lena sich kaum begegnet, weil Lena viel unterwegs gewesen war, Mailand, London, New York. Modenschauen, Shootings und ein Werbedreh. Daher freute sich Isi umso mehr, sie hier so unerwartet zu treffen.

»Wie ist es denn bei dir da drinnen gelaufen?« Eigentlich war diese Frage überflüssig, denn Lena bekam nahezu jeden Job, den sie sich wünschte. Sie hatte den gerade angesagten Look: Wenig Brust, wenig Hintern, schmal gebaut und dazu die ungewöhnlichen naturroten Haare und katzenhafte grüne Augen. Isi wusste, in ihrem Buch gab es strahlend schöne Unterwasserbilder, Lenas zartes Gesicht in Schwarz-Weiß, in lässigen Jeans und Shirt wie aus einer Werbung für Calvin Klein und vampartig geschminkt in einem wallenden Abendkleid auf einer endlos langen Treppe. Außerdem Bilder von Schauen der großen Designer in Paris, Berlin, New York und Mailand sowie Werbefotos von Kosmetikfirmen und großen Modeketten.

In Isis eigenem Buch gab es ein einziges Foto von einer Modenschau einer Berliner Designerin, das vor vier Jahren aufgenommen worden war, ansonsten Standbilder von Werbedrehs für Waschpulver und Margarine und immerhin einige Modefotos, allerdings von einem Anbieter, der Business-Looks für die reifere Frau anbot. Im Grunde waren sie und Jana in etwa so vergleichbar wie ein Apfel und eine exotische Südfrucht, beides Obst, aber zu sehr unterschiedlichen Preisen zu haben. Was sie gemeinsam hatten, war der Spaß an der Arbeit und die Zufriedenheit darüber, in so einem besonderen Beruf arbeiten zu können.

»Ach, na ja, wenn du mich fragst, haben die neuen Designer alle einen ziemlichen Knall.« Lena massierte sich mit den Händen die schmerzenden Fußballen und schaute auf, als Isi lachte. »Echt jetzt. Also, dieser Ken Richards hier, angeblich ja der absolut heiße Scheiß aus Großbritannien, der hat nicht einen Blick in mein Buch geworfen. Stattdessen hat er mich auf und ab hüpfen lassen, wie ein Kaninchen. Und dann noch nicht mal ein Dankeschön dafür, sondern nur so ein lässiges Winken. Keine Ahnung, was der auf seiner Show auf dem Laufsteg veranstalten will. Vielleicht will ich das auch lieber gar nicht so genau wissen.«

Isi würde auch mit Rollen rückwärts über den Laufsteg turnen, eine Clownsnase aufsetzen oder hüpfend Kleider vorführen, wenn sie nur endlich wieder einen Job bekäme. Aber ihr war klar, dass sie in ihrem Alter langsam den Model-Zenit erreichte. Wenn sie nicht endlich ein paar gute Engagements abzog, dann würde sie bald Damenoberbekleidung für Versandhauskataloge präsentieren müssen, um Geld zu verdienen. Oder aber sie ging auf das Angebot ein, das Maria ihr gemacht hatte. Kurz überlegte sie, bei Lena Rat einzuholen, aber dann fiel ihr die Verschwiegenheitsklausel ein, von der ihre Agentin gesprochen hatte, und sie hielt den Mund. Isi rückte in der Reihe ein paar Schritte weiter vor, als die nächsten zwei Mädchen in das Zimmer gelassen wurden. »Ich wäre schon froh, wenn ich überhaupt bei einer Show laufen könnte in diesem Jahr.«

»Ach Isi, mach dich doch nicht immer so klein. Du musst viel selbstbewusster auftreten und deine Vorzüge mal betonen.« Lena stand auf, nahm ihre Schuhe in die Hand und stellte sich näher an Isi, um ihr leise ins Ohr zu flüstern. »Du hast diese wahnsinnigen Brüste! Wieso du immer noch so hochgeschlossen zu Castings gehst, werde ich nie verstehen.«

Isi verdrehte die Augen. »Mensch, Busen ist gerade nicht modern. Die Designer schneidern momentan oben herum so eng, dass ich mir bei den meisten Kleidern Löcher reinschneiden müsste, um noch atmen zu können. Du weißt doch, androgyn ist das Zauberwort.«

Lena legte ihr den Arm um die Schulter. »Das kann ja nächste Woche schon wieder ganz anders aussehen, das ist ja das Spannende in dieser Branche, oder?« Sie seufzte übertrieben. »Ach Isi, was haben wir uns bloß für einen bescheuerten Job ausgesucht. Warum nur haben wir nicht etwas Ordentliches gelernt, dann würden wir jetzt in bequemen Birkenstock-Sandalen in einer Arztpraxis sitzen oder in einer bequemen Latzhose Blumensträuße zusammenbinden.«

Das hatte Isi sich in den vergangenen Wochen auch manchmal gefragt. Und jetzt, in dieser langen Schlange vor der Tür eines Designers, der sich mindestens für Gott hielt, zwischen lauter Mädchen, die jünger, dünner und hübscher waren, überlegte sie, wie schnell Maria das Angebot mit diesem Sportler wohl unter Dach und Fach bringen könnte.

Drei

»Du kannst es dir nicht vorstellen, die karren inzwischen Mädchen im Bus aus Polen und Russland hierher und die schnappen sich dann natürlich die besten Jobs. Alles, was Spaß macht und gut bezahlt wird.« Isi saß bei ihrer Schwester Jana am Küchentisch.

Wie alles in der Villa der Familie Horstmann war auch der eigentlich zum Kochen gedachte Raum immer hergerichtet, als würden gleich die Fotografen von Schöner Wohnen anrücken. Noch nie war die Küche unaufgeräumt oder gar benutzt gewesen, wenn Isi hier war. Dabei wusste sie mit Sicherheit, dass ihre perfekte Schwester neben dem Schreiben von Bestsellern und der Erziehung der Kinder inklusive Shutteln zum Geigenunterricht und Fußballtraining auch noch das Brot selber buk und mehrmals wöchentlich Kekse und Kuchen. Sie wollte alles unter Kontrolle haben, auch die Inhaltsstoffe ihrer Backwaren. In diesem Haushalt gab es kein Fertigessen, keine Ravioli aus der Dose oder Buchstabensuppe aus der Tüte. Hier wurde täglich ein mehrgängiges Menü gezaubert, denn natürlich war Jana auch noch eine begnadete Köchin.

Nicht zum ersten Mal fragte sich Isi, wieso ihre Eltern sich nach diesem perfekten Wesen noch ein weiteres Kind gewünscht hatten. Die guten Gene waren zweifellos alle verbraucht gewesen, als sie entstand. Sie nagte an einem Dinkel-Hafer-Plätzchen und erzählte ihrer Schwester vom desaströsen Verlauf ihres Vormittags. »Wenn man dann tatsächlich das Glück hat, noch einen der wenigen Jobs auf dem Laufsteg zu bekommen, dann kann man froh sein, wenn man dafür überhaupt bezahlt wird. Inzwischen sind die Zustände so, dass man entweder Naturalien bekommt, da darf man dann irgendein Latex-Top aus der Kollektion vom Vorjahr behalten, oder aber man wird mit einem warmen Händedruck und einem Lächeln verabschiedet.«

»Aber das weißt du doch vorher? Warum gehst du denn da überhaupt hin?«

»Ne, das weiß ich eben nicht immer vorher. Das läuft ja alles über meine Agentur. Die kümmern sich darum, dass ich zu den Castings gehen kann, und die machen dann auch den Vertrag mit dem Designer. Das ist doch der Agentur dann egal, ob ich bezahlt werde. Die sind ja fein raus, denn wenn wir alle Jobs absahnen, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass manch ein Mädchen richtig fettes Geld bekommt, und das rechnet sich dann immer für die Agentur. Außerdem müssen die natürlich auch abwägen, einerseits soll das Model durch den Job bekannter werden, andererseits kann es auch mal sein, dass der Job erst mal nicht so lukrativ wirkt, dann aber viel Geld einbringt, weil zum Beispiel Werbekunden einen daraufhin engagieren und die natürlich viel mehr zahlen als so ein neuer Designer.«

Isi nickte, als ihre Schwester sie durch einen Fingerzeig auf ihre leere Tasse fragte, ob sie noch einen Kaffee wollte.

»Ich weiß sowieso nicht, wieso du dir das immer noch antust. Ich meine, du wirst ja auch nicht jünger und so langsam geht deine Zeit als Model doch auch zu Ende. Wenn ich mir so angucke, wie jung die Dinger sind, die da bei Heidi Klum mitmachen, da bist du ja fast schon eine Oma.« Jana löste ihre braunen Locken aus dem Zopfgummi, fasste eine widerspenstige Strähne und band die Haare am Hinterkopf neu zusammen. Dann steckte sie eine Kapsel in die Kaffeemaschine und stellte eine Tasse darunter.

»Ach Jana, das hatten wir doch schon …« Isi legte den Keks auf den Teller zurück. »Ich versuche doch schon alles, um jetzt auch als Schauspielerin durchzustarten. Wenn erst der Tatort läuft, in dem ich die kleine Rolle hatte, dann kann ich auch was vorzeigen. Vergangene Woche war ich bei einem sehr interessanten Vorsprechen für eine Rolle in einer neuen täglichen Serie. Wenn das klappt …«

Jana stellte die Tasse vor Isi ab und nahm ihre eigene, um sie nachzufüllen. »Das hast du auch schon beim letzten Mal gesagt. Und dann haben sie doch dieses Mädchen genommen, das vorher bei Deutschland sucht den Superstar dabei war.« Jana nahm das fertige Getränk und setzte sich zu Isi an den Tisch. »Ich meine es doch nur gut mit dir. Du musst doch mal dran denken, was in zehn Jahren ist oder in zwanzig. Dann wirst du auf jeden Fall zu alt sein für den Laufsteg. Wäre es da nicht gut und richtig, sich jetzt schon mal um ein zweites Standbein zu bemühen? Ich meine, wenn man mal alles zusammenzählt, was du da momentan so verdienst, bleibt ja auch nicht gerade großer Reichtum übrig. Die Agentur bekommt ihre Provision und dann musst du die Flüge und Hotels zum Teil selber bezahlen … Willst du nicht langfristig etwas anderes ausprobieren? Vielleicht etwas, das weniger unberechenbar ist als Schauspielerei? Du kannst doch nicht darauf bauen, irgendwann einen Präsidenten abzuschleppen, der dich dann den Rest deines Lebens versorgt. So wie diese Sängerin.«