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Lara ist Ende dreißig, alleinerziehende Mutter einer pubertierenden Tochter und betreibt den Erotikladen »Liebesperle« in einem kleinen Ort in Norddeutschland, große Gefühle erlebt sie lediglich in Groschenromanen. Das soll sich ändern, findet Lara, hat aber nicht damit gerechnet, wie schwierig es ist, als »Fachfrau für Erotik« einen neuen Mann zu finden. Aber als sie es mit Onlinedating probiert, taucht plötzlich der Schriftsteller Arne Sonntag in ihrem Laden auf und auch der Vater ihrer Tochter scheint sie noch nicht aufgegeben zu haben. Aber in einem Dorf, in dem jeder unter Beobachtung steht, ist es nicht so einfach mit der großen Liebe ...
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Seitenzahl: 364
Anja Goerz
Roman
Lara öffnete einen weiteren Karton mit dem aromatisierten Massageöl »Shunga Intimate Kisses« und stellte die Fläschchen mit dem Erdbeerduft zu den anderen, die nach Karamell, Schokolade oder Heidelbeeren rochen und ebenfalls exotische Namen trugen. Neben der Bodypaint-Farbe gehörten die Aromaöle zu den meistverkauften Artikeln in »Laras Liebesperle«, wahrscheinlich, weil Massageöl doch eher unverfänglich klang. Eher nach verspanntem Nacken und Aromatherapie als nach heißer Leidenschaft und Sex. Dann konnte man sich nach einem ersten Kauf in ihrem Laden langsam weiter vortasten, in die Abteilungen mit der Reizwäsche, den Verkleidungsutensilien, den Videos und der Latexkleidung über Dildos und Potenzpillen bis hin zu Plüschfesseln und Sexspielzeug.
Wie oft hatte sie es erlebt, dass jemand mit dem Spruch »Ich suche ja schon so lange nach einem tollen Öl für nach der Sauna, da hat mir eine Freundin den Tipp mit Ihrem Laden gegeben …« kam, oder: »Ich bin manchmal so verkrampft, wenn ich lange Strecken mit dem Auto gefahren bin, und nichts entspannt mich dann so gut wie eine Massage mit einem gut riechenden Öl.« Blablabla. Warum war es den Menschen eigentlich immer peinlich zuzugeben, dass sie Spaß am Sex hatten und auch gern einmal etwas Neues ausprobierten? Ein Kochfreak entschuldigte sich ja auch nicht dafür, dass er das vierte Damaszenermesser oder die zehnte Gewürzmischung von Schuhbeck kaufte. Immerhin hatten sich die Zeiten im Laufe der vergangenen fünf Jahre, in denen Lara mit diesem Geschäft ihr Geld verdiente, so weit verändert, dass ab und zu jemand mutig auf sie zukam und in vertraulichem Ton davon sprach, zu Hause etwas »Leben in die Bude« bringen zu wollen. »Was gibt’s denn da so für Anfänger?«, lautete dann die Frage. Weil sie um die Verlegenheit ihrer Kunden wusste, hatte Lara versucht, den Laden so kuschelig und schick wie möglich einzurichten. Daher mutete der Erotikshop auf den ersten Blick eher wie eine Boutique oder ein Designerladen an.
Auf der rechten Seite des Raumes hingen Kleiderstangen, an denen hochwertige Dessous präsentiert wurden. Bodys, BHs und auch Unterkleider mit Spitze und gewagten Ausschnitten, vorwiegend in Schwarz, Weiß und Rot. An der Wand dahinter fanden die Männer sexy Unterwäsche. Eng anliegende Trunks, Stringtangas und Slips mit Tigermuster. Nicht alles traf den Geschmack von Lara, aber sie bemühte sich immer, Artikel zu finden, die jedenfalls ihren Qualitätsansprüchen gerecht wurden. Leicht links versetzt zur Ladentür war der Tresen aufgebaut. Darauf ihre Kasse, Schreibutensilien und drum herum drapiert kleinere Gimmicks zum Mitnehmen wie in der Quengelzone im Supermarkt: Lutscher in Penisform, Gutscheinhefte mit erotischen Ideen für den Liebsten, Prickelbrause für erotische Spiele, Kugelschreiber mit halb nackten Mädchen und Kippeffekt und mehr oder weniger lustige Schlüsselanhänger, denen man erst auf den zweiten Blick ansah, dass sie eigentlich Sexspielzeug darstellten.
Als das zarte Palimpalim der Ladenglocke ertönte, beugte sich Lara über die Theke, um zu sehen, wer da die Hemmschwelle überwunden hatte, was sie sich hätte sparen können, denn das »Hallohooooo, ich bin zu Hause« kündigte das Eintreffen ihrer 17-jährigen Tochter Ose an. Groß und schlank überragte sie die Regale und auch ihre Mutter beinahe um einen Kopf.
»Ich bin hier hinten, mein Engel, und sortiere Ware ein, kannst mir gerne dabei helfen, dann können wir nachher etwas zusammen essen.«
»Och nö, lass mal.« Ose verzog ihre Lippen, die vom rosa Gloss feucht glänzten. Sie hatte mit Eintreten in die Pubertät die Geschäftsidee ihrer Mutter immer stärker abgelehnt, den Laden phasenweise gar nicht betreten oder sie angebettelt, statt Sexartikeln doch lieber Romane oder Backwaren zu verkaufen. Inzwischen hatte sie sich aber mit dem Shop arrangiert und auch begriffen, dass man mit Dessous und dergleichen einfach mehr Geld verdienen konnte als mit Brötchen. Und bei den Bestellungen für BHs und Slips redete sie inzwischen auch gern mit.
»Warum bist du eigentlich so früh hier? Ist schon wieder der Unterricht ausgefallen?«
Ose warf ihre Schultasche hinter den Ladentresen und schnaufte. »Ja, ausgerechnet Mathe. Die Kriems ist krank, hat aber ausrichten lassen, mit welchen tausend Aufgaben wir uns bis morgen zu Hause beschäftigen sollen. Die Alte hat doch echt ’nen Vogel, als wenn wir nicht auch noch für die anderen Fächer lernen müssten. Also nichts mit schön freiem Nachmittag. Levke kommt nachher vorbei.«
Ose würde in diesem Jahr ihr Abitur machen und war zur Freude von Lara sehr unproblematisch und glatt durch die bisherige Schulzeit gekommen. Nach dem Abi wollte sie zunächst ein Jahr in Amerika als Au-pair-Mädchen ein wenig den Duft der weiten Welt schnuppern, bevor sie sich entschied, wie es weitergehen sollte in ihrem Leben. Im Sexshop wollte sie auf keinen Fall mitarbeiten, das hatte sie bereits mehrfach als »total peinlich« und »geht gar nicht« ausgeschlossen. Lara wünschte sich für ihre Tochter einen Beruf, der sie unabhängig machen würde, in dem sie genug Geld verdienen konnte, um auf eigenen Beinen zu stehen und sich nicht von ihrer Mutter oder einem Mann abhängig zu machen. Sie war klug genug, um ihre Talente selbst zu erkennen und den richtigen Weg zu gehen, daher machte Lara nicht den Fehler, sich als fürsorgliche Erziehungsberechtigte aufzuspielen, die »nur das Beste« für ihr Kind wollte. Ihr war klar, dass sie bei ihrer dickköpfigen Tochter dann ohnehin nur das Gegenteil des Gewünschten erreichen würde.
Lara war vor fünf Jahren, nach der Trennung von Hans-Peter, Laras Vater, von Berlin in ihre Heimat Nordfriesland zurückgekehrt. In Lönnebek, dem kleinen Ort nahe der dänischen Grenze, hatte sie zwar alte Schulfreundinnen und ein kleines Reetdachhäuschen gefunden, aber zunächst keinen Job. Lara hatte es in einem Supermarkt versucht und auch eine Zeit lang am Tresen einer Bäckerei gestanden, beides hatte ihr keinen Spaß gemacht. Als Aushilfe in einer Gärtnerei hatte sie sich einfach zu ungeschickt angestellt und die Arbeit im einzigen kleinen Hotel des Ortes dauerte oft bis in die Nacht hinein. Das hatte sie Ose nicht auf Dauer zumuten wollen. Bis Freunde ihr eines Abends nach etlichen Flaschen Wein erzählten, dass viele aus der Gegend seit Jahren nach Dänemark rüberfuhren, um Gleitgel mit Geschmack und Krankenschwester-Kostüme zu kaufen, es wurde gemutmaßt, dass die dänischen Sexartikelhersteller mindestens Millionäre sein müssten. Da war Lara auf die Idee gekommen, einen Ausflug in die Grenzregion zu machen und sich in einigen entsprechenden Geschäften umzusehen. Die Verkäufer und Beraterinnen in den Geschäften beantworteten bereitwillig ihre Fragen und führten begeistert das jeweilige Sortiment vor. Bei manchem Artikel hatte es Lara die Schamesröte in die Wangen getrieben, was nichts an ihren Plänen änderte. Für sie verbarg sich hinter der Idee eines Sexshops weder etwas Schmuddeliges noch Anrüchiges, sondern lediglich eine gute Möglichkeit Geld zu verdienen. Als gleichzeitig der kleine Blumenladen neben der Tankstelle in einen Supermarkt umzog, wurde sie geradezu auf einen Standort gestoßen und hatte es einfach gewagt.
Die Zeiten hatten sich geändert: Inzwischen lief Werbung für Gleitgel sogar zur besten Sendezeit im Fernsehen. Romane über sexuell unterforderte Frauen und Sadomasoträume bis zum Höhepunkt hatten sich zu Bestellern entwickelt, in Talkshows wurde über die angebliche sexuelle Revolution von Frauen diskutiert und Partnerportale boten nicht mehr nur den Mann fürs Leben, sondern auch den für ein paar heiße Stunden. Das hatte dazu geführt, dass sich in den vergangenen Jahren auch mehr Kunden in ihren Laden trauten. Als sich Lara vor Kurzem noch dazu entschlossen hatte, auch als Annahmestelle für einen Paketdienst aktiv zu werden, war sogar die alte Frau Christiansen mit ihrem Rollator und einem Päckchen im Rucksack in den Laden gekommen, hatte sich interessiert umgesehen und festgestellt, dass es bedauerlich sei, dass sie erst 86 Jahre alt werden musste, um mal in so ein Geschäft zu gehen. Laras Freundinnen lagen vor Lachen am Boden, als sie ihnen die Geschichte von der Rentnerin erzählt hatte.
Obwohl sie ständig von stimulierenden Objekten umgeben war, war Laras eigene sexuelle Aktivität seit einigen Jahren etwa so aktiv wie der Vulkan Tungurahua in Ecuador, der 1999 das letzte Mal ausgebrochen war. In etwa so lange war es auch her, dass es zwischen Laras Laken richtig heiß geworden war. Immer wieder einmal war ein Mann in ihrem Leben aufgetaucht, aber entweder hatte er sie satt, sobald er von ihrer Tochter erfuhr, oder er stellte sich viel zu schnell als Depp heraus. Auch deshalb wollte Lara aus Berlin weg, einer Stadt, die ihr kein großes Glück gebracht hatte. Erst die Trennung von ihrem Mann, dann die Kerle, die schneller wieder aus ihrem Leben verschwunden waren, als sie »Ich bin gern mit dir zusammen« sagen konnte, die Stimmung der Stadt machte sie immer unglücklicher. Unzufriedenheit und schlechte Laune bestimmten den Tagesablauf in Berlin. Die Erzieherinnen in der Kita von Ose waren permanent überarbeitet und gestresst, Autofahren entwickelte sich mehr und mehr zum Kampf mit Rücksichtslosigkeit und Geduldsprobe im Stau, nicht einmal Restaurantbesuche waren ein Vergnügen, weil sie den Eindruck hatte, dass die Servicekräfte in manchen Lokalen der Hauptstadt gefragt werden wollten, ob man ihnen vielleicht was bringen dürfte. Berlin wurde für Lara zu einem Ort, der seine Stimmung wie eine graue Decke über ihr Gemüt hüllte. Sie entschied sich deshalb bewusst für Landluft und Liebenswürdigkeit, die Wohnung unterm Dach im belebten Charlottenburg tauschte sie ein gegen ihr ruhiges Plätzchen in der Dorfstraße. Ihre Eltern wohnten nur wenige Straßen entfernt und standen immer gern als Babysitter zur Verfügung. Auch wenn sie anfangs ein wenig mit der Sexshop-Idee gefremdelt und sich Sorgen gemacht hatten, wie die Dorfgemeinschaft wohl auf diese neue Idee reagieren würde.
Aber nach der großen Eröffnungsparty, zu der sowohl neugierige Nachbarn als auch ehemalige Klassenkameraden von Lara erschienen waren, legte sich die erste Entrüstung – und das meiste Geld verdiente sie ohnehin mit den durchreisenden Touristen auf dem Weg nach Sylt. Ab und zu kamen Jugendliche, die Equipment für einen Junggesellenabschied benötigten, oder Besucher aus Dänemark. Aber in den vergangenen Jahren trauten sich auch immer mehr junge Frauen in das Geschäft, die sich in Ruhe das Sortiment ansehen wollten und ihren Freundinnen Laras Laden dann meistens wegen der ausgesuchten Dessous weiterempfahlen. Parkplätze HINTER dem Haus und Laras Diskretion bescherten ihr bald etliche Stammkunden, und ein Internetshop brachte zusätzliches Geld ein.
»Wie war‘s denn sonst in der Schule?«, wollte sie nun von ihrer Tochter wissen, die die Schubladen am Kassentresen nach etwas Essbarem durchsuchte.
»Ach, wie immer. Ich bin echt froh, wenn es vorbei ist. In ein paar Monaten können die mich mal. Hätte ich bloß Kunst abgewählt! Was wir da für einen Scheiß machen, kannst du dir echt nicht vorstellen. Schlimmer als in der Grundschule. Wir mussten uns heute auf den Boden hocken und mit Buntstiften fantasievolle Farbkombinationen entwerfen, aus denen dann Collagen entstehen sollen zum Thema ›Glück‹. Buntstiftgekritzel, ich meine, wir sind doch nicht mehr in der Grundschule! Sag mal, hast du hier nicht noch irgendwo eine Schoki?«
Sie zog weitere Schubladen des Tresens auf und zu.
»Die hab ich schon längst selber gegessen. Wenn du Hunger hast, musst du nach Hause fahren. Oder du holst dir einen Salat.«
»Davon werd ich nicht satt.« Sie strich sich über ihren flachen Bauch.
»Aber von Schokolade?«
Ose grinste. »Kannst du mir Geld geben, dann geh ich mal eben zur Tanke.«
»Ach, Ose, du weißt, was ich von diesem ständigen Zucker-Zeug halte. In meiner Tasche ist noch ein Apfel.«
»Ernährungsnazi!«
Ose trottete in die winzige Teeküche mit einer Kaffeemaschine, einem kleinen Kühlschrank und einem Tisch mit zwei Stühlen, an den Lara sich gerne setzte, wenn im Laden nichts los war, um zu lesen oder die Bestellungen auszufüllen.
Lara hatte ein Faible für Liebesromane, nicht für die großen Autoren der Literatur, sondern für Groschenhefte. Sie hatte eine riesige Sammlung der DIN-A5-Büchlein mit den herzzerreißenden Abenteuern von »Der Bergdoktor«, »Doktor Norden« und »Dr. Stefan Frank«, in denen unzählige Leben gerettet wurden und unzählige heißblütige junge Damen den unzähligen Weißkitteln verfielen. Sie sammelte Hefte mit Titeln wie »Meine Mutti – Kleiner Frechdachs Tim« und ganze Serien von »Cora«-, »Baccara«- und »Julia«-Liebesromanen. Ihr gefiel die Vorhersehbarkeit der Romane, sie hatte es gern, dass die Männer meistens äußerst gut aussehend waren, und es störte sie kein bisschen, dass diese Geschichten trotz ihrer oft seichten Einstiege, belanglosen Mittelteile und dramatischen Höhepunkte immer auf ein gutes Ende hinausliefen. Sie mochte die ausführlich beschriebenen Charaktere der Hauptfiguren und deren zum Teil recht lebensfremden Abenteuer. Kritikern dieser Leidenschaft konnte sie immer ganz genau erklären, dass die als »Heftchen« betitelten Romane weit unterschätzt seien, besser recherchiert und leidenschaftlicher geschrieben als so manche preisgekrönte Geschichte eines gefeierten Literaten. Und ganz ehrlich, manchmal wünschte sie sich, nachdem sie wieder ein traumhaftes »Cora«- oder »Julia«-Abenteuer ausgelesen hatte, dass ihr Leben auch ein klein wenig so aussehen würde. Mit viel Liebe, unendlicher Leidenschaft und schließlich auch mit einem Happy End.
Die vier Jungen, die die Packungen mit den Stringtangas für Herren genauer unter die Lupe nahmen, kicherten und versuchten, ihre Unsicherheit unter viel lautem Getöse zu verdecken. Lara kannte das schon. Da kam eine ganze Clique Jugendlicher ins Geschäft, unter dem Vorwand, ein paar Dinge für einen Junggesellenabschied einzukaufen, in Wahrheit waren die Kunden dann aber vor allem auch daran interessiert, sich selber ein Bild zu machen vom Sortiment in ihrem Laden. Natürlich musste man sich dann über das eine oder andere richtig lustig machen, damit die Kumpels nicht der Meinung waren, man sei ein Weichei oder hätte so etwas noch nie gesehen. Inzwischen beschäftigte sich das Quartett mit dem »Hot Ice Tickler«, einem Massagestab, den man in die Gefriertruhe legen konnte, um dann »eisgekühlten Spaß mit Massagen zu genießen«, wie es auf der Verpackung hieß. Lara wartete förmlich darauf, dass einer der Typen sie rief, um sich den einen oder anderen Artikel ganz genau erklären zu lassen. Das machten die Jungs dann auch erfahrungsgemäß, weil sie der Meinung waren, wenn eine Frau über Potenzmittel und Gleitcreme sprach, wäre das noch geiler. Anfangs war es ihr schwergefallen in solchen Situationen souverän zu reagieren, aber inzwischen wusste sie ganz genau, wie sie die Machos, die Draufgänger, die Schüchternen und die Angeber nehmen musste. Die ganz Lustigen fragten sie vor ihren Freunden auch gerne, ob es das eine oder andere Teil zum »Einführungspreis« geben würde. Aber die heutigen Kicherer waren schüchterner, als sie anfangs vermutet hatte. Die Jungs schlichen weiter von Regal zu Regal und warfen ihr lediglich ab und an einen unsicheren Blick zu.
Im hinteren Bereich des Ladens informierte sich ein älterer Herr mit Campinghütchen, dem sie der Optik nach eigentlich eher einen Besuch im Angelladen zugetraut hätte, über die neusten Pornofilme. Er nahm Hülle für Hülle aus dem Regal und las ausführlich die Beschreibungen auf der Rückseite. Es sah momentan nicht so aus, als würde der Mann sich die DVDs heimlich unter die beigefarbene Weste schieben, daher wollte Lara sich gerade einen Kaffee aus ihrer kleinen Küche holen, als ein weiterer Kunde den Laden betrat.
Der Mann war etwa Mitte vierzig und schrak beim Palimpalim der Ladenglocke zusammen, als sei er bei etwas Verbotenem erwischt worden. Er kam herein, sah sich suchend um und lächelte erleichtert, als er Lara hinter dem Tresen stehen sah.
»Tag, ich hoffe, Sie können mir helfen.« Sein dunkelbraunes Haar war noch voll und offensichtlich nicht gefärbt, es teilte sich in einem Seitenscheitel über der hohen Stirn und gab den Blick frei auf warme braune Augen mit vielen Lachfältchen. Der Mann war gut einen Kopf größer als Lara und muskulös, sofern man das durch die lässige Lederjacke erkennen konnte.
»Was kann ich für Sie tun?« Lara hatte den Mann noch nie gesehen, das konnte keiner aus dem Dorf sein.
»Ja, ähhh nichts, also ich meine, nein, jedenfalls nicht so, wie sie meinen.« Er deutete mit den Händen auf das Sortiment in den Regalen. Der ganze Auftritt hatte etwas Jungenhaftes und Tapsiges. Lara konnte sich ein Grinsen nur schwer verkneifen. Der war ja noch schüchterner als die Junggesellen-Verabschieder. Aber nicht unattraktiv. Sie ließ ihn zappeln und er stotterte mit verlegenen Seitenblicken auf Dildos und erotische Zutaten seinen Wunsch heraus. »Wie es scheint, habe ich mich wohl verfahren, obwohl das wahrscheinlich für jemanden von hier klingt wie eine blöde Ausrede, bei den paar Straßen. Ich will hier in Lönnebek ein paar Wochen arbeiten und, ähhhhh, also an der Tankstelle und hier nebenan in der Burger-Stube ist es so voll, daher dachte ich, ähhhh, ich frage hier mal nach, ob mir jemand den Weg erklären kann, also ich suche eigentlich mein Ferienhaus. Also nicht meins, sondern eins, das ich gemietet habe.«
»Wo wollen Sie denn hin?« Lara fragte sich, was so ein Mann wohl in Lönnebek arbeiten wollte. Sie konnte sich weder vorstellen, dass er im Supermarkt aushelfen wollte, noch sah sie ihn als Hilfskoch für eines der Restaurants. Sicher hätte sie auch von einer freien Stelle gehört. Vielleicht war er Architekt oder Fotograf?
Der Mann zog einen zerknitterten Zettel aus seiner Jackentasche. »Moment mal, warten Sie, ich hab es mir aufgeschrieben. Ich dachte ja, dass mein GPS mich bis vor die Haustür fährt, aber …«
»Ja, da sind Sie nicht der Erste, der damit Probleme hat«, bestätigte Lara, »GPS funktioniert hier in Lönnebek nur in der Dorfstraße, danach bekommen Sie den Hinweis, dass das Gebiet nicht erfasst ist, stimmt‘s?«
»Ja, genau, also ich muss in den Karrkehweg. Nummer sieben.« Der Mann hatte außergewöhnlich schöne Augen und lange, gebogene Wimpern. Lara versuchte sich auf die Unterhaltung zu konzentrieren.
»Karkeweg heißt das, Kark ist die Kirche, Plattdeutsch können Sie wohl nicht?«
Der Mann grinste. »Französisch, Spanisch, Englisch, Italienisch und leidlich Russisch, für Plattdeutsch hat die Zeit noch nicht gereicht, aber ich verspreche, mich damit zu befassen, wenn ich länger bleibe. Mein Name ist Arne Sonntag, ich bin Schriftsteller und möchte hier in Ruhe meinen Roman zu Ende schreiben.«
»Na, so ruhig ist es bei uns auch wieder nicht.« Lara warf einen Blick auf die gickernden Jungs. »Ich bin Lara Koschwitz und mir gehört der Laden hier.« Sie reichte ihm die Hand und eine Wärme durchflutete ihren Körper, als hätte sie jemand mit dem Shunga-Hitze-Öl eingerieben. Arnes glatte Haut in ihrer Hand, seine lächelnden Augen und die Grübchen in den süßen Pausbacken ließen sie fast vergessen, wo sie war. Er sah wirklich gut aus. Wann hatte sie eigentlich das letzte Mal einen Mann getroffen, der in ihren Augen attraktiv war? Die Jungen, die sie angeschwärmt hatte, als sie noch mit ihnen in die Schule gegangen war, waren inzwischen zum größten Teil zu mehr als durchschnittlichen Ehemännern mit mehr oder weniger dicken Bäuchen mutiert, die ihre Sonntage auf dem Vereinsplatz verbrachten, um beim Fußball ihre Mannschaft anzufeuern. Gut, der eine oder andere sah auch heute noch gut aus, aber Lara konnte sich an keine Begegnung in den vergangenen Monaten erinnern, die derartige Gefühle in ihr ausgelöst hatte.
Der Lachanfall von einem der Jungen, die wieder einen besonders scharfen Artikel für ihren Freund im Regal entdeckten, brachte sie zurück in die Gegenwart. Sie zog ihre Hand zurück und erinnerte sich an die Frage, die noch im Raum stand. »Der Karkeweg ist ganz einfach zu finden: Sie fahren einfach hier vom Parkplatz wieder herunter, biegen nach links ab und bleiben dann auf der Dorfstraße, bis auf der rechten Seite eine Schule auftaucht, ein relativ großes Haus, gelb gestrichen und mit einem kleinen Spielplatz dran, ist wirklich nicht zu verfehlen, gleich danach geht’s links in den Feldweg, und die zweite Straße rechts ist dann der Karkeweg – sehen Sie auf jeden Fall, weil Sie da gleich zu Beginn an der Kirche vorbeikommen.«
»Ich danke Ihnen. Karke – Kirche, Karke – Kirche – sehen Sie, schon habe ich etwas gelernt.«
Ein verlegenes Schweigen lag auf einmal zwischen ihnen.
»Warten Sie, ich komme mit vor die Tür, dann kann ich Ihnen die Richtung zeigen.« Lara machte sich eifrig auf in Richtung Ladentür und ignorierte das dauerhafte Bimmeln der Glocke, als sie dem Gast mit den Armen die Richtung wies. Arne Sonntag stand so nah vor ihr, dass sie sein Aftershave riechen konnte. Frisch und gleichzeitig herb, männlich. Sie wäre gerne noch einen Schritt näher an ihn herangetreten, aber dann würde sie in seinen Armen liegen.
Mit einem Piepen öffnete er die automatische Verriegelung des Wagens und öffnete die Tür. »Wir sehen uns. Vielen Dank.« Er stieg in sein Auto, und als er an Lara vorbeifuhr, winkte er ihr zu.
Lara konnte einen Kindersitz auf der Rückbank erkennen und einen Aufkleber »Jerome an Bord«. Plötzlich wurde ihr ganz kalt. So schnell konnten Träume platzen. Interessanter Mann, freundlich, charmant, gut riechend und noch dazu gut aussehend. Aber eben auch: Vater von Jerome. Sicher saß die Mutter von Jerome zusammen mit dem Kleinkind in irgendeiner Villa und wartete bereits auf einen Anruf des erfolgreichen Ehemannes, mit der Nachricht, dass er gut an seinem neuen Arbeitsort gelandet war. Sicher würde sie bald ungefragt mehr über den Autor erfahren, denn ihre Freundin Charly wohnte auch im Karkeweg, und der entging nichts von dem, was sich in der Nachbarschaft tat. Wahrscheinlich wäre es ohnehin besser, keinen weiteren Gedanken an diesen Mann zu verschwenden. Lara hatte keine Zeit, weiter über diese eigenartige und besondere Begegnung nachzudenken, denn der Opi wollte eine DVD bezahlen.
»Nein, Mama, ich möchte wirklich keine Bratwurst. Ich will jetzt ganz auf Fleisch verzichten. Es ist an der Zeit, dass ich meine Lebensweise meiner inneren Einstellung anpasse.« Ose verschränkte die Arme vor der Brust, nachdem sie den Teller mit den Würsten in Laras Richtung geschoben hatte.
»Na, das klingt nach mehr. Lass hören! Heute Mittag warst du doch noch der Meinung, dass ein Hamburger eine vollwertige Mahlzeit ist.« Lara griff nach dem Teller und legte zwei Bratwürste neben ihren Berg Kartoffelbrei. Sie sah ihre Tochter erwartungsvoll an und begann zu essen.
Sie saßen an dem Tisch aus gelaugtem Kiefernholz in der kleinen Wohnküche. Der Tisch hatte schon Laras Oma gehört, und sie hatte ihn aufarbeiten lassen, als sie wieder nach Nordfriesland gezogen war. Es gab in ihrem gemütlichen Reetdachhaus nur winzige Zimmer, aber mit viel Liebe und Fantasie hatte Lara ein echtes Zuhause für sich und ihre Tochter geschaffen. In der kleinen Küche gab es keine Einbauschränke, sondern ein zum Tisch passendes Büfett mit einem Aufbau, hinter dessen Glasscheiben man gehäkelte Bordüren an den Regalen erkennen konnte, einen neuen Herd mit Backofen, eine moderne Spüle mit Unterschrank und eine Arbeitsplatte, ebenfalls aus gelaugtem Kiefernholz. Vor dem Fenster, an dem der Tisch platziert war, hingen selbst gehäkelte Halbgardinen und auf der Fensterbank komplettierte eine Margerite in einem roten Übertopf den Eindruck ländlicher Idylle, die momentan nur durch die Stimmung des Abendessens getrübt wurde.
Nachdem Lara sich nach Ladenschluss abgehetzt hatte, um im Supermarkt noch frische Bratwürste zu besorgen, anschließend Kartoffeln zu schälen, zu kochen und zu stampfen, einen Salat zuzubereiten und alles auf den Tisch zu bringen, verzog Ose mürrisch das Gesicht und mäkelte an allem herum. Das Dressing war ihr zu sauer, der Kartoffelbrei immer so eine Pampe und mit der ganzen Butter darin auch nicht gerade gesund, und nun wollte sie also auch kein Fleisch mehr essen. Lara spürte, wie sich ihr Geduldsfaden innerlich straff zog wie ein Flitzebogen. Ose sagte immer noch nichts, hatte aber inzwischen nach ihrer Gabel gegriffen und stocherte nun lustlos in ihrem Salat herum.
»Kann es vielleicht sein, dass deine vegetarische Einstellung irgendetwas damit zu tun hat, dass du dich heute Nachmittag nicht nur mit Levke, sondern auch mit diesem Frank getroffen hast?«
»Hä? Ich hab keine Ahnung, wovon du redest.« Ose bekam leicht rote Wangen, versuchte aber, unschuldig dreinzublicken. Sie schob sich eine Gabel voll Kartoffelbrei in den Mund.
»Na, also, dieser Frank aus deiner Klasse, den Levke im Schlepptau hatte, von dem hast du doch schon mal erzählt, oder? Ich erinnere mich nicht mehr genau, war das der, der schon einen Führerschein hatte, oder der, mit diesen voll coolen Turnschuhen?«
Für Lara waren die Verliebtheiten ihrer Tochter nichts Neues, bisher war mit jedem neuen Jungen auch immer eine neue Charaktereigenschaft oder Lebenseinstellung ins Haus gezogen. Roman zuliebe trug Ose eine Zeit lang nur noch schwarze Klamotten, durch Christian war sie zur frühmorgendlichen Joggerin mutiert, vielleicht hatte sie sich auch deshalb von diesem Freund sehr schnell wieder getrennt, weil ihr das Rennen vor der Schule zu anstrengend geworden war, und nun war es also Frank und mit ihm der Verzicht auf Fleisch. Lara sollte es recht sein, solange der Angebetete nicht Mitglied einer Sekte war oder ihre Tochter zu kriminellen Handlungen anstiftete.
Noch immer befand sich ein großes Fragezeichen auf der Stirn auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches. Lara versuchte es weiter: »Nein, jetzt weiß ich es wieder, das ist doch der Junge, der schon kurz nach dem Kindergarten aufgehört hatte, Fleisch zu essen. Ist der Vater nicht irgendein hohes Tier im Sportverein?«
Jetzt tat Ose so, als würde ihr langsam etwas dämmern. »Ja, kann sein. Ich glaube schon.«
»Sag mal, habe ich den halben Nachmittag mit diesem Frank zusammengehockt, oder du? Und wieso musste Levke denn so schnell wieder gehen? Ich dachte, ihr wolltet Mathe zusammen machen?«
Es machte Lara wahnsinnig, ihrer Tochter jedes Detail aus der Nase ziehen zu müssen.
Ose legte ihr Besteck laut neben dem Teller ab. »Ist das hier ein Verhör oder was? Kann man in diesem Haus eigentlich kein Privatleben haben? Du musst doch nicht immer alles wissen. Das kotzt mich so was von an!« Sie schob mit dem Hintern ihren Stuhl zurück und stand auf. »Ich bin satt. Danke für das Essen, kann ich aufstehen und in mein Zimmer gehen?«
»Jetzt reg dich mal wieder ab. Ich werde mich ja wohl noch erkundigen dürfen, was da für Jungen bei dir zu Besuch sind, immerhin bin ich deine Mutter und …« Ein klitzekleines bisschen kam sich Lara vor wie in einem Flashback, zurückversetzt in ihre eigene Jugend, als ihre Mutter sie über die ersten Jungenbekanntschaften ausgequetscht hatte. Hatte sie sich damals nicht ganz ähnliche Sätze anhören müssen? Ganz entfernt dämmerte ihr noch, wie schrecklich sie ihre Mutter und deren Benehmen damals fand.
»Wieso kümmerst du dich nicht einfach mal um dein eigenes Leben? Such dir doch selber einen Typen!« Ose starrte ihre Mutter wütend an und hielt sich an der Stuhllehne fest. Dann machte sie ein Geräusch wie »Woaaahhhh« und verließ laut stampfend die Küche.
Lara wusste auf diesen Ausbruch auch keine Antwort mehr, schob die Zickigkeit auf den Abitur-Stress ihrer Tochter in der Schule und auf ersten Liebeskummer und schnitt sich seelenruhig ein weiteres Stück von ihrer Bratwurst ab.
Während sie kaute, überlegte sie, ob sie ihrer Tochter recht geben musste. Schließlich hatte sie auch schon öfter daran gedacht, sich einen neuen Partner zu suchen, denn wenn Ose erst in Amerika wäre, würde es ganz schön einsam werden in ihrem Leben. Außerdem wäre es schön, wieder jemanden an seiner Seite zu haben, mit dem man lachen und reden konnte, der einen auch mal in den Arm nahm und zärtlich sein konnte.
Aber wo sollte man einen Mann für den Rest des Lebens herbekommen? Für die Disco war sie ja wohl schon etwas zu alt, und bestellen konnte man so einen Typen auch nirgendwo. Bisher hatte sie tatsächlich auch aus Bequemlichkeit das Leben als alleinerziehende Mutter der mühsamen Suche nach einem geeigneten Partner vorgezogen.
Die Männer, die im Sexshop einkauften, kamen tatsächlich für sie gar nicht infrage. Das hatte Lara schon erlebt, sobald sie zum Beispiel auf Partys von Freunden irgendwelchen unbekannten Männern von ihrem Beruf erzählte, fielen anzügliche Sätze wie »Dann lass uns doch mal das Sortiment testen« oder »Zeig mir doch mal, was du so drauf hast, wenn du dich so gut auskennst«. Gern begleitet von obszönen Gesten und wissendem Grinsen.
Und auch im Laden waren mit Kerlen bereits die seltsamsten Dinge geschehen. Sie erinnerte sich noch zu gut an die Geschichte mit dem Bauarbeiter, der im Blaumann in der Mittagspause im Laden nach einem Penisring verlangt hatte. Nachdem er gefunden hatte, was er wollte, bat er Lara, die Verpackung gleich zu entsorgen, und machte dann den Eindruck, sich noch ein wenig umsehen zu wollen. Verschwand auch mit einigen Slips in der Umkleidekabine. Lara hatte gelassen und diskret damit begonnen, das Pharmazie-Regal zu säubern, als er wieder vor ihr stand: Hosenstall offen, Pipimann mitsamt dem Ring draußen, und dann die Frage »Geht das so?«. Auf dieses Angebot der männlichen Gattung konnte sie wirklich verzichten. Auch wenn sie mit ihren Freundinnen heute über dieses Ereignis lachen konnte. Der Mann hatte übrigens sowohl den Ring als auch ein großes Sortiment an Slips gekauft, zumindest finanziell war dieser Herrenbesuch für sie lohnend gewesen.
Klar war, es musste etwas passieren in ihrem Leben. Sie konnte die Suche nach einem Mann nur selbst angehen. Es würde ganz sicher nicht irgendwann ein Traumtyp an ihrer Tür klingeln und sagen: »So. Hier bin ich!« Und beim Warten darauf, dass George Clooney statt Kaffeekapseln Vibratoren bewerben und deshalb ihrem Laden einen Besuch abstatten würde, konnte sie wahrscheinlich hundert werden.
Lara beschloss, sich gleich morgen mit ihren Freundinnen zu treffen, um einen Schlachtplan zu entwerfen. Unmöglich konnte das doch nicht sein, einen Kerl zu finden, der ihren Ansprüchen gerecht wurde. Sie wünschte sich doch nur einen netten, durchschnittlichen Freund, der ihrem Leben so etwas wie das Sahnehäubchen aufsetzen würde. Aber jetzt würde sie sich erst einmal mit einem schönen Glas Rotwein und dem neusten »Stella«-Roman »Deine Nacht in meinen Armen«, in dem es um die schöne Ramona und eine schicksalhafte Begegnung ging, aufs Sofa kuscheln.
»Hast du das gelesen? In diesen Gummi-Pimmeln sollen wahnsinnig gefährliche Weichmacher drin sein.« Laras Freundin Charly schenkte sich großzügig Wein nach und sah sie fragend an.
Lara saß zusammen mit ihr und Kerrin in der Küche, vor sich auf dem Tisch ein ausgebreitetes »Monopoly«-Spielbrett, auf dem grüne und rote Holzhäuschen und verschieden große Stapel Papiergeld darüber Auskunft gaben, dass die drei hier bereits eine Weile zusammensaßen.
»Was? Das Zeug, das auch im Kinderspielzeug drin war? Meine Schwiegermutter hat mal so einen Beißring für Jörn mitgebracht, der roch damals ganz eigenartig. Das habe ich gleich gemerkt. Aber meine Schwiegermutter hat sich ja nie über irgendetwas informiert. Also ich weiß noch, dass ich zu Rolf gesagt habe …«
»Herzchen, jetzt geht es aber um Sex!« Charly nahm einem großen Schluck von ihrem Wein. »Ich weiß nicht, ob du noch weißt, was das ist, nach all den Jahren mit deinem Rolfi.«
Charly, die eigentliche Charlotte hieß und in der Schule zwei Klassen über Lara gewesen war, nahm selten ein Blatt vor den Mund. Die Ehe war für sie schon immer eine überflüssige Einrichtung gewesen, und nach einem Versuch mit dem Zahnarzt des Dorfes, Sven Jensen, der nach zwei Jahren gescheitert war, legte sie ihren Ring für alle Zeiten ab. In der Schulzeit galt sie als »scharfes Luder«, das begehrteste Mädchen der Schule, und sie versuchte bis heute, diesem Ruf gerecht zu werden. Was ihr nicht schwerfiel, mit der Figur einer 18-Jährigen, fast 1,80 m Größe und einem rostrot gefärbten, schulterlangen Bob mit Pony, was einen tollen Kontrast zu ihren leuchtend grünen Augen ergab. Hohe Wangenknochen, schmale Nase und wunderschön geschwungene Lippen gaben dem Gesicht Symmetrie.
»Brauchst gar nicht so zu gucken, ich kann‘s gar nicht fassen, jahrelang immer ein und derselbe Typ im Bett, wird das nicht langweilig? Also ich meine, wenn ihr euch bei Lara im Laden versorgen würdet, dann hätte ich ja keine Zweifel, dass es bei euch noch abgeht, aber das ist ja so eeeeeeklig, was man da kaufen kann.« Sie grinste Lara frech an, als sie Kerrins Tonlage imitierte.
Kerrin legte die Würfel neben ihr Spielgeld und griff nach der Weinflasche. »Natürlich kannst du das nicht verstehen, wie das ist, wenn man viele Jahre mit ein und demselben Mann zusammen ist, mit ihm Kinder hat und wirklich mit diesem Einen sein Leben teilt. Dass es einfach wunderbar ist mit ein und demselben Menschen wirklich alles zu teilen. Da kommt es nicht immer nur auf den Sex an, aber das kannst du natürlich nicht verstehen. Wie denn auch, du hast es ja nie besonders lange mit deinen Typen ausgehalten.«
»So, Moment mal.« Lara schaltete sich ein. »Bevor ihr hier gleich mit Holzhäuschen werft und das Papiergeld anzündet, diese Diskussion hatten wir schon oft genug. Und wir sind auch schon des Öfteren zu einem Ergebnis gekommen. Das da lautet: Wir haben alle unterschiedliche Arten, unser Leben zu leben, und wir sind alle auf unsere Weise glücklich, so wie es ist, ohne die anderen zu kritisieren oder wegen ihrer Entscheidungen scheiße zu finden.« Lara kam sich vor wie die Erziehungstante im Fernsehen und überlegte schon, welche ihrer Freundinnen als Erste auf die stille Treppe geschickt werden musste, als Charly ihr auf die Schulter klopfte.
»Hugh! Wahr gesprochen, Häuptling.« Charly hob ihr Glas und trank einen großen Schluck Wein.
Kerrin hörte für einen Moment auf, den mitgebrachten Kuchen in sich hineinzustopfen. Sie arbeitete beim Dorf-Bäcker und brachte zu den gemeinsamen Spieleabenden gern sehr fette und süße oder sehr trockene Kuchenreste aus dem Laden mit, die sie dann zu großen Teilen selber aß. Dabei war sie nicht dick, sondern allenfalls etwas pummelig, ansonsten aber genau so, wie sich Touristen ein norddeutsches Mädchen vorstellen: dunkelblonde Haare, blaue Augen, frischer Teint mit roten Bäckchen und ein strahlendes Lächeln. Ein freundliches Wesen, immer erst einmal das Beste in jedem Menschen vermutend, sie war fürsorglich und immer rührend darum bemüht, dass es allen um sie herum gut ging.
Mit diesem Gesamtpaket hatte sie auch Rolf Clausen an Land gezogen, den Sohn eines Herrenausstatters in Flensburg. Die beiden fanden sich in einer Großraumdisco irgendwo zwischen Schleswig und Dänemark und als die Beziehung sich verfestigt hatte, überredete Kerrin ihren Freund, mit ihr nach Lönnebek zu ziehen, weil sie sich hier so zu Hause fühlte und ihre Eltern außerdem praktischerweise auf dem riesigen Grundstück noch Platz für ein zweites Haus hatten, das die zwei sich hier bauten.
Inzwischen war der Herrenausstatter zu einer Kette ausgebaut worden und es gab mehrere Filialen in Niebüll, Husum, Flensburg und Schleswig. Rolf fuhr zwischen den Läden hin und her und kontrollierte meistens vom Schreibtisch in Lönnebek, wie die Geschäfte liefen. Zur Familie gehörten zwei Kinder, der 14-jährige Sören und die 17-jährige Levke, die Mathekönigin, die mit Ose in einem Jahrgang war und auch in diesem Jahr ihr Abi machen würde. Im Gegensatz zu Ose wusste Levke aber bereits ganz genau, dass sie nach einem Mathestudium in die Forschung gehen und hier selbstverständlich Karriere machen würde. Die zuversichtliche Art, dass das Leben mit all seinen Widrigkeiten sich nach ihr richten würde und nicht umgekehrt, war ihr auf jeden Fall von ihrer Mutter vererbt worden.
Die Frauen erhoben alle ihre Gläser und sahen sich an. »Aber geantwortet hast du mir noch nicht, Lara, was ist denn nun mit dem Giftzeug in den Dildos?« Charly blieb hartnäckig.
»Ich weiß es nicht genau«, antwortete Lara. »Scheinbar haben die Grünen im Bundestag tatsächlich eine Kleine Anfrage gestellt, damit erst mal geklärt wird, ob es überhaupt Grenzwerte für die potenziell krebserregenden Stoffe in Vibratoren und so gibt. Aber der Großteil der belasteten Teile kommt aus Asien, und so einen Schrott kaufe ich sowieso nicht ein. Bei mir sind alle Dildos aus hundert Prozent medizinischem, geruchsneutralem Silikon und körperverträglichem Kunststoff und in Deutschland gefertigt …«
»… sagt die Frau, die schon gar nicht mehr weiß, wie ein echter Penis aussieht.« Charly konnte es nicht lassen zu sticheln. »Meine liebe Lara, wie steht es denn mit dir und den Männern?«
Kerrin begann die Spielfiguren einzusammeln und legte die Geldstapel nebeneinander. »Nur dass wir es mal festhalten, ich habe heute gewonnen!«
»Ja, Kerrin, haben wir mitbekommen. Aber ich fände es jetzt interessanter zu hören, wie es um das Sexleben von Lara steht.«
»Gar nicht. Das wisst ihr doch.«
»Was soll denn das heißen?« Kerrin sortierte die Geldscheine nach ihrer Wertigkeit in den Karton zurück.
»Gar nicht heißt, dass ich immer noch gar nichts mit Männern zu tun habe, es sei denn, sie kommen in meinen Laden.« Lara trank einen Schluck Wein und überlegte. »Vielleicht sollte ich doch einfach mal im Geschäft einen Kunden anquatschen, heute war ein sehr netter da. Auf der anderen Seite krieg ich schon Pickel, wenn ich jemanden sehe, der sich fast kriecherisch durch die Abteilung mit den Potenzmitteln schleicht, und dann mit Peniscreme ›Tauris Extra Strong‹ und ›Erektions-Stimulations-Kapseln‹ an die Kasse kommt und tut, als sei er der Superhengst.«
»Was es alles gibt.« Kerrin schüttelte den Kopf. »Was macht denn diese Peniscreme?«
»Die sorgt für Ausdauer.« Lara sah ihre Freundin an und hielt dabei die Kuchengabel senkrecht in die Luft. »Wenn du verstehst? Komm doch einfach mal vorbei und guck dich um, vielleicht ist ja doch was für dich dabei.«
»Im Leben nicht. Wenn mich da einer aus dem Dorf sieht …« Kerrin schüttelte den Kopf. »Das wäre oberpeinlich.«
»Ich weiß nicht, wieso ihr euch da so anstellt. Sogar unser Bürgermeister kommt mich ab und zu auf einen Kaffee besuchen, wenn auch durch die Hintertür. Was wäre also so schlimm daran, wenn euch einer dabei sieht, wie ihr einen tollen neuen BH in meinem Laden kauft?«
»Der Bürgermeister ist ja auch ein Cousin deiner Mutter und damit so etwas Ähnliches wie ein Onkel. Was meinst du, wie schnell das die Runde im Dorf macht, wenn ich bei dir einkaufe. Dann fragen mich die Ersten beim Bäcker, ob bei mir und Rolf noch alles in Ordnung ist. Nein danke. Und lenk nicht ab. Wir waren bei dir.«
»Glaubt nicht, dass ich mir darüber noch keine Gedanken gemacht habe. Ich weiß einfach nicht, wo ich einen Mann finden könnte, im richtigen Alter, nicht gerade bucklig und auch noch nett. Es sei denn, Kerrins Chef kann mir einen backen.« Lara griff nach einem trockenen Stück Kuchen und biss hinein.
Charly zog die Augenbrauen hoch. »Also, ich habe ja noch meinen Zahnarzt, also nicht für den Sex, aber immerhin gehen wir ja inzwischen sehr freundschaftlich miteinander um, und ich habe ab und an jemanden zum Reden, wenn ich wissen will, mit welchen Männer-Themen ich mich für Bargespräche gerade auskennen muss.«
»Charly, du bist unverbesserlich.« Kerrin schüttelte den Kopf und wandte sich Lara zu. »Willst du denn wirklich wieder einen Mann in deinem Leben? Ich dachte bisher immer, dass du ganz zufrieden bist, so wie es ist. Du wirkst auf mich immer wie eine sehr überzeugte Single-Frau.«
»Ach, ich weiß nicht. Manchmal denke ich schon darüber nach, wie es wäre, jemanden zu haben, der sich auch mal ein wenig um mich kümmert. Ganz ehrlich, ich mache mir schon Sorgen, dass es etwas einsam wird, wenn Ose im Herbst nach Amerika geht, aber ist das ein Grund, sich nach einem Kerl umzusehen?«
Charly schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Natürlich ist das kein Grund, aber hat dir schon mal jemand gesagt, dass man da unten zusammenwachsen kann, wenn man ewig keinen Sex hat? Du bist doch noch nicht hundert.« Sie wandte sich an Kerrin. »Wir müssen uns mal um Lara kümmern, Kerrin. Seit sie sich von diesem Hans-Peter getrennt hat, hat sie noch keinen Typen über Nacht bei sich gehabt.«
»Woher willst du das denn wissen?« Lara war mit vollem Mund kaum zu verstehen.
»Na, dass die Nachbarschaft hier besser funktioniert als jede Stasi-Zentrale, dürfte dir ja auch kein Geheimnis sein. Herrenbesuch wären uns mitgeteilt worden, da kannst du sicher sein. Schon erst recht, wenn da einer erst morgens wieder aus der Haustür gefallen wäre.«
Charly hielt inne, musterte Kerrin, schließlich Lara und schüttelte den Kopf. »Man kann ja nicht gerade sagen, dass hier die echten Expertinnen in Sachen Wie-finde-ich-einen-Mann am Tisch sitzen. Eine weiß gar nicht mehr, wie es geht, und die anderen hat es verlernt, weil sie seit Jahren mit ihrem Schulfreund verheiratet ist. Gut, dass ihr mich habt.«
»Also dann, du Fachfrau in Sachen Männer – was ist der Plan?« Lara hatte den Kuchen aufgegessen, stand auf und nahm den Karton mit dem Monopoly vom Tisch, um das Spiel wieder ins Holzregal neben der Tür zu räumen.
»Also ich finde, das ist eine ganz gute Idee, wenn wir alle drei zusammenarbeiten, wenn wir all unsere Ideen zusammenwerfen.« Kerrin ließ die Kuchengabel zwischen Daumen und Zeigefinger wippen: »Charly weiß, wo man Männer kennenlernen kann, sie weiß sehr gut darüber Bescheid, wie man an so einem ersten Abend ins Gespräch kommt, und ich kann zum Beispiel meinen Cousin fragen, der hat über so ein Online-Dings eine Frau gefunden.«
»Kerrin, super Idee. Ich erkundige mich, welche Agenturen wirklich seriös sind, einige kenne ich ja auch aus eigener Erfahrung und dann schick ich dir die Links. Auf jeden Fall müssen wir uns aber ein paar zusätzliche Dinge überlegen, um das Ganze zu flankieren. Viel hilft viel, würde ich sagen. Irgendwelche weiteren Ideen?«
Lara konnte nicht fassen, dass über ihr Liebesleben gesprochen wurde wie über eine Auktion auf Ebay. »Sagt mal, geht’s noch? Kann ich auch mal was dazu sagen?«
»Nein, kannst du nicht, dann nölst du ja doch wieder nur rum. Ich bin froh, dass du dich endlich dazu aufgerafft hast, das Thema Männer mal anzugehen. Jetzt lass uns mal machen. Du, meine liebe Lara, darfst uns jetzt eine Flasche Wein oder Sekt öffnen und mal ein paar herzhafte Snacks rausrücken.« Sie zeigte Richtung Kühlschrank. »Und dann machen wir einen richtigen Plan. Den braucht man nämlich, wenn man so in der Ödnis lebt, wie wir hier in Lönnebek. Die Männer, die hier im Ort infrage kommen, sind entweder schwul, hässlich und geistig minderbemittelt oder schon seit Jahren verheiratet, da muss man größer denken.«
»Ich kann es mir lebhaft vorstellen, wie es sein wird, wenn ihr richtig loslegt, will es aber lieber nicht! Ich hole gern einen Sekt aus dem Keller, aber die Flasche tausche ich ein gegen einen Themenwechsel: Meinetwegen sprechen wir über Kinder oder Tortenrezepte, aber nicht mehr über Männer! Und vor allem nicht über mögliche Begleiter für mich. Wenn ich einen Kerl suche, dann schaffe ich das auch ganz alleine.«
Doch Lara klang nicht sehr überzeugend.
Natürlich war der Themenwechsel an diesem Abend nicht sofort gelungen, dafür begeisterte sich Charly viel zu sehr für ihre neue Rolle als Kupplerin, aber Lara hatte es am Abend mit ihren Freundinnen immerhin geschafft, dass die Runde sich über Ehemänner und ihre besonderen Verhaltensweisen nach der Trauung unterhielten. Auch wenn Kerrin bei diesem Thema unter ihnen die Fachfrau war, gab es auch bei den anderen einiges aus ihrem schmaleren Erfahrungsschatz beizutragen, das zu viel Gelächter geführt hatte.
Die Freundinnen leerten nicht nur eine Flasche Wein und heute, am Morgen danach, fühlte Lara jedes einzelne Promillchen davon im Kopf. Aber der Abend war es wert gewesen. Wozu wollte sie sich eigentlich nach einem Mann umsehen, bei solchen Freundinnen? Frauen, mit denen sie all ihre Gedanken, ihre Sorgen und glücklichen Momente teilen konnte? Moment mal, da war doch noch etwas anderes gewesen? Lara schüttelte sich, um auf andere Gedanken zu kommen und den muskulösen Oberkörper und die langen dunklen Wimpern und niedlichen Grübchen wieder aus ihrem Kopf zu bekommen, die plötzlich vor ihrem inneren Auge auftauchten.
Sie machte sich einen Kaffee und war wieder ins Bett gestiegen, denn heute war ein richtig freier Sonntag. Ohne Mittagessen-Verpflichtung bei ihren Eltern, ohne Shuttle-Dienste für Ose und ohne Erotik-Messe in der nächstgrößeren Stadt oder Aufräumaktionen oder Bürotätigkeiten im Laden. Deshalb konnte sie sich diese Kuschelstunde erlauben.
Ihr Schlafzimmer war wie dafür gemacht, ganze Tage dort zu verbringen. Winzig klein, aber sehr gemütlich, unter das Fenster in der Dachschräge passte gerade ein niedriges, weiß lackiertes Doppelbett. Bei Regen prasselten die Tropfen in einem gemütlichen Sound direkt über ihrem Kopf auf das Glas. Die Wände des Zimmers waren in einem zarten cremefarbenen Ton gestrichen, und außer dem Bett stand nur noch ein alter ausklappbarer dunkelbrauner Cordsessel hier, der früher einmal ein Gästebett gegessen war und nun in erster Linie als Ablagefläche für getragene Kleider diente. Die waren in frischem Zustand im ebenfalls sehr kleinen Nebenzimmer untergebracht. Hier hatte Lara einen Schrank einbauen lassen, in dem Ose und sie ihre Kleider aufbewahrten. Das Zimmer ihrer Tochter lag auf der gegenüberliegenden Seite unter dem Dach und war etwas größer. Ein kleines Bad mit WC und Dusche, im vergangenen Jahr frisch saniert, nahm den Rest des Raumes im oberen Geschoss des Häuschens ein.