9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 13,99 €
Tatort Familie Ein angesehener Bremer Rechtsanwalt wird in seiner Kanzlei erschossen. Vier Schüsse sind auf ihn abgegeben worden, der letzte war tödlich. Dringend tatverdächtig ist sein 17-jähriger Sohn Jakob. Doch Jakob verbarrikadiert sich in seinem Zimmer und schweigt. Für seine Großmutter Dora bricht die Welt zusammen: Sie hat nicht nur ihren Sohn verloren – ihr Enkel Jakob soll auch noch der Mörder sein? An der Seite eines Rechtsanwalts im Ruhestand stellt sie ihre eigenen Nachforschungen an. Und fördert dabei eine Tragödie zutage, die sie niemals für möglich gehalten hätte.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 330
Der angesehene Bremer Rechtsanwalt Michael Ahlendorf liegt erschossen in seiner Kanzlei. Vier Schüsse sind auf ihn abgegeben worden, der letzte war tödlich. Dringend tatverdächtig ist sein siebzehnjähriger Sohn Jakob. Er wurde kurz nach der Tatzeit beim Verlassen der Kanzlei gesehen. Aber hat er ein Motiv? Für Jakobs Großmutter Dora bricht eine Welt zusammen. Nicht nur hat sie ihren Sohn verloren – ihr Enkel soll auch ein Mörder sein? Doch Jakob ist zu keinem Gespräch bereit. Nicht mit Dora, nicht mit David, seinem Dad, nicht mit der Polizei. Überzeugt von Jakobs Unschuld, stellt Dora an der Seite ihres alten Freundes Wolfgang, Rechtsanwalt im Ruhestand, eigene Nachforschungen an. Und fördert eine Tragödie zutage, die sie zutiefst erschüttert.
Da antwortete Jesus und sprach zu ihnen:
Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Der Sohn kann nichts von sich selber tun,
sondern was er sieht den Vater tun; denn was dieser tut, das tut gleicherweise auch der Sohn.
Der Vater aber hat den Sohn lieb und zeigt ihm alles, was er tut, und wird ihm noch größere Werke zeigen, dass ihr euch verwundern werdet.
Johannes 5,19-20
Als der erste Schuss fiel, spürte er nichts. Er dachte noch, dass der Lärm bestimmt dafür sorgen würde, dass Anke gleich die Tür zu seinem Büro aufriss.
Der zweite Schuss, nur Sekunden nach dem ersten, traf ihn an der Schulter. Die Schmerzen waren höllisch.
Er stand auf und hob in einer abwehrenden Geste die Hände, als der dritte Schuss fiel.
Er kannte die Waffe. Es war seine eigene. Er hatte sie von seinem Vater bekommen. Auf jeden Fall das gleiche Modell. Eine Česká, Kaliber 9 Millimeter. Halbautomatik mit Omega-Abzug. Sein Vater hatte sie sich für Wettkämpfe gekauft, zu denen er dann doch nie gefahren war. Woher war die jetzt wieder aufgetaucht?
Er wusste auch, wer da den Finger am Abzug hatte.
Aber warum?
Mit dem vierten Schuss kam die Schwärze.
Buchsbäumchen.
Überall Buchsbäumchen.
Buchsbäumchen, die, zu winzigen Hecken zurechtgeschnitten, die Beete einfassten, in denen wiederum Buchsbäumchen standen, die zu größeren symmetrischen Ovalen zurechtgestutzt waren. Buchsbäumchen in dekorativen Töpfen rund um den Rand der großzügigen Terrasse und neben der Bank vor dem Springbrunnen.
Wenn Dora Ahlendorf, so wie jetzt, aus den Fenstern ihres Wohnzimmers blickte, dann sah sie sehr viel dunkles Grün in verschiedenen Formen. Die Pflanzen auf einem Friedhof waren wahrscheinlich vielseitiger und bunter.
Blumen hatte Hanjo nicht geduldet. Erst recht keine blühenden Büsche, wie etwa Flieder. »Unkraut, viel zu gewöhnlich für unseren Garten. Das wuchert wie verrückt, und irgendwann ist die ganze Gartenplanung dahin.« Hanjos Worte. Rund um und auf sein Grab hatte sie auch Buchsbäumchen pflanzen lassen.
Dora hatte sich mit Margret aus ihrem Lesekreis beraten und lange mit Sigrid gesprochen, mit der sie regelmäßig im Schwimmbad ihre Bahnen zog. Beide waren der Meinung, dass Buchsbaum natürlich pflegeleicht und ansehnlich, aber für einen parkähnlichen Garten wie den ihren doch etwas zu eintönig sei.
Peter, ihr nächster Nachbar auf der linken Seite, dessen Garten das ganze Jahr über ein Blütenmeer war, hatte ihr zu Hortensien geraten. Für den Anfang. Die würden sich sicher wohlfühlen und zu wahren Farbwundern heranwachsen. Nach und nach könne sie zum Beispiel ein Rosenbeet anlegen oder über Tulpen- und Hyazinthenzwiebeln nachdenken.
Dora winkte Herrn Theisen, dem Gärtner, der gerade eine Schubkarre aus dem kleinen Geräteschuppen am Grundstücksende schob. Er winkte zurück, und sie konnte seinen Atem in der kalten Luft sehen. Obwohl die Sonne bereits seit einigen Tagen schien, war es kalt in Bremen. Es wehte ein eisiger Ostwind, der längere Spaziergänge an der Weser momentan noch nahezu unmöglich machte.
Dora freute sich schon jetzt auf die blühenden Fliederbüsche im bevorstehenden Frühling. Und die Rhododendren würden eventuell schon in diesem Jahr pinke und weiße Tupfen in das ewige Dunkelgrün malen. Auf dem Rasen vor dem Haus zeigten die Krokusse bereits ihre blauen und gelben Spitzen. Vielleicht sollte sie für das kommende Jahr über noch mehr Blumen in den Beeten nachdenken.
Und danach endlich einige längst fällige Änderungen im Haus vornehmen. Drei Jahre schob sie das nun bereits vor sich her. Wenn sie sich im Wohnzimmer umsah, erinnerte immer noch zu vieles an ihren verstorbenen Mann.
Die Geweihe im Wohnzimmer hatte sie bereits wenige Wochen nach der Beerdigung abgenommen und in den Keller gebracht, aber die Vitrine aus dunklem Mahagoniholz, in der die Erinnerungsstücke an Jagdausflüge untergebracht waren, stand nach wie vor zwischen den großen Panoramafenstern. Die musste verschwinden. Vielleicht ließ sie sich aber auch für das gute Geschirr nutzen. Passende Vorhänge zu den roséfarbenen Blumen auf dem Porzellan wären sicher eine gute Idee.
Wenn sie sich das Arbeitszimmer nebenan vornahm, musste auf jeden Fall ein Container her. Nicht einmal an einem so sonnigen Tag wie heute kam der Raum ohne künstliches Licht aus. Regale und Deckenpaneele aus dunklem Holz, Geweihe und andere Jagdtrophäen waren auf Vitrinen und Beistelltischchen verteilt. Das musste alles weg.
Das Präsentieren war Hanjo immer wichtig gewesen. Der wuchtige Waffenschrank machte in diesem Zimmer ohnehin jede Einrichtungsidee kaputt.
Dora hatte noch nie Gefallen an den dunkelgrünen Vorhängen aus Samt gefunden, noch wollte sie die Lampen mit Messingfuß behalten.
Seit Michael manchmal an Hanjos altem Schreibtisch arbeitete, war noch mehr Papier in Form von Akten und Fachbüchern hinzugekommen. Außerdem hatte ihr Sohn Kisten mit Unterlagen unter den Schreibtisch geschoben und in einer kleinen Kommode verstaut. Angeblich alles sensible Papiere, die er nicht im Büro lassen konnte und schon gar nicht zu Hause. Sie musste mit ihm sprechen. Diese Unordnung begann sie zu nerven. Dies war nun ihr Haus, in dem sie ganz allein bestimmte. Es war höchste Zeit für Veränderungen.
Dora schaute auf die Uhr und erschrak ein wenig, dass es schon so spät war. Sie würde es nicht pünktlich in die Suppenküche schaffen. Schon hatte sie das sanfte Mahnen des Pastors im Ohr, der ihr erklären würde, dass es doch nicht zu viel verlangt sei, an diesem einen Termin im Monat um neun Uhr in der Gemeinde zu sein, damit die Aufgaben für die Essenszubereitung verteilt werden konnten. Damit hatte er natürlich recht, aber wenn man ein großes Haus und eine Familie und verschiedene Verpflichtungen hatte, dann klappte es eben nicht immer mit der Pünktlichkeit. Ihre Freundinnen wussten, dass man sich auf Dora verlassen konnte. Sie hielt sich an Absprachen, auch dafür war die Familie Ahlendorf bekannt.
Dora schob im Flur einen Leuchter näher an die Wand und rückte dann das gerahmte Bild von Michael und Jakob über dem Telefontischchen im Eingangsbereich gerade.
Einen Moment lang blieb sie stehen, um sich im Spiegel zu betrachten, und ordnete dabei ganz automatisch die Ponyfransen über der Stirn so, dass sie die Narbe verdeckten. Sie war sich nach wie vor nicht ganz sicher, ob es eine gute Idee gewesen war, mit dem Blondieren aufzuhören. Immer mehr setzte sich das Grau zwischen den blonden Strähnen durch. Machte das nicht unnötig alt? Andererseits, wem sollte sie etwas vormachen?
Sie fand sich in der hellblauen Bluse zu streng und öffnete den obersten Knopf. Schon besser. Immer noch hörte sie beim Blick in den Spiegel Hanjos Stimme mit Kommentaren zu ihrem roten Lippenstift (zu ordinär), ihrem Kurzhaarschnitt (zu maskulin) und ihrem Outfit, das heute aus einem marineblauen kurzen Rock (du bist zu alt für so etwas), hellblauer Bluse und grauer Kaschmirjacke bestand.
Sie nahm sich einen Mantel aus dem Garderobenschrank und kontrollierte in ihrer Handtasche, ob sie ihr Handy, die Geldbörse und den Haustürschlüssel eingesteckt hatte.
Noch ein letzter Blick in den Spiegel, dann griff sie nach dem Autoschlüssel.
Es war alles so wie an jedem ersten Dienstag im Monat.
Noch.
Jakob ließ die Wohnungstür mit Schwung ins Schloss fallen. »Bin wieder zu Hause! Jemand da?« Die Schultasche flog unter die Garderobe, die Schuhe streifte er sich einen nach dem anderen von den Füßen, ohne die Schnürsenkel zu öffnen, und ließ sie dort liegen, wo sie eben hinfielen.
David trat aus dem Schlafzimmer in den Flur. »Hey, schon zurück? Wie war’s in der Schule?« Er trug einen nachtblauen Anzug mit weißen Karostreifen, dazu ein hellblaues Hemd und fummelte an den Stoffbändern um seinen Hals herum, vermutlich in dem Versuch, so etwas wie eine Schleife zu binden.
»Die letzten beiden Blöcke sind ausgefallen, wegen irgendeiner Lehrerfortbildung.« Jakob hängte seine Jacke an die Garderobe. »Wie soll es schon gewesen sein? Nicht anders als an jedem anderen beschissenen Schultag. Blöde Idioten sind das, was soll man da auch erwarten?«
»Geht es ein bisschen genauer?« David lächelte, vielleicht wollte er seiner Frage die Schärfe nehmen.
Jakob stöhnte. »Na, zum Beispiel Frau Gallert, die Deutschlehrerin, die möchte jetzt, dass wir den ganzen Aufsatz noch mal schreiben. Diese mittelmäßige Leistung zu bewerten sei unter ihrem Niveau, hat sie gesagt. Das musst du dir mal vorstellen! Du hast ihn doch gelesen, ich hab mich echt angestrengt.« Jakob bewegte sich durch den hellen Flur Richtung Küche. »Was soll das da sein?«, fragte er und deutete im Vorbeigehen grinsend auf die beiden Stoffenden, die um Davids Hals baumelten.
»Frag nicht.« David musste ebenfalls lachen, zerrte an der Schleife und warf sie hinter sich auf das breite Boxspringbett im Schlafzimmer. »Ich nehme wohl besser einen Binder. Das ist heute kein Tag, an dem ich mit ausreichend Geduld für das Binden einer Schleife gesegnet bin.«
Er folgte Jakob mit etwas Abstand in die Küche. »Ich muss gleich weg, aber ich kann dir vorher noch etwas zu essen machen. Bist du hungrig?« David nahm sich ein Glas Leitungswasser und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Spüle.
»Schon gut, ich mach mir ein Brot. Wo musst du denn hin?« Jakob musterte seinen Dad von unten bis oben. Die auf Hochglanz polierten Schuhe, den Anzug und die mit Gel in Form gebrachten dunklen Haare. Wie immer war er zurechtgemacht wie für ein Shooting für eine Modezeitschrift.
Jakob hatte einmal versucht, seinen Dad zu Jeans und Kapuzenpulli zu überreden, seinem favorisierten Outfit. Da sie beide fast die gleiche Größe trugen, probierte David es mit Jakobs ausgeleierter Lieblingshose und einem grauen Sweatshirt. Aber als er dann vor ihm stand, bekam Jakob einen Lachanfall. Maßgeschneiderte Anzüge passten einfach besser zu David.
Jakob fand es immer wieder erstaunlich, mit welcher Hingabe David seine Outfits zusammenstellte und wie viel Zeit er damit verbrachte, in Geschäften und im Internet nach einer ganz bestimmten Krawatte zu suchen. Ernst nehmen konnte er den Modefimmel trotzdem nicht.
»Ist ja anscheinend nichts Offizielles, so, wie du wieder aussiehst.«
»Na hör mal. Das ist ein maßgeschneiderter Anzug aus Kaschmir und Seide. Nur Männer mit meiner Figur können einen solchen Schnitt überhaupt tragen.« David straffte sich und ging ein paar Schritte in der Küche auf und ab, die Hand in die Hüfte gestützt, wie auf einem Laufsteg. »Das sitzt wie eine Eins. Damit werde ich heute nicht nur die Damen um den Verstand bringen, da kannst du aber mal sicher sein, mein Sohn.«
Jakob stellte Margarine und Brot auf den Küchentresen, Tupperdosen und ein Glas Nutella. »Also, wo geht es hin?«
»Empfang bei einer neuen Designerin in Hamburg. Die will eine kleine Ladenkette aufziehen und überall ihre Fellpuschen unter die Leute bringen. Ich bleibe über Nacht und komme morgen Mittag wieder.«
»Fell wie tote Tiere?«
»Ja. Echtes Fell. Kuschelig weich und arschteuer. Genau das, was zum Beispiel deine Tante unbesehen kaufen würde, wenn man nur gut genug darüber schreibt, wenn man die Gier derjenigen weckt, die das nötige Kleingeld haben. So, wie meine liebe Chefin das nun mal von mir erwartet. Obwohl deine Tante momentan wahrscheinlich anderes im Sinn hat.«
»Such dir doch mal einen richtigen Job.«
»Immerhin finanziert dieser Job unter anderem deinen Führerschein.«
»Wohl eher Papas Kohle.« Jakob strich sich fingerdick Nutella auf sein Brot und leckte dann das Messer ab.
»Das würdest du garantiert nicht machen, wenn Michael hier stehen würde und nicht ich.«
»Tut er aber nicht.« Die beiden tauschten ein verschwörerisches Grinsen, und Jakob nahm einen großen Bissen von seinem Brot. »Gibt’s wenigstens ein paar dunkle Geheimnisse, die du heute enthüllst? Eine lang verdeckte Affäre zwischen Politiker und Model? Oder triffst du einen Fußballstar, der eigentlich auf Männer steht?«
»Eher nicht.« David trank sein Glas leer und stellte es in den Geschirrspüler. »Aber so schlimm wird es sicher nicht werden, ich habe den nettesten Fotografen der Redaktion an meiner Seite. Mit dem ist es immer lustig, auch wenn der Mann keine Ahnung hat, wie man sich für so einen Anlass kleidet. Mein Zug geht in einer halben Stunde, deshalb düse ich jetzt mal los. Kommst du klar?«
»Ja. Wo ist Papa?«
»Im Büro. Bei dem wird’s heute auch etwas später, soll ich dir sagen. Hat am Gericht zu tun und dann noch irgendein Arbeitsessen. Aber du kannst ihn anrufen, wenn etwas ist. Mich natürlich auch.«
»Eher nicht. Vielleicht treffe ich mich später noch mit Freunden.«
»Mit Freunden, soso …«
Jakob nickte kauend. »Wo ist eigentlich dieses Backbuch, das Oma dir mal geschenkt hat?«
»Sprich nicht mit vollem Mund.« David gab ihm einen spielerischen Klaps auf den Kopf. »Wozu brauchst du das?«
»Warte.« Jakob zog sein brummendes Handy aus der Tasche, schaute drauf, grinste und tippte eine Antwort.
»Hey, das macht man nicht, mitten im Gespräch Nachrichten beantworten. Wer schreibt dir denn da?«
»Dad, das geht dich wirklich nichts an. Privatsphäre, schon mal was davon gehört?« Jakob öffnete eine Tupperdose und steckte sich eine Scheibe Salami in den Mund.
»Also, was willst du mit dem Backbuch?«
»Ja, was wohl? Backen.«
Wieder brummte sein Mobiltelefon. Jakob las, tippte, wartete auf die Antwort, tippte wieder und legte das Handy vor sich auf den Tisch.
David öffnete den Schrank unter der Spüle und wühlte darin herum. Eine Flasche mit Glasreiniger kullerte über den Boden.
»Was machst du denn da?«
»Tadaaa!« David reckte die Hand mit dem Backbuch in die Höhe.
»Da hast du das hingelegt? Wertschätzung sieht aber anders aus.«
David wischte Staub vom Buch und legte es dann auf den Tisch. »Deine Oma hat sich noch nie dafür interessiert, was mir gefällt und was ich mir wünsche. So etwas nennt man Verlegenheitsgeschenk.« Er räumte den Glasreiniger zurück an seinen Platz. »Jetzt schau doch nicht die ganze Zeit auf dein Handy, wenn du mit mir sprichst.« David beugte sich vor und wollte das Telefon vom Tisch nehmen, aber Jakob war schneller.
»Nichts da.«
David zuckte zurück, als hätte Jakob nicht nach seinem Handy gegriffen, sondern zu einem Schlag ausgeholt. Sein Lächeln fiel etwas schief aus. »Na schön. Du willst einen Kuchen backen und mir nicht sagen, wer dir da im Sekundentakt Nachrichten sendet. Wenn ich durch meinen Job inzwischen nicht komplett verblödet wäre, würde ich da vielleicht einen Zusammenhang sehen. Oder? Zumal dein Vater gewisse Andeutungen gemacht hat hinsichtlich einer Mitschülerin von dir.«
»Kekse.« Jakob deutete auf das Buch. »Ich möchte Kekse backen. Musst du nicht langsam mal los zum Bahnhof?«
»Mehl ist im Schrank über dem Herd, und falls du mehr Margarine brauchst: im untersten Fach im Kühlschrank.« David deutete ein Winken an und verschwand. Kurz darauf hörte Jakob ein »Tschühüss«, und die Wohnungstür fiel ins Schloss.
Dora hatte sich an einen der kleinen Tische am Fenster gesetzt. Die Aussicht war zwar nicht gerade brillant, man blickte auf die gegenüberliegenden Bürogebäude, aber immerhin bekam sie etwas Tageslicht ab. Sie hasste es, unter den grellen Deckenstrahlern zu sitzen.
Ellen hatte vorgeschlagen, im Restaurant von Karstadt noch einen Kaffee zu trinken. Ihre Freundin gehörte, wie sie selbst, zu den freiwilligen Helferinnen in der Suppenküche. Ellen war heute etwas früher gegangen, um noch ein Geschenk für ihre Tochter zu besorgen, und hatte Dora in das Kaufhausrestaurant bestellt. Weil sie das Café aussuchen durfte, musste sie auch bezahlen.
Dora vertrieb sich die Wartezeit mit ihrem Smartphone. Schaute sich Fotos an und las, was Menschen aus aller Welt auf Twitter geschrieben hatten. Wieder einmal dankte sie im Stillen ihrem Enkel, der ihr nach Hanjos Tod diese Welt gezeigt hatte.
Jakob war so unsicher gewesen, als sein Opa starb. Er hatte Hanjo eigentlich nur von Fotos gekannt. Dora und er hatten sich entweder bei Michael zu Hause getroffen oder gemeinsam etwas unternommen. Dora brachte ihrem Enkel das Schwimmen bei, sie waren mit der Bahn nach Hamburg zu Hagenbeck gefahren oder mit einem Boot auf einem See im Bürgerpark gepaddelt. Ihr Enkel wusste nicht, wie er mit der Trauer seiner Oma umgehen sollte. Diese Unsicherheit hatte er mit Lehrstunden in Technik überspielt. Hatte ihr sein altes Handy überlassen und so lange mit ihr geübt, bis ihr vom Wischen bis zur Nutzung der sozialen Medien alles leicht von der Hand ging. Sie lachte gerade über ein Foto, das sie an Jakob weiterleitete, als Ellen ein Tablett mit zwei Piccolos und zwei Sektgläsern auf den Tisch stellte.
»Kaffee hatten wir genug. Lass uns mal ein bisschen feiern«, befand sie, schob Dora ein Glas und ein Fläschchen zu, und lehnte das Tablett dann gegen die Wand.
»Gibt es denn was zu feiern?«
»Dass wir am Leben sind?« Ellen schenkte sich ein Glas Sekt ein und nahm einen tiefen Schluck. »Ahhhh. Das habe ich jetzt gebraucht. Hast du mitbekommen, wie sich Gerda, diese alte Hexe, heute wieder aufgeführt hat?«
Dora schüttelte den Kopf und drehte den Schraubverschluss ihrer Flasche auf.
»Diese beiden Mädchen, die heute zum Helfen da waren, die aus der Schule deines Enkels, die wollten doch nur nett sein. Da haben sie halt schon mit dem Abräumen begonnen, als Gerda noch damit beschäftigt war, mit dem Pastor den neuesten Klatsch durchzukauen.«
Dora nippte an ihrem Sekt. Ekelhaft süß, fand sie. Noch dazu nicht richtig kalt.
»Da hat Gerda sich diese armen Dinger aber mal ganz schön zur Brust genommen. Ob sie sich nicht an Regeln halten können und wie das bei ihnen zu Hause läuft, wenn die Eltern eine Ansage machen? Also wirklich. Die kommen doch nie mehr wieder, dabei können wir jede Hilfe gebrauchen. Magst du nicht mehr?« Ellen deutete auf die angebrochene Flasche.
»Nein danke.« Dora schüttelte den Kopf. »Ich hab ja auch den Wagen dabei.«
»Verstehe. Aber wir wollen ja nichts verkommen lassen. Nicht?« Ellen schenkte sich aus Doras Fläschchen nach und schaute aus dem Fenster. »Endlich wird das Wetter besser. Hast du deinen Roller schon startklar?«
»Ja, aber es ist mir noch zu kalt.«
»Wie geht es denn mit Michael und dir?«
»Ach, wir verstehen uns ganz gut. Ich lasse es langsam angehen, du weißt ja …«
Ellen nickte.
»Aber es gibt da etwas … Also, wir planen eine gemeinsame Sache. Ich kann noch nicht darüber reden, aber es sieht ganz danach aus, als wären wir auf dem richtigen Weg.«
»Schließt euer Plan diesen Gefährten von Michael auch ein?«
Ellen hatte ein Problem mit schwulen Männern. Michael zählte für sie nicht dazu, weil sie ihn – so die merkwürdige Begründung – bereits als Baby gekannt hatte. Allerdings versäumte sie auch nicht, ab und an zu erklären, dass Michael sich »schon wieder besinnen« werde. Ein ewiger Streitpunkt zwischen ihr und Dora, die inzwischen ihren Frieden damit gemacht hatte, dass ihr Sohn keine Schwiegertochter ins Haus gebracht hatte. Am Anfang war das mehr als schwierig gewesen, auch weil Hanjo so etwas wie Ekel gegenüber Schwulen geäußert hatte. David wollte er deshalb nicht kennenlernen und seinen Sohn nach dem Outing ebenfalls nicht mehr treffen. Wenn sie an diesen ganz bestimmten Abend dachte, bekam sie sofort einen Anflug von Kopfschmerzen.
»David heißt er. Und ja, der ist Teil des Plans.« Doras Handy brummte, und sie las die Nachricht von Jakob. »Entschuldige, mein Enkel.« Sie schwenkte das Gerät vor Ellens Gesicht und legte es dann umgedreht auf den Tisch.
»Du und deine Technik. Das wäre mir ja alles viel zu lästig. Brauche ich nicht mehr. Die Leute sollen mich anrufen und mir sagen, was sie wollen. Oder vorbeikommen.« Ellen trank den letzten Schluck Sekt aus ihrem Glas.
»Ellen, ich muss dann mal …«
»Was, jetzt schon? Ich dachte, wir gehen gleich noch ein bisschen bummeln.«
»Ja, tut mir leid.« Dora schaute auf ihre Armbanduhr. »Ich hab zu Hause noch ein paar Dinge zu erledigen und wollte vorher kurz ins Fitnessstudio. Wenigstens eine kleine Runde Rad fahren oder laufen.«
»Du hast dich so verändert, seit Hanjo nicht mehr ist.« Ellen schaute Dora an. »Aber absolut zum Positiven, das kann ich dir sagen. Schön ist das. Endlich sitzt du nicht mehr nur zu Hause rum. Gehen wir nächste Woche mal wieder ins Kino?«
»Gern.« Dora nahm ihre Handtasche, und steckte das Telefon ein. »Lass uns am Wochenende telefonieren, ja? Ich rufe dich auf dem Festnetz an!«
Lachend gaben sie sich Küsschen auf die Wange, und Dora marschierte Richtung Rolltreppe, um das Kaufhaus auf dem schnellsten Weg zu verlassen.
Beim nächsten Mal würde wieder sie das Café aussuchen. Das stand schon mal fest.
Jakob zog gerade das Backblech aus dem Ofen, als eine neue Nachricht einging. Ein Bild von einer alten Frau mit einem pinkfarbenen Irokesenschnitt. Seine Oma schrieb dazu: »Guck mal, die Frau hat ihrem Enkel diese Frisur versprochen, wenn sie es schafft, neunzig zu werden. Soll ich das auch machen? Oder würde dir Grün besser gefallen?«
Er tippte: »Blau, Oma. Und statt Iro lieber Rastalocken, das wird cool.«
Die Kekse rochen gut und sahen toll aus. Er nahm sich einen, verbrannte sich fast die Finger, biss vorsichtig ab und legte ihn wieder zurück auf das Blech. Die Kekse sahen nicht nur gut aus, sie schmeckten auch gut. Noch ein Pluspunkt für seine Oma. Sie hatte ihm gezeigt, wie man Plätzchen so hinbekam, dass sie außen knusprig und innen weich waren.
Lilly liebte die Cookies in dem Schnellrestaurant, in dem sie sich manchmal trafen. Diese hier waren genau so, auch mit dicken Schokostückchen drin.
Lilly liebte alles mit Schokolade. Und Jakob liebte Lilly. Seltsam, diese Sache mit der Liebe. Bis vor Kurzem hatte er sich kaum für Mädchen interessiert. Klar, mit Timo hatte er immer mal darüber geredet, wen sie gut fanden und welches Mädchen gar nicht ging. Aber mehr aus Jux. Und weil man eben so redete unter Kumpels. Wenn man im Bus eine sah, die tolle Haare hatte oder im Gegensatz zu allen anderen ein Kleid trug, oder wenn sich bei MCs eine das Tablett mit Essen volllud und es in sich reinmümmelte. Vor einem halben Jahr hatte er auf einer Geburtstagsparty mit einem Mädchen geknutscht, das bis oben hin voll war mit Mische. Sie hatte dann irgendwann gelallt, dass er doch einer von diesen Ahlendorfs sei, dieser Familie mit der geilen Villa. Ob es da auch einen Pool gebe, hatte sie wissen wollen, bevor sie ihm vor die Füße kotzte. Danach war sein Interesse an Mädchen erst einmal gleich null gewesen.
Partys konnte er sowieso vergessen. Papa wollte, dass er sich um seine Schulangelegenheiten kümmerte. Deshalb waren Treffen mit Kumpels am Abend nur am Wochenende erlaubt. Mit Alkohol durfte er sich erst recht nicht erwischen lassen.
Jakob zog eine Schublade auf und suchte die Brottüten aus Pergamentpapier. Ein dicker roter Filzer lag schon bereit.
Vor ein paar Wochen hatte ihn Lillys Freundin Jana in der Schulkantine angequatscht. »Willst du Lilly nicht mal einen Kakao ausgeben? Die würde dich gerne kennenlernen.«
Mit einem Schulterzucken hatte er Jana stehen lassen.
Er konnte sich noch gut daran erinnern, dass er gedacht hatte: Lilly? DIE Lilly? Wieso sollte die ihn kennenlernen wollen? Lilly war eines der beliebtesten Mädchen seiner Klassenstufe. Sie war fast einen Kopf kleiner als er, nicht so spargeldünn wie die meisten anderen, auch nicht dick, sondern gerade richtig.
Er schrieb mit dem roten Stift ihren Namen auf die Papiertüte und malte Herzen drum herum. Er wusste noch, wie gut ihre langen blonden Locken gerochen hatten, als er sie nach der ersten Verabredung zum Kino umarmt hatte. Bis zum ersten Kuss hatte es noch ein paar Tage länger gedauert.
Jakob testete mit den Fingern, ob die Kekse bereits ausreichend abgekühlt waren.
Er hatte sich mit Lilly bei ihr zu Hause getroffen. Als sie sich in ihrem Zimmer gerade auf das Sofa gekuschelt hatten, klopfte natürlich ihre Mutter. Das hatte sie förmlich an die entgegengesetzten Enden des Sofas katapultiert. Lillys Mutter machte nicht den Eindruck, als würde sie sich über die seltsame Sitzordnung wundern, stellte nur ein Tablett mit Getränken und Schokolade ab und verschwand dann wieder. Weil sie genauso nett war wie Lilly.
Jakob steckte je zwei Kekse in eine Tüte und knickte den oberen Rand um.
Lilly und er wollten sich nachher in der Eisdiele treffen. Er musste nur noch sehen, ob er irgendwo Geld fand. Vielleicht in der Dose mit dem Kleingeld fürs Parken, die auf der Kommode im Flur stand.
Wieder brummte sein Handy.
Jakob wurde heiß, als er las, was auf dem Display stand. Er spürte seinen Puls und konnte für einen Moment nur verschwommen sehen.
Er nahm das Blech mit den restlichen Keksen und warf es mit einem Wutschrei gegen die Wand. Versuchte, zu Atem zu kommen und zu begreifen, was er da gelesen hatte. Konnte es nicht fassen und wusste doch, dass es stimmen musste.
Dora warf gerade ihre Trainingskleidung in die Waschmaschine, als es an der Haustür klingelte. Sie hatte eine kurze Strecke auf dem Laufband absolviert, danach zwei Saunagänge, anschließend ausgiebig geduscht und auf dem Heimweg noch ein paar Kleinigkeiten für ein kaltes Abendessen besorgt. Sie musste sich jetzt ein wenig sputen, wenn sie pünktlich beim Lesekreis sein wollte.
Mit Schwung knallte Dora das Bullauge der Maschine zu und startete den Waschgang. »Ich komme gleich!« Sie vermutete, dass es ihre Tochter Kirsten war, die geklingelt hatte, obwohl sie einen eigenen Schlüssel besaß, und legte deshalb all ihre Wut in den Schrei.
»Hans!«
Vor der Tür stand ein Schrank von einem Mann. Mehr als zwei Meter groß, Schultern wie gemeißelt, der Schädel kahl rasiert, was die stechend blauen Augen noch intensiver leuchten ließ.
»Dora.« Hans Theessen, ehemaliger Chef der Kriminalpolizei von Bremen, nickte zur Begrüßung. Sein Lächeln reichte nicht bis zu den Augen.
»Komm doch rein.« Dora trat einen Schritt zurück, um den Hünen eintreten zu lassen. »Kann ich dir etwas anbieten? Ein Glas Wasser? Oder eine Tasse Tee?«
Hans schüttelte den Kopf, stand verloren in der Eingangshalle, warf einen Blick durch die offen stehende Tür ins Arbeitszimmer und Richtung Obergeschoss. »Bist du allein? Ist deine Tochter nicht da? Die wohnt doch wieder bei dir, oder nicht?«
»Ja, aber die ist um diese Zeit selten da. Wenn ihr Auto nicht in der Auffahrt steht, dann ist sie unterwegs. Einkaufen, Leute treffen, keine Ahnung.« Dora nahm Hans den leichten Mantel ab und hängte ihn in den Garderobenschrank. Dann deutete sie mit einer Handbewegung Richtung Wohnzimmer. »Kann ich dir wirklich nichts anbieten? Ich glaube, es ist auch noch Cola da. Mein Enkel darf die zu Hause nicht trinken, da ist Michael sehr streng. Aber Omas müssen ihre Enkel verwöhnen, dazu sind sie schließlich da, oder? Jakob könnte sich das Zeug sowieso an jedem Kiosk selber kaufen.«
»Dora, wir müssen reden. Können wir uns setzen?«
Die Ernsthaftigkeit in Hans’ Stimme gefiel Dora nicht. Sie kannte den ehemaligen Jagdkumpel ihres Mannes als freundlichen und fröhlichen Menschen. Immer gut für einen Witz und sich selbst für keine Pointe zu schade. So wie heute hatte sie ihn noch nie gesehen. Sie legte ihm die Hand auf den Arm. »Was ist denn los? Ist was mit Sophia?«
Hans’ Frau war nur selten zu den Einladungen ins Haus Ahlendorf gekommen. Hatte aber auf Dora immer einen guten Eindruck gemacht. Höflich und ruhig, klug und sehr verliebt in ihren Mann, auch nach vielen Jahren Ehe noch.
Hans schüttelte den Kopf und ging voraus. Dora folgte ihm beklommen. Im Stillen überlegte sie, was passiert sein könnte. Welche gemeinsamen Freunde krank gewesen und jetzt vielleicht gestorben waren.
Sie setzte sich auf die vordere Kante des Sofas, Hans ließ sich schwer in einen der beiden Sessel fallen. Er fuhr sich mit den Handflächen über das Gesicht, als wollte er sich den traurigen Ausdruck aus der Miene wischen.
»Am besten, ich sag gleich, was Sache ist.« Hans rutschte auf dem Sessel nach vorn und legte die Hände auf die Knie. »Michael ist tot, Dora.«
Für einen Moment fühlte sie so etwas wie Erleichterung. »Das ist wirklich ein ganz schlechter Witz, Hans. Ich habe gestern mit meinem Sohn zu Abend gegessen. Da war er gesund und putzmunter und …« Aber als sie den Blick von Hans registrierte, spürte Dora einen Stein im Magen. Einen riesigen. Sie schluckte und bekam kaum noch Luft. Fasste sich an die Kehle.
Stand auf, setzte sich wieder.
Sie musste sofort ihren Sohn anrufen.
»Dora … Es tut mir so unendlich leid.«
Michael konnte unmöglich tot sein, er war doch gesund. Gestern Abend war es ihm noch gut gegangen. Sie hatten Pläne gemacht, Wein getrunken.
»Das kann doch gar nicht … Wieso hat er denn … Hatte er einen Unfall?«
Ein Schluchzen stieg aus ihrer Kehle auf, und sie hielt sich die Hand vor Mund und Nase.
Hans war vom Sessel aufgestanden und hatte sich neben sie auf das Sofa gesetzt. Er streichelte ihr über den Arm und wartete, bis sie wieder Luft bekam. »Nein, Dora, kein Unfall. Er ist in seinem Büro erschossen worden. Und das ist leider auch noch nicht alles.«
»Erschossen? Hans, du musst dich irren. Wir sind in Bremen. Schießereien hier bei uns? Nein. Wirklich, das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen. Und wieso in seinem Büro? Wer Geld will, der überfällt doch eine Bank und kein Anwaltsbüro. Das ist ein Ding der Unmöglichkeit.«
Dora wischte seine Hand weg und stand auf. Das Denken war plötzlich schwierig. Sie stellte sich vor Hans. Verschränkte die Arme vor der Brust.
»Bist du eigentlich wahnsinnig geworden? Tauchst hier auf und erzählst mir solch eine Räuberpistole? Was ist denn in dich gefahren? Ihr habt irgendeinen Toten, und der sieht Michael vielleicht sogar ähnlich, und dann kommst du hierher und …« Dora war sich jetzt sicher, dass Hans sich aus irgendeinem Grund einen miesen Scherz mit ihr erlaubte. »Mit wem steckst du unter einer Decke? Wer will mich hier veräppeln?« Dora drehte sich Richtung Tür, als ob sie noch jemanden im Haus vermutete.
Hans blieb ernst. »Das ist noch nicht alles, Dora. Die Kollegen verdächtigen deinen Enkel.« Er seufzte, griff schließlich nach ihrer Hand und drückte sie.
»Also, jetzt wird es ja richtig absurd.« Dora begann, neben dem Sofa auf und ab zu gehen, versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen.
Hatte sie heute schon von Michael gehört? Hatte er eine Nachricht geschickt? Und Jakob? Wann hatte der sich zuletzt gemeldet? War das gestern gewesen oder schon vorgestern? Nein, sie hatte doch vorhin mit ihm Kontakt gehabt, als sie mit Ellen in diesem Kaufhauscafé saß. Da hatte er ihr geschrieben, nachdem sie ihm das lustige Bild gesendet hatte.
Hans sah sie an. Ernst und traurig. Er wiederholte: »Es tut mir so unendlich leid.«
»Das kann nicht wahr sein, das kann einfach nicht stimmen! Nicht Michael. Und Jakob soll …? Wie soll das gehen? Ich meine, wie soll so ein junger Mensch …? Und welchen Grund hätte Jakob, seinem Vater so etwas anzutun? Wie soll er das denn gemacht haben?«
Hans schüttelte den Kopf. »Dora, ich verstehe es selbst nicht. Ich war zufällig im Büro, wollte einen früheren Kollegen zum Kino abholen, als die Nachricht eintraf. Ich wollte nicht, dass zwei unbekannte Beamte hier bei dir vor der Tür stehen, um dir die Nachricht zu überbringen. Deshalb habe ich die Kollegen darum gebeten, ein paar Minuten Zeit mit dir allein zu bekommen.« Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich kann dir auch nur das sagen, was ich gehört habe. Michael ist in seinem Büro erschossen worden. Jakob soll von einem Zeugen dabei beobachtet worden sein, wie er die Kanzlei verlassen hat. Offenbar kommt im Moment niemand sonst als Täter infrage. Aber das muss natürlich erst ermittelt werden. Die Kollegen stehen da noch ganz am Anfang. Sicher ist bisher nur, dass es sich um Fremdeinwirkung handelt, also, dass Michael …«
Dora hatte das Gefühl, als wiche jede Kraft aus ihrem Körper. Sie ließ sich auf die Sofalehne sinken. Die aufsteigenden Tränen schluckte sie hinunter. Niemandem war damit gedient, wenn sie jetzt hysterisch wurde.
Hanjo würde sie auffordern, sich zusammenzureißen, wenn er noch da wäre. Niemals Schwäche zeigen, Dora, das bietet den anderen nur Angriffsfläche, so gewinnt man nichts.
»Hans, das kann nicht wahr sein. Du kennst Jakob, und du kennst auch Michael, die beiden hatten ein gutes Verhältnis. Ein sehr gutes. So einen Vater würde sich jeder wünschen. Was die beiden alles zusammen unternommen haben …«
Vor ihrem inneren Auge sah Dora Bilder vorbeiziehen. Jakob als Baby, gerade in Bremen angekommen. Jakob mit seinen Vätern bei einer Sommerparty in ihrem Garten – einer ihrer seltenen Besuche im Hause Ahlendorf. Jakob auf den Knien seines Vaters, lachend »Hoppe, hoppe, Reiter« spielend. Jakob mit Schultüte. Jakob im Anzug bei der Feier nach dem Mittelschulabschluss.
»Dora, niemand kann in einen anderen Menschen hineinsehen. Wir wissen nicht, was in deinem Enkel vorgegangen sein mag, wenn er wirklich der Täter ist. Ich glaube ja auch nicht daran. Die allerersten Hinweise bei so einer Ermittlung sind in den seltensten Fällen die, die am Ende zur Aufklärung führen. Gib den Kollegen ein bisschen Zeit. Ich bin sicher, das ist alles ein großes Missverständnis.«
»Er war es nicht.«
Dora sah auf. In ein ehrliches und besorgtes Gesicht. Sie war sich sicher, dass sie Hans vertrauen konnte. Seit so vielen Jahren schon ging er bei ihnen ein und aus. Er hatte Hanjo gekannt, er kannte ihren Sohn und auch ihren Enkel. Und er kannte sich mit Polizeiarbeit aus.
»Was passiert denn jetzt?«
»Der Ermittlungsrichter muss entscheiden, ob Jakob in Haft kommt. Dazu wird er jetzt nicht nur den Haftgrund prüfen, der sicher auf Verdacht einer schweren Straftat lautet, sondern auch die Frage, ob dringender Tatverdacht besteht. Kann jedoch auch sehr gut sein, dass Jakob erst mal zu Hause bleiben darf. Das wird sich in den nächsten Stunden entscheiden. Ist ja alles noch ganz frisch.«
Ihr Enkel im Gefängnis.
Ihr Sohn tot.
Spätestens morgen würde das in der Zeitung stehen.
Hans schien in ihren Kopf zu sehen.
»Du musst damit rechnen, dass die Presse sich bei dir meldet. Zeitungsreporter, Radioleute. Am besten gehst du nicht ans Telefon und verlässt auch erst einmal nicht das Haus.«
»Wie stellst du dir das denn vor? Ich habe Verpflichtungen. Mein Sport und dann die Suppenküche und …« Sie schaute auf die Uhr und stellte fest, dass sie reichlich zu spät zum Lesekreis kommen würde. Die anderen hatten sicher schon angefangen mit der Auswahl der Lektüre für das nächste Treffen.
»Dora, ich habe zur Genüge mit derlei Fällen zu tun gehabt. Allein ein Mordverdacht reicht aus, damit Menschen sich abwenden. Deine besten Freunde werden sich fragen, ob sie mit der Oma eines Mörders noch Kontakt halten wollen. Die Nachbarn werden darüber nachdenken, ob sie neben dir wohnen wollen. Und was dein soziales Engagement angeht … Das wird sicher auch schwieriger.«
»Du übertreibst. Außerdem ist Jakob unschuldig, das wird sich sehr schnell herausstellen. Wieso sollte denn keiner mehr mit mir befreundet sein wollen? Du bist ja schließlich auch hier.« Dora fand selbst, dass sie klang wie ein bockiges kleines Kind.
»Das wird leider für viele deiner Bekannten überhaupt keine Rolle spielen.« Hans schüttelte den Kopf, stöhnte und ließ den Kopf sinken. »Ach, Dora, ich wünschte, es wäre anders gelaufen. Die Bergmann ist eine fähige Kollegin, aber die muss sich auf dem Posten auch erst noch beweisen. Da reagiert man manchmal eben schneller als nötig. Aber auch bei einer Mordermittlung gibt es Abläufe, an die man sich halten muss. Verdächtige befragen, Beweise sichern, mit Menschen sprechen, die Kontakt zum Opfer hatten, Zeugen vernehmen.«
Dora hörte nicht mehr richtig zu. Ließ die Worte von Hans an sich vorbeirauschen.
Ein Mörder in der Familie. Undenkbar.
Sie war sicher, dass Jakob auf gar keinen Fall und unter keinen Umständen seinem Vater etwas angetan hatte. Ihr lieber, ruhiger, friedlicher Enkelsohn war zu so etwas gar nicht in der Lage. Der aß ja nicht einmal Fleisch.
Vielleicht war das in Michaels Büro ein anderer gewesen. Möglicherweise saß ihr Sohn putzmunter in irgendeinem Gericht. Oder war in der Weltgeschichte unterwegs, um dabei zu helfen, Ungerechtigkeiten gegen Homosexuelle zu bekämpfen. Machte er doch dauernd.
»Woher weißt du überhaupt, dass es Michael ist, der erschossen wurde?«
»Dora.«
»Ja, was?« Dora hatte sich nicht mehr unter Kontrolle. Sie wurde laut. »Kommst hierher und tischst mir so eine Horrorgeschichte auf. Michael engagiert sich, wie du weißt, für Minderheiten. Da ist er sehr viel unterwegs. Was weiß ich denn, wer sein Büro vielleicht benutzt, wenn er nicht da ist?«
»Dora, Anke war da.« Hans sah sie fragend an, redete weiter, als sie nicht reagierte. »Seine Sekretärin. Die hat auch die Polizei gerufen, nachdem sie ihn gefunden hat. Sie hat bestätigt, dass es Michael ist.«
»Aber woher will sie das wissen. Sie ist seine Sekretärin und nicht seine Mutter!« Dora fing an zu weinen.
»Du kannst ihn natürlich noch mal sehen, wenn du das möchtest. Allerdings nicht heute. Die Kollegen werden einen DNA-Abgleich machen, den Zahnstatus vergleichen, falls es Unsicherheiten gibt. Aber er hatte seinen Ausweis und seinen Führerschein in der Sakkotasche.« Hans stand auf, um Dora in den Arm zu nehmen.
Sie wollte diese Nähe nicht, machte sich los. Ging ein paar Schritte Richtung Fenster. Es war inzwischen dunkel geworden. Der Mond tauchte den Garten in ein diesiges Licht. Die Eintönigkeit der Bepflanzung hatte plötzlich etwas Tröstliches.
»Was tun deine ehemaligen Kollegen, um den wirklichen Mörder aufzuspüren?« Dora fand, dass ihre Stimme schon wieder fester klang.
»Das kann ich dir nicht sagen. Darüber haben wir nicht gesprochen. Dafür ist es auch noch zu früh. Sie werden Spuren sichern, den Tatort gründlich untersuchen. Weitere Vernehmungen führen. Ich weiß nur das, was ich dir gesagt habe. Alles andere wird sich in den nächsten Stunden und Tagen ergeben. Ich werde versuchen, dich auf dem Laufenden zu halten. Aber ich kann nichts versprechen, denn eigentlich müssen die nicht mit mir reden. Ich gehöre nicht mehr zum Team.«
»Damit willst du mir sagen, dass sie sich bereits auf Jakob festgelegt haben?«
»Damit will ich dir sagen, dass du dich auf all das vorbereiten sollst, was solch ein Verdacht mit sich bringt. Du gehörst als Mutter des Opfers und Großmutter des mutmaßlichen Täters zu den wichtigen Zeugen, die Kollegen werden dich befragen. Dein gewohntes Leben wird sich möglicherweise verändern, weil Menschen dir nicht mehr trauen oder nichts mehr mit dir zu tun haben wollen, wenn sich der Verdacht herumspricht. Vielleicht musst du Geld lockermachen, um eine gute Verteidigung für deinen Enkel auf die Beine zu stellen. Denk einfach ganz in Ruhe über alles nach.« Hans druckste herum. »Ich muss gehen. Vermutlich werden jeden Moment die Kollegen da sein, um mit dir zu sprechen. Tut mir leid. Alles.« Er überlegte, fragte dann: »Soll ich jemanden anrufen? Eine Freundin?«
»Schon gut. Danke, dass du dir die Mühe gemacht hast, extra herzukommen. Das weiß ich zu schätzen. Kann ich zu ihm?«
»Zu Michael? Nein, habe ich doch gerade gesagt, nicht heute.«
»Zu Jakob.«
Hans schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, momentan nicht. Die Kollegen befragen ihn noch. Aber sicher ist er bald wieder zu Hause. Mach dich nicht verrückt. Ruf Kirsten an und bereite sie darauf vor, dass vielleicht Journalisten vor eurer Tür rumlungern. Redet nicht mit denen, okay?«
Dora wandte sich vom Fenster ab und ging Hans voraus. Sie nahm ohne ein weiteres Wort seinen Mantel aus dem Garderobenschrank.
Hans beugte sich vor und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. Sie konnte sein Aftershave riechen. Er benutzte dasselbe wie Hanjo früher. Sie schüttelte sich kurz und öffnete die Haustür. »Halt mich wirklich auf dem Laufenden, ja?«
»Natürlich, so gut es geht, habe ich ja gesagt. Es tut mir so leid, Dora. Ich wünschte, ich könnte mehr tun.«
»Du hast schon mehr getan als manch anderer in deiner Situation. Danke.«
»Wenn du ein wenig zur Ruhe gekommen bist, dann denk darüber nach, wer als Täter infrage kommen könnte. Wen kennst du aus Michaels Umfeld, der ein Problem mit ihm hatte?«