Der Bauch des Wals - George Orwell - E-Book

Der Bauch des Wals E-Book

George Orwell

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Beschreibung

1940, der Zweite Weltkrieg wütete in Europa, schrieb George Orwell den Essay ›Im Innern des Wals‹, in dem er die Freiheit des Künstlers, sich von den Problemen der Welt abzuwenden, verteidigte – obwohl er selbst ein eminent politischer Autor war. Auf diesen berühmten Essay antwortet Ian McEwan in seiner ›Orwell Memorial Lecture‹, die erstmals in Buchform erscheint, und bezieht Orwells Überlegungen auf unsere Gegenwart.

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George Orwell | Ian McEwan

Der Bauch des Wals

Zwei Essays über Kunst und Politik

Aus dem Englischen von Felix Gasbarra und Bernhard Robben

Diogenes

GEORGE ORWELLIm Innern des Wals

I

Als 1935 Henry Millers Roman Wendekreis des Krebses erschien, wurde er anerkennend, aber doch mit einiger Zurückhaltung aufgenommen, in einigen Fällen offensichtlich deshalb, weil sich niemand gern dem Verdacht aussetzt, Pornografie schön zu finden. Unter denen, die ihn lobten, waren T.S. Eliot, Herbert Read, Aldous Huxley, John Dos Passos und Ezra Pound – alles in allem nicht gerade Schriftsteller, die zurzeit in Mode sind. In der Tat gehört das Buch, sowohl dem Stoff‌ wie bis zu einem gewissen Grad seiner geistigen Atmosphäre nach, mehr zu den Zwanziger- als den Dreißigerjahren.

Wendekreis des Krebses ist ein Roman in Ich-Form oder eine romanhafte Autobiografie, je nachdem, wie man es lieber sieht. Miller selbst besteht darauf, dass es rein autobiografisch ist, aber das Tempo und die Methode des Erzählens ordnen das Buch dem Roman zu. Es ist die Geschichte von Amerikanern in Paris, aber nicht in der üblichen Weise, weil die Amerikaner, die darin vorkommen, durchweg Leute ohne Geld sind. In den fetten Jahren, als es Dollars im Überfluss gab und der Wechselkurs gegenüber dem Franc hoch stand, erlebte Paris eine beispiellose Invasion von Künstlern, Schriftstellerinnen, Studenten, Dilettanten, Touristinnen, Lüstlingen und bloßen Nichtstuern. In einigen Stadtvierteln muss die Zahl der sogenannten Künstler die der arbeitenden Bevölkerung tatsächlich überstiegen haben. Man hat ausgerechnet, dass Ende der Zwanzigerjahre etwa 30000 Maler in Paris lebten, von denen die meisten wenig mit Kunst zu tun hatten. Dem kleinen Mann auf der Straße war das Künstlervolk so gleichgültig geworden, dass Lesbierinnen mit rauchigen Stimmen in Cordhosen und junge Leute in griechischen oder mittelalterlichen Gewändern durch die Straßen wandeln konnten, ohne dass jemand sich nach ihnen umdrehte. Am Seine-Ufer bei Notre Dame war es so gut wie unmöglich, sich einen Weg durch die Malstühlchen zu bahnen. Es war die Epoche der erfolgreichen Außenseiter und der verkannten Genies. Der Satz, den man am häufigsten hörte, war: »Quand je serai lancé.« Es stellte sich heraus, dass niemand »lancé« wurde. Die Wirtschaftskrise brach herein wie eine neue Eiszeit, der internationale Mob von Künstlern zerstob, und die großen Cafés von Montparnasse, die noch nicht ein Jahrzehnt zuvor bis in die frühen Morgenstunden von schreienden Poseurs erfüllt waren, verwandelten sich in düstere Grabgewölbe, in denen es nicht einmal mehr Geister gab.

Diese Welt, die unter anderem in dem Roman Tarr1 von Wyndham Lewis beschrieben ist, schildert Henry Miller, aber er befasst sich nur mit ihrer Unterseite, der lumpenproletarischen Randschicht, der es gelungen ist, die Krise zu überleben, weil sie teils aus echten Künstlern, teils aus echten Gaunern besteht. Die verkannten Genies, die Paranoiker, die immer im Begriff sind, den Roman zu schreiben, der aus Proust einen zerbeulten Hut machen wird, finden sich hier, sind aber nur in den ziemlich seltenen Augenblicken genial, in denen sie nicht gerade Jagd auf die nächste Mahlzeit machen.

Zum größten Teil ist es eine Geschichte von verwanzten Zimmern in Arbeiterquartieren, Auseinandersetzungen, Trinkgelagen, Puffs, russischen Emigranten, Betteln, Schwindeln und Gelegenheitsarbeit. Die ganze Atmosphäre der Armenviertel von Paris, wie sie ein Ausländer sieht – die Boulevards mit ihrem Kopfsteinpflaster, der saure Geruch von Abfällen, die Bistros mit ihren fettigen Zinktheken und ausgetretenen Ziegelböden, das grüne Wasser der Seine, die blauen Uniformen der Republikanischen Garde, die verlotterten gusseisernen Pissoirs, der besondere süßliche Geruch der Untergrundbahnhöfe, die halbierten Zigaretten, die Tauben im Jardin du Luxembourg, es ist alles da oder die Stimmung, ein Hauch von alledem.

Auf den ersten Blick kein eben vielversprechender Stoff‌. Als Wendekreis des Krebses erschien, marschierten die Italiener in Abessinien ein und waren Hitlers Konzentrationslager bis zum Bersten voll. Die Brennpunkte des Weltgeschehens waren Rom, Moskau und Berlin. Es schien nicht der geeignete Augenblick, um einen Roman von hervorragender Bedeutung über amerikanische Bummler, Bettler und Trunkenbolde im Quartier Latin zu schreiben. Natürlich ist ein Romancier nicht verpfl‌ichtet, über zeitgeschichtliche Ereignisse zu berichten, aber ein Romancier, der sie übersieht, hat gewöhnlich entweder die Füße nicht auf dem Boden oder er ist einfach ein Idiot. Bestimmt würde jeder, der nur das Hauptthema kennenlernt, den Wendekreis des Krebses für ein frivoles Überbleibsel der Zwanzigerjahre halten. In Wahrheit stellte jeder, der es gelesen hatte, sofort fest, dass es nichts dergleichen, sondern ein sehr bemerkenswertes Buch sei. Wie oder warum bemerkenswert? Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten, und es ist besser, mit der Beschreibung der Eindrücke zu beginnen, die Wendekreis des Krebses auf mich gemacht hat.

Als ich das Buch zum ersten Mal aufschlug und sah, dass es von Wörtern wimmelte, die nicht für den Druck geeignet sind, war meine sofortige Reaktion, mich nicht davon beeindrucken zu lassen. Ich glaube, den meisten Lesern würde es so ergehen. Dabei schien sich nach einer gewissen Zeit die Atmosphäre des Buches neben unzähligen Einzelheiten auf eigentümliche Weise in meinem Gedächtnis festgesetzt zu haben. Ein Jahr später erschien Millers zweites Buch Schwarzer Frühling (1936). Zu dieser Zeit war Wendekreis des Krebses mir viel gegenwärtiger als das erste Mal. Mein erster Eindruck war, dass Schwarzer Frühling schwächer sei, und tatsächlich hat es nicht die Geschlossenheit des Erstlings. Nach einem weiteren Jahr hatten ebenfalls viele Passagen aus Schwarzer Frühling in meinem Gedächtnis Wurzeln geschlagen. Offensichtlich gehören beide Bücher zu denen, die einen Nachhall hinterlassen, Bücher, die sich »ihre eigene Welt schaffen«, wie man sagt. Das müssen nicht unbedingt gute Bücher sein, es können gute schlechte Bücher wie Raf‌f‌les2 oder die Erzählungen von Sherlock Holmes oder perverse und morbide Bücher wie Wuthering Heights3 oder The House with the Green Shutters4 sein. Dann aber erscheint hin und wieder ein Roman, der einem eine neue Welt erschließt, nicht, indem er einem enthüllt, was neu, sondern was vertraut ist. Das wahrhaft Erstaunliche an Ulysses zum Beispiel ist, dass es ein ganz alltäglicher Stoff‌ ist. Natürlich enthält es mehr als nur das, denn Joyce hat etwas von einem Dichter und ist zugleich ein Pedant von gigantischem Ausmaß, aber seine eigentliche Leistung besteht darin, dass er uns Vertrautes zu Papier bringt. Er hat es gewagt – denn es ist ebenso sehr eine Frage der Kühnheit wie der Technik –, die Absurditäten unseres innersten Denkens bloßzulegen, und dabei entdeckte er ein Amerika, das jeder vor der Nase hatte, eine Welt, in der jeder seit seiner Kindheit gelebt hatte, einen Stoff‌, den man für unbeschreiblich hielt und den zu beschreiben Joyce doch gelungen ist. Die Wirkung war, die Einsamkeit, in der jeder Mensch lebt, wenigstens für Augenblicke aufzuheben. Bei der Lektüre bestimmter Stellen im Ulysses hast du das Gefühl, dass Joyce und du ein und derselbe sind, dass er alles über dich weiß, obwohl er deinen Namen nie gehört hat, dass es irgendwo eine Welt gibt, außerhalb von Zeit und Raum, die Joyce und dich umfasst.

Obwohl er Joyce in keiner Weise ähnelt, ist eine Spur davon auch bei Henry Miller. Nicht überall, denn sein Werk ist sehr ungleichmäßig, neigt manchmal, besonders in Schwarzer Frühling, dazu, ins bloße Wortgeklingel oder in das verschwommene Universum der Surrealisten abzugleiten. Man lese nur fünf oder zehn Seiten von ihm, und man fühlt eine seltsame Erleichterung, die nicht so sehr daher rührt, dass man selbst etwas versteht, sondern dass man verstanden wird.

»Er weiß alles über mich, er hat das speziell für mich geschrieben«, fühlt man. Es ist, als hörte man eine Stimme, die zu einem spricht, eine freundliche amerikanische Stimme, ohne zu faseln, ohne zu moralisieren, in der Annahme, dass wir alle gleich sind. Einen Augenblick ist man allen Lügen und Versimpelungen, den schablonenhaften Marionetten der gewöhnlichen Romanliteratur, selbst der einigermaßen guten, entronnen und hat mit vertrauten Erlebnissen menschlicher Wesen zu tun.

Welche Art Erlebnisse? Und welche Art von Menschen? Miller schreibt über den Mann auf der Straße, und es ist eigentlich schade, dass die Straße voller Bordelle ist. Das ist die Strafe dafür, dass man sein Geburtsland verlassen hat. Es bedeutet so viel, wie in einer dünneren Bodenschicht Wurzel schlagen zu müssen. Das Exil ist wahrscheinlich für einen Schriftsteller verderblicher als für einen Maler oder selbst einen Dichter, denn er verliert in der Folge den Kontakt mit der Welt der Arbeit und muss sich auf die Straße, das Café, die Kirche, das Bordell und sein Arbeitszimmer beschränken. Hauptsächlich handeln Millers Bücher von Leuten, die das Leben von Emigranten führen, sich betrinken, schwatzen, nachdenken und koitieren – nicht von Menschen, die arbeiten, heiraten und Kinder aufziehen; schade, denn Miller hätte das eine genauso gut beschrieben wie das andere. In Schwarzer Frühling gibt es eine wundervolle Rückblende auf New York, das wimmelnde, von Iren überlaufene New York der O.-Henry-Ära, aber die Pariser Szenen sind die besten, und die Trunkenbolde und Nachtbummler in den Cafés sind zwar vom sozialen Standpunkt aus völlig wertlos, dafür aber mit einem Feingefühl für Charaktere und einer technischen Meisterschaft geschrieben, die in keinem der kürzlich erschienenen Romane auch nur annähernd erreicht werden. Seine Figuren sind nicht nur glaubhaft, sie sind vertraut, man hat das Gefühl, dass man alle ihre Abenteuer selbst erlebt hat. Nicht dass sie als Abenteuer besonders aufregend wären, Henry bekommt einen Job bei einem melancholischen indischen Studenten. Er bekommt einen anderen Job in einer grässlichen französischen Schule während eines Kälteeinbruchs, bei dem alle Toiletten zugefroren sind, nimmt teil an einem Besäufnis in Le Havre mit seinem Freund Collins, einem Kapitän zur See, besucht ein Bordell, wo es wundervolle schwarze Frauen gibt, diskutiert mit seinem Freund, einem Schriftsteller Van Norden, der den größten Roman aller Zeiten in seinem Kopf mit sich herumträgt, aber sich nie entschließen kann, ihn anzufangen. Sein Freund Karl, dicht vor dem Verhungern, wird von einer reichen Witwe aufgegabelt, die ihn heiraten will. Es folgen endlose hamletische Gespräche, bei denen Karl die Frage zu beantworten sucht, was schlimmer ist, zu hungern oder mit einer alten Frau zu schlafen. Bis ins kleinste Detail beschreibt er seine Besuche bei der Witwe, wie er sie in seinem besten Anzug aufsucht, jedoch vergessen hat, vorher zu urinieren, sodass er den ganzen Abend Höllenqualen aussteht etc. etc. Zum Schluss stellt sich heraus, dass alles nicht stimmt, die Witwe existiert nicht einmal, Karl hat sie einfach erfunden, um sich interessant zu machen. Auf dieser Linie liegt mehr oder weniger das ganze Buch. Was ist nun eigentlich der Grund, warum faszinieren einen diese monströsen Trivialitäten? Sehr einfach – weil man die ganze Atmosphäre so gründlich kennt und das Gefühl hat, dass diese Dinge einem selbst begegnen. Man hat dieses Gefühl, weil sich einer entschlossen hat, mit der geschraubten Ausdrucksweise des Durchschnittsromans aufzuräumen und die wirklichen Triebkräfte menschlichen Denkens und Handelns bloßzulegen. Im Fall Miller geht es nicht so sehr darum, den Mechanismus des menschlichen Geistes zu durchforschen, als sich vielmehr zu den alltäglichen Dingen und Gefühlen zu bekennen. Die Wahrheit ist nämlich, dass viele durchschnittliche Menschen, vielleicht sogar die Mehrheit, genau so sprechen und sich in derselben Weise benehmen, wie er sie hier aufgezeichnet hat. Der ordinäre Ton, in dem die Menschen im Wendekreis des Krebses sprechen, findet sich in den Romanen nur selten, im gewöhnlichen Leben dagegen sehr oft. Ich selbst habe ähnliche Unterhaltungen immer und immer wieder zwischen Leuten gehört, die nicht einmal merkten, wie ordinär sie sprachen. Bemerkenswert, dass Wendekreis des Krebses nicht das Werk eines jungen Mannes ist. Miller hatte die vierzig bereits überschritten, als es herauskam, und obwohl er seitdem drei oder vier weitere Bücher veröffentlicht hat, steht außer Zweifel, dass das erste, das er jahrelang mit sich herumgetragen hat, auch sein bestes Buch ist. Es gehört zu den Büchern, die langsam herangereift sind, in Armut und von unbekannten Leuten geschrieben, die wissen, was sie vorhaben und daher warten können. Die Prosa ist erstaunlich, in Schwarzer Frühling teilweise sogar noch besser. Leider kann ich nichts zitieren, es wimmelt von nicht wiederzugebenden Wörtern. Man besorge sich Wendekreis des Krebses, man besorge sich Schwarzer Frühling und lese besonders die ersten hundert Seiten. Sie vermitteln einem eine Vorstellung von dem, was man selbst heute noch mit der englischen Sprache anfangen kann. Englisch wird darin als lebende Sprache gesprochen, ohne Furcht, das heißt, ohne Furcht vor Rhetorik oder vor ungewöhnlichen oder poetischen Wörtern. Nach Jahren der Verbannung ist das Adjektiv zurückgekehrt. Es ist eine fließende, wogende Prosa, eine Prosa, die Rhythmus hat, etwas gänzlich anderes als die flachen vorsichtigen Aussagen und das Snack-Bar-Geplapper, das im Moment modern ist.

Wenn ein Buch wie Wendekreis des Krebses erscheint, fällt natürlich als Erstes seine Obszönität auf. Nimmt man unsere Vorstellungen von Sitte und Anstand in der Literatur als gegeben, dann ist es nicht einfach, vorbehaltlos zu einem so obszönen Buch Stellung zu nehmen. Entweder ist man schockiert und angewidert, oder man verschlingt es gierig, oder man ist entschlossen, sich nicht