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mehrbuch-Weltliteratur! Florent, der im Verlauf des Staatsstreiches von 1851 verhaftet, unschuldig in eine Strafkolonie geschickt wurde und dem schließlich die Flucht gelang. Die Handlung setzt mit seiner Rückkehr nach Paris ein. Er findet Unterkunft bei seinem Bruder Quenu und dessen Frau Lisa, die gemeinsam einen Fleischerladen betreiben. Besonders auf Wunsch von Lisa nimmt er einen Posten als Inspektor in den Fischhallen an. Florent entwickelt sich zum Anführer eines Kreises, der dilettantisch einen Aufstand plant, der zur Wiederherstellung der Republik führen soll. Florent unterrichtet den Sohn einer Fischhändlerin, der schönen Normande, im Lesen und Schreiben. Sie strebt eine Liaison mit ihm an, doch Florent geht nicht darauf ein. Zwischen der schönen Normande und Lisa Quenu entsteht eine Feindschaft. Florent gerät dabei zwischen die Fronten. Schließlich werden er und sein Mitverschwörer Gavard verhaftet.
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Seitenzahl: 568
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Der Bauch von Paris
Emile Zola
In dem tief en Schweigen und der Öde der breiten Straße zogen die Wagen der Gemüsebauern nach Paris hinauf mit dem rhythmischen Rumpeln der Räder, das von den Fassaden der Häuser widerhallte, die zu beiden Seiten hinter den verschwommenen Reihen der Ulmen schliefen. Ein Karren mit Kohl und ein Karren mit Schoten waren an der Pont de Neuilly zu acht Wagen mit Kohlrüben und Möhren gestoßen, die von Nanterre herunterkamen; und die Pferde gingen ganz von allein mit hängenden Köpfen in ihrer stetigen und trägen Gangart, die durch die Steigung noch langsamer wurde. Oben auf den Gemüseladungen lagen die Fuhrleute unter ihren schwarz und grau gestreiften großen Mänteln auf dem Bauch ausgestreckt und dösten, die Zügel um die Handgelenke gelegt. Immer wenn ein Wagen aus dem Dunkel in den Bereich einer Gaslaterne kam, traf ihr Licht die Nägel einer Schuhsohle, den blauen Ärmel eines Kittels, das Stück einer Mütze, die zwischen der ungeheuren Üppigkeit der roten Möhren und der weißen Kohlrübenbüschel und dem überquellenden Grün von Schoten und Kohl hervorsahen, und vor und hinter ihnen auf dieser Landstraße und auf den benachbarten Straßen ließ entferntes Rattern auf ähnliche Geleitzüge schließen, die die Finsternis und den schweren Schlaf der zweiten Morgenstunde durchquerten, das ganze Heranbranden der Nahrungszufuhr, das mit dem Lärm seines Vorbeiziehens die schwarze Stadt wiegte.
Balthasar, das allzu wohlgenährte Pferd von Frau François, hielt die Spitze des Zuges. Er ging halb im Schlaf, mit den Ohren spielend, als er plötzlich auf der Höhe der Rue Longchamp stehenblieb, vor Schreck wie angewurzelt mit seinen vier Beinen. Die anderen Tiere stießen mit dem Kopf gegen das Hinterteil der vor ihnen fahrenden Wagen, und unter dem Klirren von Eisenteilen und dem Fluchen der aus dem Schlaf gerissenen Fuhrleute kam der Zug zum Halten. Frau François, die sich an ein Brett gegen ihr Gemüse lehnte, sah hin, konnte aber in dem spärlichen Schein, den links die viereckige Laterne warf und der gerade nur eine der glänzenden Flanken Balthasars beleuchtete, nichts erkennen.
»He! Mutter François! Vorwärts!« rief einer der Männer, der auf seinen Kohlrüben kniete. »Das ist irgendein besoffenes Schwein ...«
Die Frau hatte sich vorgebeugt und zu ihrer Rechten, fast unter den Hufen des Pferdes, eine schwarze Masse gewahrt, die die Straße versperrte.
»Man kann doch keine Leute überfahren«, meinte sie und sprang auf die Erde.
Es war ein Mann, der mit dem Gesicht im Staub und mit ausgebreiteten Armen der Länge nach hingestürzt war. Er schien ungewöhnlich groß zu sein und dürr wie ein vertrockneter Zweig; es war ein Wunder, daß ihn Balthasar nicht mit einem Huf tritt zerschmettert hatte. Frau François hielt ihn für tot; sie kauerte sich vor ihn hin, ergriff seine Hand und fühlte, daß sie warm war.
»He! Mann!« sagte sie sanft.
Aber die Fuhrleute wurden ungeduldig. Der Mann, der auf seinem Gemüse kniete, ließ sich wieder mit seiner heiseren Stimme vernehmen:
»Schlagt mit der Peitsche zu, Mutter François! – Der ist voll, das verdammte Schwein! Schieben Sie ihn doch in den Rinnstein!«
Der Mann hatte inzwischen die Augen geöffnet. Verstört und ohne sich zu rühren, sah er Frau François an. Sie glaubte, er sei wirklich betrunken.
»Sie können hier nicht liegenbleiben, Sie werden doch überfahren«, meinte sie zu ihm. »Wo wollen Sie denn überhaupt hin?«
»Ich weiß nicht ...«, antwortete er mit leiser Stimme und fuhr dann mühsam und mit unruhigem Blick fort: »Ich wollte nach Paris, ich bin hingefallen, ich weiß nicht ...«
Sie sah ihn jetzt deutlicher, und er wirkte jämmerlich mit seiner schwarzen Hose und seinem schwarzen Überzieher, die beide ganz zerschlissen waren und seine dürren Knochen sehen ließen. Unter seiner Mütze aus grobem schwarzem Stoff, die er ängstlich bis auf die Brauen heruntergezogen hatte, blickten zwei große braune, eigentümlich sanfte Augen aus einem harten und gequälten Gesicht. Frau François dachte, daß er für einen wirklichen Trinker zu mager sei.
»Und wohin wollten Sie in Paris?« fragte sie von neuem.
Er antwortete nicht sofort; dieses Verhör war ihm unangenehm. Er schien zu überlegen. Dann sagte er zögernd:
»Dorthin, wo die Markthallen sind.« Er war mit unendlicher Mühe aufgestanden und machte Anstalten, seinen Weg fortzusetzen.
Die Gemüsebäuerin sah, wie er schwankte und sich auf die Wagendeichsel stützte.
»Sie sind müde?«
»Ja, sehr müde«, murmelte er.
Da schlug sie einen barschen und gleichsam ungehaltenen Ton an, schubste ihn und sagte:
»Los! Schnell! Klettern Sie auf meinen Wagen! Sie bringen uns ja bloß um unsere Zeit! Ich fahre zu den Markthallen, ich lade Sie mit meinem Gemüse ab.« Und als er ablehnen wollte, schob sie ihn mit ihren starken Armen förmlich hoch, warf ihn auf die Möhren und Kohlrüben und rief ganz ärgerlich: »Machen Sie keine Fisimatenten! Mir reicht's nun ... Wenn ich Ihnen doch sage, daß ich zu den Markthallen fahre! Schlafen Sie ruhig, ich wecke Sie schon!«
Sie stieg wieder auf, lehnte sich an das schrägstehende Brett und nahm die Zügel Balthasars in die Hand, der sich wieder in Marsch setzte, einduselte und mit den Ohren spielte. Die anderen Wagen folgten; der Zug nahm seinen langsamen Trott durch die Dunkelheit wieder auf, und von neuem schlug das Rumpeln der Räder gegen die eingeschlafenen Häuserfronten. Die Fuhrleute begannen unter ihren Mänteln wieder zu dösen. Der Fuhrmann, der Frau François angeredet hatte, brummte, als er sich ausstreckte: »Teufel! Wenn man noch die Besoffenen auflesen soll! Ihr habt Ausdauer, Mutter François ...«
Die Wagen rollten, die Pferde gingen ganz von allein mit hängenden Köpfen.
Der Mann, den Frau François eben aufgelesen hatte, lag auf dem Bauch, die langen Beine in dem Haufen Kohlrüben verloren, die den Hinterteil des Wagens ausfüllten. Sein Gesicht versank in den Möhren, deren Bündel sich türmten und aufgingen; und während er aus Furcht, durch einen Stoß hinuntergeschleudert zu werden, mit seinen ausgebreiteten, abgezehrten Armen die riesige Gemüseladung umklammerte, sah er die beiden endlosen Reihen der Gaslaternen vor sich, die näher kamen und ganz dort oben in einem Gewimmel anderer Lichter verschwammen. Ein weiter weißer Dunst wallte am Horizont und hüllte das schlafende Paris in den leuchtenden Brodem all dieser Flammen.
»Ich bin aus Nanterre und heiße Madame François«, begann die Gemüsebäuerin nach einer Weile. »Seitdem ich meinen armen Mann verloren habe, fahre ich jeden Morgen zu den Markthallen. Ach, gehen Sie mir, das ist schwer! – Und Sie?«
»Ich heiße Florent, ich komme von weit her ...«, antwortete der Unbekannte verlegen. »Nehmen Sie es mir nicht übel, aber ich bin so erschöpft, daß es mir schwerfällt zu sprechen.« Er wollte nicht reden.
Sie schwieg also und ließ die Zügel ein wenig lockerer über Balthasars Kruppe hängen, der seinen Weg wußte und jeden Pflasterstein kannte.
Die Augen auf den unermeßlichen Lichtschein von Paris geheftet, dachte Florent an die Geschichte, die er verschwieg. Aus Cayenne1 entflohen, wohin ihn die Dezemberereignisse2 geworfen hatten, war er zwei Jahre in HolländischGuayana herumgeirrt in dem irrsinnigen Verlangen nach Heimkehr und in der Furcht vor der kaiserlichen Polizei, und nun lag endlich die geliebte, große Stadt, nach der er sich so gesehnt, nach der er so verlangt hatte, vor ihm. Hier würde er sich verbergen, hier würde er sein friedliches Leben von einst führen. Die Polizei würde nichts davon erfahren. Übrigens mußte er für sie drüben gestorben sein. Und er rief sich seine Ankunft in Le Havre ins Gedächtnis zurück, bei der er nur noch fünfzehn Francs in einem Zipfel seines Taschentuchs gefunden hatte. Bis Rouen konnte er einen Wagen nehmen. Von dort ging er zu Fuß weiter, weil ihm kaum noch dreißig Sous3 blieben. In Vernon aber kaufte er sich für seine letzten zwei Sous Brot. An das, was danach kam, konnte er sich nicht mehr erinnern. Er glaubte mehrere Stunden in einem Graben geschlafen zu haben. Einem Gendarmen hatte er die Papiere, die er sich beschafft hatte, zeigen müssen. Das alles tanzte in seinem Kopf. Ohne etwas zu essen, war er von Vernon bis hierher gekommen unter plötzlichen Wut und Verzweiflungsanfällen, die ihn dazu trieben, die Blätter der Hecken zu kauen, an denen er entlangkam; und er ging weiter, von Krämpfen und Schmerzen gepackt, den Bauch zusammengekrümmt, den Blick getrübt, die Füße, ohne sich dessen bewußt zu sein, wie angezogen von jener Vision von Paris, das weit, ganz weit hinter dem Horizont, ihn rief, ihn erwartete. Als er in Courbevoie anlangte, war es stockfinstere Nacht. Paris, das einem Stück bestirnten Himmels glich, der auf eine Ecke der schwarzen Erde herabgefallen war, kam ihm streng vor und gleichsam erzürnt über seine Rückkehr. Da befiel ihn Schwäche, und die Beine wie zerschlagen, ging er die Höhe hinunter. Als er den Pont de Neuilly überquerte, lehnte er sich auf das Geländer, beugte sich über die Seine, die tintenschwarze Wogen zwischen den dichten Massen der Ufer dahinwälzte; eine rote Schiffslaterne über dem Wasser sah ihn mit blutendem Auge nach. Jetzt mußte er bergauf, um Paris ganz da oben zu erreichen. Unermeßlich erschien ihm die Straße. Die Hunderte von Meilen, die er zurückgelegt hatte, waren nichts; dieses Wegstück brachte ihn zur Verzweiflung. Niemals würde er diesen von jenen Lichtern gekrönten Gipfel erreichen. Glatt dehnte sich die Straße mit ihren Reihen großer Bäume und niedriger Häuser, den breiten, grauen, vom Schatten der Zweige gefleckten Bürgersteigen, den düsteren Löchern der Querstraßen, all ihrer Stille und all ihrer Finsternis; und allein die in regelmäßigen Abständen aufgereckten Gaslaternen belebten mit ihren kurzen gelben Flämmchen diese Öde des Todes. Florent kam nicht mehr von der Stelle; die Straße wurde immer länger und rückte Paris weiter zurück in die Tiefe der Nacht. Es schien ihm, als liefen die Gaslaternen mit ihrem einen Auge rechts und links davon und trügen die Straße mit fort. Er taumelte in diesem Wirbel; wie eine leblose Masse sackte er auf dem Pflaster zusammen.
Jetzt rollte er sanft auf diesem Lager von Grünzeug dahin, das ihm weich wie Federn vorkam. Er hatte das Kinn ein wenig gehoben, um den leuchtenden, immer mehr zunehmenden Dunst über den schwarzen Dächern zu sehen, die er am Horizont ahnte. Er kam an, er wurde getragen, er brauchte sich nur den langsamer werdenden Stößen des Wagens zu überlassen, und bei diesem mühelosen Näherkommen litt er nur noch unter dem Hunger. Der Hunger war wieder erwacht, unerträglich, grausam. Seine Glieder schliefen; er spürte nur, wie sich sein Magen um und um drehte und wie von glühenden Zangen zerrissen wurde. Der frische Duft des Gemüses, in das er versunken war, dieser scharfe Geruch der Möhren ließ ihn fast ohnmächtig werden. Mit aller Kraft preßte er die Brust gegen dieses tiefe Bett von Nahrung, um seinen Magen abzuschnüren, um ihn am Schreien zu hindern. Und hinter ihm die neun anderen Fuhrwerke mit ihren Bergen von Kohl, ihren Bergen von Schoten, ihren Haufen von Artischocken, Salat, Sellerie und Porree schienen langsam auf ihn zuzurollen und ihn in seinem Ringen mit dem Hungertode wie unter einer Lawine von Fraß begraben zu wollen.
Plötzlich gab es einen Aufenthalt, ein Lärmen grober Stimmen: das war der Schlagbaum. Die Zollbeamten untersuchten die Wagen.
Dann zog Florent auf den Rüben in Paris ein, seiner Sinne nicht mächtig, die Zähne zusammengepreßt.
»He! Sie, Mann, da oben!« schrie Frau François barsch. Und da er sich nicht rührte, stieg sie hinauf und rüttelte ihn.
Florent setzte sich auf. Er hatte geschlafen und spürte seinen Hunger nicht mehr; er war völlig abgestumpft.
Die Gemüsebäuerin ließ ihn herunterkommen und sagte zu ihm: »Sie werden mir abladen helfen, ja?«
Er half ihr.
Ein dicker Mann mit Stock und Filzhut, der am linken Mantelaufschlag ein Schildchen trug, wurde ungehalten und stieß mit der Spitze seines Stocks auf den Bürgersteig.
»Los doch, los doch! Ein bißchen schneller! Lassen Sie den Wagen vorfahren ... Wie viele Meter haben Sie? Vier, nicht wahr?« Er händigte Frau François, die ein paar Zweisousstücke aus einem kleinen Leinenbeutel hervorholte, einen Schein aus und ging etwas weiter, um dort ungehalten zu werden und mit dem Stock aufzustoßen.
Die Gemüsebäuerin hatte Balthasar am Zaum genommen, ihn zurückgedrängt und den Wagen mit den Rädern dicht an den Bürgersteig geschoben. Nachdem sie ihre vier Meter auf dem Bürgersteig mit Strohbüscheln abgesteckt hatte, hob sie das Brett hinten am Wagen heraus und bat dann Florent, ihr das Gemüse Bund für Bund zuzureichen. Sie stapelte es ordentlich auf dem Pflaster, putzte die Ware, verteilte die Blätter so, daß ein Streifen Grün die Haufen umrahmte, und richtete mit einzigartiger Behendigkeit eine ganze Auslage her, die im Dunkeln einer Stickerei mit symmetrisch verteilten Farben glich. Als ihr Florent ein großes Bund Petersilie reichte, das er hinten gefunden hatte, bat sie ihn um noch einen Gefallen.
»Es wäre sehr nett von Ihnen, wenn Sie auf meine Ware aufpassen würden, während ich den Wagen unterstellen gehe ... Es sind zwei Schritt von hier, im ›Compas d'Or‹4 in der Rue Montorgueil.«
Er versicherte ihr, sie könne unbesorgt sein. Die Bewegung war nicht gut für ihn; seit er sich rührte, fühlte er, wie sein Hunger wieder erwachte. Er setzte sich mit dem Rücken an einen Haufen Kohl neben der Ware von Frau François, sagte sich, daß er es hier aushalten, daß er sich nicht mehr regen, daß er abwarten würde. Sein Kopf kam ihm ganz leer vor, und er konnte sich nicht deutlich erklären, wo er sich befand. Von den ersten Septembertagen an ist es frühmorgens ganz dunkel. Die Laternen um ihn herum blakten sanft und drangen nicht durch die Finsternis. Er saß am Rande einer breiten Straße, die er nicht wiedererkannte. Weit weg versank sie in der stockdunklen Nacht. Außer der Ware, die er bewachte, konnte er kaum etwas unterscheiden. Drüben türmten sich längs der Steinplatten undeutliche Haufen. In der Mitte des Fahrdamms versperrten grau wirkende Umrisse von großen zweirädrigen Karren die Straße; und ein Schnaufen, das vorüberstrich, ließ von einem Ende zum andern eine Reihe von angeschirrten Tieren ahnen, die nicht zu sehen waren. Zurufe, der Lärm, wenn ein Stück Holz oder eine Eisenkette aufs Pflaster fiel, der dumpfe Lawinenrutsch einer Wagenladung Gemüse, das letzte Rücken eines Wagens, der an die Bordschwelle stieß, brachten in die noch schlafende Luft das sanfte Raunen eines dröhnenden und ungeheuren Erwachens, das man in der Tiefe dieses bebenden Dunkels herannahen fühlte. Als sich Florent umwandte, gewahrte er an der andern Seite seiner Kohlköpfe einen Mann, der, den Kopf auf einem Korb Pflaumen, wie ein Paket in einen Mantel eingewickelt, dalag und schnarchte. Mehr in seiner Nähe erkannte er links ein Kind von ungefähr zehn Jahren, das mit dem Lächeln eines Engels in einer Kuhle zwischen zwei Bergen von Schikoree eingeschlummert war. Und außer den Laternen am Rande des Bürgersteigs, die am Ende unsichtbarer Arme tanzten und über den Schlaf der da herumliegenden Menschen und Gemüsehaufen, die auf den Tag warteten, mit einem Satz hinwegsprangen, war noch nichts richtig wach. Aber was ihn in Erstaunen setzte, waren riesige Hallen zu beiden Seiten der Straße, deren übereinandergetürmte Dächer immer größer zu werden, sich auszudehnen und sich in einem zerstiebenden Schimmer zu verlieren schienen. Sein entkräfteter Geist träumte von einer Reihe unermeßlicher und ebenmäßiger Paläste von kristallener Schwerelosigkeit, die auf ihren Fassaden tausend Flammenstreifen sich unendlich fortsetzender Jalousien entzündeten. Zwischen den schmalen Pfeilern bildeten diese dünnen gelben Stäbe Leitern von Licht, die bis zu der dunklen Linie der ersten Dächer emporstiegen, die darauf gehäuften oberen Dächer erklommen und die großen Gerippe unendlicher Räume in ihrer Vierschrötigkeit sehen ließen, wo unter dem gelben Schein der Gasflammen ein Durcheinander von grauen, verschwommenen und schlafenden Gestalten herumlag. Er wandte den Kopf, ärgerlich darüber, daß er nicht wußte, wo er sich befand, beunruhigt durch diese kolossale und hinfällige Erscheinung; und als er aufblickte, gewahrte er das beleuchtete Zifferblatt von SaintEustache und die graue Masse der Kirche. Das verwunderte ihn tief. Er befand sich an der Pointe SaintEustache.
Inzwischen war Frau François wiedergekommen. Sie hatte einen heftigen Wortwechsel mit einem Mann, der einen Sack auf der Schulter trug und ihr für ihre Möhren einen Sou für das Bund zahlen wollte.
»Hören Sie, Sie sind wohl nicht bei Trost. Lacaille ... Sie verkaufen sie für vier und fünf Sous an die Pariser weiter, streiten Sie das nicht ab ... Für zwei Sous, meinetwegen.« Und als der Mann ging, fuhr sie fort: »Die Leute glauben, das wächst von selber, wahrhaftig ... Soll er ich Möhren für einen Sou suchen, dieser versoffne Lacaille ... Passen Sie auf, er kommt zurück«, wandte sie sich an Florent. Sich neben ihn setzend, redete sie dann weiter: »Sagen Sie mal, wenn Sie lange von Paris fort waren, kennen Sie vielleicht die neuen Markthallen noch gar nicht? Es ist ja höchstens fünf Jahre her, daß sie gebaut wurden ... Da, sehen Sie, das neben uns ist die Blumen und Obsthalle, etwas weiter die für Seefische, die für Geflügel und dahinter die für Grobgemüse, für Butter und Käse ... Sechs Hallen sind auf dieser Seite und dann gegenüber auf der anderen Seite noch vier – für Fleisch, für Kaldaunen – und La Vallée5... Alles sehr groß, aber im Winter schauderhaft kalt. Sie wollen ja noch zwei Hallen bauen und die Häuser bei der Getreidehalle abreißen. Kannten Sie das alles schon?«
»Nein«, antwortete Florent. »Ich war im Ausland ... Und diese große Straße, die hier vor uns, wie heißt die?«
»Das ist eine neue Straße, die Rue du PontNeuf, die von der Seine ausgeht und bis hierher, bis zur Rue Montmartre und zur Rue Montorgueil, führt ... Wenn es Tag wäre, würden Sie sich gleich zurechtfinden.« Sie stand auf, weil sie eine Frau sah, die sich über ihre Kohlrüben beugte. »Ach, Sie sind es, Mutter Chantemesse?« sagte sie freundlich.
Florent blickte die Rue Montorgueil hinunter. Dort war es, wo ihn in der Nacht vom 4. Dezember ein Trupp Schutzleute festgenommen hatte. Er war gegen zwei Uhr den Boulevard Montmartre mitten in der Menge gemächlich hinuntergegangen und hatte über alle diese Soldaten gelächelt, die das Elysée6 auf der Straße herumspazieren ließ, damit man es ernst nehme, als plötzlich die Soldaten rücksichtslos innerhalb einer Viertelstunde die Straße räumten. Gestoßen und zu Boden geworfen, fiel er an der Ecke der Rue Vivienne hin; und er wußte nichts mehr. In entsetzlicher Angst vor den Schüssen stürzte die wahnsinnig gewordene Menge über ihn hinweg. Als er nichts mehr hörte, wollte er sich aufrichten. Auf ihm lag eine junge Frau mit einem rosa Hütchen, deren Schal herabgeglitten war und ein in kleine Falten gelegtes Brusttuch sehen ließ. Oberhalb des Busens hatten zwei Kugeln das Brusttuch durchschlagen; und als er sanft die junge Frau wegschob, um seine Beine freizubekommen, flossen aus den Löchern zwei dünne Fäden Blut auf seine Hände. Da sprang er mit einem Satz auf und lief wie besessen ohne Hut und mit nassen Händen davon. Bis zum Abend streifte er kopflos umher und sah immerzu die junge Frau quer über seinen Beinen liegen mit ihrem ganz bleichen Gesicht, ihren großen blauen offenen Augen, ihren schmerzlichen Lippen und ihrem Erstaunen, so schnell gestorben zu sein. Er war schüchtern; mit dreißig Jahren wagte er nicht, Frauen ins Gesicht zu sehen, und bewahrte diese hier für sein Leben in seinem Gedächtnis und seinem Herzen. Es war gleichsam eine Frau, die ihm gehörte und die er verloren hatte. Am Abend fand er sich, ohne zu wissen wie, noch erschüttert von den schrecklichen Ereignissen des Nachmittags, in der Rue Montorgueil, in einem Weinausschank, wo Männer tranken und dabei vom Barrikadenbauen sprachen. Er ging mit ihnen, half ein paar Pflastersteine herausreißen und setzte sich, müde vom Herumlaufen in den Straßen, auf die Barrikade und sagte sich, daß er kämpfen würde, wenn die Soldaten kommen sollten. Er hatte nicht einmal ein Messer bei sich und war noch immer barhäuptig. Gegen elf Uhr schlummerte er ein; er sah in dem weißen Brusttuch mit den kleinen Falten die beiden Löcher, die ihn wie zwei rote Augen voller Tränen und Blut anschauten. Als er aufwachte, hielten ihn vier Schutzleute fest, die ihm Faustschläge versetzten. Die Männer von der Barrikade hatten die Flucht ergriffen. Die Schutzleute aber wurden wütend und hätten ihn beinahe erwürgt, als sie gewahrten, daß er Blut an den Händen hatte. Es war das Blut der jungen Frau.
Erfüllt von diesen Erinnerungen blickte Florent zu dem beleuchteten Zifferblatt der Kirche SaintEustache empor, ohne überhaupt die Zeiger zu sehen. Es war fast vier Uhr. Die Hallen schliefen noch immer. Frau François schwatzte im Stehen mit Mutter Chantemesse und handelte um den Preis für das Bund Kohlrüben. Und Florent entsann sich, daß man ihn dort an der Mauer von SaintEustache beinahe erschossen hätte. Ein Zug Gendarmen hatte dort gerade fünf Unglücklichen, die auf einer Barrikade in der Rue Grenéta gefaßt worden waren, die Schädel zerschmettert. Die fünf Leichen lagen auf dem Bürgersteig, an einer Stelle, wo er heute Haufen rosiger Radieschen zu sehen glaubte. Er entging der Erschießung, weil die Schutzleute nur Säbel hatten. Man brachte ihn zu einer Polizeiwache in der Nähe und hinterließ dem Reviervorsteher einen Zettel, auf dem mit Bleistift die Worte: »Festgenommen mit blutigen Händen. Sehr gefährlich!« geschrieben waren. Bis zum Morgen wurde er von Wache zu Wache geschleppt. Der Zettel begleitete ihn. Man hatte ihm Handschellen angelegt und bewachte ihn wie einen Tobsüchtigen. Auf der Wache in der Rue de la Lingerie wollten ihn betrunkene Soldaten erschießen; sie hatten schon die Laterne angezündet, als der Befehl kam, die Gefangenen zum Depot der Polizeipräfektur zu bringen. Am übernächsten Tage befand er sich in einer Kasematte des Forts Bicêtre7. Von diesem Tage an litt er Hunger; in der Kasematte hungerte er, und seitdem hatte ihn der Hunger nicht mehr verlassen. Etwa hundert waren in diesem luftlosen Keller zusammengepfercht und verschlangen die paar Bissen, die man ihnen wie eingesperrten Tieren zuwarf. Als er vor einen Untersuchungsrichter kam ohne irgendwelche Zeugen, ohne Verteidiger, wurde er beschuldigt, einem Geheimbund anzugehören, und als er schwor, daß das nicht stimme, holte der Richter den Zettel mit der Aufschrift: »Festgenommen mit blutigen Händen. Sehr gefährlich!« aus seinen Akten hervor. Das genügte. Er wurde zur Deportation verurteilt. Nach sechs Wochen weckte ihn im Januar eines Nachts ein Gefangenenwärter und brachte ihn zu einigen vierhundert anderen Gefangenen in einen Hof. Zwischen zwei Reihen Gendarmen mit geladenem Gewehr machte sich eine Stunde danach dieser erste Zug mit gefesselten Händen auf den Weg zu den Gefangenenschiffen und in die Verbannung. Sie zogen über die Pont d'Austerlitz, folgten der Reihe der Boulevards und kamen zum Gare du Havre. Es war eine fröhliche Karnevalsnacht; die Fenster der Restaurants am Boulevard leuchteten. In der Höhe der Rue Vivienne, an der Stelle, wo Florent noch immer die unbekannte Tote sah, deren Bild er mit sich trug, gewahrte er in einer großen Kalesche maskierte Frauen mit nackten Schultern und lachenden Stimmen, die ungehalten waren, daß sie nicht vorbei konnten, und beim Anblick »dieser Sträflinge, die kein Ende mehr nahmen«, angewidert taten. Von Paris bis Le Havre erhielten die Gefangenen nicht einen Bissen Brot und nicht ein Glas Wasser. Man hatte vergessen, vor dem Abmarsch Verpflegung an sie auszugeben. Erst sechsunddreißig Stunden später, als man sie im Laderaum der Fregatte »Le Canada« zusammengepfercht hatte, bekamen sie etwas zu essen.
Nein, der Hunger hatte ihn nicht mehr verlassen. Er durchforschte seine Erinnerungen und konnte sich nicht entsinnen, eine Stunde satt gewesen zu sein. Er war dürr geworden, der Magen war zusammengeschrumpft, die Haut klebte auf den Knochen. Und er fand Paris wieder, feist, hochmütig, überquellend von Nahrung in der Tiefe der Finsternis; auf einem Bett von Gemüse hielt er seinen Einzug. Er wälzte sich gleichsam in einer unbekannten Welt von Fraß, die er rings um sich wuchern fühlte und die ihn beunruhigte. Die glückliche Karnevalsnacht hatte also sieben Jahre lang fortgedauert. Wieder sah er die leuchtenden Fenster der Boulevards, die lachenden Frauen, die gefräßige Stadt, die er damals in jener fernen Januarnacht verlassen hatte; und es schien ihm, als sei das alles noch gewachsen, als sei es aufgeblüht in dieser Riesenhaftigkeit der Markthallen, deren mächtigen, noch vom Unverdauten des Vortages stickigen Atem er zu spüren begann.
Mutter Chantemesse hatte sich entschlossen, zwölf Bund Rüben zu kaufen. Sie hielt sie in ihrer Schürze auf dem Bauch, wodurch ihre breite Taille noch umfangreicher wurde; und sie blieb noch da, unausgesetzt schwatzend mit ihrer schleppenden Stimme. Als sie gegangen war, setzte sich Frau François wieder zu Florent und erzählte:
»Die arme Mutter Chantemesse, mindestens zweiundsiebzig ist sie. Ich war noch ein kleines Mädchen, als sie schon bei meinem Vater ihre Kohlrüben kaufte. Und keinen Verwandten hat sie um sich, niemand außer einem Weibsstück, das sie, ich weiß nicht wo, aufgelesen hat und von dem sie bis aufs Blut gequält wird ... Schlägt sich kümmerlich durch, verkauft ein bißchen und verdient noch ihre vierzig Sous den Tag ... Ich könnte nicht in diesem verfluchten Paris von morgens bis abends auf einem Bürgersteig sitzen. Wenn man hier wenigstens Verwandte hätte!« Und da Florent nichts sagte, fragte sie ihn: »Sie haben Ihre Familie in Paris, nicht wahr?«
Er schien nicht zu hören. Sein Mißtrauen kehrte wieder. Er hatte den Kopf voll von Geschichten über die Polizei, über Spitzel, die an jeder Straßenecke lauerten, über Weiber, die armen Teufeln Geheimnisse entlockten und für Geld preisgaben. Sie saß ganz dicht bei ihm und wirkte mit ihrem großen ruhigen Gesicht, das ein schwarzgelbes Seidentuch über der Stirn straff umspannte, durchaus rechtschaffen auf ihn. Sie mochte etwa fünfunddreißig Jahre alt sein, war ein bißchen stark, aber schön infolge ihres Lebens in der frischen Luft; ihre Robustheit wurde durch die wohlwollende Zärtlichkeit ihrer schwarzen Augen gemildert. Sie war sicherlich sehr neugierig, aber mit einer Neugier, die völlig gutmütig zu sein schien.
Ohne Florents Schweigen übelzunehmen, fuhr sie fort:
»Ich hatte in Paris einen Neffen. Er ist nicht gut eingeschlagen, ist freiwillig zu den Soldaten gegangen ... Immerhin, es ist gut, wenn man weiß, wo man bleiben kann. Ihre Angehörigen werden wohl sehr überrascht sein, Sie zu sehen. Und das ist eine Freude, wenn einer wiederkommt, nicht wahr?« Beim Reden ließ sie ihn nicht aus den Augen; zweifellos hatte sie Mitleid mit seiner entsetzlichen Magerkeit, fühlte, daß unter seinen jämmerlichen schwarzen alten Sachen ein »Herr« steckte, und wagte nicht, ihm eine Silbermünze in die Hand zu drücken. Schließlich meinte sie schüchtern: »Wenn Sie inzwischen irgend etwas brauchen sollten ...«
Aber er lehnte mit unruhigem Stolz ab, sagte, er habe alles, was er brauche, und wisse, wo er hingehen könne.
Sie schien froh darüber und wiederholte mehrmals, wie um sich selber über sein Schicksal zu beruhigen:
»Nun ja, dann brauchen Sie ja bloß zu warten, bis es Tag wird.«
Über Florents Kopf begann eine mächtige Glocke an der Ecke der Obsthalle zu läuten. Ihre langsamen und regelmäßigen Schläge schienen nach und nach den auf den Steinplatten herumliegenden Schlaf zu verscheuchen. Es trafen immer noch Wagen ein; die Rufe der Fuhrleute, das Knallen der Peitschen, das Zermalmen des Pflasters unter den eisenbeschlagenen Rädern und den Hufen der Pferde – das alles schwoll an; die Wagen kamen nur noch ruckweise vorwärts, bildeten eine Reihe, erstreckten sich, weiter als der Blick reichte, in grauen Gliedern, aus denen verworrenes Getöse aufstieg. Die ganze Rue du PontNeuf entlang wurde abgeladen, wobei die Karren mit dem Hinterteil gegen die Rinnsteine stießen und die Pferde reglos und dicht nebeneinander aufgestellt wie beim Viehmarkt dastanden. Florent fiel ein riesiger, mit Kot bespritzter Wagen auf, der mit prächtigem Kohl beladen war und sich nur mit großer Mühe an den Bürgersteig zurückschieben ließ; die Fuhre überragte eine unheimlich lange Gaslaterne, die daneben aufgestellt war und deren volles Licht auf den Haufen großer Blätter fiel, die umgeschlagen waren wie Rockschöße aus zugeschnittenem und gaufriertem grobem grünem Samt. Ein Bauernmädchen von etwa sechzehn Jahren in kurzer Jacke und blauer Leinenhaube, das auf den Karren geklettert war und dem der Kohl bis zu den Schultern reichte, ergriff die Köpfe einen nach dem andern und warf sie jemand unten zu, den das Dunkel verbarg. Hin und wieder verlor sich die Kleine unter dieser Lawine, in der sie untertauchte, ausglitt und verschwand; dann erschien ihr rosiges Näschen wieder inmitten des dichten Grüns, und die Kohlköpfe begannen von neuem zwischen der Gaslaterne und Florent vorbeizufliegen. Mechanisch zählte er sie. Als der Wagen leer war, verdroß ihn das.
Auf dem Pflaster erstreckten sich jetzt die abgeladenen Haufen bis zum Fahrdamm. Zwischen den einzelnen Haufen sparten die Gemüsebauern enge Pfade aus, damit die Leute durchgehen konnten. Der ganze breite Bürgersteig war von einem Ende zum andern mit den dunklen Gemüsehöckern bedeckt. In dem jähen und ungleichmäßigen Licht der Laternen war zunächst nur die fleischige Blütenpracht eines Bündels Artischocken, das zarte Grün von Salaten, das Korallenrot der Möhren, das matte Elfenbein der Kohlrüben zu sehen; und dieses Aufblitzen lebhafter Farben lief unter den Laternen die Haufen entlang. Der Bürgersteig hatte sich belebt; eine Menschenmenge erwachte und erging sich, redend, rufend, stehenbleibend, zwischen den Waren. Von weitem rief eine laute Stimme: »He! Schikoree!« Soeben waren die Gittertore der Halle für Grobgemüse geöffnet worden. In weißer Haube und über dem schwarzen Mieder geknotetem Brusttuch, die Röcke aufgeschürzt und mit Nadeln befestigt, um sich nicht zu beschmutzen, deckten die Händlerinnen dieser Halle ihren Tagesbedarf und beluden mit ihren Einkäufen die großen, auf der Erde stehenden Kiepen der Träger. Inmitten von zusammenstoßenden Köpfen, von Schimpfworten, des Lärms von Stimmen, die sich heiser schrien beim viertelstundenlangen Feilschen um einen Sou, wurde das Hin und Her von Kiepen zwischen Halle und Fahrdamm stärker. Und Florent wunderte sich über die Ruhe der Gemüsebäuerinnen mit ihren halbseidenen Kopftüchern und ihrer sonnenverbrannten Haut in diesem schwatzhaften Gezänk der Markthallen.
Hinter ihm wurde auf dem Pflaster der Rue Rambuteau Obst verkauft. Reihen von Körben mit und ohne Henkel standen ausgerichtet da, mit Stroh oder Leinwand zugedeckt; und es roch nach überreifen Mirabellen. Eine sanfte und ruhige Stimme, die er schon eine Weile hörte, ließ ihn den Kopf wenden. Er erblickte eine entzückende kleine brünette Frau, die auf der Erde saß und feilschte.
»Nun sag schon, Marcel, verkaufst du's für hundert Sous?«
Der in seinen Mantel vergrabene Mann gab keine Antwort, und nach fünf langen Minuten begann die junge Frau wieder:
»Also, Marcel, hundert Sous für diesen Korb hier und vier Francs für den andern macht zusammen neun Francs, die du zu bekommen hast?«
Erneut trat Schweigen ein.
»Was hast du nun also zu bekommen?«
»Ach was! Zehn Francs! Du weißt es doch; ich habe es dir bereits gesagt ... Und dein Jules, was machst du mit ihm, Sarriette?«
Die junge Frau lachte auf und holte eine große Handvoll Geld hervor.
»Ach!« entgegnete sie. »Der schläft bis in den hellichten Tag ... Er behauptet, daß die Männer nicht zum Arbeiten geschaffen sind.« Sie bezahlte und trug die beiden Körbe in die Obsthalle, die eben geöffnet wurde.
Die Markthallen bewahrten ihre schwarze Schwerelosigkeit mit den tausend Flammenstreifen der Jalousien; Leute zogen durch die breiten, überdachten Straßen, während die weiter entfernten Hallen inmitten des zunehmenden Gewimmels auf den Bürgersteigen menschenleer blieben. An der Pointe SaintEustache nahmen die Bäcker und Weinhändler ihre Fensterläden ab; längs der grauen Häuser wirkten die roten Kaufläden mit ihren brennenden Gaslampen wie Löcher in der Finsternis. Florent betrachtete links in der Rue Montorgueil eine Bäckerei, die ganz angefüllt und ganz vergoldet war mit frischem Gebäck, und er glaubte geradezu den guten Duft des warmen Brotes zu spüren. Es war halb fünf.
Inzwischen war Frau François ihre Ware losgeworden. Es blieben ihr noch einige Bund Möhren, als Lacaille mit seinem Sack wieder erschien.
»Na, geht es für einen Sou?« fragte er.
»Ich war sicher, daß Sie noch einmal zurückkommen«, antwortete die Frau ruhig. »Also nehmen Sie meinen Rest. Es sind siebzehn Bund.«
»Das macht siebzehn Sous?«
»Nein, vierunddreißig.«
Sie einigten sich auf fünfundzwanzig. Frau François wollte nach Hause. Als sich Lacaille mit den Möhren in seinem Sack entfernt hatte, sagte sie zu Florent:
»Sehen Sie, er hat mir aufgelauert. Auf dem ganzen Markt feilscht er herum, ohne etwas zu kaufen; manchmal wartet er bis zum letzten Glockenschlag, um für vier Sous Ware zu erstehen ... Ach, diese Pariser! Die streiten sich wegen eines halben Sous und gehen dann zum Weinausschank ihr ganzes Geld versaufen.«
Wenn Frau François über Paris sprach, war sie voller Spott und Geringschätzung; sie behandelte es als eine weit entlegene, durch und durch lächerliche und verachtungswürdige Stadt, in die sie nur nachts den Fuß zu setzen gesonnen war.
»Jetzt kann ich fortgehen«, redete sie weiter und setzte sich wieder neben Florent auf das Gemüse einer Nachbarin.
Florent senkte den Kopf, er hatte eben einen Diebstahl verübt. Als Lacaille davongegangen war, hatte er auf dem Erdboden eine Möhre liegen sehen. Er hatte sie aufgehoben und hielt sie in seiner rechten Hand umklammert. Hinter ihm verströmten Selleriebündel und Petersilienhaufen verwirrende Gerüche, die ihn an der Kehle packten.
»Ich werde jetzt gehen«, wiederholte Frau François.
Sie nahm Anteil an diesem Unbekannten; sie fühlte, wie er litt auf diesem Bürgersteig, von dem er sich nicht weggerührt hatte. Sie bot ihm von neuem ihre Hilfe an, aber er lehnte wieder ab mit noch starrerem Stolz als vorher. Er stand sogar auf, hielt sich gerade, um zu beweisen, daß er munter und guter Dinge war. Und als sie den Kopf wandte, steckte er die Möhre in den Mund. Aber er mußte sie einen Augenblick still halten, trotz des schrecklichen Verlangens, mit den Zähnen zuzubeißen; die Bäuerin blickte ihm wieder ins Gesicht und stellte ihm mit der Neugierde einer biederen Frau Fragen. Um nicht zu sprechen, antwortete er mit Kopfbewegungen. Dann aß er vorsichtig und langsam die Möhre.
Die Gemüsebäuerin schickte sich entschieden an aufzubrechen, als dicht neben ihr eine laute Stimme sagte:
»Guten Morgen, Madame François.«
Es war ein dürrer, bärtiger Bursche mit groben Knochen, einem mächtigen Kopf, feiner Nase und kleinen hellen Augen. Er trug einen schwarzen, fuchsig gewordenen Filzhut, der seine Form verloren hatte, und war tief in einen riesigen Überzieher eingeknöpft, der einst zart kastanienbraun gewesen war und den der Regen in langen breiten grünlichen Streifen verfärbt hatte. Ein wenig gebeugt und von dem üblichen Schauer nervöser Unruhe geschüttelt, blieb er wie festgewurzelt in seinen groben Schnürschuhen stehen, und seine zu kurzen Hosen ließen seine blauen Strümpfe sehen.
»Guten Morgen, Herr Claude«, antwortete freundlich die Gemüsebäuerin. »Sie wissen, ich habe Sie am Montag erwartet; und weil Sie nicht gekommen sind, habe ich Ihr Bild in Verwahrung genommen und in meiner Stube an einem Nagel aufgehängt.«
»Sie sind zu gütig, Madame François; dieser Tage werde ich meine Studie beendigen kommen ... Am Montag konnte ich nicht ... Hat Ihr großer Pflaumenbaum noch alle seine Blätter?«
»Gewiß.«
»Ich will ihn nämlich in eine Ecke des Bildes setzen. Links vom Hühnerstall wird er sich gut machen. Die ganze Woche habe ich darüber nachgedacht ... Ah! Das schöne Gemüse heute morgen! Ich bin früh heruntergekommen, weil ich ahnte, daß es über diesen Bergen von Kohl einen herrlichen Sonnenaufgang geben wird.« Er zeigte mit einer Handbewegung auf die ganze Länge des Pflasters.
Die Gemüsebäuerin sagte noch:
»Nun also, ich gehe. Lebt wohl ... Auf bald, Herr Claude!« Und als sie aufbrach, stellte sie Florent dem jungen Maler vor: »Das hier ist ein Herr, der von weither zurückkommt, wie es scheint, und der sich in Ihrem lumpigen Paris nicht mehr zurechtfindet. Vielleicht können Sie ihm eine richtige Auskunft geben.« Endlich ging sie, glücklich, die beiden Männer zusammen zurückzulassen.
Claude betrachtete Florent mit Anteilnahme; diese lange, dünne und schwankende Gestalt kam ihm irgendwie eigentümlich vor. Die Vorstellung durch Frau François genügte; und mit der Unbefangenheit eines an zufällige Begegnungen jeder Art gewöhnten Straßenbummlers meinte er gelassen zu ihm:
»Ich werde Sie begleiten. Wohin gehen Sie?«
Florent blieb gehemmt. Er war wenig mitteilsam; aber seit seiner Ankunft hatte er eine Frage auf den Lippen. Endlich wagte er sich damit hervor; er fragte und hatte dabei Angst vor einer verdrießlichen Antwort:
»Ist die Rue Pirouette noch vorhanden?«
»Natürlich«, sagte der Maler. »Ein höchst reizvoller Winkel des alten Paris, diese Straße! Sie dreht sich wie eine Tänzerin, und die Häuser da haben Bäuche schwangerer Frauen ... Ich habe von dieser Straße eine Radierung gemacht, die nicht allzu schlecht ist. Wenn Sie zu mir kommen, zeige ich sie Ihnen ... Dorthin wollen Sie also?«
Erleichtert und aufgemuntert durch die Nachricht, daß die Rue Pirouette noch vorhanden war, beteuerte Florent, er wolle nicht dorthin, und versicherte, er müsse nirgendwohin. Sein ganzes Mißtrauen erwachte wieder bei Claudes Beharrlichkeit.
»Das macht nichts«, erklärte der, »gehen wir trotzdem zur Rue Pirouette. Nachts ist sie von einer Farbe! Kommen Sie, es sind nur zwei Schritt.«
Florent mußte ihm folgen. Sie gingen Seite an Seite wie zwei Kameraden und stiegen dabei über die Körbe und das Gemüse hinweg. Auf dem Pflaster der Rue Rambuteau lagen riesige Stapel von Blumenkohlköpfen, die mit überraschender Regelmäßigkeit wie Kanonenkugeln aufgeschichtet waren. Das weiße und zarte Fleisch des Kohls erblühte wie ungeheure Rosen inmitten der dicken grünen Blätter, und die Haufen glichen auf Riesenblumentischen aufgereihten Brautsträußen. Claude blieb stehen und stieß leise Bewunderungsrufe aus.
Dann zeigte er auf die vor ihnen liegende Rue Pirouette und erklärte jedes Haus. Eine einzige Gaslaterne brannte an einer Ecke. Die zusammengehäuften, ausgebauchten Häuser streckten unten ihre Regenschutzdächer vor die »Bäuche schwangerer Frauen«, wie sich der Maler ausgedrückt hatte, neigten sich mit ihren Giebeln zurück und stützten sich gegenseitig mit den Schultern. Drei oder vier dagegen, die ganz hinten in dem dunklen Loch standen, schienen jeden Augenblick auf die Nase fallen zu wollen. Die Gaslaterne beleuchtete eines davon, das ganz weiß und neu getüncht war, mit seiner Gestalt einer alten gebrechlichen und schlaff gewordenen Frau, die über und über weiß gepudert und grell geschminkt ist wie ein junges Mädchen. Dahinter erstreckte sich die verbeulte Reihe der anderen und versank in tiefes Schwarz, rissig und grün geworden durch den abfließenden Regen, und in solch einem Durcheinander von Farben und Formen, daß Claude vor Entzücken darüber lachte. Florent war an der Ecke der Rue Mondétour gegenüber dem vorletzten Haus zur Linken stehengeblieben. Die drei Stockwerke mit ihren zwei Fenstern ohne Jalousien und ihren kleinen weißen, hinter den Scheiben sorgfältig zugezogenen Vorhängen schliefen. Oben ging hinter den Vorhängen eines schmalen Giebelfensters ein Licht hin und her. Aber der Laden unter dem Regenschutzdach schien Florent in ungewöhnliche Erregung zu versetzen. Eben wurde er geöffnet. Es war ein Laden, in dem es gekochtes Gemüse gab. Im Hintergrund glänzten Kochkessel. Spinat und Schikoreepasteten in Terrinen auf dem Auslagetisch waren abgerundet und liefen spitz aus, bereits aufgeschnitten mit kleinen Schaufeln, von denen nur der blanke Metallgriff zu sehen war. Bei diesem Anblick blieb Florent wie festgenagelt stehen. Er erkannte den Laden wohl nicht wieder. Er las den Namen des Kaufmanns Godebœuf auf einem roten Schild und verharrte bestürzt. Die Arme hängen lassend, betrachtete er die Spinatpasteten mit dem verzweifelten Gesicht eines Menschen, dem ein außerordentliches Mißgeschick widerfährt.
Inzwischen hatte sich das Giebelfenster geöffnet; eine kleine alte Frau beugte sich heraus, blickte nach dem Himmel und dann weiter zu den Markthallen hinüber.
»Sieh einmal an! Mademoiselle Saget ist ja früh auf«, sagte Claude, der in die Höhe gesehen hatte. Und er fügte hinzu, sich an seinen Begleiter wendend: »Ich habe eine Tante in diesem Hause gehabt. Das ist hier vielleicht eine Klatschbude ... Ah! Jetzt regt es sich bei Méhudins; im zweiten Stock brennt Licht.«
Florent wollte Fragen an ihn richten, aber er fand ihn besorgniserregend in seinem weiten, verschossenen Mantel; er folgte ihm weiter, ohne ein Wort zu sagen, während der andere von Méhudins erzählte. Sie seien Fischhändlerinnen. Die ältere sei prachtvoll, die jüngere, die Süßwasserfische verkaufe, ganz blond und ähnele inmitten ihrer Karpfen und Aale einer Madonna von Murillo. Und ärgerlich bemerkte er dabei, daß Murillo8 doch wie ein toller Bursche male. Dann blieb er plötzlich mitten auf der Straße stehen:
»Also, wohin gehen Sie nun eigentlich?«
»Ich will im Augenblick nirgendwohin«, antwortete Florent niedergedrückt. »Gehen wir, wohin Sie wollen.«
Als sie aus der Rue Pirouette kamen, wurde Claude von einer Stimme hinten aus dem Laden eines Weinhändlers an der Ecke angerufen. Claude trat ein und zog Florent mit sich. Nur an der einen Seite waren die Fensterläden abgenommen. Das Gas brannte in der noch schläfrigen Luft des Raums; ein vergessener Lappen und Karten vom Abend vorher lagen auf den Tischen herum, und der Luftzug von der großen offenen Tür drang frisch und scharf in den warmen, eingeschlossenen Weindunst. Der Wirt, Herr Lebigre, bediente die Gäste in einer Unterjacke, seine Bartkrause noch ganz zerzaust und sein grobes, regelmäßiges Gesicht ganz blaß vom Schlaf. Männer mit blauen Rändern um die Augen standen in Gruppen vor der Theke, tranken hustend und spuckend und machten sich mit Weißwein und Schnaps vollends wach. Florent erkannte Lacaille, dessen Sack jetzt von Gemüse überquoll. Er war bei der dritten Runde mit einem Kumpel, der lang und breit vom Kauf eines Korbes Kartoffeln erzählte. Als er sein Glas geleert hatte, ging er mit Herrn Lebigre in ein kleines verglastes Gelaß im Hintergrund, wo das Gas nicht angezündet war, etwas besprechen.
»Was wollen Sie trinken?« fragte Claude Florent.
Beim Eintreten hatte er dem Mann, der ihn hereingerufen, die Hand geschüttelt. Es war dies ein kräftiger, gut aussehender Bursche von höchstens zweiundzwanzig Jahren, der rasiert war, nur einen kleinen Schnurrbart trug und fidel aussah mit seinem weiten kreidebeschmierten Hut und seinem Nackenschutz aus Teppichstoff, dessen Gurte seine blaue Jacke zusammenschnürten. Claude redete ihn mit Alexandre an, schlug ihm auf die Arme und fragte ihn, wann sie nach Charentonneau gehen würden. Und sie sprachen von einem großen Ausflug, den sie zusammen in einem Boot auf der Marne unternommen hatten. Am Abend hatten sie dann Kaninchen gegessen.
»Also, was trinken Sie?« fragte Claude von neuem.
Florent sah sehr verlegen auf die Theke. An dem einen Ende wurden mit Kupferreifen versehene Teekannen mit Punsch und Glühwein über den kleinen blauen und rosa Flammen eines Gaskochers heiß gemacht. Er gestand schließlich, daß er gern etwas Heißes zu sich nehmen würde. Herr Lebigre brachte drei Gläser Punsch. Bei den Teekannen stand ein Korb mit Butterbrötchen, die soeben gebracht worden waren und noch dampften. Aber die anderen nahmen nicht davon, und Florent trank sein Glas Punsch; er fühlte das Getränk in seinen leeren Magen hinabfallen wie einen Strahl geschmolzenes Blei. Alexandre bezahlte.
»Ein guter Kerl, dieser Alexandre«, meinte Claude, als sie beide wieder auf dem Bürgersteig der Rue Rambuteau standen. »Bei Ausflügen aufs Land ist er sehr spaßig; er macht Kraftstücke. Außerdem ist er prachtvoll, der Bengel; ich habe ihn nackt gesehen, und wenn er mir Modell stehen wollte im Freien ... Jetzt wollen wir, wenn Sie mögen, einen Gang durch die Markthallen machen.«
Florent folgte ihm und ließ sich völlig willenlos führen. Ein heller Schein hinten in der Rue Rambuteau kündigte den Tag an. Die mächtige Stimme der Markthallen grollte lauter; für Augenblicke durchschnitten Glockenschläge aus einer entfernten Halle diesen rollenden und anschwellenden Lärm. Die beiden betraten eine der überdachten Straßen zwischen der Seefischhalle und der Geflügelhalle. Florent blickte hoch und betrachtete das hohe Gewölbe, dessen innere Holzverkleidung zwischen den schwarzen Kanten der Eisengerüste aufleuchtete. Als er in den großen Mittelgang einbog, mußte er an eine seltsame Stadt denken mit ihren unterschiedlichen Vierteln, ihren Vorstädten, ihren Dörfern, ihren Promenaden und ihren Straßen, ihren Plätzen und ihren Kreuzungen, die aus einer gigantischen Laune heraus an einem Regentage ganz und gar unter einen Schuppen gebracht worden ist. Der in den Ausbuchtungen des Daches schlummernde Schatten vervielfachte den Wald der Pfeiler, dehnte die zarten Rippen, die sich abhebenden Emporen und die durchsichtigen Jalousien ins Unendliche; und über der Stadt bis in die Tiefe des Dunkels hinein war alles ein Wuchern, ein Blühen, ein ungeheuerliches Entfalten von Metall, dessen spindelartig hochsteigende Stämme, dessen sich windende und einander umschlingende Äste eine Welt mit dem anmutigen Laub eines hundertjährigen Hochwaldes bedeckten. Ganze Viertel schliefen noch hinter ihren verschlossenen Gittern. In der Butterhalle und der Geflügelhalle standen die kleinen vergitterten Stände in einer Linie und dehnten sich die menschenleeren Gassen unter den Reihen der Gaslaternen. Soeben war die Seefischhalle geöffnet worden. Frauen schritten über die weißen, vom Schatten der Körbe und liegengelassener Lappen gefleckten Steinplatten. Beim Grobgemüse, bei den Blumen und beim Obst wurde der Lärm immer stärker. Nach und nach erfaßte das Erwachen die Stadt, von dem volkreichen Viertel an, wo sich der Kohl von vier Uhr morgens an aufhäuft, zum trägen und reichen Viertel, an dessen Häusern die Masthühnchen und Fasanen erst gegen acht Uhr aufgehängt werden.
In den großen überdachten Straßen aber strömte das Leben. Längs der Bürgersteige standen auf beiden Seiten noch die Gemüsebauern, kleine Landwirte, die aus der Umgebung von Paris gekommen waren und in Körben ihre Ernte vom Abend vorher ausbreiteten, ein paar Bund Gemüse, einige Handvoll Obst. Mitten durch das unaufhörliche Hin und Her der Menge fuhren die Wagen, den dröhnenden Trapp ihrer Pferde verlangsamend, in die Gewölbe ein. Zwei von diesen Wagen, die man quer hatte stehenlassen, versperrten die Straße. Florent mußte sich, um vorbeizukommen, auf einen der grauen Säcke stützen, die aussahen wie Kohlensäcke und unter deren riesiger Last sich die Wagenachsen bogen. Die Säcke waren feucht und strömten einen frischen Duft nach Seetang aus; einer von ihnen, der an einem Ende geplatzt war, ließ einen schwarzen Haufen großer Miesmuscheln herausrutschen. Bei jedem Schritt mußten sie jetzt stehenbleiben. Die Seefische trafen ein; die Lastwagen folgten einer auf den andern und fuhren hohe Holzgestelle mit Deckelkörben heran, die die Eisenbahn vollbeladen vom Ozean herbringt. Um dem immer dichter und beunruhigender werdenden Gedränge der Wagen mit den Seefischen auszuweichen, flüchteten sie sich zwischen die Räder der Wagen mit Butter, Eiern und Käse, großen gelben vierspännigen Fuhrwerken mit bunten Laternen. Lastträger bemächtigten sich der Kisten mit Eiern, der Körbe mit Käse und Butter und brachten sie in die Versteigerungshalle, wo Angestellte in Mützen beim Schein des Gaslichts in kleine Notizbücher Eintragungen machten. Claude war entzückt von diesem Getümmel; er vergaß alles um sich bei einer Lichtwirkung, bei einer Gruppe Kittel, beim Abladen eines Wagens. Endlich rissen sie sich los. Da sie noch immer die große Straße hinuntergingen, schritten sie in einem herrlichen Duft dahin, der um sie her aufstieg und ihnen zu folgen schien. Sie befanden sich mitten im Schnittblumenmarkt. Rechts und links auf dem Pflaster saßen Frauen, vor sich viereckige Körbe voller Bunde von Rosen, Veilchen, Dahlien, Margeriten. Die Bunde wurden düster gleich Blutflecken und erbleichten sanft in ungemein zarten silbrigen grauen Tönungen. Neben einem Korb brannte eine Kerze und brachte in all das Schwarz ringsum einen gellenden Farbensang, die lebhaften weißen Flecken der Margeriten, das blutige Rot der Dahlien, das Blau der Veilchen, die lebendige Sinnlichkeit der Rosen. Und nichts war süßer und frühlingshafter als die Liebkosungen dieses Duftes, die einem auf dem Bürgersteig begegneten, wenn man aus den scharfen Ausdünstungen der Seefische und dem verpesteten Geruch von Butter und Käse kam.
Claude und Florent gingen schlendernd wieder zurück und verweilten inmitten der Blumen. Neugierig blieben sie vor Frauen stehen, die Farnkrautbündel und Päckchen von Weinblättern, schön regelmäßig je fünfundzwanzig zusammengelegt, verkauften. Dann bogen, sie in ein überdachtes Straßenstück ein, das fast menschenleer war und in dem ihre Schritte wie unter einem Kirchengewölbe hallten. Dort fanden sie ein ganz kleines Eselchen, das vor einen Wagen, so groß wie ein Handkarren, gespannt war, sich zweifellos langweilte und bei ihrem Anblick so laut und langgedehnt zu schreien begann, daß die riesigen Bedachungen der Markthallen davon erzitterten. Pferdewiehern antwortete; es gab ein Stampfen, ein Getöse in der Ferne, das anschwoll, weiterrollte und sich verlor. Inzwischen sah man ihnen gegenüber in der Rue Berger in den weit offenstehenden kahlen Buden der Makler im grellen Schein des Gaslichts zwischen den drei schmutzigen, mit Bleistiftadditionen bedeckten Wänden Haufen von Körben und Obst. Und als sie dort waren, bemerkten sie eine gutgekleidete Dame, die mit dem Ausdruck glücklicher Ermattung in der Ecke einer mitten im Gedränge des Fahrdamms verlorenen Kutsche kuschelte und sich heimlich aus dem Staube machte.
»Aschenbrödel, das ohne Pantoffeln heimkehrt«, meinte Claude mit einem Lächeln.
Als sie nun in die Markthallen zurückgingen, plauderten sie. Die Hände in den Taschen, pfiff Claude vor sich hin und erzählte von seiner großen Liebe für die Nahrungsmittelflut, die jeden Morgen mitten in Paris ansteigt. Ganze Nächte streife er auf dem Pflaster herum und träume von riesigen Stilleben und unerhörten Gemälden. Eins habe er sogar angefangen, zu dem ihm sein Freund Marjolin und diese Hure Cadine Modell gestanden hatten; aber es sei schwer, es sei zu schön, diese verteufelten Gemüse und das Obst und die Fische und das Fleisch! Florent lauschte der Begeisterung des Künstlers, während sich ihm der Bauch zusammenkrampfte. Offenbar dachte Claude in diesem Augenblick nicht einmal daran, daß diese schönen Dinge zum Essen da waren. Er liebte sie wegen ihrer Farben. Plötzlich schwieg er, zog mit einer ihm eigentümlichen Bewegung den langen roten Gürtel, den er unter seinem grünlichen Überzieher trug, enger und fuhr mit verschmitzter Miene fort:
»Außerdem frühstücke ich hier, wenigstens mit den Augen, und das ist immer noch besser, als gar nichts zu sich zu nehmen. Manchmal, wenn ich am Abend vorher zu essen vergessen habe, verderbe ich mir am nächsten Morgen den Magen, wenn ich all diese guten Dinge ankommen sehe. An solchen Morgen hege ich noch mehr Liebe für mein Gemüse ... Nein, sehen Sie, es ist empörend, es ist ungerecht, daß diese verfluchten Bourgeois das alles auffressen!«
Er erzählte von einem Abendessen, das ein Freund bei Baratte für ihn an einem glanzvollen Tag bezahlt hatte; es hatte Austern gegeben, Fisch, Wild. Aber Baratte sei sehr heruntergekommen; der ganze Karneval des alten Marché des Innocents9 sei jetzt zu Grabe getragen. Man habe ihn in den Zentralmarkthallen, in diesem Eisenkoloß, in dieser neuen, so eigenartigen Stadt. Die Schwachköpfe mochten sagen, was sie wollten, das ganze Zeitalter sei da enthalten. Und Florent wußte nicht mehr, ob er die malerische Gegend oder das gute Essen bei Baratte verwünschte. Dann schimpfte Claude auf die Romantik; er zog seine Kohlhaufen dem Plunder des Mittelalters vor. Schließlich warf er sich seine Radierung von der Rue Pirouette vor wie eine Schwäche. Die alten Buden solle man dem Erdboden gleichmachen und Modernes schaffen.
»Hier«, sagte er stehenbleibend, »sehen Sie an der Ecke des Bürgersteigs! Ist das nicht ein richtiges Gemälde, das menschlicher wäre als deren vermaledeite schwindsüchtige Malereien?«
Längs der überdachten Straße verkauften Frauen jetzt Kaffee und Suppe. An der Ecke des Bürgersteigs hatte sich um eine Händlerin, die Kohlsuppe ausschenkte, ein großer Kreis von Kunden gebildet. Der verzinnte Weißblecheimer mit Brühe dampfte auf einem kleinen, niedrigen Kohlenbecken, dessen Löcher einen fahlen Glutschein ausstrahlten. Die Frau war mit einem Schöpflöffel ausgerüstet, schwappte die Suppe in gelbe Tassen und entnahm einem mit Leinwand ausgeschlagenen Korb dünne Brotscheiben. Sehr reinliche Händlerinnen, Gemüsebauern in Kitteln, schmutzige Lastträger in Überziehern, die von den auf den Schultern herumgeschleppten Lebensmittelladungen speckig waren, zerlumpte arme Teufel, alle, die morgens Hunger hatten in den Markthallen, standen dort, aßen, verbrannten sich, streckten das Kinn ein wenig vor, um sich nichts vom Löffel auf die Kleidung tropfen zu lassen. Entzückt kniff der Maler die Augen zusammen und suchte den Blickpunkt, um das Gemälde auf eine gute Gesamtwirkung hin zu gliedern. Aber diese verteufelte Kohlsuppe verbreitete einen entsetzlichen Gestank. Belästigt durch die vollen Tassen, die die Essenden stillschweigend mit dem scheelen Blick mißtrauischer Tiere leerten, wandte Florent den Kopf ab. Claude selber wurde mürbe, als die Frau einen Neuangekommenen bediente und ihm der starke Dampf eines Löffels voll Suppe mitten ins Gesicht wehte.
Lächelnd und unwillig zog er seinen Gürtel enger; beim Weitergehen meinte er dann, auf das von Alexandre gespendete Glas Punsch anspielend, halblaut zu Florent:
»Das ist komisch. Es muß Ihnen auch schon aufgefallen sein? – Immer findet man jemand, der einem was zu trinken bezahlt, aber man begegnet niemand, der einem was zu essen bezahlt.«
Der Tag brach an. Am Ende der Rue de la Cossonnerie standen ganz schwarz die Häuser des Boulevard Sébastopol; und oberhalb der deutlichen Linie der Schieferdächer schnitt das hohe Bogengerüst der großen überdachten Straße einen Halbmond von Helligkeit aus dem fahlen Blau. Claude hatte sich über einige vergitterte Luken gebeugt, die sich in Höhe des Bürgersteigs über den Kellertiefen auftaten, in denen trübe Gaslichter brannten, und schaute jetzt zwischen den hohen Pfeilern hindurch in die Luft und suchte etwas auf den blau wirkenden Dächern am Rande des hellen Himmels. Schließlich blieb er abermals stehen, die Augen auf eine der dünnen eisernen Leitern gerichtet, die die beiden Dachgeschosse miteinander verbinden und den Zugang zu ihnen ermöglichen.
Florent fragte ihn, was er da oben sehe.
»Dieser verteufelte Marjolin«, sagte der Maler, ohne darauf zu antworten. »Sicher liegt er in irgendeiner Dachrinne, wenn er nicht gar die Nacht mit den Tieren im Geflügelkeller verbracht hat ... Ich brauche ihn für eine Studie.« Und er erzählte, daß sein Freund Marjolin eines Morgens von einer Händlerin in einem Kohlhaufen gefunden worden und ungebunden auf der Straße aufgewachsen sei. Als man ihn in die Schule schicken wollte, wurde er krank; und man mußte ihn in die Markthallen zurückbringen. Er kannte ihre kleinsten Schlupfwinkel, liebte sie mit der Zärtlichkeit eines Sohnes, hauste mit der Behendigkeit eines Eichhörnchens inmitten dieses Eisenwaldes. Sie gaben ein hübsches Paar ab, er und dieses Frauenzimmer, die Cadine, die Mutter Chantemesse eines Abends an der Ecke des alten Marché des Innocents aufgelesen hatte. Er war prächtig, dieser große dumme Junge, goldbraun wie ein Rubens, mit einem rötlichen Bartflaum, in dem das Tageslicht hängenblieb; sie, die Kleine, war schmächtig und gerissen und hatte ein neckisches Frätzchen unter dem schwarzen Gestrüpp ihres Kraushaars.
Beim Sprechen beschleunigte Claude seine Schritte. Er brachte seinen Begleiter zur Pointe SaintEustache zurück, der sich hier in der Nähe des Omnibusbüros auf eine Bank fallen ließ und dem die Beine wieder wie zerschlagen waren. Die Luft wurde frischer. Hinten in der Rue Rambuteau war der milchige Himmel von rosigem Schein geädert und weiter oben von großen grauen Rissen zersäbelt. Von dieser Morgenröte ging ein so balsamischer Duft aus, daß Florent für einen Augenblick glaubte, draußen auf dem Lande zu sein, auf irgendeinem Hügel. Aber Claude zeigte ihm auf der anderen Seite der Bank den Gewürzmarkt. Längs des Kaldaunenmarktes hätte man meinen können, in Feldern von Thymian, Lavendel, Lauch und Schalotten versetzt zu sein; und um die jungen Platanen auf dem Bürgersteig hatten die Händlerinnen lange Lorbeerzweige geschlungen, die Trophäen von Grün abgaben. Der kräftige Duft des Lorbeers überwog alles.
Das beleuchtete Zifferblatt von SaintEustache verblich, starb hin wie ein vom Morgen überraschtes Nachtlicht. Bei den Weinhändlern hinten in den benachbarten Straßen erloschen eine nach der andern die Gaslampen wie in Licht fallende Sterne. Und Florent sah zu, wie die großen Hallen aus dem Dunkel, aus dem Traum hervortraten, in dem er sie gesehen hatte, und ihre Paläste sich grenzenlos im Tageslicht dehnten. Sie nahmen feste Formen von grünlichem Grau an, wurden noch riesenhafter mit ihrem gewaltigen Mastwerk, das die unendlichen Flächen ihrer Dächer trug. Sie schichteten ihre geometrischen Körper aufeinander, und als alle innere Helligkeit erloschen war und sie viereckig und gleichförmig im aufgehenden Tageslicht badeten, erschienen sie wie eine über alles Maß hinausgehende große moderne Maschine, wie eine Dampfmaschine, ein für die Verdauung eines ganzen Volkes bestimmter Kessel, ein riesiger metallischer Bauch, verbolzt, vernietet, aus Holz, Glas und Eisen zusammengesetzt, von der Eleganz und Leistungsfähigkeit eines Antriebmotors, der dort in Tätigkeit war mit der Hitze der Heizung, dem schwindelnden Drehen, dem rasenden Beben der Räder.
Claude aber war vor Begeisterung auf die Bank gestiegen. Er zwang seinen Begleiter, den über dem Gemüse aufgehenden Tag zu bewundern. Es war ein Meer, das sich zwischen den beiden Gruppen der Hallen von der Pointe SaintEustache bis zur Rue des Halles erstreckte. Und an beiden Enden, an den beiden Kreuzungen, stieg die Flut noch an, überschwemmte das Gemüse das Pflaster. Langsam erhob sich der Tag in ganz zartem Grau und wusch alle Dinge in einem hellen Aquarellton. Diese wie dichte Wellen wogenden Haufen und dieser Strom von Grün, der in der Eindeichung des Fahrdamms zu fließen schien gleich dem Hereinbrechen der Herbstregen, nahmen zarte und beperlte Schatten, weiches Veilchenblau, milchig getöntes Rosa, in Gelb ertrunkenes Grün, alle bleichen Farben an, die beim Sonnenaufgang den Himmel zu schillernder Seide werden lassen; und in dem Maße, wie der Brand des Morgens in Stichflammen hinten in der Rue Rambuteau emporstieg, erwachte das Gemüse mehr und mehr und stach ab von der tiefen Bläue, die sich schwer über die Erde hinzog. Salat, Endivie, Lattich, Schikoree zeigten, noch von der fetten Gartenerde bedeckt, ihre strahlenden Herzen; die Spinat und Ampferpacken, die Artischockensträuße, die Bohnen und Erbsenhaufen, die Stapel von mit Strohhalmen zusammengebundenem römischem Salat sangen die ganze Tonleiter des Grüns vom Lackgrün der Schoten bis zum derben Grün der Blätter, eine anhaltende Tonleiter, die erst bei den Flecken der Selleriestengel und den Porreebunden erstarb. Aber die gellendsten Töne, die am lautesten erklangen, waren noch immer die lebhaften Flecke der Möhren und die reinen Flecke der Kohlrüben, die in ungeheurer Menge über den ganzen Markt verstreut waren und ihn mit der grellen Zusammenstellung ihrer beiden Farben erhellten. An der Kreuzung der Rue des Halles türmte sich der Kohl zu Bergen: riesige Köpfe Weißkohl, fest und hart wie Kugeln aus bleichem Metall, Wirsingkohl, dessen große Blätter flachen Bronzebecken ähnelten, Rotkohl, den die Morgenröte in herrliche weinrote Blütenpracht mit karmin und dunkelpurpur Druckstellen verwandelte. Am anderen Ende, an der Kreuzung bei der Pointe SaintEustache, war der Zugang zur Rue Rambuteau durch eine Barrikade von orangefarbenen Kürbissen versperrt, die sich in zwei Reihen zur Schau stellten und ihre Bäuche vorstreckten. Und hier und da entflammten der Goldkäferlack eines Korbes Zwiebeln, das blutige Rot eines Haufens Tomaten, das verwischte Gelb einer Ladung Gurken, das dunkle Violett einer Traube Eierfrüchte, während große, zu Trauertüchern nebeneinandergelegte Schwarzrettiche Löcher von Finsternis inmitten der bebenden Freuden des Erwachens übrigließen.
Claude klatschte bei diesem Anblick in die Hände. Er fand »dieses lumpige Gemüse« überspannt, toll, erhaben. Und er behauptete, es sei nicht tot; am Abend vorher ausgerissen, erwarte es die Sonne des nächsten Tages, um ihr auf dem Pflaster der Markthallen Lebewohl zu sagen. Er sah es leben, seine Blätter öffnen, als steckten seine Wurzeln noch ruhig und warm in der gedüngten Erde. Er sagte, er höre hier das Röcheln aller Gemüsegärten im Weichbild der Stadt. Inzwischen erfüllte die Menge weißer Hauben, schwarzer Mieder und blauer Kittel die engen Durchgänge zwischen den Haufen. Das Ganze war ein summendes Feld. Schwer schwankten die großen Kiepen der Lastträger über den Köpfen. Die Hökerinnen, die Straßenhändler und die Obstverkäufer kauften ein und hatten es eilig. Korporale und Gruppen von Nonnen umstanden die Berge von Kohl, während Internatsköche umherschnüffelten und einen guten Fund suchten. Immer noch wurde abgeladen; die Fuhrwerke warfen ihre Ladung auf die Erde wie eine Ladung Pflastersteine und gossen eine neue Woge zu den anderen Wogen, die jetzt an den gegenüberliegenden Bürgersteig brandeten. Und hinten aus der Rue du PontNeuf trafen unaufhörlich Wagenzüge ein.
»Das ist trotz allem verwegen schön«; murmelte Claude verzückt.
Florent litt. Wie eine übermenschliche Versuchung kam ihm das vor. Er wollte nichts mehr sehen; er betrachtete die Kirche SaintEustache, die schräg vor ihm stand, wie mit Sepia10 auf das Blau des Himmels getuscht mit ihren Rosetten und breiten Bogenfenstern, ihrem Glockenturm und ihren Schieferdächern. Er verweilte beim dunklen Einschnitt der Rue Montorgueil, wo Enden von schreienden Schildern aufblitzten, und bei der stumpfen Ecke der Rue Montmartre, deren mit goldenen Buchstaben überladene Balkons glänzten. Und als er sich wieder der Straßenkreuzung zuwandte, bestürmten ihn weitere Schilder, wie »Drogerie und Apotheke«, »Mehl und Dörrgemüse«, mit dicken roten und schwarzen Großbuchstaben auf verschossenem Grund. Die winkligen Häuser mit schmalen Fenstern erwachten nun und fügten in das breite Straßenbild der neuen Rue du PontNeuf einige gelbe und schöne alte Fassaden des Paris von einst. An der Ecke der Rue Rambuteau standen in den leeren Schaufenstern des großen Neuheitenwarenhauses gutgekleidete Handlungsgehilfen in Weste mit ihren enganliegenden Hosen und ihren breiten blendenden Manschetten und ordneten die Auslage. Weiter weg stellte die Firma Guillot, streng wie eine Kaserne, hinter ihren Fensterscheiben goldgelbe Biskuitpäckchen und Kompottschalen voller Petitfours zur Schau. Alle Läden waren geöffnet. Arbeiter in weißen Kitteln, die ihr Werkzeug unter dem Arm hielten, beschleunigten ihre Schritte und überquerten die Straße.
Claude war noch immer nicht von seiner Bank heruntergestiegen. Er reckte sich hoch, um bis hinten in die Straßen zu sehen. In der Menge, die er überschaute, gewahrte er einen blonden Kopf mit üppigem Haar, dem ein ganz krauses und zerzaustes schwarzes Köpfchen folgte.