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Tugenden haben Konjunktur. Ihr angeblicher Verlust wird ebenso kulturkritisch beklagt, wie eine Wiederbelebung ganz heterogener Kataloge von Tugenden gefordert wird. Doch was ist eigentlich eine Tugend? Wie verhalten sich Tugenden und Laster zueinander? Trägt Tugend zum Glück des Tugendhaften bei oder ist der Tugendhafte eher der Dumme? Setzen die Tugenden einander voraus oder sind sie unabhängig voneinander zu haben? Christoph Halbig beantwortet diese Fragen im Rahmen einer umfassenden Ontologie der Tugend und unterzieht die Leistungsfähigkeit dieser Kategorie in der Ethik so einer kritischen Prüfung.
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Seitenzahl: 635
Tugenden haben Konjunktur. Ihr angeblicher Verlust wird ebenso kulturkritisch beklagt, wie eine Wiederbelebung ganz heterogener Kataloge von Tugenden gefordert wird. Doch was ist eigentlich eine Tugend? Wie verhalten sich Tugenden und Laster zueinander? Trägt Tugend zum Glück des Tugendhaften bei, oder ist der Tugendhafte eher der Dumme? Setzen dieTugenden einander voraus, oder sind sie unabhängig voneinander zu haben? Christoph Halbig beantwortet diese Fragen im Rahmen einer umfassenden Ontologie der Tugend und unterzieht die Leistungsfähigkeit dieser Kategorie in der Ethik so einer kritischen Prüfung.
Christoph Halbig ist Professor für Philosophie an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Veröffentlichungen im Suhrkamp Verlag: Die neue Kritik der instrumentellen Vernunft (stw 2039, hg. zus. mit Tim Henning); Hegels Erbe (stw 1699, hg. zus. mit Ludwig Siep und Michael Quante).
Christoph Halbig
Der Begriff der Tugend und dieGrenzen der Tugendethik
Suhrkamp
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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs wissenschaft 2081
© Suhrkamp Verlag Berlin 2013
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Umschlaggestaltung: Willy Fleckhaus und Rolf Staudt
eISBN 978-3-518-73387-5
www.suhrkamp.de
Einleitung
I. Der Begriff der Tugend
1. Ontologie der Tugend
1.1 Fünf vorbereitende Klärungen
1.2 Vollkommenheiten des Charakters – die Axiologie der Tugenden als Schlüssel zu ihrer Ontologie
1.2.1 Vier Unterscheidungen
1.2.2 Konstellationen: Der Wert der Tugenden
1.2.2.1 Nihilismus: Zweifel an der Möglichkeit einer gehaltvollen Theorie der Tugenden
1.2.2.2 Tugenden als nützliche Charaktermerkmale
1.2.2.3 Tugenden als intrinsisch wertvolle Charaktermerkmale
1.2.2.3.1 Dimensionen intrinsischen Wertes
1.2.2.3.2 Tugenden als intrinsische Werte: Grundlagen der rekursiven Theorie
1.2.2.3.3 Der Fokus des intrinsischen Wertes der Tugenden: Besitz oder Ausübung?
1.2.3 Tugenden und die Rangordnung der Werte
1.3 Das Profil der Tugenden – Abgrenzungen und inhaltliche Bestimmungen
1.3.1 Physische und psychische Vollkommenheiten
1.3.2 Tugenden und Fertigkeiten
1.3.3 Verstandes- und Charaktertugenden
1.3.4 Tugenden, praktisches Überlegen und Handlungsdispositionen
1.3.5 Tugenden und Gefühle
1.3.6 Die Erfolgsdimension der Tugenden
1.3.7 Die Robustheit der Tugenden
1.4 Das Maß der Vollkommenheit: Tugenden zwischen Schwelle und Ideal
6Exkurs: Die situationistische Herausforderung
1. Charakterlosigkeit? Zur Anatomie des Situationismus
2. Vier Experimente und ihre Deutung durch den Situationismus
3. Globalismus und Empirie – alternative Deutungen der experimentellen Befunde
4. Robuste Charaktermerkmale und die Spannungen zwischen empirischer und normativer Adäquatheit
5. Fazit: Globale Charaktermerkmale im Licht der situationistischen Kritik
2. Varianten der Tugend
2.1 Un embarras des richesses? Das Problem der Proliferation der Tugenden
2.2 Natürliche und ethische Tugenden
2.3 Strukturelle und substantielle Tugenden
2.4 Fünf Klassifikationsprinzipien von Tugenden
2.5 Die Hierarchisierung der Tugenden und das Problem der Kardinaltugenden
3. Tugenden und Laster
3.1 Tugenden ohne Laster?
3.2 Tugend als Mitte?
3.3 Arten von Lastern
3.3.1 Strukturelle Laster
3.3.2 Substantielle Laster
3.3.2.1 Laster der Gleichgültigkeit
3.3.2.2 Laster der Böswilligkeit?
3.3.3 Laster zwischen Verharmlosung und Dämonisierung
3.4 Die Struktur der Laster
4. Die Einheit der Tugenden. Überlegungen zur Struktur eines Problems
4.1 Phänomenologische und philosophiehistorische Annäherungen
4.2 Die These der Einheit der Tugenden – Unterscheidungen und Präzisierungen
74.3 Ein Argument für die These der Einheit der Tugenden
4.4 Die Prämissen des Arguments
4.5 Was zeigt das Argument?
4.6 Die Einheit der Tugenden und die Pluralität moralischer Stile
4.7 Schlussfolgerungen
5. Tugend und Glück
5.1 Methodologische Vorüberlegungen
5.2 Vorbereitende Klärungen 1: Glück
5.3 Vorbereitende Klärungen 2: Tugend
5.4 Fünf Arten der Beziehung zwischen Tugend und Glück
5.5 Fazit: Der Preis der Tugend
II. Die Grenzen der Tugendethik
6. Varianten der Tugendethik
6.1 Der Begriff der Tugendethik – Zugänge und Sackgassen
6.1.1 Der Gegenstandsbereich der Ethik
6.1.2 Verfallsgeschichten
6.1.2.1 Elizabeth Anscombe
6.1.2.2 Alasdair MacIntyre
6.1.2.3 Michael Stocker
6.1.2.4 Ergebnisse: Tugendethik und Verfallsdiagnosen
6.1.3 Die Anmaßungen der Theorie
6.2 Der Begriff der Tugendethik – ein Klärungsvorschlag
6.3 Vier Formen der Tugendethik
7. Die Grenzen der Tugendethik
7.1 Die Binnenstruktur der Tugendethik
7.2 Das Problem der Unter- und Überforderung
7.3 Das Problem der richtigen, aber nicht tugendhaften Handlungen
87.4 Das Problem der Aufhebung der Unterscheidung zwischen richtigem und gutem Handeln
7.5 Das Problem der fragwürdigen Selbstzentriertheit oder: die Schizophrenie der Tugendethik
7.6 Fazit
8. Ausblick: Tugend nach der Tugendethik
Literaturverzeichnis
Namenregister
Sachregister
Die Rede von einer Renaissance der Tugend ist zu einem Topos nicht nur der fachphilosophischen Diskussion geworden: Konnte G.H. von Wright in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in Anlehnung an Kants Diktum über die Logik konstatieren, auch die Tugendethik habe seit Aristoteles keinerlei Fortschritte gemacht,[1] und A. Flemming noch 1980 unwidersprochen beklagen, dass eine Bibliographie moderner philosophischer Arbeiten zur Tugend sehr kurz ausfallen würde,[2] hat sich die Situation in den letzten beiden Jahrzehnten radikal geändert. Die Beschäftigung mit der Tugend ist seither ins Zentrum der ethischen, moralpsychologischen und handlungstheoretischen Debatten gerückt und längst auch zu einem festen Bestandteil von Erbauungsliteratur, Lebenshilfe und politischer Rhetorik geworden.[3]
Diese Diagnose einer fast schon inflationären Konjunktur[4] der Tugenden sollte indes nicht übersehen lassen, dass die Renaissance der Tugend in ihrer Anfangsphase durch eine (i) polemische, (ii) restaurative und (iii) defensive Stoßrichtung geprägt war, die es gerade angesichts des inflationären Gebrauchs der Kategorie der Tugend in der Gegenwart zunächst in Erinnerung zu rufen gilt:
Ad (i): Philosophen wie E. Anscombe, M. Stocker und A. MacIntyre verbinden ihre Forderung nach einer Renaissance der Tugend mit einer scharfen Polemik gegen die moderne Moralphilosophie: Diese beruht für Anscombe auf einem Begriff moralischer 10Verpflichtung, der nach dem Verlust des Glaubens an einen göttlichen Gesetzgeber obsolet geworden ist;[5] sie zwingt für Stocker den Handelnden in eine schizophrene Spannung zwischen den Gründen, die er für sein Handeln anerkennt einerseits, sowie den Motiven, die ihn zum Handeln bewegen, andererseits;[6] und sie reduziert schließlich für MacIntyre unsere moralische Urteilspraxis auf das Äußern emotiver Einstellungen und reflektiert damit (ohne es zu wissen) auf theoretischer Ebene den für die Moderne charakteristischen Verlust von verbindlichen Praktiken und Traditionen, die eine rationale Diskussion moralischer Probleme erst ermöglichen.[7]
Ad (ii): Die Diagnose einer solchen krisenhaften Verfassung der Moderne geht einher mit dem Bemühen, erneut Anschluss an die philosophischen Traditionen vor dem Eintreten dieser Krisen zu gewinnen. Im Vordergrund stand hier die aristotelische Ethik; Tugendethik und neoaristotelische Ethik werden vielfach als austauschbare Begriffe verwendet.[8] Die Tugendethik erhält damit eine restaurative Ausrichtung, die ihren Ausdruck in einer weitaus engeren Verknüpfung systematischer Theoriebildung und philosophiehistorischer Forschung findet, als dies in anderen Bereichen der normativen Ethik der Fall ist.
Ad (iii): Ob sich die Tugendethik als Alternative zur modernen Moralphilosophie behaupten kann, hängt, so eine dritte Kernannahme der Renaissance der Tugend in ihrer ersten Phase, davon ab, ob sie sich als dritter Theorietyp eigenen Rechts neben konsequentialistischen und deontologischen Ansätzen in der normativen Ethik ausweisen lässt. Daraus ergibt sich der defensive Charakter tugendethischer Theoriebildung:[9] Sie geht aus von einer Aufdeckung der Schwächen der beiden konkurrierenden Ansätze und 11konzentriert sich auf den Versuch, (1) die irreduzible Eigenständigkeit der Tugendethik nachzuweisen,[10] (2) sie in ihren spezifischen Merkmalen zu charakterisieren und (3) den Nachweis zu führen, dass ein solcher Theorietypus die Nachteile der konkurrierenden Ansätze zu vermeiden erlaubt.[11]
Erst seit Mitte der 1990er Jahre tritt die Debatte um Tugend und Tugendethik in eine neue Phase, die sich ihrerseits durch ein Abrücken von den drei genannten Merkmalen charakterisieren lässt. Diese Transformation geht einher mit einer zunehmenden Beachtung der Unterschiede zwischen Tugendlehre, Ethik der Tugend und Tugendethik.[12] Die Tugendlehre bemüht sich um ein Verständnis dessen, was Tugenden sind: ihrer Ontologie, Epistemologie sowie ihrer handlungstheoretischen Bedeutung. Die Ethik der Tugend fragt hingegen nach der Rolle der Tugenden für die Ethik. Die Bestimmung dieser Rolle wird dabei unterschiedlich ausfallen, je nachdem, welches Modell einer normativen Ethik zugrunde gelegt wird. Die Tugendethik hingegen bildet ihrerseits ein solches Modell neben anderen, das sich dadurch auszeichnet, dass es aretaische Kategorien (also solche, die sich auf Tugenden und Laster beziehen, wie etwa »feige« oder »freigebig«) für fundamental hält und deontische (wie etwa »richtig« oder »verboten«) bzw. im Extremfall sogar evaluative (wie etwa »gut« oder »schlecht«) Kategorien auf sie zu reduzieren versucht.
Das Abrücken von den drei genannten Merkmalen, wie sie für die erste Phase der Renaissance der Tugend charakteristisch waren, lässt sich im Einzelnen wie folgt beschreiben:
Ad (iii): Ein Hauptgrund für die defensive Stoßrichtung der Debatte um die Tugenden in ihrer ersten Phase ist in ihrer Fokussierung auf die Aufgabe der Formulierung einer Tugendethik im gerade definierten Sinne zu sehen. Eine solche Aufgabenstellung wird indes zunehmend als Überforderung der ethischen Leistungsfähigkeit der Tugend betrachtet; Philosophen wie Adams und Hurka betrachten einen tugendhaften Charakter weder als notwendig noch als hinreichend für richtiges Handeln, schreiben ihm aber 12gleichwohl eine ethische Bedeutung zu, die sich nicht in der Ermöglichung richtigen Handelns erschöpft.[13] Selbst Philosophen wie Michael Slote, die ausdrücklich an dem Programm einer Tugendethik als Alternative zu konsequentialistischen bzw. deontologischen Ansätzen festhalten, haben zudem inzwischen materiale Ausarbeitungen einer solchen Tugendethik vorgelegt, die über die Formulierung eines programmatischen Gegenentwurfs zu den zwei anderen Typen einer normativen Ethik hinausgehen.[14]
Ad (ii): Sowohl das Projekt der Ausarbeitung einer solchen Tugendethik wie der bescheidenere Versuch einer Ethik der Tugend haben ihren restaurativen Charakter in der neueren Debatte weitgehend verloren: Gerade die philosophiehistorische Untersuchung antiker Positionen hat zu dem Ergebnis geführt, dass sich in der Antike selbst keine Vorbilder für eine reine Tugendethik finden lassen – auch Aristoteles erkennt Formen intrinsisch schlechten Handelns an, zudem setzt seine Tugendlehre die Konzeption einer Wahrnehmung der evaluativen Merkmale der Handlungssituation voraus, die sich ihrerseits nicht in den Kategorien von Tugenden und Lastern erschöpfend charakterisieren lassen.[15] Die Ausarbeitung einer Tugendethik versteht sich mithin zunehmend als genuin modernes Projekt und nicht als Rückgang hinter die Bedingungen der Moderne. Umgekehrt haben sich Vertreter der konkurrierenden Paradigmen einer normativen Ethik ihrerseits um die Vertiefung ihrer jeweiligen Positionen durch eine Tugendlehre und eine Ethik der Tugend bemüht. Inzwischen liegen entsprechende kantische,[16] aber auch konsequentialistische[17] Modelle ausgearbeitet vor. Auch wenn der Versuch einer Erneuerung antiker Positionen als eine Hauptströmung der Debatte um die Tugend fortdauert, hat sich zudem eine interne Pluralisierung ergeben:[18] Dem Projekt einer 13neoaristotelischen Ethik der Tugend sind etwa neostoische[19] und neonietzscheanische[20] Ansätze an die Seite getreten.
Ad (i): Mit der Integration einer Ethik der Tugend in moderne Traditionen normativer Ethik einerseits und der Verfolgung einer Tugendethik als genuin modernes Projekt andererseits ist die polemische Stoßrichtung der Renaissance der Tugend zunehmend obsolet geworden.[21] An die Stelle einer pauschalen Kritik der Moderne und der für sie paradigmatischen Formen normativer Ethik tritt der vorsichtigere Versuch der Diagnose moralphilosophischer Problemfelder (etwa der moralischen Erziehung, der Bedeutung von Gefühlen und Emotionen für die Ethik, des supererogatorischen Handelns etc.), deren adäquate Analyse die Verwendung aretaischer Kategorien zu verlangen scheint.
Im Zuge der dargestellten Entwicklungslinien hat sich die Debatte um die Tugend einerseits von den Frontstellungen ihrer ersten Phase emanzipiert, dadurch aber andererseits an Übersichtlichkeit verloren.[22] Paradoxerweise bleibt die Erforschung von Ontologie und Axiologie der Tugend weiterhin entscheidend belastet durch eine gleichzeitige strukturelle Über- und Unterforderung dieser Kategorie, die sich gerade aus der für sie vorgesehenen Rolle im Zusammenhang einer normativen Ethik ergibt:
Die Überforderung der Tugend resultiert aus dem Anspruch, mit der Tugendethik ein drittes, eigenständiges Paradigma der normativen Ethik zu formulieren, das mit konsequentialistischen und deontologischen Ansätzen gleichberechtigt konkurrieren kann. Dies 14kann indes nur gelingen, wenn aretaische Kategorien wie die von Tugenden und Lastern in dem Sinne als basal betrachtet werden, dass sich alle anderen ethischen Kategorien als von ihnen abhängig und auf sie reduzibel erweisen: Ob eine Handlung beispielsweise richtig oder falsch ist, hängt dieser Auffassung zufolge ausschließlich davon ab, ob in ihr der tugend- oder der lasterhafte Charakter des Handelnden zum Ausdruck kommt. Darin besteht die Grundannahme der von Michael Slote als »akteursbasierte Tugendethik« (agent-based virtue ethics) bezeichneten Position als der bisher wohl elaboriertesten Form einer reinen Tugendethik. Ihr zufolge gilt: »Unabhängig und grundlegend sind unser Verständnis und unsere Bewertung menschlicher Motive und Verhaltensweisen, und die Bewertung von Handlungen hängt vollständig davon ab, was wir in ethischer Hinsicht über das innere Leben der jeweiligen Handelnden sagen können.«[23] Akteursfokussierte (agent-focused) Ansätze der Tugendethik, zu denen Slote etwa den aristotelischen rechnet, eignen sich hingegen nicht als Alternativen zu deontologischen bzw. konsequentialistischen Ethiken, da sie (etwa über die Metapher der Wahrnehmung) die Anerkennung von ethisch relevanten Gesichtspunkten, die von aretaischen Merkmalen unabhängig sind, beinhalten und diese sogar für die Individuierung einzelner Tugenden voraussetzen: Ein gerechter Mensch zeichnet sich etwa dadurch aus, dass er sein unbedarftes Gegenüber nicht übervorteilt – dass und warum eine solche Handlung ungerecht ist, lässt sich aber der akteursfokussierten Auffassung nach ganz unabhängig von der Frage nach dem Charakter desjenigen, der so handelt, feststellen.[24]
Der Anspruch einer reinen, akteursbasierten Tugendethik, ein eigenständiges Paradigma der normativen Ethik darzustellen, wird indes bei Slote um den Preis erkauft, dass die Kategorie der Tugend selbst nicht weiter erläuterungsfähig ist (freilich ist sie nach Auffassung der Vertreter einer solchen Position auch nicht weiter erläuterungsbedürftig). Slote beschränkt sich darauf, die Tugenden 15als bewundernswerte Charaktermerkmale zu bezeichnen; damit ist für ihn ein »ground floor«[25] erreicht, der selbst keiner weiteren Erklärung mehr zugänglich ist. Jeder Versuch, zu erklären, warum diese oder jene Merkmale bewundernswert sind – etwa insofern sie zu richtigen Handlungen führen oder die Welt zu einem besseren Ort machen –, würde das tugendethische Projekt selbst unterlaufen, insofern für solche Aussagen die zumindest partielle Unabhängigkeit deontischer oder evaluativer Kategorien von aretaischen vorausgesetzt werden müsste. Gerade die hohen Ansprüche der reinen Tugendethik, mit der Tugend die begrifflich wie explanatorisch fundamentale Kategorie der Ethik identifiziert zu haben, stehen also paradoxerweise einer theoretisch gehaltvollen Erkundung der Frage, was Tugenden selbst denn eigentlich sind, im Wege.
Die Unterforderung der Tugend hingegen resultiert aus ihrer für die neuzeitliche Philosophie charakteristischen Integration in deontologische bzw. konsequentialistische Ansätze normativer Ethik; die Tugenden werden hier als Dispositionen betrachtet, Handlungen hervorzubringen, die entweder in sich richtig sind (deontologische Ansätze) oder insofern richtig sind, als sie hinreichend gute oder die besten Folgen haben (konsequentialistische Ansätze). Für die Frage, was eine Handlung zu einer richtigen bzw. falschen macht, was also ihren deontischen Status konstituiert, spielen die Tugenden keinerlei Rolle. Entsprechend kommt ihnen kein intrinsischer, sondern allein ein instrumenteller Wert zu: Sie sind nützlich als Mittel zum richtigen Handeln; könnte dieses in anderer Weise garantiert werden, wären die Tugenden prinzipiell entbehrlich.
Aus deontologischer Sicht definiert etwa Kant die Tugend geradezu als »Stärke der Maxime des Menschen in Befolgung seiner Pflicht«.[26]Worin die Pflicht des Menschen besteht, entscheidet sich indes unabhängig von Erwägungen der Tugend. Diese werden allein aufgrund der menschlichen Natur relevant, in der den Forderungen der Pflicht »Hindernisse« in Form von »Naturneigungen«[27]16entgegenstehen können. Folgerichtig versteht Kant alle einzelnen Tugenden als Ausdruck der »fortitudo moralis«,[28] mit der der Wille die Forderungen der Pflicht gegen die »Brut gesetzwidriger Gesinnungen«[29] durchsetzt. Ein heiliger Wille hingegen bedarf keiner Tugenden, weil für ihn ein solcher Konflikt zwischen den Forderungen der Pflicht einerseits und den Naturneigungen andererseits gar nicht erst entstehen kann, ist der heilige Wille doch definiert als ein Wille, »dessen Maximen nothwendig [meine Hervorhebung, C.H.] mit den Gesetzen der Autonomie zusammenstimmen«.[30]
Aus konsequentialistischer Sicht wiederum stellen die Tugenden lediglich das Ergebnis der Anwendung des konsequentialistischen Kriteriums auf einen besonderen Gegenstandsbereich, nämlich den der Charaktermerkmale, dar. Julia Driver, die eine Theorie der Tugenden im Rahmen einer objektiven Form des Konsequentialismus vorgelegt hat, formuliert diesen Zusammenhang wie folgt: »Charakterzüge sind einfach genau wie Handlungen ein Gegenstand konsequentialistischer Beurteilung.«[31] Wie bei Handlungen lässt sich bei Charakterzügen fragen, ob »[s]ie […] systematisch mehr aktual Gutes als Schlechtes erzeugen«.[32] Der Geiz etwa ist demnach ein Laster, weil ein solcher Charakterzug normalerweise schlechte Folgen nach sich zieht. Auch im Bereich einer konsequentialistischen Deutung der Tugenden sind eine Reihe von unterschiedlichen Varianten möglich. So bleibt etwa zu fragen, ob es die tatsächlichen Folgen des Charakterzugs sind, die das Kriterium für seine Bewertung als Tugend oder Laster bilden, oder die aus der Perspektive des Trägers dieses Charakters absehbaren Folgen, ob ein Charakterzug sich als Tugend schon dann qualifiziert, wenn er hinreichendgute, oder nur dann, wenn er die besten Folgen hat (satisficing vs. maximizing) etc. Allen Varianten gemein ist aber –wenn sie eine vitiöse Zirkularität vermeiden wollen –, dass sie die Tugenden nicht selbst unter die intrinsischen Werte rechnen dürfen, die es zu maximieren gilt.
Diese fortdauernde strukturelle Unter- und Überforderung der Tugend belegt die Notwendigkeit, gerade angesichts des inflatio17nären Gebrauchs der Kategorie der Tugend und der weiter fortschreitenden Ausdifferenzierung ganz unterschiedlicher Ansätze in Tugendlehre und Tugendethik die fundamentale Frage erneut zu stellen, was denn eigentlich Tugenden sind. Erst auf der Grundlage einer adäquaten Ontologie der Tugend nämlich wird sich eine begründete Antwort sowohl auf die Frage geben lassen, was die Kategorie der Tugend in der Ethik zu leisten vermag, als auch auf die Frage, wie sich der Bereich der Tugenden angesichts immer länger werdender Listen von einzelnen Tugenden und Lastern sinnvoll strukturieren lässt. Ebendiese ontologische Frage hat jedoch erstaunlich wenig von der allgemeinen Renaissance der Tugend profitiert – und das sehr zu deren Nachteil: Weithin nämlich werden die traditionellen Tugendlehren – unter denen weiterhin die aristotelische, vielfach in ihrer thomistischen Aneignung, dominiert – schlicht übernommen und als ihrerseits nicht weiter zu prüfende Prämissen für die eigene Argumentation in Anspruch genommen.[33]
Die Erarbeitung einer Ontologie sowie einer Axiologie der Tugend, also einer Antwort auf die Fragen, was die Tugenden sind und worin genau ihr Wert besteht, welche Binnenstruktur sie aufweisen und in welchem Verhältnis sie zueinander und zur Kategorie der Laster stehen, steht im Zentrum des erstenTeils der vorliegenden Untersuchung. Im zweitenTeil kann dann in kritischer Auseinandersetzung mit dem Anspruch der Tugendethik, die Kategorie der Tugend (sei es durch eliminative, sei es durch reduktionistische Programme) als die primäre der Ethik zu erweisen, nach der Leistungsfähigkeit dieser Kategorie im Bereich der Ethik gefragt werden.
Im ersten Kapitel wird ausgehend von fünf vorbereitenden Klärungen, die es erlauben sollen, Implikationen und Grenzen der Frage nach der Ontologie der Tugenden näher zu bestimmen, der Versuch unternommen, über die Axiologie der ethischen Tugenden 18einen Zugang zu ihrer Ontologie zu gewinnen. Schließlich handelt es sich bei den Tugenden in einem noch näher zu klärenden Sinn unstreitig um Vollkommenheiten des Charakters, denen als solchen ein für sie spezifischer Wert zukommt. Doch wie ist dieser Wert zu bestimmen? Ist er ein bloß instrumenteller, der in seinem Nutzen für etwas anderes aufgeht, oder handelt es sich um eine Form von intrinsischem Wert – und wenn ja, in welchem Sinne des mehrdeutigen Begriffs des intrinsischen Wertes?
Ausgehend von einer Beantwortung dieser und verwandter axiologischer Fragen wird für eine rekursive Theorie der Tugenden plädiert, deren Grundidee darin besteht, Tugenden als intrinsisch wertvolle Einstellungen zu anderen intrinsischen Werten zu verstehen. Eine solche Theorie setzt mithin eine Liste von intrinsischen Basiswerten voraus. Die Tugenden können im Rahmen einer solchen Theorie also nicht in dem Sinne als fundamental betrachtet werden, dass es sich bei ihnen um die einzigen intrinsischen Werte handeln würde (wie etwa die Stoa angenommen hat), da der Bezug auf andere Arten von intrinsischen Werten für sie konstitutiv ist. Mitleid stellt deshalb eine Tugend dar, weil es sich dabei um die angemessene Einstellung zu dem intrinsischen Basisunwert des Leids handelt. Eine solche Einstellung ist jedoch der rekursiven Theorie zufolge ihrerseits intrinsisch wertvoll: Intrinsischer Wert findet sich nicht nur in den Basiswerten, sondern auch in den angemessenen Einstellungen zu ihnen. Es handelt sich bei den Tugenden also nicht um bloß instrumentelle Werte, die sich im Sinne der oben »unterfordernde Ansätze« genannten Positionen in ihrem Beitrag zur Herstellung, Bewahrung oder Förderung des in sich Guten bzw. in sich Richtigen erschöpfen.
Doch worin liegt der primäre Wert der Tugenden – in ihnen als Charaktermerkmalen selbst oder in den praktischen Einstellungen und Handlungen, in denen diese sich äußern? Und wie ist der Wert der Tugenden gegenüber dem der intrinsischen Werte, auf die sie sich richten, zu gewichten? Besitzt der intrinsische Wert der Tugenden Priorität und, wenn ja, vielleicht sogar lexikalische Priorität (demzufolge wäre für einen noch so geringen Zugewinn an Tugend ein beliebig großer Zuwachs an Leid, Unwissen etc. hinzunehmen)? Oder verdienen umgekehrt die Basiswerte den Vorrang vor den Tugenden (immerhin scheint ein Leid, das gar nicht erst entsteht, einem Leid vorzuziehen zu sein, das das Mitleid eines Dritten 19auf sich zieht)? Nach der Klärung dieser axiologischen Fragen muss die auf dieser Grundlage erarbeitete Ontologie der Tugenden weiter konkretisiert und ergänzt werden, etwa durch die Abgrenzung von ethischen Tugenden zu anderen Arten von Vollkommenheiten wie etwa Fertigkeiten oder Tugenden des Verstandes. In einem zweiten Schritt müssen dann die ontologischen Charakteristika der Tugenden näher bestimmt werden, und zwar mit Blick auf (i) ihr Verhältnis zur praktischen Rationalität, (ii) ihre affektive Dimension sowie (iii) die ihnen eigene Erfolgsdimension und (iv) die für sie spezifische Form von Robustheit. Abschließend wird die Frage zu prüfen sein, ob »Tugend« ein Ideal bezeichnet, das keine weitere Steigerung zulässt, oder ob es sich bei ihr um einen Schwellenbegriff handelt, der einerseits eine Schwelle impliziert, nach deren Überschreiten der entsprechende Begriff uneingeschränkt zur Anwendung kommen kann, die Möglichkeit einer weiteren Steigerung jedoch zulässt: Kahl etwa ist jemand, der einen Großteil seiner Haare verloren hat – auch das Überschreiten der Schwelle zur Kahlheit hindert ihn jedoch leider nicht, durch den Verlust weiterer Haare noch kahler werden zu können. Im Zuge der Diskussion wird sich zeigen, dass es sich bei Tugenden in der Tat um solche Schwellenbegriffe handelt, für die jedoch der Bezug auf den durch ein Ideal vorgegebenen Anspruch in einer Weise konstitutiv ist, wie dies etwa für die Kahlheit nicht gilt.
Bei Tugenden handelt es sich jedenfalls fraglos um Charaktermerkmale, und zwar um robuste Charaktermerkmale in dem Sinn, dass wir etwa von einem ehrlichen Menschen erwarten, dass er sich nicht nur in einem bestimmten Typ von Situation ehrlich verhält, sondern dies situationsübergreifend tut: Er wird eine wahrheitsgemäße Steuerklärung abgeben, aufrichtig gegenüber seiner Familie sein, die wichtige wissenschaftliche Entdeckung eines Konkurrenten öffentlich als solche anerkennen etc. Ergebnisse der neueren empirischen, insbesondere der individual- und sozialpsychologischen Forschung haben nun die Frage aufgeworfen, ob es solche robusten Charaktermerkmale, wie sie die Tugenden darstellen, überhaupt gibt oder ob sie nicht vielmehr eine idealisierende Fiktion der Philosophie oder des Common Sense darstellen. In Form eines Exkurses wird diese so genannte situationistische Kritik an robusten Charaktermerkmalen zunächst mit Blick auf alternative Deutungen der von ihr beigebrachten experimentellen Befunde ei20ner näheren Prüfung unterzogen, um dann der Frage nachzugehen, ob sich diese Befunde nicht doch als vereinbar mit der hier vorgelegten Ontologie der Tugenden erweisen. Zugleich ist jedoch nach den Konsequenzen zu fragen, die eine psychologisch informierte Tugendlehre aus der situationistischen Herausforderung ziehen muss – gerade dann, wenn sie deren radikale Konsequenz, die Existenz robuster Charaktermerkmale in toto zu leugnen, zurückweist.
Diese Erörterung der Ontologie der Tugend liefert jedoch noch keine Antwort auf die Frage, ob x eine Tugend ist. Sind etwa Demut und Enthaltsamkeit Tugenden oder, wie David Hume meinte, bloße monkish virtues, die es ganz im Gegenteil verdienen, den Lastern zugeschlagen zu werden? Bieten die traditionellen Tugendkataloge überhaupt eine sinnvolle Orientierung in einem technisierten Zeitalter, das zur Identifizierung ganz neuer Arten von Tugenden, etwa des Umgangs mit der belebten und unbelebten Natur, herausfordert? Der Versuch, eine vollständige Liste der ethischen Tugenden aufzustellen und deren materialen Gehalt offenzulegen, würde weit über die Grenzen und Ziele dieser Untersuchung hinausgehen. Stattdessen werden im zweiten Kapitel einige grundlegende Überlegungen sowohl zur Abgrenzung der Tugenden von verwandten Entitäten (anhand der klassischen Unterscheidung zwischen natürlichen und ethischen Tugenden) wie zur internen Strukturierung des Feldes der Tugenden (anhand der Unterscheidung zwischen substantiellen und strukturellen Tugenden sowie von fünf weiteren Klassifikationsprinzipien) angestellt. Abschließend wird die Frage aufgeworfen, aus welchen Gründen eine Erneuerung der klassischen Lehre von den Kardinaltugenden (insofern diese eine hierarchisierende Strukturierung der Tugenden ermöglicht) notwendig sein könnte, um dann einige grundlegende Kriterien zu skizzieren, an denen sich eine solche Erneuerung zu orientieren hätte.
Als Gegenstück zur Kategorie der Tugend gilt die Kategorie der Laster. Doch in welchem Verhältnis stehen Tugenden und Laster eigentlich zueinander? Diese Frage steht im Mittelpunkt des dritten Kapitels. Nach aristotelischer Auffassung etwa bildet jede Tugend die Mitte zwischen zwei Lastern. Damit erhalten die Laster eine zentrale Funktion für die Individuierung der Tugenden. Diese Auffassung der Tugend als Mitte wird zunächst einer immanenten Kritik unterzogen, um sie dann mit vier viel weniger prominenten 21Formen der Bestimmung des Verhältnisses von Tugenden und Lastern zu konfrontieren. Gerade die im ersten Kapitel ausgearbeitete rekursive Theorie der Tugend eröffnet, wie sich zeigen wird, die Perspektive für eine alternative Theorie auch des Lasters. Ebendiese rekursive Theorie sowohl der Tugend wie des Lasters wird freilich die Frage aufwerfen, ob beide Kategorien sich tatsächlich symmetrisch verhalten oder ob nicht der Kategorie der Tugend eine ontologische wie axiologische Priorität gegenüber der des Lasters zukommt. Ausgehend von einer kritischen Auseinandersetzung mit der Kategorie der teuflischenLaster, die sich durch positive evaluative Einstellungen zu Übeln als solchen auszeichnen (also etwa die bloße, uneigennützige Freude am Leiden eines Tieres), wird für die zweite Option plädiert. Abschließend bleibt im Anschluss an die thomistische Lehre von den vitia capitalia zu klären, ob sich eine zu der im zweiten Kapitel diskutierten Erneuerung der Theorie kardinaler Tugenden parallele Theorie der kardinalen Laster ausarbeiten lässt.
Doch wie ist es ganz unabhängig von der in den beiden vorigen Kapiteln diskutierten Frage nach den Einteilungskriterien von Tugenden einerseits und nach dem Verhältnis von Tugenden und Lastern andererseits, um das Verhältnis der Tugenden zueinander bestellt? Können sich Tugenden wechselseitig im Wege stehen – etwa wenn die Tugend der Ehrlichkeit zur unverblümten Äußerung einer unbequemen Wahrheit Anlass gibt, die sich nicht mit den Forderungen der Tugend des Taktes vereinbaren lässt? Oder sind nicht nur alle Tugenden miteinander vereinbar, sondern setzen einander geradezu voraus? Ebendies beinhaltet die These von der Einheit der Tugenden, verstanden im Sinne der Reziprozitätsthese, der zufolge jemand nur dann über eine einzige der Tugenden verfügt, wenn er über alle anderen verfügt, jemand hingegen, dem eine einzige Tugend fehlt, auch nicht über eine einzige andere Tugend verfügen kann. Das Problem der Einheit der Tugenden bildet den Gegenstand des vierten Kapitels.[34] Nach einer ausführlichen Diskussion der Frage, was die These der Einheit der Tugenden beinhaltet, sowie der Frage, welchen Status und welche Reichweite sie besitzt, wird ein Argument formuliert, das es erlauben könnte, die 22in der Gegenwartsphilosophie zumeist als offensichtlich hoffnungslos verworfene Einheitsthese zu rehabilitieren. Wie sich in einem abschließenden Ausblick zeigen wird, ist es gerade die Tugendethik, nicht jedoch die hier vertretene rekursive Theorie der Tugenden, die einer solchen Rehabilitierung im Wege steht.
Im fünften Kapitel bleibt schließlich das Verhältnis zwischen Tugend und Glück zu klären.[35] Beide Relata dieses Verhältnisses bedürfen zunächst vorbereitender Klärungen. So gilt es zunächst zu bestimmen, zu wessen Glück denn die Tugend beitragen soll – zu dem des Tugendhaften selbst oder nicht vielmehr, wie Nietzsche argwöhnte, zu dem seiner Nachbarn, also einer sozialen Umwelt, die von der Schwäche und Wehrlosigkeit der Tugendhaften profitiert? Und wie genau ist das Glück selbst zu fassen, zu dem die Tugend einen Beitrag leisten soll? Handelt es sich hier um einen instrumentellen Beitrag oder um einen konstitutiven? Im ersteren Fall wäre die Tugend zwar nützlich für das Glück, könnte aber prinzipiell durch nicht weniger nützliche funktionale Äquivalente ersetzt werden. Im zweiten Fall wäre eine solche Ersetzung nicht möglich. Nach einer Diskussion der Relata des Verhältnisses von Tugend und Glück werden fünf Arten einer solchen Verhältnisbestimmung in absteigender Stärke voneinander abgegrenzt und einzeln geprüft: Die stärkste Form der Verhältnisbestimmung besteht in der stoischen These, dass die Tugend nicht nur notwendig, sondern sogar hinreichend für das Glück des Tugendhaften ist. Die schwächste Form hingegen betrachtet den Erwerb der Tugenden lediglich als ein kontingentes individuelles Projekt, das im Erfolgsfall wie jedes andere erfolgreiche Projekt auch einen Beitrag zum Glück zu leisten verspricht. Die Argumentation des fünften Kapitels wird zeigen, dass sich zwar auf mehreren Ebenen in der Tat ein Beitrag der Tugend zum Glück nachweisen lässt, dass aber die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden kann, dass gerade die Tugenden es dem Tugendhaften abverlangen können, mit Blick auf sein eigenes Wohlergehen Opfer zu bringen und im Extremfall sogar jede Aussicht auf ein glückliches Leben zu verlieren. Den Problemen, die sich aus einem solchen von der Tugend geforderten Opfer an Glück sowohl in erstpersönlicher Perspektive der praktischen Überlegung wie in der drittpersönlichen Beobachterperspektive ergeben, wird abschließend nachzugehen sein.
23Das Ziel des zweiten Teils dieser Untersuchung besteht darin, auf der Grundlage der im ersten Teil entwickelten Tugendlehre dem Projekt einer Tugendethik seine Grenzen aufzuzeigen, das in Konkurrenz zu Konsequentialismus und Deontologie als den beiden paradigmatischen Theorietypen normativer Ethik die Kategorie der Tugend als die für die Ethik primäre zu erweisen versucht.
Dazu bedarf es zunächst einer näheren Bestimmung dessen, was eine Tugendethik überhaupt als solche auszeichnet. Im sechsten Kapitel wird daher zunächst in negativer Stoßrichtung gezeigt, dass sich weder die bloße Thematisierung des Charakters des Handelnden und seiner Motive noch die Verteidigung einer modernekritischen Verfallsgeschichte als hinreichende bzw. notwendige Bedingungen für das Vorliegen einer tugendethischen Position eignen. Erstere bleibt zu unspezifisch und kann gleichermaßen durch konsequentialistische und deontologische Projekte, die im Rahmen ihres Paradigmas versuchen, der Bedeutung von Charakter und Handlungsmotiven Rechnung zu tragen, integriert werden. Letztere hingegen wurde, wie eine vergleichende Untersuchung solcher Verfallsszenarien zeigen wird, in ganz unterschiedlichen Varianten vertreten (namentlich von Elizabeth Anscombe, Alasdair MacIntyre und Michael Stocker), die sich nicht nur in zentralen Hinsichten als unvereinbar erweisen, sondern jeweils auch Merkmale aufweisen, die dem Projekt einer Tugendethik entweder direkt widersprechen oder es doch zumindest unterbestimmen. Nach einer letzten Abgrenzung zwischen Tugendethik und unterschiedlichen Formen einer Theorieskepsis in der Ethik wird dann ein eigener Klärungsvorschlag unterbreitet, der die Tugendethik durch drei grundlegende Merkmale zu definieren versucht, die jeweils sowohl für sich genommen wie in ihrem Verhältnis zueinander der näheren Prüfung bedürfen. Abschließend werden dann vier Formen einer solchen Tugendethik erläutert, die exemplarisch für die unterschiedlichen Theorieoptionen innerhalb einer solchen Position einstehen können.
Zu Beginn des siebten Kapitels wird zunächst anhand von drei grundlegenden Kriterien ein Vorschlag zur Strukturierung der unterschiedlichen Theorieoptionen innerhalb der Tugendethik ausgearbeitet. Vor diesem Hintergrund werden dann vier Typen von Einwänden unterschieden, die sich gegen die Tugendethik in dem im sechsten Kapitel definierten Sinn richten lassen. Ein erster Ein24wand besteht darin, dass die Tugendethik entweder unakzeptabel hohe oder aber unakzeptabel niedrige Ansprüche an richtiges und falsches Handeln stellt: Sie überfordert oder unterfordert den Handelnden. Ein zweiter Einwand geht von der Intuition aus, dass es möglich sein muss, auch aus einem lasterhaften Charakter heraus richtig zu handeln. Das gilt etwa für den Fall von Handlungen des Lasterhaften, die eine Verbesserung seines Charakters zum Ziel haben – sie scheinen notwendig als richtig qualifiziert werden zu müssen, gerade insofern sie zum Erwerb der Tugenden beitragen, sie können aber nicht bereits als tugendhaft bezeichnet werden, da sie qua Voraussetzung einen lasterhaften Charakter zum Ausdruck bringen. Ein tugendhafter Mensch hat es eben nicht nötig, sich um eine solche Verbesserung, die ihn allererst tugendhaft machen soll, zu bemühen. Ein dritter, mit dem zweiten systematisch eng verbundener Einwand setzt bei der irreduziblen Notwendigkeit einer normativen Bewertung von Handlungen mittels deontischer und evaluativer Kategorien an, einer Bewertung, die nicht nur nicht auf die Bewertung von Charaktermerkmalen reduziert werden kann, sondern umgekehrt von Letzteren ihrerseits vorausgesetzt zu werden scheint. Ein vierter Einwand schließlich legt der Tugendethik zur Last, dass sie den Handelnden auf eine fragwürdige Form von Selbstbezogenheit verpflichtet: Wenn die Richtigkeit einer Handlung darin besteht, dass sie einen tugendhaften Charakter zum Ausdruck bringt, dann sollte sich, so scheint es, der Handelnde auch in erstpersönlicher Perspektive an der Frage orientieren, wie ihm dies jeweils gelingen kann. Ebendiese Orientierung jedoch erscheint gerade als unvereinbar mit dem Besitz eines tugendhaften Charakters selbst: Ein genuin hilfsbereiter Mensch wird sich an der Notlage eines Mitmenschen, die es zu beseitigen gilt, orientieren und eben nicht an der Frage, welche Handlung angesichts dieser Notlage seinen eigenen tugendhaften Charakter am besten artikuliert.
Die Erprobung dieser Einwände an den vier zuvor unterschiedenen exemplarischen Theorieoptionen innerhalb der Tugendethik wird zeigen, dass es jeweils einzelnen Optionen gelingt, einzelnen Einwänden zu entgehen bzw. sie durch entsprechende Fortentwicklungen der eigenen Position abzuwehren. Insgesamt bleibt aber festzuhalten, dass sich keine Position formulieren lässt, die an dem Programm der Tugendethik festhält und nicht zugleich 25mit grundlegenden Schwierigkeiten belastet bleibt. Das Projekt der Tugendethik muss als gescheitert gelten – und zwar nicht aus kontingenten Gründen, sondern aus Gründen, die sich aus einem adäquaten Verständnis der Kategorie der Tugend selbst ergeben.
Vor diesem Hintergrund bleibt im achten Kapitel in Form eines kurzen Ausblicks zu prüfen, welche Aufgaben die Kategorie der Tugend in der Ethik erfüllen kann: Gerade wenn sie von den überschießenden Ansprüchen tugendethischer Reduktionsprogramme befreit wird, kann diese Kategorie, so die leitende Hypothese, in dem spezifischen Beitrag, den sie gegenüber deontischen und evaluativen Kategorien in der Ethik zu leisten vermag, angemessen in den Blick kommen. Abschließend wird daher der Versuch unternommen, die Leistungsfähigkeit aretaischer Kategorien in der Ethik sowohl mit Blick auf ihre Potentiale wie auch auf ihre Grenzen näher zu bestimmen. Zugleich wird deutlich werden, warum die ethische Relevanz der Kategorie der Tugend, so wie sie in der Tugendlehre des ersten Teils der Untersuchung bestimmt wurde, nur im Zusammenspiel mit deontischen und evaluativen Kategorien angemessen verstanden werden kann. Die Tugend erweist sich gerade als die Schnittstelle, die es erlaubt, die Person des Handelnden und dessen Charakter, die Forderungen praktischer Rationalität und das Ziel der Orientierung am Guten in einen übergreifenden Zusammenhang zu integrieren. Insofern die Tugendethik als Voraussetzung des Gelingens ihres Projekts eines nicht zirkulären Reduktionsprogramms mit der Tugend als Basiskategorie gerade diese integrierende Funktion notwendig auszublenden zwingt, erweist paradoxerweise gerade sie sich als besonders ungeeignet, dem proprium der Tugend gerecht zu werden.
Was ist eine ethische Tugend? Bevor eine Beantwortung dieser grundlegenden Frage versucht werden kann, bedarf es fünf vorbereitender Klärungen, die es erlauben sollen, Bedeutung und Implikationen der Frage selbst besser einzuschätzen:
Erstens wird in der Ausgangsfrage »Tugend« in einer Bedeutung verwendet, die einen Plural zulässt. So reden wir davon, dass Mut eine Tugend ist – neben anderen wie Gerechtigkeit, Besonnenheit etc. In einer anderen Bedeutung lässt »Tugend« hingegen keinen Plural zu – so stellen wir Tugend und Laster einander gegenüber. Wer über Tugend in diesem zweiten Sinne verfügt, dem schreiben wir die holistische Eigenschaft zu, über einen insgesamt moralisch guten Charakter zu verfügen – wir betrachten ihn eben als tugendhaft.[36] Ein solcher Charakter wird sicher eine Reihe von Tugenden beinhalten, möglicherweise sogar alle, wenn die so genannte These der Einheit der Tugenden zutrifft, der zufolge jemand nur dann über eine einzige der Tugenden verfügen kann, wenn er über alle anderen verfügt. Selbst dann aber muss zwischen den beiden Bedeutungen unterschieden werden, um etwa die Frage klären zu können, inwiefern eben alle einzelnen Tugenden zusammen die Tugend im Sinne eines moralisch guten Charakters ausmachen. Im Folgenden wird es ausschließlich um die Ontologie der Tugenden, 30nicht aber um die der Tugend gehen. Erst wenn in den folgenden Kapiteln Überlegungen zum Zusammenhang der Tugenden einerseits untereinander, andererseits zum moralisch richtigen Handeln sowie zum Problem einer unabschließbaren Proliferation von Tugenden angestellt werden, wird Tugend in der zweiten, nicht pluralisierbaren Bedeutung erneut in den Blick kommen können.[37]
Zweitens geht es um die Ontologie ethischer Tugenden. Der Begriff der Tugend hat sowohl in verschiedenen Sprachen wie in verschiedenen Epochen große Bedeutungsschwankungen durchgemacht: Während das griechische ἀρετή jede Form der Tüchtigkeit bzw. Vortrefflichkeit (und sei es die eines Rasenmähers bei der Erfüllung seiner Funktion, eben des Mähens eines Rasens) umfasst, war in Viktorianischer Zeit der Begriff nicht nur auf den Bereich der Moral beschränkt, sondern wurde nahezu gleichbedeutend gebraucht mit einer einzigen ethischen Tugend, nämlich der Enthaltsamkeit (). In dieser Untersuchung soll der Begriff der Tugend weder in einem so weiten noch in einem so engen Sinn gebraucht werden: Er dient im Folgenden zur Bezeichnung nicht einer , als paradigmatisch betrachteten Tugend, sondern zur Bezeichnung einer distinkten Art von Tugenden, nämlich der ethischen, die sich von Arten von Tugenden durch spezifische Merkmale unterscheidet. Die Frage, wie viele und welche Arten von Tugenden es gibt, muss außerhalb der Grenzen dieser Untersuchung bleiben. Am Ende dieses Kapitels wird sich allerdings die Gelegenheit ergeben, anhand der erarbeiteten Merkmale der ethischen Tugenden einige Abgrenzungen gegenüber wichtigen anderen Arten von Tugenden vorzunehmen. Dabei wird sich zeigen, dass die Unterscheidungsmerkmale jeweils auf ganz unterschiedlichen Ebenen liegen: So unterscheiden sich etwa ethische und theologische Tugenden primär durch die Art ihres Erwerbs (Erstere entstehen durch Einübung, Letztere werden durch göttliche Gnade vermittelt), ethische Tugenden und dianoetische Tugenden, also solche des Verstandes, hingegen dadurch, dass sie auf ein jeweils distinktes formales Ziel, nämlich einerseits das Gute, andererseits das Wahre, ausgerichtet sind.
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