Der betrogene Patient - Gerd Reuther - E-Book + Hörbuch

Der betrogene Patient Hörbuch

Gerd Reuther

4,0

  • Herausgeber: Riva
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2019
Beschreibung

Nie waren die Heilungsversprechen größer als heute und doch ist die ärztliche Behandlung zu unserer häufigsten Todesursache geworden. Wer den Therapieempfehlungen der Mediziner rückhaltlos vertraut, schadet sich häufiger, als er sich nützt. Erschreckend viele Behandlungen sind ohne nachgewiesene Wirksamkeit und oft wäre das Abwarten des Spontanverlaufs sogar wirksamer und nachhaltiger. Schonungslos ehrlich seziert Dr. med. Gerd Reuther nach 30 Jahren als Arzt seinen Berufsstand. Er deckt auf, dass die Medizin häufig nicht auf das langfristige Wohlergehen der Kranken abzielt, sondern in erster Linie die Kasse der Kliniken und Praxen füllen soll. Seine Abrechnung ist aber nicht hoffnungslos, denn er zeigt auch auf, wie eine neue, bessere Medizin aussehen könnte. Sie müsste mit einer anderen Vergütung medizinischer Dienstleistungen beginnen und Geld dürfte nicht mehr über Leben und Tod bestimmen. Mit der Expertise eines Mediziners geschrieben, verliert das Buch trotzdem nie den Patienten aus dem Blick. Durch seine präzise Analyse der herrschenden Verhältnisse wird es zu einer Überlebensstrategie für Kranke, die ihr Leid nicht durch Medizin vergrößern wollen.

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Zeit:6 Std. 46 min

Sprecher:Gerd Reuther
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DR. MED. GERD REUTHER

DER BETROGENE PATIENT

DR. MED. GERD REUTHER

DER BETROGENE PATIENT

Ein Arzt deckt auf, warum Ihr Leben in Gefahr ist, wenn Sie sich medizinisch behandeln lassen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de/ abrufbar.

Für Fragen und Anregungen

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Originalausgabe

4. Auflage der aktualisierten Neuausgabe 2025

© der Originalausgabe 2017 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

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Redaktion: Matthias Michel

Umschlaggestaltung: Isabella Dorsch, München

Umschlagabbildung: Dario Lo Presti/Shutterstock.com

Satz: Daniel Förster, Belgern

eBook: ePUBoo.com

ISBN Print 978-3-7423-1034-7

ISBN E-Book (PDF) 978-3-7453-0782-5

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-7453-0783-2

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.rivaverlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

»Günstig ist das Wetter … nur dem, der in eine Richtung strebt, die der meinen entgegengesetzt ist; wer den Hafen der Vernunft und der Wahrheit anzusteuern wagt, dem sind alle Winde so widrig, dass er gar nicht geschickt und listig genug sein kann …«

JULIEN OFFRAY DE LA METTRIE, 1751

Das Buch ist allen Menschen gewidmet, die sich vorstellen können, ernstlich krank zu werden, und denen, die sich in einem Gesundheitsberuf immer wieder unsinniger Medizin verweigern und notwendige Maßnahmen empathisch durchführen.

Haftungsausschluss

Diese Veröffentlichung ersetzt keine ärztliche Konsultation oder Untersuchung. Autor und Verlag übernehmen keine Haftung oder Verantwortung für mögliche Schäden aus der Benutzung dieser Informationen. Entscheidungen für oder gegen eine ärztliche Behandlung liegen in der Eigenverantwortung jedes Lesers. Dieses Buch hat nicht die Absicht, Sie von einem Arztbesuch abzuhalten oder Ihr Verhältnis zur Ärztin/zum Arzt Ihres Vertrauens zu belasten, wohl aber, dass Sie alle Informationen, die Sie dort erhalten, kritisch auf Sinn und Absicht hinterfragen.

Auch auf dem Gebiet der Wissenschaft gilt die freie Meinungsäußerung, die nicht durch Wirtschaftsgruppen, Verbände oder Interessengruppen unterbunden werden darf.

Hinweis: In diesem Buch wird für Patienten und Ärzte beiderlei Geschlechts vereinfacht die männliche Form verwendet, es sei denn, es wird ausdrücklich auf Patientinnen oder Ärztinnen hingewiesen.

Inhalt

Vorwort zur aktualisierten Ausgabe

Prolog

1 Was wir verordnen, wirkt auch

Medizin ohne Evidenz und kritische Selbstkontrolle

2 Man wird eine Studie (er)finden

Mediziner als Wissenschaftsgaukler

3 Was nicht sein darf, kann auch nicht sein

Ärztliches Desinteresse an Krankheitsursachen

4 Was wir nicht anbieten, braucht ein Patient nicht

Mediziner als Spezialisten

5 Eine schlechte Therapie ist besser als keine Therapie

Medizinischer Aktionismus

6 Verordnet wird, was wir geliefert bekommen

Mediziner als Erfüllungsgehilfen der Medizinindustrie

7 Auch heute sterben im Krankenhaus die Leute

Hochrisikobereich Klinik

8 Zynische Dreiecksbeziehungen

Undurchsichtige Geldflüsse und Interessenkonflikte

9 Welche Behandlung darf es denn sein?

Mediziner als Dienstleister der Patienten

10 Heilen – manchmal, lindern – oft, trösten – immer

Ein 20-Punkte-Programm für eine Medizin ohne Verbrechen gegen die Gesundheit

Danksagung

Anmerkungen

Vorwort zur aktualisierten Ausgabe

Es darf als Zeichen einer hohen Leserakzeptanz gewertet werden, dass Der betrogene Patient gut zwei Jahre nach seinem Erscheinen nicht »abverkauft«, sondern aktualisiert wird.

Manipulierte Fakten bestimmen immer mehr die öffentliche Diskussion über Krankheit und Gesundheit – ob Impfpflicht, Wartezeiten für Arzttermine oder die Kostenwahrheit. Staatliche und übernationale Organisationen, NGOs und wohltätige Stiftungen – nichts und niemandem kann man ohne kritische Nachforschungen trauen. Die Weltgesundheitsorganisation WHO, Zulassungsbehörden für neue Medikamente und auch Cochrane, eine internationale Organisation zur Stärkung der Evidenz in der Medizin, werden inzwischen von privaten Geldgebern beeinflusst. Gesundheitsdienstleistungen wie Antibiotika und Impfungen gelten seither als die wichtigsten Voraussetzungen für Gesundheit statt ausreichend gute Nahrung, sauberes Trinkwasser und saubere Luft. Das dem Buch zugrundeliegende Motto »Vertraue nur dem Zweifel!« ist angebrachter denn je.

Mein Buch will aufrütteln und aufklären. Wer sich bequem ohne eigenes Zutun von seiner Krankheit befreien lassen will, hat dafür in der Medizin schon immer teuer bezahlt.

Dr. med. Gerd Reuther, im Mai 2019

Prolog

Die Fata Morgana der medizinischen Lebensverlängerung

Wer früher stirbt, ist bekanntlich länger tot. Aber wer später stirbt, meist länger Patient. Trotz gegenteiliger Beschwörungen ist der Zenit einer steigenden Lebenserwartung seit 2014 in den meisten Industrieländern überschritten.1 Die »gesunde Lebenserwartung« stagniert bereits seit 2010 ungeachtet einer ungebremst steigenden Zahl von Krankenbehandlungen.2 Das tatsächliche Sterbealter von 78,1 Jahren liegt ohnehin um 2,5 Jahre unter den heutigen Prognosen der Lebenserwartung.3 Hätte es noch eines Beweises bedurft, dass die Medizin die Lebensdauer nicht befördert, wäre er mit der Trendwende in der Lebenserwartung erbracht.

Die 150 Jahre lang gestiegene Lebenserwartung verdanken wir nicht den Fortschritten der Medizin; denn das durchschnittliche Sterbealter hat sich schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts erhöht – weit früher als die Medizin die Sterblichkeit hätte verringern können.4 Verbesserungen in Hygiene, Arbeitsbedingungen und Ernährungslage waren ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die maßgeblichen Faktoren für ein höheres Durchschnittsalter.56 Auch haben die Meilensteine der modernen Medizin im 20. Jahrhundert den Verlauf der Lebenserwartung nicht erkennbar beeinflusst.7 Die demographische Alterung der vergangenen Jahrzehnte resultierte daraus, dass die weltkriegsbedingt dezimierten Jahrgänge im Sterbealter waren, wodurch einfach weniger Menschen starben und die Lebenserwartung rechnerisch stieg.8 Mit den stärkeren Geburtsjahrgängen 1934– 1941 sterben jetzt mehr Menschen und die allgemeine Lebenserwartung fällt. Die von staatlichen Stellen geäußerte Mutmaßung, dass der Rückgang der Lebenserwartung Folge vermehrter Todesfälle durch die Grippewellen 2013, 2015 und 2017 wäre,9 ist abwegig. Wenn ab 2040 die »Babyboomer« (Jahrgänge 1958–1968) sterben, ist das vermeintliche Niederringen des Todes durch die Medizin Geschichte und der Rückgang des Sterbealters wird sich beschleunigen.

In der Vergangenheit wurde unser heutiges Lebensalter durchaus erreicht10 – wenngleich von weniger Personen. Rechnet man die hohe Kinder- und Jugendsterblichkeit sowie die Toten durch Kriege und Kampfhandlungen in früheren Jahrhunderten heraus, schmilzt unser Lebenszeitgewinn drastisch zusammen.11 Seit dem Ende des 2. Weltkriegs ist die Lebenserwartung im Alter von 65 für Männer nur um 5 Jahre und für Frauen um 7 Jahre gestiegen. Auch heute endet das Leben für fast jeden fünften Mann und fast jede zehnte Frau vor Erreichen des 65. Lebensjahres.12 Trotz Heilungserfolgen bei einzelnen Tumorerkrankungen sterben weiterhin jede fünfte Frau und jeder vierte Mann an Krebs.13

Seit 1990 liegen die Sterbefälle in Deutschland mit einer Quote von etwa 1 % der Bevölkerung zwischen 830 000 und 930 000 jährlich.14 Die Zunahme von Ärzten um 50 % während dieser Zeit15 und die weit verbreiteten Absenkungen von Blutdruck, Cholesterin und Blutgerinnung mit dem Ziel, die Todesfälle durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu reduzieren,16 haben die Zahl der Toten nicht verringert. Gevatter Tod kann das Älterwerden also gelassen sehen. Selbst moderne Tricks zur Überlistung des Gevatters wie die vorbeugende Implantation eines Defibrillators (ICD) beeinflussen die Sterblichkeit nicht.17

Das erfolgreichste Geschäftsfeld der Medizin war und ist das Herumtherapieren an spontan verlaufenden Heilungen. Viele Behandlungen mit unwirksamen Medikamenten und physikalischen Therapien (»konservative Behandlungen«) folgen auch in der modernen Medizin diesem Prinzip. Voltaires (1694–1778) Bonmot, dass die Kunst der Medizin darin bestehe, den Kranken so lange bei Laune zu halten, bis die Natur die Krankheit geheilt hat, trifft allerdings nur so lange zu, als keine nebenwirkungsträchtigen Maßnahmen zur Anwendung kommen. Denn dann schadet Medizin mehr, als sie nutzt. Die spektakulärsten Unterhaltungskünstler, die die Patienten bei Laune halten, sind seit jeher die Chirurgen, wenngleich viele ihrer Operationen die Spontanreparation behindern.18 Der Gesundheitsbenefit kaum einer ihrer Körperverletzungen ist durch wissenschaftliche Studien gesichert.19

Ärzte als Krankheits- und Todesursache

Wer länger Patient ist, dessen individuelles Krankheits- und Sterberisiko steigt. Die moderne Medizin hat reichlich Behandlungen im Gepäck, die schaden und töten können. Quecksilber und Aderlass waren gestern, immunsuppressive Medikamente, die körpereigene Reparaturvorgänge beeinträchtigen, und Blutverdünner sind heute nur in wenigen Fällen von Nutzen. Prinz Eugen von Savoyen (1663–1736) führte sein für jene Zeit und seine kriegerischen Unternehmungen langes Leben vor allem darauf zurück, dass er sich bei Krankheit oder Verwundung immer von Ärzten fernhielt.20 Und auch jetzt liegen für keine 10 % der Behandlungen solide Belege für deren Wirksamkeit vor.21 Bis zu 96 % aller Therapien unterscheiden sich kaum von Quacksalberei. Wer an einer ärztlichen Behandlung verstirbt, hatte einen Risikofaktor zu viel.

Viele Erkrankungen werden noch immer mit Kortikosteroiden behandelt, obwohl diese Hormone die Symptome allenfalls temporär bessern.22 80 % der Überlebenden von Krebserkrankungen in der Kindheit leiden an Folgekrankheiten und Gebrechlichkeit, die nicht durch den Krebs, sondern durch die Therapien bedingt sind.23 Nicht wenige, die sich unnötigen oder unangemessen ausgedehnten Meniskusentfernungen beziehungsweise Knorpelglättungen am Knie unterzogen haben, sind inzwischen Kandidaten für einen Gelenkersatz.24 Wer fünf Jahre lang Statine zur Senkung seines Cholesterinspiegels im Blut einnimmt, reduziert sein Herzinfarktrisiko bestenfalls so weit, wie sein Diabetesrisiko steigt.25 Nebenwirkungen bei Langzeittherapien chronischer Krankheiten bedingen nicht selten eine schlechtere Lebensqualität als der Spontanverlauf mit körpereigenen Strategien und Gewöhnungseffekten (zum Beispiel multiple Sklerose26). In vergangenen Jahrhunderten haben fatale Infektionswellen die Menschen dahingerafft. Heute stehen an dieser Stelle Erkrankungen und Tod durch unnütze Medikamente und überflüssige Operationen – gerade auch bei Erkrankungen, die eigentlich ohne jegliche Therapie ausheilen.27 Medikamentenpackungen müssten mit Warnhinweisen und Schockbildern wie Zigarettenschachteln gekennzeichnet werden.

Natürlich gibt es lebensrettende oder die Lebensqualität verbessernde Behandlungen. Allerdings hätten bei konstanter Bevölkerung und gestiegenem Sterbealter weniger Menschen sterben müssen, wenn deren Nutzen den Schaden der übrigen Maßnahmen überträfe. Dies war aber nicht der Fall. Die Lotterie für den Patienten heißt: Chance auf ein längeres Leben im Einzelfall gegen ein höheres Krankheits- und Sterberisiko durch Behandlungen. Screening und die Mehrzahl der ärztlichen Therapien sind bestenfalls Nullsummenspiele, wenn man behandlungsbedingte Sterblichkeiten gegen Heilung und therapiebedingte Erkrankungen gegen Besserung aufrechnet. Ein Patient, der Medikamente einnimmt, leidet, wie der Arzt Christoph Wilhelm Hufeland (1762–1836) formulierte, an zwei Krankheiten und muss sich nicht nur von seiner Erkrankung, sondern auch von seiner Medizin erholen.

So alltäglich Krankheit und Tod infolge ärztlicher Behandlung sind, so wenig präsent ist das Thema unter ihren Verursachern: Eine Monografie über behandlungsbedingte Gesundheitsschäden ist hierzulande nie erschienen. Die deutsche Übersetzung eines amerikanischen Buches ist längst vergriffen, obwohl vieles bis heute Gültigkeit hat.28 In der Statistik der 20 häufigsten Todesursachen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) fehlt die Kategorie »ärztliche Behandlung« überhaupt.29

Das Grundprinzip ärztlichen Handelns, »primum non nocere« (»zuerst einmal nicht schaden«) ist zwar in der Genfer Deklaration des Weltärztebundes verankert, aber inzwischen zu einer Minderheiteneinstellung geworden, die der Ärzteschaft über die Kampagne »Gemeinsam Klug Entscheiden« mit »Don’t do«-Empfehlungen wieder nahegebracht werden soll.30 Die mangelnde Eigeninitiative lässt sich allerdings schon daran ablesen, dass das Motto nur eine Übersetzung der internationalen »Choosing wisely«-Kampagne ist.31 Doch am Anfang und Ende jeder ärztlichen Tätigkeit müssen immer die Fragen stehen, ob die Beschwerden eines Menschen durch medizinische Maßnahmen (mit)verursacht wurden und ob die beabsichtigten Behandlungen hinreichend wahrscheinlich Zustand und Prognose verbessern können.

Gesunde und kranke Patienten

Die Medizin unterscheidet heute zwischen gesunden und kranken Patienten. »Gesunde Patienten« – ein Widerspruch in sich – seien nur unzureichend untersucht, heißt es. Leben als Abfolge von Kontrollabschnitten mit Interventionsbereitschaft statt medizinfreies Älterwerden. Der ärztliche Zugriff erfolgt nicht erst bei Krankheit, sondern im Vorfeld – ein Risiko besteht immer. Die Grenzen zwischen Krankheit und Gesundheit verwischen. Heilen, lindern und trösten war gestern. Lifestyle- und Krankheitsmanagement haben Fürsorge ersetzt.

Gemäß einer Forsa-Umfrage haben 68 % der Befragten Angst vor Krebs und 50 % vor Demenz, obwohl die Wahrscheinlichkeit dafür im mittleren Alter jeweils im Promillebereich liegt.32 Das Risiko, bei einem Unfall ernsthaft verletzt zu werden, beträgt dagegen etwa 10 %.3334 Eine unrealistische Krankheitsangst ist in den Köpfen angekommen. Der »Gesundheitskunde« soll mit einem Onlinefluss seiner biometrischen Daten in möglichst kontinuierlicher Überwachung stehen. Die Blutzuckermessung in Echtzeit ist für Diabetiker bereits Regelleistung der Kostenträger. Ein Zugriff auf diese Daten käme einer Lizenz zur Patientensteuerung gleich. »Personalisierte Medizin« als tiefer Eingriff in Person und Portemonnaie unter dem Deckmantel der Fürsorge. Der digitale Jahrmarkt der narzisstischen Unsinnigkeiten erblüht und hat schon ein Armband (»Nanoparticle Phoresis«) generiert, das mit Krankheiten zusammenhängende Substanzen im Körper aufspüren und diese dann mittels Infrarot, Radiofrequenzen oder Magnetfeldern unschädlich machen soll.35 Selbst den Tod will das kalifornische Biotechnologieunternehmen Calico – ein Tochterunternehmen von Alphabet Inc. (vormals Google Inc., USA) – heilen. Ein Ansinnen, das nur den Köpfen von Nerds entstammen kann, die sich vorstellen können, den Tod mit der »Delete«-Taste zu löschen.

Erklärt man alle Menschen zu mehr oder weniger Kranken, also Behandlungsbedürftigen, dann muss gar nicht mehr nach einer Behandlungsabstinenz gefragt werden. Die Definition der WHO von Gesundheit als »Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens« hat dem bereits Rechnung getragen, wenn die WHO davon ausgeht, dass das »vollständige Wohlergehen« nur auf etwa 5 % der Menschheit zutrifft.36 Folgerichtig findet sich nicht alleine »Gesundheit« unter den nachhaltigen Entwicklungszielen der Vereinten Nationen, sondern der »Zugang aller Menschen zu Gesundheitsdienstleistungen«37 – also zum Geschäftsbereich der Ärzte. Ein langjähriger Präsident der Bundesärztekammer (BÄK) pochte zwar immer darauf, dass »Ärzte keine Kaufleute und Patienten keine Kunden« seien, die BÄK hat allerdings immer die Freiberuflichkeit des Berufsstandes forciert. Diagnostik und Therapie bei Unpässlichkeiten, Screening, Check-ups oder Maßnahmen zur vermeintlichen Verbesserung von Gesundheit machen Patienten aber zu Kunden, und der Arzt wird Anbieter. Das »Vertrauensverhältnis« zwischen Arzt und Patient verkommt zum Ambiente für das schriftliche Patienteneinverständnis.

Als ob die Zunahme von Erkrankungen mit dem Lebensalter nicht schon ausreichen würde, erfinden Ärzte und ihre Fachgesellschaften neue Krankheiten, psychiatrisieren Stimmungsschwankungen, senken Schwellenwerte und verzögern das Sterben im Einzelfall fast um jeden Preis. Noch nie waren so viele Menschen »krank«. Im internationalen Klassifizierungssystem der Krankheiten ICD (»International Classification of Diseases and Related Health Problems«) ist die Zahl der Einzeldiagnosen von 44 im Jahr 1893 inzwischen auf unglaubliche circa 55 000 Kodierungen angewachsen.3839 Neue Diagnosen sind leichter zu erzeugen als neue Therapien.40 Krankheit ist offenbar erwünscht, jedoch ohne ihre Begleiter Alter und Tod. Der Tod ist kein Geschäftsfeld der Medizin, sondern nur eine Entlassungsart in der Krankenakte.

Die Fälschung der Gesundheitswelt

Überhaupt ist Schönfärberei angesagt. Kranke sind längst zu Patienten mit »Gesundheitskarte« oder gleich »Gesundheitskunden« mutiert. Krankenhäuser verstecken sich hinter »Klinik«-Fassaden und verstehen sich als »Gesundheitsunternehmen«. Der Tod ist in der Terminologie der Gesundheitsökonomie zum »vermeidbaren unerwünschten Ereignis (VUE)« geschrumpft. Der Krankenwagen heißt »Intensivtransport« und liefert Kranke an »Liegendvorfahrten« ab. Als »Gesundheitswesen« werden alle Vorgänge um Krankheit beschönigt, denn im »Krankheitswesen« wäre die gültige Wachstumsideologie erkennbar negativ besetzt – ob nun mehr Geld bei konstantem Krankenstand oder die gleichen Summen pro Fall bei steigender Krankheitshäufigkeit umgeschlagen werden. Aus der volkswirtschaftlich und gesundheitlich unerfreulichen Tatsache, dass mehr Patienten urologisch behandelt werden, wird in der orwellschen Wendung der Lokalpresse: »Urologie auf Wachstumskurs« – die Fälschung der Welt ist in den Provinzredaktionen angekommen.

Die Krankheitskosten sind in Deutschland inzwischen auf mehr als 1 Milliarde Euro pro Tag (noch ohne Lohnfortzahlung, vorzeitige Renten und verlorene Arbeitstage) explodiert.41 Der Anteil am Bruttoinlandsprodukt (BIP) hat sich seither verdoppelt42 und liegt heute bei 12 %.43 Bedeuteten früher mehr Kranke weniger Arbeitsleistung, steigt heute das BIP, wenn mehr »Gesundheitsdienstleistungen« erbracht werden. Milliardengewinne von »Healthcare«-Unternehmen und Klinikkonzernen suggerieren gesellschaftlichen Fortschritt. Die Gesundheitsbranche gilt als Wachstums- und Beschäftigungsmotor mit hoher Wertschöpfung und beschäftigt etwa neunmal mehr Menschen als der Automobilbau einschließlich Zulieferer (6,8 Millionen Arbeitnehmer).44 Fast jeder sechste Arbeitsplatz befindet sich in der »Gesundheitsindustrie«, die Krankheiten verwaltet, verlängert und maßgeblich verursacht.45

Eine produktive »Gesundheitswirtschaft« würde bewirken, dass die Kosten für die Lohnfortzahlung und die Zahl der Krankheitstage infolge einer schnelleren Besserung oder Heilung zurückgehen! Ein solcher Zusammenhang zwischen dem wirtschaftlichen Wachstum der Medizinindustrie und sinkenden Kosten für Arbeitsausfälle ist jedoch nicht erkennbar. Rückenschmerzen sind weiterhin für jeden 10. Fehltag am Arbeitsplatz verantwortlich, obwohl es noch nie so viele Wirbelsäulentherapeuten und Schmerzmediziner gab.46 Tatsächlich vermindern Gesundheitsdienstleistungen den Wohlstand von Nationen, wenn sie nicht dazu dienen, die Inländer wieder arbeitsfähig zu machen, oder für Ausländer erbracht werden (»Gesundheitstourismus«). Beides ist heute nur in unwesentlichem Umfang der Fall. Lediglich ein Drittel der Ausgaben für Krankenversorgung betreffen überhaupt Menschen, die im Erwerbsleben stehen.47

Die Höhe der in Deutschland in der »Gesundheitswirtschaft« eingesetzten Geldmittel steht in keinem Verhältnis zur Volksgesundheit.48 Die Lebenserwartung liegt im Durchschnitt der EU-Länder, und nur in wenigen anderen Ländern haben die Menschen im Alter von 65 noch weniger gesunde Lebensjahre vor sich, obwohl unsere Gesundheitsausgaben in Relation zum BIP im Spitzenfeld liegen.49 Deutschland verzeichnet die häufigsten Krankenhausaufenthalte wegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen aller OECD-Staaten. Die Sterblichkeit an Durchblutungsstörungen des Herzens übersteigt sogar die in Ländern mit vergleichbarer Altersstruktur (zum Beispiel Italien).50 In Portugal, das nur etwa 60 % der deutschen Pro-Kopf-Mittel für die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung einsetzt, liegt die Säuglingssterblichkeit nicht höher als in Deutschland.51 Auch innerhalb Deutschlands lebt man nicht dort am längsten, wo die meisten Klinikbetten stehen und die meisten Ärzte niedergelassen sind.52 Teuer ist nicht Gesundheit oder die kleine Zahl von Fällen, in denen moderne Medizin wirklich heilt – teuer ist die Verlängerung von Krankheiten.

Heilen oder täuschen?

Als »Palliativmedizin« wird die Behandlung unheilbar Kranker, die keine Aussicht auf Genesung mehr haben, bezeichnet. Dieser Begriff verdrängt, dass die Mehrzahl aller Therapien nicht heilt. Behandlungen gelten schon als erfolgreich, wenn sie als »krankheits«- oder »verlaufs«-modifizierend eingestuft sind. In der Krebsbehandlung werden »Remissionen«, also das zeitweilige oder dauerhafte Nachlassen von Symptomen, und ein »progressionsfreies Überleben« statt Heilungen oder ein tatsächlich längeres Leben gezählt. »Heilanstalten« gehören der Vergangenheit an; »Heilpraxen« finden sich bei Naturheilkundlern und in der Veterinärmedizin. Heilen wird man auch nur selten, wenn Ursachen und Mechanismen von Krankheiten ignoriert und stattdessen sicht- und spürbare körperliche Symptome wie Schmerz, Fieber, Husten und Hauterscheinungen bekämpft werden. Beschwerdebesserung oder -freiheit für einen begrenzten Zeitraum scheint zu genügen. Eine langsamere, nachhaltigere Symptomrückbildung ist allzu oft unerwünscht. Schmerzunterdrückung statt ursächlicher Abklärung ist angesagt. Das Zeitalter der Ursachenforschung ist zu Ende, wir leben in der Epoche der Risikofaktoren.

Aber woher wissen wir überhaupt, ob Abweichungen aus dem Normalbereich behandlungsbedürftige Krankheitsfolge oder heilsame Gegenreaktion des Körpers sind? Man muss auch Krankheitssymptome zulassen, um Heilung zu befördern. Eine erhöhte Körpertemperatur unterstützt Abwehrvorgänge (»therapeutisches Fieber«), und Schmerzen sind wichtige Botschaften. Oft wäre die Zeit – mit einer über Jahrmillionen entwickelten Selbstheilung – eine bessere Verbündete der Ärzte als die therapeutischen Möglichkeiten der industriellen Pharmazie und modernen Chirurgie. Auch beinhalten manche nicht unbedingt lebensverkürzende Erkrankungen ein verringertes Risiko für todbringende Krankheiten. Wer an Rheuma leidet, wird nur selten an Krebs erkranken.53 Allerdings nur, wenn er sich nicht mit Kortikosteroiden oder Medikamenten therapieren lässt, die in die Botenstoffe des Immunsystems eingreifen (sog. Biologika).

Bis weit in das 19. Jahrhundert war für Kranke und deren Umfeld – im Wissen um die Begrenztheit der Heilkunst – die ärztliche Prognose wichtiger als die Therapie. Im Grimm’schen Märchen Der Gevatter Tod bringt es ein Arzt zu Berühmtheit, weil nur er sehen kann, ob sich der Tod am Kopf- oder Fußende des Krankenbettes aufgestellt hat, und dadurch sicher vorherzusagen weiß, ob der Patient überleben wird. Als er versucht, durch das Umdrehen des Kranken den Tod zu überlisten, kostet es dem Medicus das Leben. Heute gehört es zum Tagesgeschäft der Medizin – wann immer möglich – eine Heilungsabsicht vorzutäuschen, obwohl Heilung nur selten ein möglicher »Endpunkt« ist. Viele Ärzte schließen einen Pakt mit der Pharmaindustrie im Glauben, Gevatter Tod ein Schnippchen schlagen zu können. Mit Hütchenspielertricks lassen sich vielleicht der Todeszeitpunkt um einige Wochen oder Monate verschieben und die Todesart abändern. Die Sterbefälle hat die Pharmaindustrie keinesfalls vermindert, nur haben viele Mediziner ihre Seele verkauft.

Der Internist und Neurologe Viktor von Weizsäcker (1886–1957) beklagte schon 1947, dass »die moderne Medizin dahin gelangt« sei, »ein fester Bestandteil der Wissenschaft und der Technik zu werden, ohne welche die Kulturvölker nicht mehr glauben auskommen zu können«.54 Die gegenwärtige Medizin hat den kranken Menschen aus dem Blick verloren. Bilder aus dem Körperinneren, Befunde aus dem Labor oder den Köpfen konsultierter Kollegen ersetzen die direkte Auseinandersetzung mit dem Kranken und seinen Symptomen. Ein Mensch ist aber mehr als die Summe seiner Befunde.55

Trotzdem scheint der Ruf der Ärzteschaft heute weniger beschädigt als in früheren Zeiten. Ärzte und Krankenschwestern genießen seit Jahren das höchste Ansehen.56 Allerdings wird Feuerwehrleuten und Krankenpflegern im Notfall mehr Vertrauen entgegengebracht als Medizinern.57 Das tatsächliche Ansehen der Ärzteschaft entspricht wohl ebenso wenig der demoskopischen Wahrheit wie die Beliebtheit der Politiker. Wie könnten sonst 65 % der Deutschen Angst haben, im Krankenhaus falsch behandelt zu werden?58

An medizinkritischen Büchern besteht seit den 1970er-Jahren kein Mangel, auch wenn Ärzte sich im deutschsprachigen Bereich auffällig zurückhalten. Von einer »Enteignung der Gesundheit«59, »verordneter Krankheit«60, einer »Gesundheitsmafia«61 und »tödlicher Medizin«62 ist die Rede. Die offiziellen Standesmedien der Ärztekammern ignorieren diesen Büchersektor weitgehend. Kritik aus den eigenen Reihen ist Medizinern bis heute ein Stachel im Fleisch.

Und wenn es nicht gelingt, die Kritik totzuschweigen, werden dem Überbringer schlechter Botschaften – so zutreffend sie auch sein mögen – »fake news«63 vorgeworfen oder eine Störung des Geisteszustandes attestiert.64 »Whistleblowern« drohen Diskreditierung und Berufsverbot, früher auch Vertreibung und Tod. Als der Arzt und Freigeist Julien Offray de La Mettrie (1709–1751), verbittert über Arroganz und fehlende Wissenschaftlichkeit der akademischen Ärzte, satirische Porträts seiner Pariser Kollegen veröffentlichte, wurde die Schrift auf Gerichtsbeschluss verbrannt und ihr Verfasser musste in die Niederlande fliehen.65 Fünf Jahre später, inzwischen im Dienste Friedrichs II. von Preußen, starb er durch einen bis heute ungeklärten »gastronomischen Unfall« mit einer verdorbenen oder vergifteten Fasanenpastete und wurde unter dem Jubel seiner Gegner in die Erde gesenkt.

1 Was wir verordnen, wirkt auch

Medizin ohne Evidenz und kritische Selbstkontrolle

Die Mehrzahl der Patienten ist davon überzeugt, dass die heutige Medizin auf einer soliden naturwissenschaftlichen Basis steht. Und die Ärzte blicken mit Verachtung auf die bis in das 19. Jahrhundert gängige Praxis, mit Aderlässen, Schröpfen, Abführen und Brechmitteln gegen jedes Leiden zu Werke zu gehen, um ein Ungleichgewicht der »Säfte« zu beseitigen. Die Hochnäsigkeit sollte allerdings schnell verfliegen, wenn man sich einige der gängigen Behandlungsmethoden ansieht. Reflexhafte Herabsetzungen von Blutgerinnung und Blutfetten, die Verabreichung entwässernder Medikamente und ärztliche Empfehlungen großer Trinkmengen erwecken den Anschein, die Säftelehre wäre noch nicht überwunden.

Die Prinzipien der Verdünnung, Ausschwemmung und »Entschlackung« erklären sich durch früher häufig zu Recht vermutete Vergiftungen als Krankheitsursache. Doch die generalisierte Anwendung derselben wenigen Maßnahmen bei allen möglichen Krankheitszuständen ist das Gegenteil einer naturwissenschaftlichen, auf Fakten und Belegen basierenden Medizin (evidenzbasierte Medizin). Blinde Autoritätsgläubigkeit zieht sich durch die Geschichte der Medizin, sodass unhinterfragte Vorgaben vermeintlicher Experten immer wieder vermeidbare Krankheiten und Todesfälle verursacht haben. So wurden zum Beispiel Infektionskrankheiten lange Zeit als natürliche, nicht beeinflussbare Erscheinungen verkannt, obwohl der Bevölkerung wirksame Therapien und Präventionsmaßnahmen bekannt waren. Über Jahrhunderte führte dies zu Millionen von Todesfällen und schweren Behinderungen.1 In Abwandlung einer Sentenz des Anatomen und Physiologen Friedrich Tiedemann (1781–1861) könnte man sagen, dass Ärzte ohne evidenzbasierte Medizin »Maulwürfen« gleich sind: »sie arbeiten im Dunkeln und ihrer Hände Tagewerk sind Erdhügel«.2

Ärztlicher Alltag ohne Evidenz

Ärztliche Behandlung ohne Nachweis (Evidenz) der Wirksamkeit ist allerdings auch heute noch eher die Regel als die Ausnahme. Hausärzte therapieren überwiegend nach Wahrscheinlichkeitsvermutung mit Blick auf die Symptome, ohne Beschwerdeursachen objektiv zu bestimmen. Schnell ist der Rezeptblock zur Hand, doch oft fehlt der Nutzen der verschriebenen Medikamente. Eine Studie enthüllte, dass über 90 % ihrer Patienten mindestens ein Arzneimittel unbegründet bekamen, für drei von neun eingenommenen Medikamenten keine Indikation vorlag und 37 % der über 65-Jährigen Tabletten schluckten, die für ältere Menschen ungeeignet sind.3 Kombinationspräparate mit stimulierenden Substanzen (Koffein, Ephedrin), sedierenden Antihistaminika, Hustenstillern und Schmerzmitteln (Kodein, Paracetamol) bei Atemwegsinfekten und Grippe, Antibiotika bei Bakteriennachweis im Urin, Kortisonpräparate gegen allergische Reaktionen, Antidiabetika bei erhöhtem Blutzucker, Opiate gegen chronische nicht tumorbedingte Schmerzen … – die Liste medizinisch unsinniger Verordnungen ist lang. Als amerikanische Ärzte in einer Studie durch ein Pop-up Fenster auf dem Monitor gezwungen wurden, eine Antibiotikagabe zu begründen, reduzierten sich die Verordnungen um 75–80 %.4 Unüberprüftes Festhalten an überkommenen Vorgehensweisen und Annahmen statt Ursachenergründung gehören also zum ärztlichen Alltag. Eminenzbasierte Konzepte, die sich daran orientieren, was Autoritäten sagen, aber nie in korrekten Studien bestätigt wurden, schädigen tagtäglich Patienten und verhindern evidenzbasierte Therapien.

Aber auch in fachärztlichen Praxen und Kliniken, in denen diagnostische Verfahren häufiger einer Therapie vorangehen, sieht es mit der Evidenz der Maßnahmen nicht viel besser aus: Magen- und Darmspiegelungen bei Durchfall und Erbrechen, Kortikosteroide bei akuten Krankheitszuständen, Chemotherapie zur Prophylaxe von Metastasen, Aufdehnung verengter Herzkranzarterien bei stabiler Angina pectoris, Knorpelglättungen bei Gelenkverschleiß, Ziehen aller Zähne bei unklaren Entzündungsprozessen … Nichts davon ist im Sinne des Patientenwohls evidenzbasiert, vieles sogar durch Studien widerlegt. Durchgeführt werden solche Maßnahmen jedoch immer wieder und überall. Man kann davon ausgehen, dass nicht weniger als 900 000 der jährlich über eine Milliarde Behandlungen in Deutschland5 ohne Evidenz der Wirksamkeit sind, mehr schaden als nützen oder es schlichtweg bessere Alternativen gibt.6 Spontanheilungen während abwegigen Therapien liefern die lebenslange Illusion erfolgreicher Behandlungen.7

Ein Fallbeispiel, welches das Magazin Stern im Februar 2016 als außergewöhnliche Diagnose- und Therapiegeschichte veröffentlichte, offenbart das Spektrum der hilf- und sinnlosen Behandlungsversuche einer vermeintlich wissenschaftlich fundierten Medizin.8 Als Ursache für eine Schluckstörung wurde eine Entzündung der Speiseröhre präsentiert, die nicht durch einen Rückfluss von saurem Mageninhalt bedingt war. Tatsächlich geklärt wurde die Ursache allerdings nicht, die sogenannte Diagnose ist nicht mehr als eine pure Beschreibung der Symptome. Dennoch wurden dem Patienten gleich drei Medikamente verordnet: ein Säurehemmer, obwohl die Magensäure nach Überzeugung des Behandlers die Entzündung nicht verursachte, ein prophylaktisches Antibiotikum sowie ein Kortisonpräparat zur unbewiesenen Verhinderung von Narbenbildungen. Und weil einige Wochen später die Entzündung abgeklungen und der Einriss in der Speiseröhre verheilt war, musste die ärztliche Bankrotterklärung geholfen haben.

Vor der Therapie ohne Evidenz stehen oft Diagnoseverfahren ohne Evidenz

Sensitive, aber völlig unspezifische Diagnoseverfahren sind zum Handwerkszeug der heutigen Medizin geworden. Ihr Ziel ist es, möglichst wenige Befunde zu liefern, bei denen Patienten fälschlicherweise als gesund eingestuft werden (falsch negative Befunde). Der Preis, den wir dafür bezahlen, sind allerdings zahlreiche Befunde, bei denen Patienten für krank erklärt werden, ohne dies wirklich zu sein (falsch positive Befunde). So liefert etwa der PSA-Test, die Bestimmung des Prostata-spezifischen Antigens (PSA) zur Früherkennung von Prostatakrebs, pro richtig positivem Befund drei falsch positive Befunde.9 Bei der Ganzkörperplethysmografie zur Diagnostik des Asthma bronchiale werden mindestens 30 % Gesunde als krank identifiziert.10 Schrotschussdiagnostik mit zahlreichen falsch positiven Befunden hat Vorrang vor treffsicheren Diagnosen.

In der Medizin hat sich in den letzten Jahrzehnten der Grundsatz etabliert, dass es einfacher sei, die richtige Diagnose zu stellen, wenn man eine Möglichkeit nach der anderen ausschließt, als gezielt nach einer Krankheitsursache zu forschen. Konkret heißt dies allerdings allzu häufig, dass Mediziner das gesamte Heu abfackeln, um dann nicht einmal die sprichwörtliche Stecknadel zu finden. Nach einer tage- oder gar wochenlangen Odyssee ist anstelle einer zutreffenden Diagnose oft nur eines klar: was ein Kranker ohnehin nicht hat.

Das Prinzip dieser »Rasterfahndung« begegnet uns auch bei den in ihrer Bedeutung heute überschätzten Bildern aus dem Körperinneren, wenn statt intelligenter Suchstrategien historisch gewachsene Vorgehensweisen angesagt sind. Die tägliche Praxis zeigt, dass keine 10 von 100 Bildern behandlungsrelevante Befunde zutage fördern. Dabei hätten mit der Einführung immer neuer bildgebender Verfahren in den letzten 40 Jahren stetig evidenzbasierte Abläufe für eine effektive Diagnose etabliert und verbessert werden müssen. Eine Umsetzung scheiterte nicht nur am Fehlen gezielter Fragestellungen in einer Denkwelt der Ausschlussdiagnostik, sondern auch an mangelndem Willen, auf dem schnellstmöglichen Weg ans Ziel zu gelangen. Denn nicht das Verfahren mit dem größten Aussagepotenzial für den zur Abklärung stehenden Krankheitskomplex steht am Anfang, sondern die Technik, die die behandelnde Facharztgruppe unabhängig vom Aussagewert selbst anwenden kann oder die am leichtesten verfügbar ist. In dieser »bildgebenden Stufendiagnostik« erfolgt bei Rückenschmerzen mit Ausstrahlung ins Bein zuerst eine für die Frage nach einer Nervenkompression aussagelose Röntgenuntersuchung, aber keine zielführende Magnetresonanztomografie (MRT). Bei akuten Bauchschmerzen stehen Ultraschall und Röntgen am Anfang, obwohl damit weder eine Darmperforation noch Blut in der Bauchflüssigkeit oder entzündliche Veränderungen am Darm ausreichend zuverlässig erkannt werden können.

Die Kostenargumente gegen den primären Einsatz von MRT oder Computertomografie (CT) sind dabei genauso wenig evidenzbasiert wie das ganze Vorgehen: CT und MRT wären in allen Einrichtungen längst so verfügbar wie Röntgengeräte und nicht kostenintensiver, wenn die Ärzteschaft die Methodenhierarchie nach optimierten Kriterien einsetzen würde. Erweisen sich zwei von drei Röntgenaufnahmen als überflüssig, dann gäbe es in den Kliniken nicht mehr drei, sondern nur noch einen Röntgenaufnahmeraum und statt einem CT- und einem MRT-Gerät jeweils zwei Tomografen. Die Gerätepreise hätten sich entsprechend angeglichen, und die Betriebskosten wären nicht höher.

In der Krebsmedizin hat sich in den letzten 25 Jahren das PET-CT (Positronen-Emissions-Tomografie in Kombination mit einer CT) zur letzten diagnostischen Instanz entwickelt, ohne dass sein Nutzen ausreichend belegt wäre.11 Falsch positive Befunde und vermeintliche Neuentdeckungen von Tumorgewebe, das bereits bei CT- und MRT-Untersuchungen gesehen werden kann, sind an der Tagesordnung. Therapierelevante richtig positive Befunde sind die Ausnahme. Der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) als entscheidendes Gremium für eine Kostenerstattung durch die gesetzlichen Krankenkassen hat dementsprechend nur Erprobungsbereiche ohne Kostenfreigabe definiert.12 Spezialisierte Nuklearmediziner und eine gläubige Gemeinde ärztlicher Kollegen, die unbeirrt überzeugt sind, dass eine noch so aufwendige Ganzkörperbildgebung vom Scheitel bis zu den Fußsohlen überraschendes Licht in jedes diagnostische Dunkel bringt, halten den Mythos am Leben. Ein Vierteljahrhundert nach Einführung der Technik fehlt bis auf wenige Spezialfälle die Evidenz für einen Patientennutzen.

Pharmakologisches Roulette

Ärzte sollten keine Zocker sein. Sie sind es aber, wenn man sich die Wahrscheinlichkeiten ansieht, nach denen ein Behandlungskonzept bessern oder heilen kann. Behandlungen gelten schon als äußerst erfolgreich, wenn nur eine von zehn behandelten Personen profitiert. Man spricht dabei von der NNT (von engl. »number needed to treat«), also der Anzahl an notwendigen Behandlungen, um das gewünschte Therapieziel bei einem einzigen Patienten zu erreichen (Kehrwert der Risikodifferenz zwischen einer neuen Behandlung und dem bisherigen Standard).13 Es werden heute sogar Maßnahmen mit einer NNT von 100 oder mehr empfohlen (zum Beispiel Einnahme von Cholesterinsenkern zur Prophylaxe von Herzinfarkt und Schlaganfall).14

Welchen Sinn hat eine Therapie, bei der für das gleiche Symptom zwei oder mehr verschiedene Präparate verabreicht werden, wie dies bei einem Bluthochdruck, der auf eine Therapie nicht anspricht, inzwischen zur Unsitte geworden ist? Wenn ein Medikament nicht oder nicht mehr wirkt, gibt man einfach ein zweites Präparat, ohne das erste abzusetzen. Und so weiter. Wer würde beispielsweise zu einem Waschmittel ein zweites, drittes, gar viertes Pulver geben, wenn die Wäsche nicht sauber wird, aber das erste trotz offensichtlicher Wirkungslosigkeit weiter verwenden? Die Kombination von zwei Medikamenten für dieselbe Erkrankung kann sinnvoll sein, wenn unterschiedliche Wirkmechanismen vorliegen. Spätestens ab dem dritten Medikament droht jedoch eine unkalkulierbare Chemieküche, für deren Wechselwirkungen es keinerlei Studien, insbesondere bei Langzeiteinnahme gibt. Sicher ist nur, dass das Risiko unerwünschter Arzneimittelwirkungen (UAW) sich pro fünf Medikamenten mindestens verdoppelt.15 Dauertherapien mit acht bis zehn Medikamenten in unveränderter Dosierung sind bei über 70-jährigen Patienten allerdings Alltag.16 Immer neue Präparate werden zusätzlich verordnet, nicht wenige gegen die UAW anderer Substanzen.

Lebenslang notwendige Medikationen, die nach Jahren noch ihre Wirkung behalten (zum Beispiel Blutverdünnung, Schilddrüsenhormone) sind jedoch die Ausnahme. Der Wirkungsverlust einer Therapie bei längerer Anwendung ist der weit häufigere Fall als die Wirkungskonstanz. Beschönigend spricht man in der Medizin von »Toleranzentwicklung«. Ein punktueller Eingriff in ein biologisches System zieht – im Gegensatz zu technischen Geräten – zwingend Reaktionen nach sich, die Medikamentenwirkungen abschwächen oder aufheben können. So können die Zahl der Rezeptoren auf der Zelloberfläche oder deren Empfindlichkeit für das Medikament abnehmen, gegenläufige Prozesse aktiviert oder einfach die Ausscheidung des Medikaments beschleunigt werden. Dopamin wirkt bei der Parkinsonkrankheit schwächer, wenn es länger gegeben wird. Medikamente gegen Bluthochdruck verlieren längstens nach wenigen Jahren an Wirkung. Eine Hauterscheinung, die nach der ersten Anwendung lokaler Immunsuppressiva schnell abgeklungen ist, wird bei erneutem Auftreten weniger oder gar nicht mehr ansprechen. Alle Chemotherapeutika führen durch eine Negativselektion von Tumorzellen zu einem allmählichen Wirkungsverlust, da die unempfindlichen Zellen überleben und sich ungehindert vermehren können. Bei Tranquilizern ist die Wirkungsabnahme bereits nach zwei Wochen festzustellen. Schon diese Beispiele zeigen, dass jede Verordnung daher einer Befristung bedarf. Ein Standardreflex der Medizin ist jedoch oft die Dosiserhöhung oder die zusätzliche Gabe weiterer Pharmaka mit vergleichbarer Wirkung.

Hierzulande so beliebte Dauertherapien sind ein in keiner Weise evidenzbasiertes Dogma der Medizin, das nur der Pharmaindustrie, aber kaum je dem Kranken dient. Studien für die Medikamentenzulassung sind hinsichtlich der Wirkungskonstanz nicht aussagekräftig, da sie nur über wenige Wochen oder Monate laufen und nur selten Wechselwirkungen zu anderen Medikamenten erfassen. Eine Metaanalyse (zusammenfassende Auswertung mehrerer Studien) fand heraus, dass zwischen 20 und 85 % der wegen eines erhöhten Blutdrucks mit Blutdrucksenkern behandelten Menschen nach dem Absetzen der Medikamente bis zu fünf Jahre normale Blutdruckwerte aufwiesen und Todesfälle nicht häufiger waren.17 Dennoch sind Abnahme und Verlust der Wirkung von Medikamenten bei Langzeiteinnahme ein Tabufeld. Für wenige Medikamente und Anwendungen existieren gesicherte Studien, wie lange eine Einnahme sinnvoll ist, obwohl Toleranzeffekte mit der Dauer der Einnahme zunehmen.

Eigentlich müsste das Absetzen von Medikamenten so häufig wie das Verschreiben neuer Medikamente sein. Gerade, weil sich das Risiko von UAW bei Menschen über 70 Lebensjahren wegen der steigenden Empfindlichkeit im Alter sogar verzehnfacht.18 Selbst wenn Studien, wie bei den Protonenpumpenhemmern, die die Säureproduktion im Magen unterbinden, schwerwiegende und tödliche Risiken belegen,1920 ist das Befristen der Verordnung in der ärztlichen Praxis nicht die zwingende Konsequenz. Bei längerer Einnahme treten unerwünschte gegenüber den erwünschten Wirkungen sogar oft in den Vordergrund. Der Gesundheitszustand bessert sich durch das Weglassen von Langzeitmedikationen vielfach auch deshalb, weil Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten entfallen. Solche Absetzeffekte schulmedizinischer Medikamente befördern maßgeblich die Illusion von Erfolgen in der Komplementärmedizin (= Alternativmedizin).21

Evidenzbasierte Medizin ist keine Errungenschaft unserer Zeit

Schon in der Zeit, als die Schulmedizin noch mit dem Lehrgebäude der Viersäftelehre ihr Unwesen trieb, brachten einige Forscher und Ärzte experimentell Licht ins Dunkel medizinischer Behandlungen. Der flämische Universalgelehrte Johan Baptista van Helmont (1579–1644) beschrieb bereits im 17. Jahrhundert klar das Prinzip der Randomisierung (zufällige Zuordnung von Patienten mit gleicher Erkrankung zu verschiedenen Behandlungen im Rahmen einer Studie) und forderte die Ärzteschaft dazu auf, Aderlass und Klistier mit seinen auf Erfahrung basierenden Behandlungen zu vergleichen: »Wir wollen zweihundert oder fünfhundert arme Leute, die an Fieber, Brustfellentzündung und dergleichen leiden, aus den Spitälern, Lagern oder sonstwo holen. Wir wollen sie in zwei Gruppen aufteilen und sodann die Würfel entscheiden lassen, welche Hälfte mir und welche euch zufällt … Dann werden wir ja sehen, wie viele Begräbnisse jeder von uns auszurichten hat«.22

Noch bevor in Frankreich die Aufklärer eine Bresche in die Bastion des dogmenbasierten Feudalismus schlagen sollten, wagte es der Arzt und Philosoph Julien Offray de La Mettrie, jede »Wahrheit« zu hinterfragen, die nicht auf Fakten beruhte: »Vergleichen wir das Hilfsmittel Experiment mit dem Stock eines Blinden, lassen wir die Philosophen mit ihren eitlen Ansichten beiseite; blind zu sein und zu glauben, man könne eines Blindenstocks entbehren, so ist das der Gipfel der Verblendung.«23 »Nicht denken, ausprobieren« war auch der Leitspruch des Begründers der wissenschaftlichen Chirurgie in England, John Hunter (1728–1793). Und 1793 publizierte der schottische Arzt und Chemiker George Fordyce (1736–1802) Ein Versuch, die Evidenz in der Medizin zu verbessern. Dennoch folgten und folgen nur wenige Ärzte dieser Maxime. Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hatte die Schulmedizin Vitamin-C-Mangel als Ursache des Skorbuts noch nicht anerkannt, obwohl praktische Experimente von Seefahrern bereits im 18. Jahrhundert gezeigt hatten, dass bei Ernährung mit Zitrusfrüchten oder Sauerkraut und Kartoffeln Skorbut nicht auftrat. 300 Jahre zuvor war die chinesische Drachenflotte dank Begleitschiffen, auf denen auch Sojasprossen kultiviert wurden, skorbutfrei durch den Pazifik gesegelt.24

Wir können sogar noch weiter zurückgehen, denn eine Medizin, die ihr Wissen mittels logischer Schlussfolgerung aus objektiven Beobachtungen natürlicher Vorgänge und aus experimentellen Vergleichen verschiedener Vorgehensweisen unter kontrollierten Bedingungen zieht, ist keine Errungenschaft der Neuzeit. Bereits das alttestamentliche Buch Daniel beschreibt eine Studie zur Ernährungstherapie: »Da sagte Daniel zu dem Mann … Versuch es doch einmal zehn Tage lang mit deinen Knechten! Lass uns nur pflanzliche Nahrung zu essen und Wasser zu trinken geben! Dann vergleiche unser Aussehen mit dem der jungen Leute, die von den Speisen des Königs essen. Je nachdem, was du dann siehst, verfahr weiter mit deinen Knechten! Der Aufseher nahm ihren Vorschlag an und machte mit ihnen eine zehntägige Probe. Am Ende der zehn Tage sahen sie besser und wohlgenährter aus als all die jungen Leute, die von den Speisen des Königs aßen.«25

Als Begründer der heutigen evidenzbasierten Medizin gilt der schottische Arzt Archie Cochrane (1909–1988).26 Seine Erfahrungen in mehreren deutschen Gefangenenlagern, in denen er während des Zweiten Weltkriegs interniert war, ließen ihn an der Evidenz medizinischer Behandlungen zweifeln: »Ich wusste, dass es keinen wirklichen Beleg dafür gab, dass das, was wir anbieten konnten, irgendeinen Effekt auf die Tuberkulose hatte, und ich hatte Angst, dass ich durch unnötige Maßnahmen das Leben meiner Freunde verkürzte.«27 Mit seinem Plädoyer für randomisierte kontrollierte (RCT-)Studien schuf er die Basis für die Cochrane Library of Systematic Reviews, das Cochrane Centre in Oxford und die 1993 gegründete, international agierende Cochrane Collaboration (seit 2015 nur noch Cochrane), die sich für eine evidenzbasierte Medizin einsetzt. Mit der Entlassung eines der Gründer im Jahr 2018 und mehreren Metaanalysen durch befangene Gutachter hat Cochrane allerdings den Anspruch auf eine Rolle als »Gewissen der Medizin« verspielt.2829 Der Begriff »evidenzbasierte Medizin« geht auf den Arzt Gordon Guyatt (geb. 1953) von der McMaster University in Hamilton, Kanada, zurück.3031 In Deutschland wurde erstmals 1995 darauf Bezug genommen, während er in Großbritannien schon seit Ende der 1980er-Jahre geläufig war.32

Naturwissenschaftlich-experimentelles Denken fordert immer den Vergleich von zumindest zwei Gruppen: zwei verschiedenen Behandlungsformen miteinander oder einer Behandlungsform mit dem Spontanverlauf. Beide Gruppen sind durch zufällige Zuweisung zu rekrutieren, ohne dass Behandler und/oder Patient über die Gruppenzugehörigkeit in Kenntnis sind (sogenannte einfache beziehungsweise doppelte Verblindung). Um die Verblindung für Patienten und Behandler sicherzustellen, werden auch sog. aktive Placebos verwendet, die ähnliche Wirkungen wie die zu testenden Substanzen entfalten. Allerdings kann diese Perfektionierung der Täuschung auch Therapiewirkungen verschleiern: stimmen das zu testende Medikament und das Placebo in Teilen überein, werden Effekte durch die gemeinsamen Komponenten nicht auffällig voneinander abweichen.

Als erste RCT-Studie gilt eine Publikation im British Medical Journal (BMJ) von 1948 ohne Autorenspezifikation, in der zur Behandlung der Tuberkulose Bettruhe mit Streptomycin gegen alleinige Bettruhe verglichen wurde.33 Vorzugsweise sollten Therapien sogar sowohl mit einer Scheinbehandlung durch ein Placebo als auch mit dem Spontanverlauf verglichen werden, was allerdings nur äußerst selten geschieht.3435 Nur dadurch kann der tatsächliche psychologische Effekt einer Scheinbehandlung von der unbeeinflussten Selbstheilung differenziert werden. In der verbreiteten ärztlichen Hybris wird aber jede Verbesserung der Gesundheit unter einer Scheinbehandlung dem wundergleichen Placeboeffekt gutgeschrieben. Als würden nicht die arztfreien Mechanismen der Selbstheilung die Messlatte für jede Therapie darstellen.

Es wäre jedoch eine unzulässige Verkürzung, evidenzbasierte Medizin auf die Ergebnisse von RCT-Studien zu beschränken.36 Wo fundierte Studiendaten fehlen, kann es auch evidenzbasiert sein, die individuelle klinische Expertise und eigene Erfahrungen der Patienten heranzuziehen,37 allerdings können diese nie harte Studiendaten ersetzen. Scheinoperationen in der Kontrollgruppe zur Objektivierung eines Operationsnutzens gelten Chirurgen als unethisch.38 Aber was ist unethischer: Scheinoperationen, um zu ermitteln, ob eine Operation von Nutzen ist, oder das Festhalten an möglicherweise unnützen Eingriffen ohne Evidenz? Wie bodenlos unwissenschaftlich es heute noch oft zugeht, lässt die Antwort eines Studienautors erkennen, der sich dafür rechtfertigt, dass seine Studie keine unbehandelte Kontrollgruppe enthält. Er argumentiert, dass ein Behandlungsverzicht bei Krankheit unzumutbar sei. Es ist kein Zufall, dass die Evidenz für einen Patientennutzen in keinem Gebiet der Medizin so gering ist wie in der Chirurgie.39

Randomisiert-kontrolliertes Leben

Nicht nur Menschen, sondern auch die Umstände können RCT-Studien aufsetzen. Als Johann Klein (1788–1856), der seit 1822 die Geburtshilfeklinik des Allgemeinen Krankenhauses der Stadt Wien leitete, 1833 die Klinik in zwei Abteilungen teilte, legte er unbeabsichtigt den Grundstein für die Aufklärung der Ursachen des »Kindbettfiebers« durch Ignaz Semmelweis (1818–1865).40 In der einen Abteilung wurden die Entbindungen ausschließlich von Hebammen ohne ärztliche Untersuchungen durchgeführt, in der anderen Abteilung nur von Ärzten und Medizinstudenten, die auch die eigenen verstorbenen Patienten sezierten. Die wechselweise Aufnahme in beide Abteilungen nach Wochentagen erfolgte allein aus organisationspolitischen Gründen.

Umgehend zeigte sich, lange vor dem Eintritt von Semmelweis in die Klinik, ein massiver Unterschied bei den Todesfällen zwischen beiden Abteilungen. Während die Sterblichkeitsrate in der Hebammenstation bei 2 bis 3% lag, verstarben unter den Händen der Ärzte zwischen 10 und 30% der Mütter.41 Das war eine experimentelle Situation par excellence, bei der die Fakten nur in alle Richtungen hätten analysiert werden müssen, ohne Rücksichten auf Dogmen und standespolitische Interessen. Die ursprüngliche »Randomisierung« der Zuteilung ging allerdings schnell verloren, da sich die höhere Sterblichkeit in der ärztlichen Abteilung herumsprach und die werdenden Mütter an der Pforte alles dafür taten, um auf die Hebammenstation zu kommen. Das Müttersterben hielt sich nur dadurch in Grenzen, dass lediglich circa ein Viertel aller Entbindungen in der Geburtsklinik in Wien erfolgten.42 Ein öffentlicher Skandal blieb aus, da in der Klinik nur Frauen entbanden, die sich keinen Geburtshelfer zu Hause leisten konnten: ledige Mütter, Prostituierte und Frauen aus der Unterschicht.

Trotz Sektionen der verstorbenen Frauen, bei denen man Entzündungen hätte erkennen müssen, war die ärztliche Abteilung bis 1849 nicht in der Lage, die drastisch differierende Häufigkeit des »Kindbettfiebers« zu erklären. Dabei hatte die Sterblichkeit unter Kleins Vorgänger, der Studenten nicht an Leichen, sondern am Holzmodell unterrichtete, noch bei 1 bis 2 % gelegen.43 Der Assistenzarzt Semmelweis konnte die infektiöse Ursache des »Kindbettfiebers« auf die mit »Leichengift« kontaminierten Hände der Ärzte zurückführen, obwohl er noch keine Bakterien identifizierte. Johann Klein hatte den Sektionsunterricht unter Missachtung der Handhygiene von Ärzten und Studenten forciert.

Aber Klinikärzte als Todesursache – das durfte, ja konnte einfach nicht sein. Semmelweis wurde als ungebetener Rufer in der »Welthauptstadt der Medizin« 1849 der Klinik verwiesen. Das »Kindbettfieber« blieb noch für weitere 25 Jahre ein stetes Damoklesschwert über den armen Wöchnerinnen in Wien. Erst die mikroskopischen Keimnachweise von Carl Mayrhofer (1837–1882) und Joseph Lister (1827–1912) führten zu einem Strategiewechsel, der auch ohne Erregernachweis durch rationale Analyse der Evidenzen mindestens 50 Jahre früher hätte erfolgen müssen. Hygiene bei der Geburt durch heißes Wasser, frische Tücher und gewaschene Hände gab es schon in der Entbindungsära der Hebammen in den vorhergehenden Jahrhunderten. Bereits 1795 hatte der schottische Arzt Alexander Gordon (1752–1799) das »Kindbettfieber« als Infektion bezeichnet,44 und 1843 war von Oliver Wendell Holmes Sr. (1809–1894) die Infektionstheorie in Neuengland erneut publiziert worden.45

Die Hygiene hat noch nicht gesiegt

Das wäre in der wissenschaftlichen »Hightech«-Medizin heute nicht mehr denkbar? Nun, circa 1 000 000 Krankenhausinfektionen mit schätzungsweise 30 000 bis 40 000 Todesfällen pro Jahr allein in Deutschland sind ein Phänomen der Gegenwart (vgl. auch Kapitel 7).46 Bis zur Hälfte der Infektionen bei Klinikpatienten gelten als hausgemacht47 – das betrifft 5 % aller Kranken in deutschen Kliniken.48 Eine verbesserte Handhygiene des medizinischen Personals könnte immer noch wenigstens 40 % der Krankenhausinfektionen verhindern.49 Allerdings ist häufiges Waschen der Hände mit Desinfektionsmitteln keine Problemlösung. Desinfektion eliminiert multiresistente Problemkeime nicht, reduziert hingegen die körpereigene Hautflora, sodass sich dort krank machende Keime ansiedeln können. Ihre exzessive Verwendung verschärft das Resistenzproblem nur weiter. Wichtiger ist es, unnötige Kontakte zwischen Personal und Patienten zu vermeiden sowie bei medizinischen Verrichtungen auf langärmelige Arztkittel zu verzichten.5051

Unsinnige Handschüttelrituale – inklusive der Verteilung von Kolibakterien und Schlimmerem – gehörten bis zu Corona in deutschen Krankenhäusern zum gesellschaftlichen Standard. Krankenhausinfektionen lassen sich aber durch Kontaktvermeidung wirkungsvoller als durch Handdesinfektion reduzieren.52 Übersichtsarbeiten zu Krankenhausinfektionen erwähnen oft gar nicht, dass das Vermeiden des Handkontaktes eine wirksame präventive Maßnahme darstellt, und propagieren lediglich die Desinfektion der Hände, weil die Autoren Interessen der Desinfektionsmittelhersteller vertreten.53 Dementsprechend wird ein Verbrauchsanstieg von Desinfektionsmitteln bereits als Hygieneerfolg gewertet.54 Relevant wäre aber eine Abnahme von Krankenhausinfektionen. Der Initiator einer Kampagne gegen das Händeschütteln ist nicht nur bei seinen Dienstvorgesetzten auf taube Ohren gestoßen.55 Die meisten Klinikführungen und leitenden Krankenhausärzte verschließen sich überfälligen Paradigmenwechseln, und nur einige wenige Kliniken in Deutschland haben bisher das Händeschütteln aus dem Alltag verbannt.

Die gleiche Betriebsblindheit zeigt sich beim Festhalten an der Tradition langärmeliger Arztkittel, die eine Händedesinfektion bis über die Handgelenke verhindern und an den Manschetten ein Keimreservoir bilden.56 In Großbritannien und den Niederlanden sind langärmelige Arztkittel längst ausgemustert, in Deutschland gilt ihr Verbot als erklärungsbedürftig, obwohl auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) kurzärmelige Kittel empfiehlt.5758 Als erster deutscher Klinikbetreiber haben die Asklepios Kliniken GmbH 2016 ein Verbot langärmeliger Kittel bei Ausübung medizinischer Tätigkeiten eingeführt – gegen den Widerstand leitender Krankenhausärzte, denen Statussymbole offenbar wichtiger sind als die Prävention von Erregerübertragungen auf ihre Patienten. Solange das tägliche Handschüttelritual in deutschen Krankenhäusern als unverzichtbar für Kollegialität und Status angesehen wird, gilt das ungeschriebene Gesetz, wonach Antibiotikatherapie vor Infektionsprophylaxe geht.

Infektionsmanagement heute

Bei den häufigsten Erkrankungen, den Virusinfektionen der Atemwege, entspricht das heutige Management der Hilflosigkeit früherer Jahrhunderte. Dennoch ist die Schulmedizin durch ihr gesetzlich sanktioniertes Monopol, über Gesundheit und Krankheit zu befinden, zur ersten Anlaufstelle für Betroffene geworden. Nach wie vor gibt es keine wirksamen Medikamente gegen virale Atemwegsinfekte und Grippe, aber die geforderte Krankschreibung zwingt erwerbstätige Kranke für Stunden auf die Beine und in überfüllte Wartezimmer mit anderen Kranken, sodass sich die Zahl der Kontaktpersonen erhöht. Mit Ausnahme weniger Kinderarztpraxen verzichtet man trotz der seit über 100 Jahren bekannten Übertragung durch Tröpfcheninfektion auf Schutzmaßnahmen oder Isolierungen infektiöser Patienten. Arzt und Praxispersonal fungieren als Multiplikatoren für Viren, als ob die Gefahr der Ansteckung noch nicht erkannt wäre. Durch die mindestens halbtägige Strapaze – Anfahrtswege, teilweise stundenlanges Warten – im akuten Krankheitsstadium oft zusätzlich geschwächt, verteilen die Kranken auf dem Rückweg noch einmal ihre Erreger im öffentlichen Leben und den Apotheken, bevor sie endlich Bettruhe einhalten, warme Getränke, kühlende Wickel oder Wärmflaschen – je nach Befindlichkeit – einsetzen können.

Der Verdacht ist nicht abwegig, dass alle Beteiligten der Gesundheitswirtschaft ebenso wenig Interesse daran haben, die Ausbreitung ansteckender Erkrankungen zu verhindern, wie die Londoner Ärzte im 18. Jahrhundert. Als die Frau des englischen Botschafters in Konstantinopel, Lady Montagu (1689–1762), von alten griechischen Frauen die Verhütung der Pocken durch Inokulation (Animpfen) mit Eiter aus Pockenbläschen kennenlernte, fasste sie den Vorsatz, diese Methode bei ihrer Rückkehr in ihrem Heimatland zu etablieren. Einem ihrer Briefe ist zu entnehmen, weshalb es jedoch so schwer war, eine der todbringendsten Infektionen in Europa zurückzudrängen: »Ich … werde nicht verfehlen, einigen unserer Ärzte ganz ausführlich darüber zu schreiben …, einen ihrer beträchtlichen Erwerbszweige zum Wohl der Menschheit aufzugeben. Doch diese Krankheit ist für sie zu einträglich, als dass sie nicht ihren ganzen Groll auf jenen verwegenen Wicht ausschütten sollten, der es unternähme, sie (die Pocken) auszurotten.«59

Infektionskrankheiten waren und sind auch ohne Beeinflussung des Krankheitsverlaufs ein Milliardengeschäft für Ärzte, Apotheker, Krankenhäuser und die Pharmaindustrie. Die »Grippemittel« Tamiflu® und Relenza® wurden als bislang größter Raubzug der Pharmaindustrie ohne Patientennutzen enttarnt.60 Selbst die wohlwollendsten Studien stellen lediglich eine Verkürzung der Krankheitsdauer um einen halben Tag in Aussicht und es müssen zwischen 10 und 90 Patienten behandelt werden, damit ein Patient profitieren würde. Ein Vorteil gegenüber Hausmitteln ist damit nicht zu belegen.6162 Allgemeinmediziner, viele Internisten und HNO-Ärzte glauben in Deutschland dennoch, dass es außer der Krankschreibung Medikamentenverordnungen bedarf. Nicht zuletzt, weil man irgendetwas anbieten muss und Therapiewunsch besteht. Kombinationspräparate, die aufputschen, den Schleimfluss verbessern sollen, die Körpertemperatur senken sowie Schmerzen lindern, gelten als Standard – wiewohl ohne jede Evidenz. Sinnvoll ist lediglich Bettruhe, gegebenenfalls unterstützt durch Hausmittel und das Abwarten der Selbstheilung.

Wir müssen keine Zeitreise antreten, um zu erkennen, dass es anders ginge. Japaner tragen beim Verdacht auf Infektiosität grundsätzlich einen Mundschutz. In den Niederlanden und Norwegen fehlen erkältete Patienten in den Wartezimmern auch bei Grippewellen. Hausärzte dürfen dort ohnehin keine Krankschreibung ausstellen und Kranke können sich von Krankheitsbeginn an zu Hause auskurieren. Eine Behandlung darf erst eingeleitet oder versucht werden, wenn in den Folgetagen eine erhebliche Verschlechterung oder nach einer Woche keine Besserung vorliegen sollte. Eine längere Krankheitsdauer ist dort nicht belegt.63 Jedes andere Vorgehen ist kostspieliger Unfug ohne Evidenz.

Empfehlungen ohne Evidenz

Ein eklatantes Beispiel für die Beharrlichkeit von Eminenz- statt Evidenzbasierung ist der Arbeitskreis Jodmangel e. V. (AKJ). Obwohl selbst die WHO Deutschland seit 2007 nicht mehr als Jodmangelgebiet führt, beharrt eine Gruppe von Medizinern darauf, dass 30 % der Deutschen eine Mangelversorgung hätten: »Jod – damit die Schilddrüse gesund bleibt«.64 Die empfohlene Jodzufuhr haben sie ohne jede wissenschaftliche Evidenz auf 200 µg/Tag festgesetzt. Als »Beweis« für die Jodmangelsituation in Deutschland dienten 7000 nicht repräsentative Urinproben, die ohne Messung der Schilddrüsenfunktionsparameter im Blut eine durchschnittliche Jodaufnahme von 125 µg/Tag belegen sollen.65 Gemäß WHO besteht ein Jodmangel allerdings erst unter 100 µg/Tag; die Empfehlungsdosis wurde auf 150 µg/Tag festgelegt, also 50 µg niedriger als die des Arbeitskreises.66 Und nur bei einer Aufnahme von weniger als 50 µg/Tag ist eine Vergrößerung der Schilddrüse zu befürchten.

Da sich Menschen nicht mehr regional, sondern global ernähren und nicht einmal mehr eine regionale Wasser- oder Milchversorgung besteht, kann es lokale Jodmangelzustände in den Industriestaaten gar nicht mehr geben. Die in vielen Ländern gesetzlich verankerte Jodierung von Speisesalz, die in Deutschland mindestens ein Drittel des konsumierten Salzes betrifft, und die Futtermitteljodierung haben die durchschnittliche Jodaufnahme in Deutschland in 20 Jahren von 72 µg/g Kreatinin auf 125 µg/g Kreatinin erhöht.67 Kein Wunder, dass die Tagesempfehlung des AKJ von 200 µg Jod/Tag für Menschen im Alter zwischen 15 und 51 Jahren hierzulande von vielen Menschen sogar weit überschritten wird. Der Jodgehalt der Milch liegt im Test zwischen 30 und 180 µg/l.68 Beim Genuss von einem Liter Milch und dem realistischen Tageskonsum von 10 g Kochsalz mit einer Salzjodierung von 20 µg/g kommt man auf 250 bis 400 µg/Tag!69 Bei Werten von über 300 μg/Tag warnt die WHO bereits vor negativen gesundheitlichen Konsequenzen. Doch der Arbeitskreis belässt es nicht bei seiner willkürlichen Grenzwertfestsetzung, sondern stellt auch ohne Belege einen Zusammenhang zwischen einer hohen Jodaufnahme und einer autoimmunen Schilddrüsenentzündung (Hashimoto-Thyreoiditis) in Abrede. Der AKJ-Sprecher fordert gar, die Jodierung des Kochsalzes zu erhöhen, wenn aufgrund von Empfehlungen der Deutschen Hochdruckliga, die sich dem Kampf gegen Bluthochdruck verschrieben hat, der Kochsalzverbrauch sinken sollte.

Man kann die Jodmangel- und Schilddrüsenknoten-Hysterie nur dadurch erklären, dass eine Allianz von Medizinern und Pharmakonzernen mit Schilddrüsenpräparaten um ihre Umsätze fürchtet und sogar Erkrankungen der Schilddrüse durch eine Jodüberversorgung in Kauf nimmt. Es ist bezeichnend, wenn ein Endokrinologe auf einer Veranstaltung der Firma Sanofi-Aventis einen Notstand herbeizureden versucht: »Die Schilddrüsenerkrankung ist in Deutschland eine Volkskrankheit. Jeder dritte Erwachsene ist betroffen, ohne dass es ihm bekannt ist.«70 Würde eine zusätzliche Jodzufuhr tatsächlich die »Schilddrüsengesundheit« verbessern – wie der AKJ postuliert –, dann müssten Schilddrüsenbehandlungen konservativ und operativ stark rückläufig sein. Das Gegenteil ist der Fall: Weiterhin werden pro Jahr über 100 000 gutartige Vergrößerungen der Schilddrüse operiert71 – auf die Einwohnerzahl heruntergerechnet fast achtmal mehr als in den USA und zehnmal mehr als in Großbritannien.72 Es sind nicht nur vergrößerte Schilddrüsen ohne Funktionsstörungen und ohne Kompression der Luftröhre, sondern auch zufällig entdeckte »Schildrüsenknoten mit nicht völlig auszuschließendem Malignitätspotenzial«, und das obwohl lediglich drei von 10 000 Schilddrüsenknoten Karzinome sind.73 Ein »Missverhältnis zwischen derzeitigen Operationszahlen und tatsächlich notwendigen Eingriffen« attestiert daher die Deutsche Gesellschaft für Endokrinologie. 75 % der Operierten haben keine Beschwerden und eine normale Schilddrüsenfunktion.74 Allerdings werden pro Jahr etwa 2000 Stimmbandlähmungen und bleibende Störungen der Blutdruckregulation in unbekannter Häufigkeit durch die Entfernung von Schilddrüsen verursacht.7576

Körpervergiftung ohne Evidenz

Die Gabe von Kortikosteroiden bei Traumapatienten ist tatsächlich unsinnig und unverantwortlich, denn sie begünstigt und verschlimmert die auf Intensivstationen ohnehin häufigen Infektionen und stört vermutlich auch die Nervenfaserheilung.82 Ärztliche Kortikosteroidverordnungen haben jahrzehntelang zig Millionen Patienten in ihrer Rekonvaleszenz geschädigt oder ihr Sterben beschleunigt. Es ist vor allem ein Autor, der mit vermeintlicher »Studienevidenz« über Jahrzehnte den Kortikosteroidmythos am Leben und in der Routine hält83 und mit etwa 400 Publikationen nicht nur äußerst umtriebig, sondern gleichzeitig Berater von zwei Kortikosteroidherstellern ist. Er fungierte auch als einziger (!) Gutachter beim Cochrane Review, auf dem die ursprüngliche Kortisonempfehlung beruhte.84

Auch bei anderen Krankheitszuständen macht die Gabe von Kortikosteroiden nur selten Sinn. Die als Dauertherapie verschriebenen Steroide zur Inhalation bei der häufigen chronisch-obstruktiven Lungenerkrankung (COPD) sind unnötig und haben nur Nebenwirkungen, ohne den Krankheitsverlauf zu verbessern.85 Beschönigend wird so ein Mangel an Wirksamkeit als »flache Dosis-Wirkungs-Kurve« beschrieben. Kortikosteroide zum Inhalieren als fixer Bestandteil der Leitlinien werden mit der Begründung gerechtfertigt, dass es zwar keinen Beweis, »allerdings auch keinen zwingenden Gegenbeweis« des Nutzens gebe.86 Eine befangene Argumentation, die aus der Komplementärmedizin allzu bekannt ist.87

Wie wenig fundiert und einseitig pharmakologisch getrieben ärztliche Therapien heute sind, zeigen auch Krebsbehandlungen. Über 40 Jahre war die zytostatische, also das Tumorwachstum hemmende, und gleichzeitig immunsuppressive Behandlung bei allen Krebserkrankungen in der Schulmedizin »alternativlos«. Während man sich auf die Tumorzerstörung konzentrierte, missachtete man die biologischen Abwehrmechanismen eines Organismus. Rufer in der therapeutischen Wüste, die forderten, dass es doch gerade einer Stärkung des Immunsystems bedürfe, um bösartige Tumoren zum Verschwinden zu bringen, wurden als dubiose Alternativmediziner stigmatisiert. Dabei hat eine Analyse von über 1000 Spontanheilungen bei Krebs in zehn Ländern vor allem psychische und emotionale Aspekte sowie Ernährungsumstellungen als positive Einflussfaktoren einer Selbstheilung ausgemacht.88 Aber die Pharmaindustrie hatte nur tumortoxische Chemie anzubieten, die durch Schädigungen körpereigener Schutz- und Reparaturstrategien sogar noch den evolutionserprobten Selbstheilungsstrategien entgegenwirkte. Mindestens die Hälfte der zugelassenen Chemotherapeutika sind wirkungslos und haben ausschließlich unerwünschte Nebenwirkungen.89

Seit wenigen Jahren hat sich der Wind gedreht und es gibt nun »Immuntherapien« mit Substanzen, die die Erkennung und Bekämpfung von Tumorzellen durch körpereigene immunkompetente Abwehrzellen (T-Zellen) fördern. Diese Medikamente sind trotz ihrer vermessenen Preise alles andere als ein Durchbruch mit der Aussicht auf Heilung, aber sie beruhen wenigstens auf tumorbiologisch sinnvollem Denken. Jedoch spricht nur etwa jeder dritte Tumorpatient darauf an und T-Zellen können auch kostengünstiger durch Glücksgefühle, starke Reize oder Temperaturerhöhungen (zum Beispiel künstliches Fieber, Hyperthermie) aktiviert werden. Zudem ist alles andere als ausreichend erforscht, was passiert, wenn die natürlichen Signalwege zur Selbstbeschränkung des Immunsystems unterbrochen werden. Körpereigenen Überreaktionen werden damit Tür und Tor geöffnet. Zwischen einem Viertel und der Hälfte der Behandelten erleiden so schwere »Nebenwirkungen«, dass oft nur hochdosiertes Kortison das Ableben verhindern kann.90 Nun konkurrieren die gegensätzlichen Prinzipien von Immunsuppression und Immunstimulation zum Teil sogar simultan in denselben Patienten! Das ist vergleichbar mit einer Bluttransfusion bei gleichzeitigem Aderlass.

Körperverletzung ohne Evidenz

Fast 40 % der Patienten in deutschen Kliniken werden operiert, obwohl der Nutzen der wenigsten Eingriffe durch Vergleichsstudien mit Scheineingriffen bewiesen ist. In einer systematischen Übersichtsarbeit waren 27 von 53 Operationen nicht besser als ein Placebo und die übrigen 26 nur geringfügig besser als Scheineingriffe. Ein Ärztekammerpräsident sprach deswegen schon vor Jahren von »ritueller Chirurgie«. Es wundert daher wenig, dass die Häufigkeiten von Operationen weniger mit den Beschwerden von Kranken, sondern mehr mit dem Spektrum der vorhandenen Behandler zu tun haben.

Entsprechend gibt es große regionale Unterschiede in der Häufigkeit vieler Operationen, die sich nicht durch demografische und logistische Faktoren erklären lassen. So ist die Wahrscheinlichkeit für eine Entfernung der Gaumenmandeln, Wirbelsäulenoperationen, die Implantation von Gelenkprothesen oder Defibrillatoren, Karpaltunnelspaltungen oder Kaiserschnitte in manchen Gegenden bis zu 13 mal höher als in anderen – was erkennen lässt, dass evidenzbasierte Indikationsstellungen für Körperverletzungen oft nicht vorliegen.9192 Schweizer Studien wiesen schon vor 20 Jahren nach, dass die Häufigkeit für bestimmte Eingriffe (zum Beispiel Gebärmutterentfernung) bei medizinischem Personal und dessen Angehörigen signifikant niedriger ist als in der übrigen Bevölkerung, und privat Versicherte doppelt so häufig wie gesetzlich Versicherte operiert werden.93 Auch bekommen Privatversicherte doppelt so häufig Chemotherapien wie gesetzlich Versicherte.94 Daten aus den USA bestätigen das medizinscheue Verhalten von Ärzten, wenn es um deren eigene Gesundheit geht: sie werden seltener auf Intensivstationen aufgenommen, seltener operiert und sterben weniger häufig im Krankenhaus als der Normalbürger.95 In Deutschland wurden entsprechende Studien bis heute vermieden.

Die Evidenz in der Bauchchirurgie ist dürftig. Bei der Mehrzahl der Eingriffe werden Gallenblasen und Dickdarmanteile entfernt, Leistenbrüche oder was man dafür hält operiert sowie Komplikationen der eigenen Zunft beseitigt: Darmverschlüsse durch Narbenbildungen, Abszesse und Bauchwandbrüche. Jeder fünfte Patient muss nach Eröffnung des Bauchraums innerhalb von drei Jahren mit einer schnittbedingten Hernie (Bruch) rechnen, die verfälschend »Narbenhernie« genannt wird.96 Bei jährlich etwa 800 000 Eröffnungen der Bauchhöhle sind das mindestens 50 000 behandlungspflichtige Hernien.97 Trotz der Häufigkeit gibt es nicht einmal anerkannte Standards für Operationsdauer und Länge des Klinikaufenthalts mit der Folge, dass diese um den Faktor 4 (!) variieren können und mindestens 10 % der operierten Patienten eine erneute Hernie bekommen oder unter chronischen Schmerzzuständen leiden werden.98

Warum besitzt überhaupt das Entfernen von Organteilen als Therapie im Bauchraum einen so viel größeren Behandlungsstellenwert als anderswo im Körper? Natürlich sollte versucht werden, Tumoren, die noch nicht metastasiert haben, operativ zu entfernen. Aber was ist mit den ganzen Entzündungen? Ein entzündeter Wurmfortsatz wird als überflüssiges Überbleibsel der Entwicklungsgeschichte ohne Wimpernzucken entfernt, obwohl er doch tatsächlich ein Rückzugsraum für unsere Darmbakterien ist, um nach überstandener Entzündung mit Durchfall den Darm wieder besiedeln zu können. Auch würde niemand bei einer Lungenentzündung als Mittel der ersten Wahl einen Lungenlappen entfernen. Oder bei einer Nierenentzündung schnell einmal eine Niere, weil man ja noch eine zweite hat. In der Bauchchirurgie ist es allerdings Gesetz, bei einer Gallenblasenentzündung oder einer Divertikulitis (Entzündung von Ausstülpungen des Dickdarms) Gallenblase beziehungsweise den betroffenen Dickdarmabschnitt spätestens nach Abklingen der Akutsymptomatik herauszuschneiden. Denn es gilt das Dogma, dass sich Entzündungen unweigerlich wiederholen und das Komplikationsrisiko mit jeder Entzündung steigt. Klingt nachvollziehbar – nur, stimmt es nicht und ist nie nachgewiesen worden.

Landauf, landab ist dies jedoch die Basis des täglichen Geschäfts und inzwischen ohne Altersgrenze nach oben. Selbst risikoreiche Eingriffe am Herzen machen da keine Ausnahme: Seit dem Jahr 2000 haben sich die Herzoperationen an über 80-jährigen mehr als verdoppelt.99 Es scheint dabei keine Rolle zu spielen, dass sich Sterblichkeit und das Auftreten von Komplikationen jenseits des 65. Lebensjahres selbst für vergleichsweise kleine Operationen drastisch erhöhen: Das Sterberisiko nach einer Hernienoperation liegt fünffach, das für eine Gallenblasenentfernung je nach Begleiterkrankungen 10- bis 27-fach höher.100 Im derzeitigen Vergütungssystem bieten Begleiterkrankungen sogar noch einen Erlösanreiz! Organe, die als nicht überlebenswichtig gelten (Gallenblase, Magen, Gebärmutter), deren hormonelle Funktionen man medikamentös kompensieren zu können glaubt (Eierstöcke, Schilddrüse) sowie Organanteile (Wurmfortsatz, Dickdarmabschnitte) werden bei gutartigen Erkrankungen um ein Vielfaches häufiger entfernt als Organe, bei deren Entfernung erhebliche Beeinträchtigungen unvermeidlich oder technische Schwierigkeiten wahrscheinlicher sind (Harnblase, Leber, Bauchspeicheldrüse). Ein klares Indiz für die Krankheitsferne vieler Operationsindikationen.

Im Jahr 2014 hat erstmals eine Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie e. V. (DGAV) den Irrglauben der Operationsnotwendigkeit wenigstens für die Divertikulitis außer Kraft gesetzt.101 Auf der Basis der erschreckend wenigen verwertbaren Studien trotz der Häufigkeit des Krankheitsbilds besagt diese Leitlinie, dass eine Akutoperation nur bei einer freien Perforation sinnvoll und notwendig ist. Abszesse, die größer als 3 bis 4 cm sind, sollten bildgebend-gezielt drainiert und andernfalls antibiotisch therapiert werden. Doch auch der häufig unkontrollierten Antibiotikagabe bei der unkomplizierten Divertikulitis ohne Risikofaktoren fehlt jede Evidenz trotz jahrzehntelang geübter Praxis. Damit bestätigt sich, was sich schon lange vermuten ließ: Es wird bei abgekapselten Perforationen und Abszessen viel zu häufig notfallmäßig operiert, und das Komplikationsrisiko nimmt von Schub zu Schub nicht zu, sondern ab. Bisher war jeder nach dem zweiten Schub fällig für eine Operation – zahlreiche Komplikationen wie Nahtundichtigkeiten, Abszesse, Darmverschlüsse und Hernien inklusive. Die evolutionären Heilungsmechanismen dämmen das Krankheitsgeschehen aber ausreichend ein. Eine spätere Operation mit Entfernung des ehemals entzündeten Dickdarmabschnitts ist nur selten nötig (zum Beispiel bei Ausbildung einer narbigen Verengung).102 Operationen im »freien Intervall« (nach Abklingen der Krankheit in der Annahme, dass diese wiederkommen könnte), sollten nur bei Komplikationen erwogen werden.103 Man darf allerdings bezweifeln, dass dies die Operationshäufigkeit hierzulande beeinflussen wird …