Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Ein Kriminalroman. Die Serie "Meisterwerke der Literatur" beinhaltet die Klassiker der deutschen und weltweiten Literatur in einer Sammlung.
Das E-Book Der Bischof in Not wird angeboten von Jazzybee Verlag und wurde mit folgenden Begriffen kategorisiert:
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 216
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Der Bischof in Not
David Christie Murray
Inhalt:
David Christie Murray – Biografie und Bibliografie
Der Bischof in Not
Einleitung.
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Der Bischof in Not, D. C. Murray
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
86450 Altenmünster, Loschberg 9
Deutschland
ISBN:9783849632427
www.jazzybee-verlag.de
www.facebook.com/jazzybeeverlag
Englischer Schriftsteller, geboren am 13. April 1847 in High Street, West Bromwich, Staffordshire, verstorben am 1. August 1907 in London. Eines von elf Kindern des Druckers William Murray, in dessen Büro er schon mit zwölf Jahren arbeiten musste. Begann eine journalistische Karriere beim Wednesbury Advertiser und bei der Birmingham Morning News. 1865 Umzug nach London, ab 1871 arbeitete M. für die Daily News als parlamentarischer Reporter. Immer wieder zieht es ihn auch ins Ausland. Unter anderem berichtet er für mehrere Zeitungen vom Krieg zwischen Russland und der Türkei 1877/1878. In der Folge lebt und arbeitet er in Belgien und Frankreich.
Wichtige Werke:
Aunt Rachel (1886)By the gate of the sea (1883)Capful o' nailsIn direst perilJoseph's coat (1881)A life's atonement (1879)Rainbow gold (1885)Val Strange (1882)Ob mich wohl mein Freund, der Verleger, dadurch zu Danke verpflichten wird, daß er die Lärmtrommel für mich schlägt?
Im voraus besten Dank, mein Herr!
Meine Damen und meine Herren! Ich bitte ergebenst um Ihre freundliche Aufmerksamkeit. Das Ziel meiner Reise ist Balsora, und das ist, wie alle Welt weiß, die Heimat der Abenteuer. In Balsora kann alles vorkommen. Dort sind die Damen so schön, daß man sich auf den ersten Blick in sie verliebt, und so überaus gütig und treu, daß kein wahrer Liebender vergeblich seufzt. Abenteuer gibt es in jeder Ecke dieser staunenswerten Stadt, und ich bin in alle Geheimnisse der Abenteurer eingeweiht. Balsora ist der Ort, wo die Tugend stets belohnt und das Laster unfehlbar bestraft wird; in Balsora braucht man nur ein kühnes und ehrliches Herz zu haben, und die Tochter des Großveziers ist ohne Zögern bereit, mit einem zur Moschee zu gehen und einen großen Beutel der prachtvollsten Edelsteine nebst einer langen Karawane von Kamelen mitzubringen, die alle mit blanken Zechinen beladen sind. In Balsora gibt es die abgefeimteste Art von Schurken; aber ihre Ränke enden mit Niederlagen, und sie sind nur da, um zur Freude und Erbauung der Guten Prügel zu bekommen. Nirgends gibt es ein gleich grausames und erbarmungsloses Volk als in Balsora, nirgends ein sanfteres und edelmütigeres. Die Mütter der ganzen Welt beten die Kinder von Balsora an, deren unschuldiger Reiz über alles Lob erhaben ist, und die Männer der Stadt haben die Gabe "des schönen Lachens voll offener Fröhlichkeit und liebenswürdigen Spottes", dessen Seltenheit bei den Völkern unsrer Zeit so tief vom französischen Dichter beklagt worden ist.
Meine Damen und meine Herren! Sie sehen diesen Teppichstreifen, den ich Ihnen zur Besichtigung hinhalte. Obgleich gegenwärtig von sehr geringen Abmessungen, hat er doch wunderbare Eigenschaften, denn er ist nichts andres, als der echte fliegende Teppich, mit dessen Hilfe sich sein Besitzer an jeden beliebigen Ort versetzen kann. Auch Freunde und Bekannte, die den Mann begleiten wollen, darf er mitnehmen. Wie jeder andre Müßiggänger, meine lieben Freunde, muß auch ich von meinem Geschäfte leben, aber der Preis für einen Platz auf dem fliegenden Teppich ist gering, und es ist Raum genug für alle vorhanden.
Also einsteigen nach Balsora, Balsora, Balsora! Wer will mit nach Balsora?
Keineswegs, mein verehrter Herr! Ich bin weder so einfältig, noch so undankbar, auch nur einen Augenblick zu behaupten, daß es nicht noch mehr Teppiche in der Welt gäbe, indes viele ihrer Besitzer haben in der letzten Zeit ihre Reisen nach Balsora eingestellt, zum Beispiel Sie selbst. Sie sind so gütig, mir eine Fahrt auf eine hohe Bergspitze anzubieten; allein ich muß danken, denn ich gehe nach Balsora. Und Sie auch, mein Herr. Für manche genußreiche Reise in Ihrer Gesellschaft bin ich Ihnen dankbar, dessen dürfen Sie sich versichert halten. Wenn unser Weg derselbe ist, kenne ich keinen besseren Zauberer zum Wandergenossen; aber in der letzten Zeit wollen mir die Orte, die Sie aufgesucht haben, nicht gefallen, ebensowenig die Kameraden, denen Sie mich dort vorgestellt haben. Mit aller Freundlichkeit, aber auch mit aller Festigkeit muß ich es aussprechen, ich will nicht nach Christminster gehen. Mein Ziel ist Balsora. Und Sie, verehrungswürdiger Freund! Ihr weiches Haar und ihr Bart und Ihre etwas zornig blickende Brille kommen mir bekannt vor. Hochschätzbare Rose von Norwegen, Sie haben keinen Paß für Balsora und das ist mein Ziel.
Was? Sind wir alle beisammen? Alle Reisenden für Balsora? Mein lustiger Gentleman von Frankreich, heben Sie mir einen Platz für Ihre nächste Reise auf; und Sie, Freund Sherlock, Sie sollen keine Fahrt mehr ohne mich machen. Holla! Meine offizielle Frau! Keine Botschaft für Mr. Barnes von New Jork, Sie, reizende Miß Niemand? Und ihr würdigen Frauen, Mrs. Lecks und Mrs. Aleshine, wann wollt ihr die Schwimmgürtel wieder anlegen und majestätisch gen Balsora schweben, um der Schwiegermutter eure schnurrige Geschichte zu erzählen? Gott sei mit euch!
Beim Himmel, meine Herren, Sie machen mich stolz auf mein Geschäft!
Aber ich muß auch darauf passen. Wollen Sie so gefällig sein, meine Damen und meine Herren, auf den Teppich zu treten? Platz ist für alle. Euer Gnaden werden nicht vom Schornsteinfeger rußig und vom Bäcker weiß gemacht werden Es ist hinlänglich Raum vorhanden und ein Coups erster Klasse für jeden Teilnehmer an unsrem Ausflug bereit gestellt
Zum letztenmal, liebe Freunde! Balsora! Wer will mit nach Balsora?
Vorwärts!
*
Wie ihr seht, sind wir im Londoner Teil der großen Stadt der Abenteuer, die, wie ich euch erklären muß, eine getreue Nachbildung jeder Stadt, jedes Fleckens und jedes Dorfes der bewohnten Erde enthält. Wir gehen die Straße hinab, die Regent Street genannt wird, und es ist halb drei Uhr an einem Sommernachmittag.
Seht ihr, der Fahrdamm ist voll Wagen und die Bürgersteige gedrängt voll von Fußgängern, denn die Saison hat ihren Höhepunkt erreicht.
In der ganzen Menge ist nicht ein einziger Mann, keine Frau und kein Kind, die nicht einen Faden hinter sich herschleppten. Diese Faden sind von den verschiedenartigsten Stoffen, allen möglichen Farben und ganz ungleich an Stärke. Einige sind von Gold und doch so leicht wie Sommerfaden, andre von Hanf und sehr schwer. Manche sind von Eisen und gewichtig, oder leicht, je nach dem Charakter der Träger. Die einzelnen Menschen, die die Menge bilden, winden sich ein und aus, trage und geschäftige, vornehme und geringe, grausame und gütige, schöne, häßliche, reiche und arme, wechselnd, immer wechselnd, und doch bleibt das Bild für kurze Zeit dasselbe.
Die Fäden werden, wie ihr wißt, jedem Hans und jedem Gretchen schon in der Wiege angehängt, und immer schleppen sie sie nach, bis sie am Rande des Grabes abreißen. Diese Faden verweben sich unaufhörlich zu einem Muster, und auch mein Teppich ist aus ihnen gewoben.
Wem sollen wir folgen? Natürlich den Leuten, die die beste Geschichte haben. Ich für meine Person wähle dort den Mann mit den gefärbten Haaren, Augenbrauen und Schnurrbart, der einen Hanfstrick hinter sich herzieht. Auch den jungen Herrn mit dem vielfarbigen Seidenfaden nehme ich mit, denn ich kenne ihn als treuen Liebhaber; ebenso das hübsche Mädchen mit dem nachschleifenden Goldfaden, vor allem aber den Bischof von Stockestithe im Priesterhut und mit der Schürze, und den schrecklichen Strolch, seht ihr ihn? mit seinem unglaublichen, von einem Düngerhaufen aufgelesenen Hute und dem Faden von versengtem Packseil.
Sie alle wandeln verschiedene Wege, aber ihre Fäden verwickeln sich und fangen an, sich zu einem Muster zu verweben, das gewiß seltsam werden wird.
Wie viele Hunderte von schönen Mädchen sind schon die Regent Street hinabgegangen? Wie viele Tausende? Wie vielmal Zehntausend? An einem sonnigen Nachmittage der Londoner Saison kann man sie schockweise sehen, dunkel und blond, groß und klein, zierlich und stattlich, ja, ich bin so kühn, zu glauben, daß es keine Straße in der Welt gibt, wo sich Herz und Auge am Anblick schöner Mädchen so erquicken können, und daß die strahlende, frische, gesunde, und ehrliche Schönheit der englischen Mädchen auf der ganzen Welt nicht ihresgleichen findet. Natürlich sind unsre reizenden Cousinen in den Kolonieen und der großen amerikanischen Republik mit eingeschlossen. Ohne Besorgnis, auf Widerspruch zu stoßen, dürfen sich die englisch sprechenden Nationen der Welt rühmen, daß ihre Töchter die schönsten unter den Töchtern der Menschen sind.
Das oder etwas Aehnliches war es, was ich meinem jungen Freunde Tom Finch sagte, als wir an einem Nachmittage Mitte Mai 1894 die Regent Street hinabgingen. Das alles oder etwas sehr Aehnliches habe ich schon vielen andern Leuten gesagt, denn es ist eine meiner Lieblingsbehauptungen, eine der wenigen Flüchte langjähriger Reisen.
"Jawohl, Verehrtester," sagte ich, vielleicht durch meine eigene Beredsamkeit zu ungewöhnlicher Begeisterung entflammt, "dieses glückliche Pflaster ist schon von Hunderttausenden der schönsten Mädchen der Welt betreten worden."
"Sehr richtig," entgegnete Tom, "und dort kommt das schönste von allen."
Weniger als eine halbe Minute später stand die in so schmeichelhafter Weise beschriebene junge Dame vor ihm, und ihre fein behandschuhte Hand ruhte in der seinen. Tom grüßte und ließ seinen kurz geschorenen und sauber gebürsteten Kopf unbedeckt. Er sowohl, wie das junge Mädchen war errötet. Vielleicht stimmte ich der übertriebenen Lobrede, die er soeben gehalten hatte, nicht ganz bei; denn möglicherweise war ich der Ansicht, daß es noch schönere Mädchen gebe. Ihre Züge waren nicht besonders regelmäßig, aber sie hatte die Hautfarbe, die man nur bei Mädchen unsrer Rasse und bei Blumen sieht, das süße Rot der Gesundheit und das Weiß der Reinheit, wie das einer weißen Rose. Sie war geschmeidig wie eine Weidenrute oder der Stengel einer Lilie, ihre Augen waren offen und unerschrocken, furchtlos und treuherzig, wie die eines Knaben. Auch an Form und Farbe waren sie schön, und was ihre Zähne anlangte, so "hieße es, die Schönheit von Fleisch und Blut und Elfenbein verleumden, wenn man von Korallen und Perlen sprechen wollte". Diesen Satz, dessen Wahrheit ich oft empfunden habe, entleihe ich mit Dank und Gruß einem älteren Schriftsteller, Wenn demnach die junge Dame den Lobeserhebungen meines Freundes nicht ganz entsprach, so machte sie doch einen reizenden Versuch, es zu thun, und wenn ich mich nicht selbst Hals über Kopf in sie verliebte, so kann ich als Milderungsgrund geltend machen, daß ich fünfzig Jahre alt bin und mir mein ältester Junge diesen Zweig des Familiengeschäftes aus der Hand genommen hat.
Mir wurde die Ehre zu teil, diesem reizenden Mädchen vorgestellt zu werden, und dadurch erfuhr ich, daß sie die Tochter eines alten Bekannten, des Bischofs von Stockestithe, war, und als mir plötzlich einfiel, daß ich etwas zu thun hatte, und mit der nächsten Droschke nach dem Klub fuhr, um als Viertel bei einem Rubber Whist einzuspringen, hatte ich durchaus keine bösen Absichten gegen den Frieden dieses würdigen Kirchenfürsten. Ich habe Tom gern, und ich hoffe, er wird mir erlauben, ihn immer gern zu haben; auch hatte er mich schon ins Vertrauen gezogen, wogegen ich, offen gestanden, gar keine Sympathie für den Bischof fühlte. So lange nämlich Toms Onkel, Sir Alfred Finch, unverheiratet geblieben war – und er war schon über sechzig Jahre alt, als er sich verheiratete – war der Bischof sehr entgegenkommend gegen Tom gewesen. Dieser hatte die Aussicht, Baronet zu werden und ein hübsches Vermögen zu erben, und war mit Einwilligung von Lucy Durgans Vater mit ihr verlobt gewesen. Jetzt hatte aber der Baronet einen unmittelbaren Erben, während Tom nichts in der Welt besaß als seinen hellen Verstand, seine männliche Natur und dreihundert Pfund Jahreseinkommen, das zur Grundlage seines weiteren Fortkommens dienen mußte. Deshalb war seine Lordschaft verschnupft, wie die Leute sagen, und hatte Tom die Thür seines bischöflichen Palastes gewiesen und ihm zu verstehen gegeben, es sei fortan seine Christenpflicht, diese nur noch von außen zu betrachten. Allein der junge Mann dachte anders und lehnte es rundweg ab, das Versprechen zu geben, das der ältere Herr von ihm forderte. Von diesem Auftritt kam er geradeswegs nach London und zu mir.
"Ich habe ihm gesagt," erzählte Tom, der für den Augenblick viel zorniger auf den Bischof war, als zu sein er das Recht hatte, "daß ich derselbe Mann sei, den er für würdig gehalten habe, der Gatte seiner Tochter zu werden. Ich bin's freilich nicht." Dies sprach er in Parenthese. "Niemand ist das, allein das habe ich ihm nicht gesagt. Ich habe ihn nur darauf aufmerksam gemacht, daß ich kein andrer geworden sei und daß ich mich auch nicht zu verändern gedenke, außer zum Bessern. Lucy und ich hätten schon über die Sache geredet und wären übereingekommen, zu warten. Sie habe mir versprochen, daß nichts auf Erden uns trennen solle, und habe mir gesagt," – hier stieg ein tiefes Rot in seine Wangen – "daß sie mich liebe und fest zu mir stehen wolle. Lucy ist ein Prachtmädel, das schneidigste Mädchen, das ich je kennen gelernt habe, und zuverlässig wie Bayards Schwert, so daß ich mir nach dieser Richtung hin gar keine Sorgen mache. Ihr Vater kann thun, was er mag, und außer daß sie viel zu leiden haben wird, die Aermste, bleibt alles beim alten. Ich versichere Ihnen, ich werde vorwärts kommen in der Welt, und es wird mir schon gelingen, von irgend einer abgelegenen Ecke dieses alten Planeten ein paar goldene Späne abzuhauen Der alte Durgan" – das war die Art, wie er vom Bischof sprach – "forderte ein Versprechen von mir, daß ich weder an sie schreiben, noch versuchen wolle, sie zu sehen, und verlangte, ich solle mit untergeschlagenen Armen der Vernichtung meiner Hoffnungen zusehen. Aber ich habe ihm geantwortet: nein, mein verehrter Herr, und habe ihm gesagt, daß ich Lucy ihre Freiheit angeboten, daß sie mich aber ausgelacht hatte, und daß ich meinen Abschied nur von ihren eigenen Lippen annehmen würde und von niemand sonst. Wenn sie mir sagte, wir müßten uns trennen, würde ich sofort gehorchen, bis dahin aber bliebe ich ihr Liebhaber, ihr gehorsamer Diener und ihr Verlobter. Mit allen Kräften wolle ich danach streben, einen eigenen Herd für sie zu gründen, und dann wolle ich sie heimführen, damit sie dessen Sonne sei, und ich wolle ihn heilig halten bis zu meinem letzten Augenblick, und das würde ich durchsetzen trotz aller Bischöfe der Welt."
Im ganzen genommen mußte ich Tom recht geben, aber ich veranlaßte ihn doch, einen Brief zu schreiben, worin er sein Bedauern über gewisse Dinge aussprach, die er in der Hitze des Augenblicks gesagt halte.
Der Brief wurde abgeschickt, und es kam eine sehr steife und förmliche Antwort darauf.
Kurz danach hatte der hochwürdige Herr seine Tochter zu ihrer Tante geschickt, mit der sie ein Jahr in Brüssel und an der Riviera gelebt hatte. Während dieser Zeit hatte sie mehrere Ries Papier zu Briefen an Tom verbraucht, und dieser mehrere Ries zu Briefen an sie. Die erzählte Begegnung in der Regent Street war das erste wirkliche Zusammentreffen seit dem beklagenswerten Vorfalle in Stockestithe; denn Tom hatte sie nach ihrer Rückkehr zwar einmal gesehen, aber nur einen Gruß mit ihr wechseln können.
Noch an demselben Abend brachte ich die ganze Geschichte aus ihm heraus, oder es wäre wohl richtiger, zu sagen, er brachte die ganze Geschichte in mich hinein: denn ich war weiter nichts als das Gefäß, worein sich seine Erzählung ergoß. Er müsse sprechen, sonst würde er platzen, sagte Tom, worauf ich ihn ersuchte, lieber nicht zu platzen, so daß ich mich also für die andre Wahl entschied. Lucy sei das reizendste Mädchen, sie sei auch das schneidigste und hätte sich nicht um ein Haar verändert. Das würde sie auch nicht thun, denn sie wisse ja gar nicht, was es heiße, ungetreu zu sein. Ob sie nicht ein schönes Mädchen sei? Ob ich jemals ein schöneres gesehen hätte? Darauf nannte ich meine Frau, die dreiundvierzig Jahre alt war; und Tom brach in ein brüllendes Gelächter aus, wurde aber gleich darauf sehr verlegen und bat mich in schmerzlicher Zerknirschung um Entschuldigung. Es war ein peinlicher Auftritt – für Tom, und ich sagte ihm mit gebührendem Ernst, daß ich ein Vierteljahrhundert früher jeden, der sich in dieser Weise benommen hätte, durchgeprügelt haben würde.
Wie bereits erwähnt, mag ich Tom gern leiden, und das thun die meisten Leute. Allerdings prahlt er ein bißchen und hält sehr viel von sich, aber er ist ehrlich wie der Tag, ein guter, hochherziger, durch und durch ehrenwerter junger Mann von vierundzwanzig Jahren. Die Eitelkeit, die einstweilen sein einziger Fehler ist, aber nie eine verletzende Form annimmt, wird ihm das Leben schon austreiben, wie es das mehr oder weniger bei jedem thut. Thatsächlich ist sie weiter nichts als die Folge der Jugend, der Gesundheit, der überströmenden Lebensgeister und überschwenglichen Hoffnungsseligkeit. Er will in der Welt vorwärtskommen und zweifelt nicht daran, daß er sie besiegen und sich einen Platz darin erringen kann. Die Tochter des Bischofs betet er an, ist aber dabei doch ehrlich genug, von ganzem Herzen anzuerkennen, daß sie zu gut für ihn ist. Das ist ein sehr gutes Zeichen, denn ein Mann, der nicht das Zeug dazu in sich hat, wenigstens einmal in seinem Leben ein Weib aufrichtig anzubeten, ist nicht viel wert.
Sein kräftiger und entschlossener Schritt gefällt mir, ebenso sein Gesicht mit dem frischen, knabenhaften Ausdruck. Auch seine jugendliche Begeisterung und seine zuversichtliche Sprechweise, die vollkommen aufrichtig ist, gefallen mir. Sein Haß gegen alle Weltlichkeit und Heuchelei, Kälte des Herzens, Selbstsucht, Feigheit und alles Gemeine sprechen mich an, seine achtungsvolle Ehrerbietung gegen Aeltere, eine Tugend, die ihm der Bischof ohne Zweifel nur in geringem Maße zuerkennt, und seine ritterliche Aufmerksamkeit gegen alte und häßliche Frauen ziehen mich zu ihm hin. Wenn ich ihn auffahren sehe und gegen tausend Dinge losdonnern höre, die seinen Zorn erregen, so macht nur das Freude. Ich sehe es gern, wenn er mitten in einer solchen Rede abbricht, um mit den kleinen Eindringlingen aus der Kinderstube unterm Tische Bär zu spielen, denn in einem seinen jungen Herrn von vierundzwanzig Jahren, der kleine Kinder wahrhaft und ungeheuchelt gern hat, steckt nichts Böses, und das kann man auch von Tom sagen.
Deshalb nehme ich in gewissem Maße Toms Partei gegen den Bischof, und diesem Umstände verdanke ich es, daß ich jetzt in der Lage bin, diese seltsame und höchst merkwürdige Geschichte so zu erzählen, als ob sie sich von Anfang bis zu Ende vor meinen Augen zugetragen hatte. –
*
"Tom," sprach Lucy, nachdem ich die beiden verlassen hatte, "ich möchte gern frühstücken. Führe mich irgend wohin, wo wir ungestört sind und ruhig sprechen können, denn ich habe dir hunderterlei zu sagen."
Tom führte sie in ein seines Restaurant, wo zu dieser Tageszeit wenig Verkehr herrschte. Dort bestellte er ein ausgesuchtes kleines Frühstück für die Dame seines Herzens, die sich überreden ließ, ein einziges Glas Champagner anzunehmen, während Tom den Rest der kleinen Flasche als seinen Anteil am Mahle trank. Ihre Plätze hatten sie am Ende eines Tisches in einer Art Nische gewählt, die mit Palmen und Blumen geschmückt war. Ich kenne die Ecke sehr gut und bin überzeugt, daß sie ihren Zwecken vollkommen entsprach. Außer ihnen war niemand als eine Kellnerin im Saale anwesend, und die kam nur, wenn sie gerufen wurde. Als die junge Dame den Handschuh von ihrer einem Rosenblatte gleichenden Hand abgestreift hatte, hielt sie errötend, aber stolz und mit einem Blicke hübscher Zuversicht in den Augen einen Finger in die Höhe. Toms Verlobungsring glänzte an der Stelle, wohin er ihn vor achtzehn Monaten gesteckt hatte. Wir dürfen wohl annehmen, daß Tom den Ring und die Hand, die ihn trug, küßte, wenn sich die Kellnerin in diesem Augenblick am andern Ende des Saales aufhielt. Die Leutchen bildeten einen sehr anziehenden Gegenstand der Beobachtung in ihrer geschützten Ecke: zwei getreue, warmherzige junge Liebende, die ein Jahr getrennt gewesen sind, mit den höheren Gewalten auf Kriegsfuß stehen und viel gelitten haben, wie junge Leute eben leiden können.
Obgleich ich weder Mordbrenner, noch Anarchist, noch ein Aufwiegler bin, hat doch diese Art von Widerstand meinen Beifall. Der gute Junge und sein liebes kleines Mädchen haben die Erlaubnis gehabt, einander zu lieben, der väterliche Segen war ihnen zu teil geworden, und ihre aufrichtige Liebe war von allen Seiten begünstigt und gebilligt worden. Und nun kommt die weltliche Klugheit und predigt dem Herzen des Mädchens Verrat. "Er war früher eine gute Partie, aber er ist das nicht mehr. Die schönen Hoffnungen, die zu hegen er fast von der Wiege an gelehrt worden war, sind zu Wasser geworden; also gib ihn auf. Benutze diesen Augenblick seiner Entmutigung, um ihm zu sagen, daß das einzige Geschöpf, das er liebt und schätzt, eine kalte und herzlose kleine Person ist, die eine reiche Verbindung höher schätzt als alles andre in der Welt."
Kann man sich wundern, wenn sie dies für niedrig und grausam hält, daß ihr Herz sich in leidenschaftlich zärtlichem Widerspruch gegen diese weltliche Selbstsucht auflehnt? Kann man sich wundern, wenn er sie für ein Muster von Beständigkeit hält und sie nur noch inniger liebt?
Eine himmlische, glückliche Stunde saßen sie beisammen, erneuerten ihr Gelübde, besprachen Toms Pläne und wandelten dann wie auf Luft aus diesem märchenhaften Restaurant nach der Regent Street zurück. Als sie diese erreicht hatten, standen sie plötzlich Angesicht zu Angesicht dem Bischof gegenüber. Tom und das junge Mädchen wurden kreideweiß, der Bischof purpurrot und Lucys Tante, die neben dem Bischof im Wagen faß, wurde gelbgrau. Tom nahm den Hut ab, und der Bischof sah ihn wütend an.
"Ich habe mit Mr. Finch gefrühstückt, Papa," sprach Lucy ruhig, indem sie an den Wagen trat, "Du entsinnst dich doch Mr. Finchs noch?" fragte sie, denn der Bischof ließ Toms Gruß in seinem entrüsteten Erstaunen unerwidert.
"Steig ein, Lucy," sagte Mrs. Raimond, "ich fahre nach Hause."
"Mr. Finch wird so freundlich sein, mich nach Hause zu begleiten, liebe Tante," entgegnete Lucy.
"Heute nicht," fiel ihr Vater ein. "Es ist schon lange her, seit ich Gelegenheit hatte, mit Mr. Finch zu sprechen, und ich habe ihm etwas Wichtiges mitzuteilen."
Lucy, in deren Wangen die Farbe zurückgekehrt war, reichte Tom die Hand.
"Dann adieu für heute, liebster Tom," sprach sie dabei.
"Adieu, mein Liebling," antwortete Tom auf dieses Stichwort.
Mrs. Raimond fuhr mit einem Ruck in die Höhe, wie man auffährt, wenn man eine zu große Gabe einer starken Medizin genommen hat, und Lucys Vater sah seine Tochter an, konnte aber vor Aerger kein Wort hervorbringen.
Der Wagen hatte nur wegen einer augenblicklichen Stockung des Verkehrs gehalten und setzte sich jetzt wieder in Bewegung, wobei er Miß Durgan entführte und ihren Vater am Randstein des Bürgersteigs stehen ließ
Obgleich von schlanker Gestalt und nur mittlerer Größe, war der Bischof doch ein Mann von sehr würdevoller Haltung, einer von den Leuten, die die Fähigkeit haben, unausstehlich höflich und in ihrer Höflichkeit so kalt und schneidend zu sein wie ein Ostwind. Nach wenigen Schritten war seine Kälte unter den Gefrierpunkt gesunken.
"Wir sind nicht weit von Portland Place," begann er, "und dort ist es gewöhnlich sehr ruhig, so daß wir ohne Störung werden sprechen können, Mr. Finch."
Mr. Finch neigte das Haupt in achtungsvoller Zustimmung, worauf die beiden schweigend nebeneinander weiter schritten, bis sie aus der drängenden und schlendernden Menschenmenge heraus waren und die Sahara von Sandsteinen und Macadam erreicht hatten, die so still in der Nahe lag.
"Bei unserm letzten Meinungsaustausch, Mr. Finch," sprach der Bischof, "glaube ich Ihnen mit hinreichender Deutlichkeit zu verstehen gegeben zu haben, daß ich Ihren Verkehr mit meiner Tochter nicht dulden könne."
Als ob er eine Antwort erwartete, hielt er inne, aber Mr. Finch gab keine, außer einer kaum merklichen Neigung des Kopfes.
"Ich habe diesen Wunsch so deutlich und klar ausgesprochen," fuhr er demnach fort, "als es mit Worten nur möglich ist."
Mr. Finch neigte wieder das Haupt, und der Bischof stieg innerlich auf einen weit über dem Gefrierpunkt liegenden Hitzegrad, wahrend er äußerlich immer eisiger wurde.
"Wollen Sie die Güte haben, Mr. Finch, mir zu sagen, ob es mir damals nicht gelungen ist, meine Wünsche verständlich zu machen?"
"Sie haben Ihr Verlangen vollkommen verständlich gemacht," entgegnete Tom, der durch diese direkte Frage gezwungen war, sein Schweigen zu brechen.
"Dann, Mr. Finch," fuhr der Bischof fort, "werden Sie so gütig sein, mir zu sagen, warum ich von neuem die Wahrnehmung machen muß, daß Sie sich meiner Tochter aufdrängen."
"Euer Lordschaft bedienen sich eines falschen Ausdrucks," erwiderte Tom. "Aufdringlich zu sein, ist gar nicht meine Art."
"Auf Wortklaubereien werde ich mich nicht mit Ihnen einlassen, Herr," versetzte der Bischof. "Ich habe von Ihnen verlangt, daß Sie die Verfolgung meiner Tochter einstellen. Ein Mann von Ehre, Mr. Finch, pflegt ein solches Verlangen zu berücksichtigen."
"In der Regel wird ein Herr nicht beschuldigt, die Dame, mit der er verlobt ist, zu verfolgen," antwortete Tom, der das Gefühl hatte, daß der Bischof im Begriffe sei, seine Ruhe zu verlieren, und daß es für ihn um so notwendiger sei, die seine zu bewahren.
"Ich hatte mich der Hoffnung hingegeben, daß dieser Unsinn abgethan sei," fuhr Miß Durgans Vater fort.
"Wenn Sie mir gestatten, Mylord," erwiderte Tom, "so muß ich Ihnen mit aller Hochachtung und von dem Wunsche beseelt, Sie nicht zu verletzen, sagen, daß es kein Unsinn, sondern eine sehr ernste Thatsache und weit davon entfernt ist, abgethan zu sein, wie Sie sich ausdrücken."
Diese Antwort reizte den Vater so, daß es ihn große Mühe kostete, ruhig zu bleiben, aber es gelang ihm, wieder unter den Gefrierpunkt zu sinken, ehe er antwortete: "Mit der ganzen Gewalt und dem Ansehen, die mir als Vater zustehen, verbiete ich Ihnen, Mr. Finch, meine Tochter in ihrer Auflehnung gegen meinen Willen zu bestärken."