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Verschwörungen, Intrigen, Gefahr der Da-Vinci-Code für Leser ab 11 »Verrate es niemandem.« Bis zu dieser rätselhaften Warnung war Christopher Rowe eigentlich zufrieden mit seinem Leben als Lehrling des Apothekermeisters und Alchemisten Benedict Blackthorn. Er hatte ein Dach über dem Kopf, sein Meister lehrte ihn nicht nur, wie man Mittel gegen Warzen herstellt, sondern auch, wie man verschlüsselte Botschaften knackt und Rätsel löst. Doch das alles ändert sich, als eine Serie mysteriöser Morde London heimsucht. Fast immer sind es Alchemisten, die getötet werden. Christopher spürt, dass sein Meister in Gefahr ist. Ihm bleibt nur wenig Zeit, die Mörder zu enttarnen und hinter ein Geheimnis zu kommen, das so mächtig ist, dass es die Welt zerstören ka
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Seitenzahl: 351
Kevin Sands
Der BLACKTHORN-CODE
Das Vermächtnis des Alchemisten
Aus dem amerikanischen Englisch von Alexandra Ernst
Die Rezepte in diesem Buch wurden früher tatsächlich von Apothekern eingesetzt. Das ist heute nicht mehr so, und zwar aus gutem Grund: Einige sind nicht gerade vertrauenswürdig, andere gefährlich und wiederum andere schlichtweg tödlich. Daher die eindringliche Bitte: Nicht nachmachen!
Unter gar keinen Umständen. Das ist mein Ernst.
Ich hab’s!
Meister Benedict war kein bisschen überrascht. Er behauptete, in den vergangenen drei Jahren habe er schon mehrmals geglaubt, es sei mir gelungen. Und doch dauerte es bis zum Tag vor meinem vierzehnten Geburtstag: Plötzlich stand mir alles so klar und deutlich vor Augen, dass ich dachte, der Herrgott selbst hätte es mir eingeflüstert.
Mein Meister ist der Ansicht, dass Augenblicke wie dieser für die Nachwelt festgehalten werden sollten. Also habe ich, wie er mir befahl, meine Formel aufgeschrieben. Mein Meister schlug folgenden Titel vor:
Die dämlichste Idee, die die Welt je gesehen hat.
Von Christopher Rowe,
Lehrling von Meister Benedict Blackthorn, Apotheker
Vorgehensweise:
Man durchwühle die privaten Aufzeichnungen seines Meisters, finde ein Rezept, das mit einem Code verschlüsselt ist, und enträtsele die Bedeutung. Als Nächstes stehle man die benötigten Zutaten aus den Vorräten seines Meisters. Schließlich, und dies ist der wichtigste Schritt, gehe man zu seinem besten Freund, einem Jungen von beherztem Wesen und erbärmlichem Urteilsvermögen, gleich dem eigenen, und spreche die folgenden Worte: Bauen wir eine Kanone!
»Bauen wir eine Kanone«, sagte ich.
Tom hörte mir nicht zu. Er war äußerst konzentriert, hatte die Zunge zwischen die Zähne geschoben und machte sich für einen Nahkampf mit dem ausgestopften schwarzen Bären bereit, der in der vorderen Ecke des Ladens aufrecht auf den Hinterbeinen stand. Tom streifte sein Leinenhemd ab und schleuderte es theatralisch über die Antimon-Becher, die auf dem Verkaufstisch seitlich des offenen Kamins standen. Von dem Eichenregal neben ihm schnappte er sich den Deckel eines Arzneikruges – »Blackthorns Warzen-Wunder«, wie das Etikett besagte – und hielt ihn schützend vor sich, ein Miniaturschild aus Steingut. In der rechten Hand schwang er drohend ein Nudelholz.
Tom Bailey, Sohn von William dem Bäcker, war der stattlichste Möchtegern-Soldat, den ich je gesehen hatte. Obwohl nur zwei Monate älter als ich, war er einen ganzen Kopf größer und hatte den Körperbau eines Waffenschmieds, wiewohl eines leicht pummeligen, was dem regelmäßigen Verzehr der Kuchen seines Vaters geschuldet war. Und in der Behaglichkeit von Meister Blackthorns Laden, weit weg von den Schrecken der Schlacht – von Tod, Schmerz oder auch nur einem blauen Fleck –, kannte Toms Mut keine Grenzen.
Er funkelte den leblosen Bären an. Die Bodendielen knarrten, als er vortrat und sich in die Reichweite der gefährlich aussehenden Krallen begab. Tom schob die Vitrine beiseite, wobei die Messinggewichte der Waage klingelnd gegeneinanderstießen. Dann hob er das mehlbestäubte Nudelholz zu einem militärischen Gruß. Der erstarrte Bär antwortete mit einem stummen Gebrüll, seine zentimeterlangen Zähne kündeten von dem fast sicheren Tod. Zumindest aber – und das mit absoluter Sicherheit – von mühseligem Polieren.
Ich saß im Hintergrund auf dem Tresen, ließ die Beine baumeln und trommelte mit den Fersen gegen das geschnitzte Zedernholz. Ich konnte warten. Man musste Geduld haben, wenn man mit Tom befreundet war. Hatte er einmal an einem Gedanken Gefallen gefunden, ließ er nicht so schnell wieder davon ab.
»Ihr glaubt wohl, Ihr könntet meine Schafe stehlen, was, Meister Bär?«, sagte er. »Seid gewarnt, ich kenne dieser Tage kein Erbarmen!« Dann hielt er mitten in der Bewegung inne, das Nudelholz zum Angriff erhoben. Ich konnte buchstäblich mitverfolgen, wie sich die kleinen Rädchen zwischen seinen Ohren in Bewegung setzten. »Warte mal. Was?« Verdattert schaute er über die Schulter hinweg zu mir. »Was hast du gesagt?«
»Bauen wir eine Kanone«, wiederholte ich.
»Was soll das heißen?«
»Was denkst du denn, dass es heißen soll? Du und ich, wir bauen eine Kanone. Du weißt schon.« Ich riss die Arme hoch. »BUMM!«
Tom runzelte die Stirn. »Das geht nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil man nicht einfach eine Kanone bauen kann, Christopher.« Aus seinem Mund klang das, als würde er einem kleinen, dummen Kind erklären, warum es kein Feuer essen dürfe.
»Aber so entstehen Kanonen«, sagte ich. »Man baut sie. Oder glaubst du, Gott lässt sie zur Fastenzeit auf die Erde herabregnen?«
»Du weißt genau, wie ich das meine.«
Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich verstehe nicht, warum dich die Vorstellung nicht mehr begeistert.«
»Vielleicht, weil meistens ich derjenige bin, der für deine verrückten Ideen büßen muss.«
»Was für verrückte Ideen? Ich habe keine verrückten Ideen!«
»Auf den ›Stärkungstrank‹, den du erfunden hast, habe ich die ganze Nacht lang kotzen müssen«, sagte er. »Die ganze Nacht lang!«
Er hatte tatsächlich dunkle Augenringe. »Ah, ähm … Ja, tut mir leid.« Ich zog den Kopf ein. »Wahrscheinlich habe ich zu viel Geheimnisschnecke zugegeben. Es hätte deutlich weniger Schnecke dabei sein sollen.«
»Es hätte auch deutlich weniger Tom dabei sein sollen.«
»Sei doch nicht so eine Heulsuse«, tadelte ich. »Erbrechen ist gut für dich. Das bringt deine Körpersäfte ins Gleichgewicht.«
»Ich mag meine Körpersäfte so, wie sie sind«, sagte er.
»Aber diesmal habe ich ein Rezept.« Ich nahm das Pergament, das ich gegen die Münzwaage auf dem Tresen gelehnt hatte, und winkte ihm damit zu. »Ein echtes. Von Meister Benedict.«
»Wieso brauchst du für eine Kanone ein Rezept?«
»Nicht für die Kanone. Für das Schießpulver.«
Tom verstummte. Er ließ den Blick über die Krüge und Tiegel ringsum schweifen, als ob sich unter den Hunderten von Tränken, Kräutern und Pulvern ein Mittel befand, mit dessen Hilfe er sich aus dieser Sache herauswinden konnte. »Das ist verboten.«
»Ein Rezept zu kennen ist nicht verboten«, sagte ich.
»Es anzuwenden schon.«
Das stimmte. Nur Meister und jene mit einer Royal Charter, der ausdrücklichen Erlaubnis des Königs, durften Schießpulver mischen. Von beidem war ich meilenweit entfernt.
»Und Lord Ashcombe wurde heute schon in der Stadt gesichtet«, setzte Tom hinzu.
Das ließ mich zögern. »Hast du ihn gesehen?«
Tom nickte. »In Cheapside, nach der Kirche. Er hatte zwei königliche Soldaten bei sich.«
»Wie sah er aus?«
»Fies.«
Genau dieses Attribut kam mir auch in den Sinn, wenn ich an Lord Richard Ashcombe, Baron von Chillingham, dachte, den treuen General von König Charles und Träger des Titels »Beschützer Seiner Majestät«. Er durchforstete die Stadt nach einer Horde von Mördern. In den vergangenen vier Monaten waren fünf Männer getötet worden. Jeder einzelne von ihnen war gefesselt und gefoltert worden. Dann hatte man ihnen den Bauch aufgeschlitzt und sie verbluten lassen.
Drei der Opfer waren Apotheker gewesen, was der Grund war, warum ich derzeit in jedem nächtlichen Schatten einen Attentäter vermutete. Keiner wusste, worauf es die Mörder abgesehen hatten, aber wenn der König Lord Ashcombe ausschickte, war ihm tatsächlich daran gelegen, die Sache aufzuklären. Lord Ashcombe war berüchtigt dafür, Männer, die der Krone feindlich gesinnt waren, aus dem Weg zu schaffen – normalerweise, indem er auf den öffentlichen Plätzen ihre abgeschlagenen Köpfe zur Schau stellen ließ.
Aber trotzdem bestand kein Anlass, übervorsichtig zu sein. »Lord Ashcombe wird nicht hierherkommen«, versicherte ich, sowohl mir selbst als auch Tom. »Wir haben ja niemanden umgebracht. Und der Beschützer des Königs wird wohl kaum hier vorbeischauen, um sich ein Zäpfchen zu besorgen, nicht wahr?«
»Was ist mit deinem Meister?«
»Der braucht auch kein Zäpfchen.«
Tom zog eine Grimasse. »Ich meine, kommt er nicht demnächst zurück? Es ist doch schon bald Zeit fürs Abendessen.« Das letzte Wort sprach er mit kaum zu überhörender Sehnsucht aus.
»Meister Benedict hat gerade die neueste Ausgabe von Culpepers Herbarium gekauft«, sagte ich. »Er sitzt mit Hugh im Kaffeehaus und sie werden noch eine ganze Weile dort bleiben.«
Tom drückte den kleinen Steingutschild an seine Brust. »Ich finde, das ist keine gute Idee.«
Ich hopste vom Tresen und grinste.
Wenn man ein Apotheker werden will, darf man eins nie vergessen: Das Rezept ist das A und O.
Das ist etwas anderes als Kuchenbacken. Die Tränke, Salben, Gels und Pulver, die Meister Benedict herstellte – mit meiner Hilfe –, erforderten ein geschicktes Händchen. Ein Löffelchen zu viel Salpeter, eine Prise Anis zu wenig, und die wunderbare neue Kur gegen Wassersucht verwandelt sich in wertlosen grünen Schleim.
Aber neue Rezepte fielen nicht einfach vom Himmel. Man musste sie entdecken. Das erforderte Wochen, Monate, oft Jahre voller harter Arbeit. Und es kostete ein Vermögen: Zutaten, Gerätschaften, Kohle für das Feuer, Eis zum Abkühlen. Vor allen Dingen aber war es gefährlich. Brüllende Flammenzungen, geschmolzenes Metall, süß duftende Elixiere, die einem die Eingeweide zerfraßen. Tinkturen, die harmlos wie Wasser wirkten und dabei unsichtbare, aber tödliche Dämpfe freigaben. Mit jedem neuen Experiment setzte man sein Leben aufs Spiel. Und daher war eine wirksame Formel wertvoller als Gold.
Wenn man sie lesen konnte.
↓M08→
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Tom kratzte sich an der Wange. »Ich dachte, da wären mehr Worte und … Dinge.«
»Das ist ein Code«, sagte ich.
Er seufzte. »Warum muss es denn immer ein Code sein?«
»Weil andere Apotheker alle Hebel in Bewegung setzen, um dir deine Geheimnisse zu stehlen. Wenn ich meinen eigenen Laden habe«, sagte ich stolz, »werde ich alles verschlüsseln. Mir wird keiner meine Rezepte klauen.«
»Deine Rezepte will doch sowieso keiner haben. Außer Giftmischern natürlich.«
»Ich habe doch gesagt, es tut mir leid.«
»Vielleicht ist das Rezept codiert«, sagte Tom, »weil Meister Benedict nicht will, dass irgendjemand es liest. Und mit ›irgendjemand‹ meine ich dich.«
»Er bringt mir jede Woche neue Codierungsschlüssel bei.«
»Hat er dir den hier auch schon beigebracht?«
»Das hat er bestimmt vor.«
»Christopher.«
»Aber ich habe es allein herausgefunden. Schau mal.« Ich deutete auf den Vermerk ↓M08→. »Das ist ein Substitutionsschlüssel. Zwei Zahlen stehen für einen Buchstaben. Und dieser Vermerk besagt, wie man die Zahlen gegen die Buchstaben austauschen muss, angefangen mit 08, die man durch ein M ersetzt. Von dort aus muss man weiterzählen. 08 bedeutet M, 09 bedeutet N und so weiter.«
Ich zeigte ihm die Tabelle, die ich aufgeschrieben hatte:
A
B
C
D
E
F
G
H
I
J
K
L
M
22
23
24
25
26
01
02
03
04
05
06
07
08
N
O
P
Q
R
S
T
U
V
W
X
Y
Z
09
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
Tom schaute zwischen den codierten Anweisungen und der Liste hin und her. »Wenn man also die Zahlen durch die richtigen Buchstaben ersetzt …«
»Dann kann man das Rezept lesen.« Ich drehte das Pergament um und zeigte ihm die Übersetzung, die ich auf die Rückseite geschrieben hatte.
Schießpulver.
Ein Teil Holzkohle. Ein Teil Schwefel. Fünf Teile Salpeter. Einzeln zu Pulver zerkleinern. Mischen.
Und genau das taten wird. Wir stellten alles auf den großen Verkaufstisch, der etwas weiter vom Feuer entfernt stand, weil Tom vernünftigerweise meinte, dass Schießpulver und Flammen sich nicht besonders gut vertrugen. Tom entfernte die Aderlass-Messer vom Tisch und holte die Mörser und Stößel von dem Fenster neben dem Bär, während ich die Zutaten aus den Regalen heraussuchte.
Ich zerkleinerte die Holzkohle. Rußige Wolken stoben auf und vermischten sich mit den erdigen Aromen getrockneter Wurzeln und Kräuter, die an den Deckenbalken hingen. Tom, der unbehaglich immer wieder in Richtung Tür schaute, weil er jeden Moment meinen Meister zurückerwartete, kümmerte sich um den Salpeter. Er mahlte die Kristalle, die aussahen wie gewöhnliches Tafelsalz. Der Schwefel bestand bereits aus einem feinen gelblichen Pulver, und während Tom die Zutaten zusammenmischte, holte ich aus dem Arbeitsraum im hinteren Bereich des Ladens eine Messingröhre, die an einem Ende verschlossen war. Mit einem Nagel bohrte ich ein Loch in die Abdeckung und schob eine geflochtene, aschfarbene Schnur hinein.
Tom zog die Augenbrauen hoch. »Meister Benedict hat Zündschnur im Haus?«
»Wir benutzen sie, wenn wir Dinge aus einiger Entfernung anzünden wollen«, sagte ich.
»Also weißt du«, sagte Tom, »Dinge, die man aus einiger Entfernung anzünden muss, sollten besser überhaupt nicht angezündet werden.«
Das Ergebnis sah ziemlich harmlos aus, ein feines schwarzes Pulver. Tom schüttete es in das eine Ende der Röhre, die ich schräg hielt. Ein dünnes Rinnsal fiel daneben. Kohlenstaub schwebte zu Boden. In den Hohlraum stopfte ich Watte und drückte das Pulver fest zusammen.
»Was nehmen wir als Kanonenkugel?«, fragte Tom.
In Meister Benedicts Laden fand sich nichts, was in die Röhre passte. Das Einzige, was mir einfiel, war eine Handvoll Schrot, von dem wir hin und wieder Bleispäne für unsere Tinkturen abkratzten. Sie schabten an der Wand der Röhre entlang und landeten mit einem hohlen Plumps auf der Watte.
Jetzt brauchten wir noch ein Ziel. Die Vorbereitungen hatten länger gedauert als gedacht, und obwohl ich Tom versichert hatte, dass mein Meister nicht so bald zurückkehren würde, war sein Kommen und Gehen oft unvorhersehbar.
»Wir werden dieses Ding nicht im Freien abfeuern«, befand Tom.
Ich musste ihm recht geben. Die Nachbarn würden es nicht zu schätzen wissen, wenn Schrotkugeln durch ihre Wohnzimmer flogen. Und so verführerisch die Vorstellung auch war, den ausgestopften Biber auf dem Kaminsims ins Visier zu nehmen, so würde es auch Meister Benedict gewiss nicht gefallen, wenn ich seine Ladendekoration in Fetzen schoss.
»Wie wär’s damit?«, schlug ich vor und deutete auf den kleinen Eisenkessel, der neben dem Kamin an einem Balken baumelte. »Wir könnten auf den Kesselboden schießen.«
Tom schob die Antimon-Becher auf den anderen Tisch, um Platz für den Kessel zu machen. Ich hob unsere Kanone an und stemmte das Ende gegen meinen Unterleib, um sie auszurichten. Tom riss ein Stück Pergament von unserem decodierten Rezept ab und hielt es in die Flammen, bis es Feuer fing. Dann entfachte er die Zündschnur der Kanone. Funken zischten und rasten auf die Röhre zu wie eine wütende Hornisse. Tom duckte sich hinter den Tresen und lugte über die Kante.
»Jetzt pass auf«, sagte ich.
Der Knall riss mir beinahe beide Ohren ab. Ich sah eine Flammenzunge und dann eine Rauchwolke, und dann schlug die Röhre nach hinten wie der Huf eines aufgebrachten Ochsen. Direkt zwischen meine Beine.
Ich kippte um wie ein Sack Mehl. Die Kanone polterte zu Boden und rollte von mir weg, wobei Rauch aus ihrer Öffnung quoll. Aus weiter Ferne hörte ich eine Stimme.
»Alles in Ordnung?«, fragte sie.
Ich krümmte mich zusammen, hielt mir den Schritt und versuchte, dem Würgereiz nicht nachzugeben.
Überall war Rauch, als ob die Luft selbst grau geworden wäre. Tom tauchte hustend in dem Dunst auf und wedelte mit den Händen. »Christopher? Alles in Ordnung?«
»Mmmmmmggguhh«, sagte ich.
Tom schaute sich im Laden nach irgendetwas um, womit er mir hätte helfen können, aber leider gab es kein Heilmittel für die edelsten Teile eines Mannes. Plötzlich gab er einen erstickten Laut von sich. »Christopher?«
Ich kniff die Augen zusammen und spähte durch den Rauch. Dann sah ich, wo das Problem lag. Ich war nicht der Einzige, den es da erwischt hatte, wo es richtig wehtat. Der Kessel, auf den ich so sorgfältig gezielt hatte, hatte keinen Kratzer abbekommen. Dafür hatte der Bär in der Ecke jetzt wirklich Grund, wütend zu sein. Die Schrotkugeln hatten den Pelz zwischen seinen Beinen durchlöchert. Er brüllte in stummem Zorn, während seine strohigen Eingeweide zwischen seinen Tatzen auf den Boden rieselten.
Tom legte die Hände an seine Wangen. »Dein Meister bringt uns um«, stöhnte er.
»Moment mal«, sagte ich. Der Schmerz ebbte ab und wurde allmählich von einem entsetzlichen Gefühl in der Magengrube abgelöst. »Moment mal. Wir kriegen das wieder hin.«
»Wie denn? Hast du zufällig noch irgendwo einen Bärenunterleib in der Schublade?« Toms Hände krallten sich an seine Wangen und er stöhnte.
»Lass … mich nur kurz nachdenken«, sagte ich und natürlich spazierte genau in diesem Moment Meister Benedict durch die Tür.
Eigentlich kam er gar nicht so weit. Noch bevor er einen Schritt in den Raum gemacht hatte, erstarrte er. Er war so groß, dass er sich unter dem Türrahmen hindurchducken musste, und so stand er jetzt da: gebückt, mit krummem Rücken, die langen dunklen Locken seiner Perücke sanft in der Abendbrise schaukelnd. Er hielt ein großes, ledergebundenes Buch mit den hageren Armen gegen die Brust gedrückt: die neueste Ausgabe von Culpepers Herbarium. Unter seinem dunklen Samtumhang lugte die burgunderfarbene Leinenschärpe hervor. Sie war fast einen halben Meter breit und über und über mit Taschen bestickt, von denen jede nicht viel größer war als der Daumen eines Mannes. In jeder Tasche steckte eine Glasphiole, verschlossen mit einem Stopfen aus Kork oder Wachs. Er hatte noch andere Taschen und Beutel bei sich, mit allerlei nützlichen Dingen: Flintstein und Zunder, Pinzetten, ein langstieliger Silberlöffel. Mein Meister hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, stets ein paar Zutaten und Heilmittel am Leib zu tragen. Was mich freute, weil ich dann weniger schleppen musste, wenn wir zu einem Kranken gerufen wurden.
Meister Benedict starrte die Messingkanone an, die vor seine Füße gerollt war. Ein dünner Rauchfaden züngelte aus ihr empor. Seine Augen wurden schmal, als er von der Röhre zu Tom und mir blickte, die wir immer noch auf dem Boden kauerten.
»Lass uns reingehen, Benedict«, dröhnte eine Stimme hinter meinem Meister. »Es ist kalt hier draußen.«
Ein stämmiger Mann drängte sich an meinem Meister vorbei und schüttelte den Staub aus seinem pelzverbrämten Mantel. Es war Hugh Coggshall, der vor fünfzehn Jahren seine Lehrzeit bei Meister Benedict beendet hatte und mittlerweile selbst zum Meister aufgestiegen war.
Er rümpfte die Nase. »Das riecht wie …« Er verstummte, als er Tom und mich erblickte. Dann schlug er die Hand vor den Mund und warf meinem Meister einen Seitenblick zu.
So behutsam ich konnte, erhob ich mich auf meine Füße. Tom stand neben mir, zur Salzsäule erstarrt.
Eine dunkelrote Ader pochte auf Meister Benedicts Stirn. Seine Stimme war wie Eis. »Christopher?«
Ich schluckte schwer. »J…ja, Meister?«
»Ist ein Krieg ausgebrochen, während ich weg war?«
»Nein, Meister.«
»Ein Streit? Ein Gezänk um höfische Politik?« Seine Stimme troff vor Sarkasmus. »Haben die Puritaner wieder einmal das Parlament eingenommen und unseren jüngst erst heimgekehrten König entmachtet?«
Mein Gesicht glühte. »Nein, Meister.«
»Dann erklär mir doch bitte in Gottes Namen«, stieß er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor, »warum du meinen Bären erschossen hast.«
»Das wollte ich nicht«, sagte ich. Tom neben mir nickte eifrig. »Es war ein Unfall.«
Das schien ihn nur noch wütender zu machen. »Aha, du hast also auf den Biber gezielt und danebengeschossen?«
Ich traute mich nicht, noch etwas zu sagen. Ich deutete auf den Kessel, der immer noch zur Seite gekippt auf dem Tisch neben dem Kamin lag. Einen Augenblick lang wurde Meister Benedict ganz still. Dann sagte er: »Du hast Schrotkugeln auf einen Eisentopf abgefeuert? Aus zwei Meter Entfernung?«
Ich warf Tom einen Blick zu. »Ich … wir … ja?«
Mein Meister schloss die Augen und legte die Hand an die Stirn. Dann beugte er sich vor. »Thomas«, sagte er.
Tom zitterte. Ich fürchtete, dass er jeden Moment in Ohnmacht fallen würde. »Ja, Sir?«
»Geh nach Hause.«
»Ja, Sir.« Tom schob sich seitwärts an meinem Meister vorbei, wobei er sich immer wieder ungeschickt verbeugte. Er nahm sein Hemd vom Verkaufstisch und floh hinaus auf die Straße. Die Tür schlug er hinter sich zu.
»Meister …«, setzte ich an.
»Sei still«, fauchte er.
Ich gehorchte.
Das war der Zeitpunkt, zu dem ein Lehrling normalerweise eine anständige Tracht Prügel bekam. Aber in den drei Jahren, in denen ich schon bei Meister Benedict lebte, hatte er mich nicht ein einziges Mal geschlagen. Das war so ungewöhnlich, dass ein ganzes Jahr verging, bis mir klar wurde, dass er mich wahrhaftig niemals schlagen würde. Tom, der jeden Tag die Hand seines Vaters zu spüren bekam, hielt das für äußerst ungerecht. Ich dagegen fand es nur angemessen, nachdem ich die ersten elf Jahre meines Lebens im Cripplegate-Waisenhaus zugebracht hatte, wo die Aufseher Schläge verteilten wie andere Leute Süßigkeiten beim Ostereiersuchen.
Manchmal wünschte ich mir allerdings fast, Meister Benedict würde mich schlagen. Stattdessen legte er immer so einen besonderen Blick auf, wenn ich etwas falsch gemacht hatte. Seine Enttäuschung bohrte sich in mich wie ein Wurm, fraß sich in mein Herz und nistete sich dort ein.
Wie jetzt.
»Ich habe dir vertraut, Christopher«, sagte er. »Jeden Tag habe ich mein Vertrauen in dich gesetzt, habe dir unseren Laden anvertraut, unser Zuhause. Und so gehst du damit um?«
Ich senkte den Kopf. »Ich … ich wollte …«
»Eine Kanone.« Meister Benedict kochte vor Wut. »Du hättest dir die Augen ausbrennen können. Die Röhre hätte explodieren können. Und wenn du den Kessel tatsächlich getroffen hättest – und der Herrgott muss Narren lieben, denn es ist mir ein Rätsel, wie du das Ding verfehlen konntest –, dann würde ich jetzt deine Überreste von den Wänden abkratzen und wäre an Weihnachten noch nicht fertig damit. Hast du denn gar keinen Verstand?«
»Es tut mir leid.«
»Und du hast meinen verflixten Bären erschossen.«
Hugh schnaubte.
»Ermutige ihn nicht auch noch!«, herrschte Meister Benedict ihn an. »Du hast mir selbst schon genug Kummer gemacht.« Hugh hob beschwichtigend die Hände und Meister Benedict wandte sich wieder mir zu. »Wo hast du überhaupt das Schießpulver her?«, fragte er.
»Ich habe es hergestellt.«
»Du hast es hergestellt?« Erst jetzt bemerkte er die Tiegel und Gerätschaften auf dem Tisch. Dann sah er das Pergament mit dem Code, das Tom und ich danebengelegt hatten. Mein Meister betrachtete es und drehte es dann um. Den Ausdruck auf seinem Gesicht konnte ich nicht deuten.
»Du hast das entziffert?«, fragte er.
Ich nickte.
Hugh nahm die Seite aus den Händen meines Meisters und begutachtete sie. Er schaute zu Meister Benedict. Etwas schien zwischen ihnen vorzugehen, aber ich hatte keine Ahnung, was sie dachten. Ich fühlte Hoffnung in mir aufkeimen. Mein Meister war immer erfreut, wenn ich ihn mit etwas Neuem überraschte. Vielleicht wusste er zu schätzen, dass ich dieses Rätsel aus eigener Kraft gelöst hatte.
Vielleicht auch nicht. Meister Benedict stieß mir einen knochigen Finger in die Rippen. »Da du dich ja augenscheinlich in einer kreativen Phase befindest, wirst du das Rezept deines heutigen Abenteuers aufschreiben, und zwar dreißig Mal. Dann wirst du es noch weitere dreißig Male niederschreiben – auf Lateinisch. Aber erst räumst du hier auf. Du wirst alles dahin stellen, wo es hingehört. Und dann schrubbst du den Boden. Den Laden, den Arbeitsraum, die Treppe, jede einzelne Stufe. Heute noch. Bis unters Dach.«
Bis unters Dach? Jetzt hätte ich tatsächlich am liebsten geheult. Mir war klar, dass ich mich heute Abend nicht gerade wie ein Chorknabe benommen hatte, aber Lehrlinge schufteten bereits bis zum Umfallen, und obwohl Meister Benedict nachsichtiger war als jeder andere Herr, den ich kannte, änderte das nichts an meinen Pflichten. Mein Tag begann vor der sechsten Stunde. Ich musste als Erster aufstehen und den Laden bereit machen, musste Kunden bedienen, meinem Meister beim Zubereiten der Arzneien zur Hand gehen, musste üben und studieren bis weit nach Sonnenuntergang. Dann musste ich alles wieder aufräumen, das Abendessen kochen und schließlich den Laden für den nächsten Tag vorbereiten, ehe ich mich endlich auf der Strohmatratze, die mir als Bett diente, zur Ruhe legen konnte. Mein einziger freier Tag war der Sonntag, und gelegentlich ein Feiertag. Und wir befanden uns in der überaus seltenen Situation, gleich zwei Feiertage hintereinander begehen zu können: heute war Christi Himmelfahrt und morgen war Oak Apple Day, der Tag, an dem die Rettung unseres Königs gefeiert wurde. Darauf hatte ich mich schon das ganze Jahr gefreut.
Laut Lehrvertrag durfte Meister Benedict nicht von mir verlangen, an einem Feiertag zu arbeiten. Aber andererseits war es mir laut Lehrvertrag auch nicht erlaubt, seine Vorräte zu stehlen, Schießpulver herzustellen oder ausgestopfte Bären abzuschießen. Oder überhaupt irgendwelche Bären. Also ließ ich bloß die Schultern hängen und sagte: »Ja, Meister.«
Ich stellte die Tiegel, Krüge und Gerätschaften wieder auf die Regale. Mein Meister nahm unsere Kanone und versteckte sie irgendwo in seinem Arbeitsraum. Ich brauchte eine Weile, um die ganzen rußgeschwärzten Schrotkugeln einzusammeln, die in alle Winkel und Nischen des Ladens gerollt waren. Das brachte mich zu der Frage, was ich mit dem armen Bären anstellen sollte.
Meister Benedict hatte seine Apothekerschärpe an den Haken neben dem Tresen gehängt, ehe er sich ins Hinterzimmer zurückzog. Ich schaute von der Schärpe zu dem Bären in der Ecke. Wenn wir ein paar von diesen Taschen zu einer Decke zusammennähen und dem Bären um die Hüfte wickeln würden …
»Das würde ich an deiner Stelle nicht tun.«
Hugh lümmelte sich auf den Sessel neben dem Kamin und blätterte durch das neue Herbarium meines Meisters. Er schaute beim Sprechen nicht einmal hoch.
»Ich wollte natürlich nicht diese Schärpe benutzen«, sagte ich. »Aber ich kann ihn doch nicht einfach so lassen.« Ich dachte nach. »Können wir ihm nicht Beinkleider anziehen?«
Hugh schüttelte den Kopf. »Du bist ein komischer Kerl.«
Ehe ich noch etwas sagen konnte, öffnete sich knarrend die Ladentür. Ich roch den Mann, der eintrat, noch ehe ich ihn sah: ein atemberaubender Gestank nach Rosenwasser und Körperschweiß.
Es war Nathaniel Stubb, ein Apotheker mit einem Laden zwei Straßen weiter. Stubb kam mindestens einmal pro Woche zu uns und verpestete die Luft. Er wollte seinen ärgsten Konkurrenten ausspionieren, wenn man überhaupt von Konkurrenz sprechen konnte. Wir verkauften Heilmittel, er dagegen verdiente sein Geld mit dem Verkauf von »Stubbs Wunderpillen aus dem fernen Orient«, die – wollte man den Handzetteln glauben, die er an jede Straßenecke klebte – jedes Wehwehchen kurierten, einschließlich der Pocken und der Pest. Soweit ich das beurteilen konnte, wirkten Stubbs Pillen nur dahingehend, dass sie die Geldbörsen seiner Kunden schmälerten.
Trotzdem wurde ihm das Zeug buchstäblich aus den Händen gerissen. Und Stubb machte aus seinem Profit keinen Hehl: an seinen dicken Fingern steckten schwere, juwelenbesetzte Ringe, in der Hand hielt er den silbernen Schlangenkopfgriff seines Gehstocks, und über seinem glänzenden Seidenhemd trug er ein Wams aus Brokat. Der Hemdsaum vor seinem Hosenschlitz wölbte sich übertrieben nach vorn – offensichtlich die neueste Mode. Ich fand, es sah so aus, als ob er seine Unterhosen mit Baiser ausgestopft hätte.
Stubb wedelte kurz mit seinem Stock in Hughs Richtung. »Coggshall.«
Hugh nickte knapp.
»Wo ist er?«, wollte Stubb wissen.
Hugh kam mir mit der Antwort zuvor. »Benedict ist beschäftigt.«
Stubb zog sein Wams glatt und schaute sich im Laden um. Sein Blick blieb wie gewöhnlich an den Regalen hinter dem Tresen hängen, wo wir unsere kostbarsten Zutaten aufbewahrten, wie etwa Diamantstaub und Goldpuder. Schließlich schien er zu bemerken, dass ich neben ihm stand. »Bist du der Lehrling?«
Da heute Feiertag war, trug ich nicht die blaue Schürze, die jeder Lehrjunge zu tragen hatte. Das hatte ihn offensichtlich verunsichert. Schließlich arbeitete ich ja erst seit drei Jahren bei Meister Benedict.
Ich nickte. »Ja, Meister Stubb.«
»Dann hol ihn«, befahl Stubb.
Stubbs Anordnung brachte mich in eine Zwickmühle. Offiziell musste ich nur den Befehlen meines Herrn gehorchen. Andererseits konnte man durch respektloses Verhalten einem anderen Meister gegenüber in arge Bedrängnis mit der Apothekergilde geraten, und Stubb war nicht der Mann, mit dem man sich anlegen sollte. Trotzdem, irgendetwas an Hughs Haltung verriet mir, dass es besser wäre, Stubb würde Meister Benedict heute Abend nicht zu Gesicht bekommen. Und so beging ich den zweiten Fehler des Tages: Ich zögerte.
Stubb schlug mich.
Er zog mir mit dem Stock eins über den Schädel. Ich fühlte einen nadelspitzen Schmerz, als die Zähne der silbernen Schlange in mein Ohrläppchen stachen. Der Schlag war so heftig, dass ich gegen die Vitrine fiel und aufschrie – vor Überraschung und vor Schmerz.
Stubb wischte seinen Stock am Ärmel ab, als ob meine Berührung ihn beschmutzt hätte. »Geh und hol ihn, habe ich gesagt.«
Hughs Gesichtsausdruck verdüsterte sich. »Ich sagte Euch doch bereits, Benedict ist beschäftigt. Und der Junge ist nicht Euer Lehrling. Es steht Euch nicht zu, ihn zu züchtigen.«
Stubb wirkte gelangweilt. »Der Junge ist auch nicht Euer Lehrling, Coggshall. Daher steht es Euch nicht zu, mich zu belehren.«
In diesem Moment tauchte Meister Benedict im Türrahmen hinter dem Tresen auf und wischte sich die Hände an einem Lappen ab. Er betrachtete die Szene mit einem Stirnrunzeln. »Was willst du, Nathaniel?«, fragte er.
»Hast du’s schon gehört?«, ließ sich Stubb vernehmen. »Es ist wieder ein Mord geschehen.« Er lächelte. »Aber vielleicht wusstest du ja schon Bescheid.«
Hugh klappte das Buch zu, in dem er gelesen hatte, die Finger noch immer zwischen den Seiten. Meister Benedict legte langsam den Lappen auf den Tresen und strich ihn glatt.
»Wer war es?«, fragte er schließlich.
Noch ein Apotheker, dachte ich und mein Herz fing an zu hämmern. Aber diesmal irrte ich mich.
»Ein Gelehrter aus Cambridge.« Stubb stach mit den Worten auf Meister Benedict ein wie mit einer Nadel. »Hat sich für den Sommer ein Haus in Riverdale gemietet. Pembroke war sein Name.«
Hughs Augen zuckten zu meinem Meister.
»Die Wäscherin hat ihn gefunden«, sagte Stubb. »Mit aufgeschlitztem Bauch, genau wie die anderen. Ihr kanntet den Mann, nicht wahr?«
Stubb schaute wie eine Katze drein, die vor einer in die Enge getriebenen Maus hockt. Ich dachte, er würde jeden Moment anfangen zu schnurren.
Meister Benedict betrachtete ihn mit gelassenem Blick. »Christopher.«
Ich?
»Geh und säubere den Taubenschlag«, sagte er.
Aber natürlich. Warum sollte ich auch hierbleiben wollen? Es ist ja nicht so, dass es mich kümmern müsste, wenn ein Mann, den mein Meister kannte, ermordet wird. Aber ein Lehrling darf sich nicht beklagen, und so verließ ich leise vor mich hin fluchend den Laden.
Im Erdgeschoss des Hauses befanden sich zwei Zimmer, in denen mein Meister seine Geschäfte abwickelte. Der Laden war vorne, der Arbeitsraum hinten. Es war hier, in diesem Zimmer, wo ich vor drei Jahren begriffen hatte, was es heißt, ein Lehrjunge zu sein.
Ich hatte keine Ahnung gehabt, was mich erwartete. In Cripplegate hatten die älteren Jungen die kleineren oft mit Geschichten von grausamen Herren geängstigt, die ihre Lehrlinge misshandeln. Es ist, als wäre man im Tower eingekerkert. Man darf nachts nur zwei Stunden schlafen und bekommt nichts weiter als eine halbe Scheibe schimmeligen Brots zu essen. Und man wird geschlagen, sobald man ihnen in die Augen schaut.
Als ich Meister Benedict zum ersten Mal sah, war ich nicht im Mindesten beruhigt. Er wählte mich im Gildehaus der Apotheker aus einer Horde Jungen aus und ich befürchtete, bei dem übelsten Meister von allen gelandet zu sein. Sein Gesicht wirkte nicht unfreundlich, aber er war so über alle Maßen groß. Wie er da über meinem zwölfjährigen Ich aufragte, gab mir das Gefühl, vor einer sprechenden Birke zu stehen.
Die Geschichten der anderen Waisenjungen gingen mir durch den Kopf, während ich Meister Benedict in mein neues Zuhause folgte. Das Herz hämmerte mir in der Brust wie ein Schmiedehammer auf einen Amboss. Mein neues Zuhause. Mein ganzes Leben lang hatte ich mir nichts sehnlicher gewünscht, als das Waisenhaus zu verlassen. Jetzt, da sich mein Wunsch erfüllt hatte, ängstigte ich mich zu Tode.
Es war glühend heiß in der Mittagssonne, und von dem Tierkot, der in den Rinnsteinen vor sich hin faulte, ging ein so atemberaubender Gestank aus, wie ihn London seit Jahren nicht mehr erlebt hatte. Ich achtete jedoch kaum darauf, so sehr war ich in Gedanken versunken. Meister Benedict, der ebenfalls in seine eigene Welt vertieft zu sein schien, achtete offenbar auf gar nichts. Als aus einem Fenster im zweiten Stock eines Hauses schätzungsweise ein Liter Urin aus einem Nachttopf auf die Straße ausgeleert wurde und nur wenige Zentimeter vor seinen Füßen auf das Pflaster platschte, zuckte er nicht einmal zusammen. Eine Mietdroschke hätte ihn beinahe überfahren, die eisenbeschlagenen Räder ratterten über die Steine und die Pferde kamen so dicht an uns vorbei, dass ich ihren Schweiß riechen konnte. Meister Benedict blieb nur kurz stehen und ging dann weiter in Richtung seines Ladens, als ob er durch einen Park spazieren würde. Vielleicht war er tatsächlich ein Baum. Nichts schien ihn aus der Ruhe zu bringen.
Dasselbe konnte ich von mir nicht behaupten. Mein Magen drehte sich um, als Meister Benedict die Tür zur Apotheke aufschloss. Über dem Eingang hing ein wettergegerbtes Eichenschild an zwei silbernen Ketten.
BLACKTHORN
Arzneien gegen alle Leiden und Gebrechen
Geschnitzte Efeublätter in einem dunklen Moosgrün umrahmten die knallroten Buchstaben. Darunter prangte – mit Goldfarbe gemalt – das Horn eines Einhorns, das allgemein gültige Zeichen für eine Apotheke.
Meister Benedict schob mich durch die Ladentür und dann in die Offizin, den Arbeitsraum der Apotheke im hinteren Bereich des Hauses. Ich verrenkte mir den Hals, um den Laden zu betrachten: die ausgestopften Tiere, die Vitrinen, die ordentlich befüllten Regale. Aber beim Anblick der Offizin blieb mir der Mund offen stehen. Auf jedem Zentimeter der Tischplatten, auf den Regalbrettern, selbst unter den Hockern und Schemeln standen Hunderte von Apothekertiegeln und Krügen mit Blättern und Pulvern, Wässerchen und Salben. Ringsherum lagen und hingen unzählige Gerätschaften und Werkzeuge: Glasgefäße, die von Ölfeuern erhitzt wurden und in denen fremdartig riechende Flüssigkeiten blubberten; Kessel und Töpfe, groß und klein, aus Eisen, Kupfer und Zinn. In der Ecke stieß ein dreieinhalb Meter breiter und anderthalb Meter hoher Ofen eine derartige Hitze aus, dass man das Gefühl hatte, gleich zu verglühen. Auf drei Ständern köchelten unterschiedliche Mixturen vor sich hin. Der Ofen war wie eine flache, breite Zwiebel geformt und seine Spitze mündete in einem Rauchfang, der wiederum in ein Rohr überging, das durch die hintere Wand nach draußen verlief. Dort vermischten sich die Hitze und Dämpfe des Rohrs mit dem Gestank von Müll und Exkrementen, der immer wie eine Decke über den Straßen von London lag.
Ich stand immer noch mit offenem Mund da, als Meister Benedict mir einen gusseisernen Topf in die Hände drückte. »Setz Wasser auf«, sagte er. Als ich seinem Befehl Folge geleistet hatte, deutete er auf einen Schemel am Ende des großen Arbeitstisches in der Nähe der Hintertür, die zu einem kleinen Hof führte, wo sich ein Kräuterbeet befand. Auf dem Tisch standen drei leere Zinnbecher und ein kleines Glas mit Hunderten von winzigen schwarzen, länglichen Samenkörnern, etwa halb so groß wie ein Marienkäfer.
»Das sind Stechapfelsamen«, sagte er. »Untersuche sie und sage mir dann, was du herausgefunden hast.«
Nervös pickte ich einen Samen aus dem Glas und rollte ihn zwischen meinen Fingern hin und her. Er roch leicht nach verfaulten Tomaten. Ich berührte ihn mit der Zungenspitze. Er schmeckte auch nicht besser, als er roch: bitter und ölig, mit einer gewissen Schärfe. Mein Mund wurde sofort trocken.
Ich sagte Meister Benedict, was ich empfunden hatte, und er nickte. »Gut. Jetzt nimm drei Samen, zerdrücke sie und gib sie dann in den ersten Becher. Sechs in den zweiten und zehn in den dritten. Dann übergieße sie mit kochendem Wasser und lasse sie ziehen.«
Ich tat, wie geheißen. Während die drei Mixturen abkühlten, fragte er: »Weißt du, was Asthma ist?«
»Ja, Meister«, sagte ich. Einige Kinder im Waisenhaus hatten daran gelitten. In einem Sommer, als die Luft voller Rauch und Gestank war, waren an einem einzigen Tag zwei Jungen gestorben. Ihre Lungen hatten das Leben aus ihren Körpern gehustet, während die Aufseher hilflos zusehen mussten.
»In geringer Dosierung«, sagte Meister Benedict, »ist Stechapfel eine hilfreiche Behandlung gegen Asthma.« Er schob mir den ersten Becher zu. Die drei zerdrückten Samen schwammen ganz unten in dem dunkler werdenden Wasser. Es roch faulig. »Das ist die richtige Menge für einen Erwachsenen.«
Er schob mir den zweiten Becher zu. »Diese Menge an Stechapfel verursacht entsetzliche Wahnvorstellungen, Albträume, die man offenen Auges erlebt. Danach leidet der Patient noch tagelang unter unerträglichen Schmerzen.«
Schließlich reichte er mir den letzten Becher. »Das hier wird dich umbringen. Wenn du es trinkst, bist du in fünf Minuten tot.«
Ich starrte den Becher an. Ich hatte gerade Gift hergestellt! Wie betäubt schaute ich zu Meister Benedict hoch und sah, dass er mich aufmerksam betrachtete.
»Nun sag mir«, forderte er mich auf, »was du gerade gelernt hast.«
Ich schüttelte meine Fassungslosigkeit ab und versuchte zu denken. Die offensichtliche Antwort war, dass ich die Eigenschaften des Stechapfels gelernt hatte und was man mit den Samen anstellen konnte. Aber die Art, wie Meister Benedict mich anschaute, verriet mir, dass er etwas anderes erwartete.
»Dass ich die Verantwortung trage«, sagte ich.
Meister Benedicts Augenbrauen schossen in die Höhe. »Ja«, sagte er. Er klang erfreut. Er deutete auf die Kräuter, die Öle und Mineralien, die uns umgaben. »Diese Zutaten sind Geschenke Gottes. Sie sind die Mittel und Instrumente unserer Zunft. Aber du darfst nie vergessen, dass sie nur das sind: Mittel. Instrumente. Sie können heilen oder sie können töten. Es ist nie das Mittel, das entscheidet. Es ist die Hand – und das Herz – desjenigen, der mit ihnen arbeitet. Von all den Dingen, die ich dir beibringen werde, Christopher, ist dies die wichtigste Lektion. Hast du sie verstanden?«
Ich nickte, voller Ehrfurcht – und Angst – ob des Vertrauens, das er mir entgegenbrachte.
»Gut«, sagte er. »Und jetzt gehen wir spazieren und du wirst deine letzte Lektion für heute lernen.«
Meister Benedict drückte mir einen schweren Lederbeutel in die Hand und band sich die Schärpe mit den Arzneien um die Körpermitte. Als wir wieder auf die Straße traten, konnte ich den Blick nicht von dieser Schärpe abwenden, so fasziniert war ich davon. Der Riemen des Beutels schnitt mir in die Schulter.
Er brachte mich zu einem Herrenhaus im Norden der Stadt. Einem Jungen wie mir, aus dem Cripplegate-Waisenhaus, kam es vor wie der Palast eines Königs. Ein Diener in Livree geleitete uns in die riesige Eingangshalle und bat uns zu warten. Ich bemühte mich, die prachtvolle Umgebung nicht allzu offensichtlich zu begaffen: Seidentapeten mit Goldborte an den Wänden, ein Kronleuchter an der Decke, geschliffenes Kristallglas in den Fensteröffnungen, in denen das Sonnenlicht funkelte. Über unseren Köpfen befand sich ein Deckengemälde, auf dem Pferde unter einem wolkenlosen, azurblauen Himmel durch ein Wäldchen galoppierten.
Schließlich führte uns eine Zofe mit Mondgesicht über eine gewundene Marmortreppe in den Salon, wo uns eine Frau mittleren Alters erwartete. Sie trug ein tief ausgeschnittenes gelbes Mieder zu einem orangefarbenen Kleid aus Glanzseide, das mit Blumen bestickt war. Am Saum teilte sich das Kleid und gab den Blick frei auf einen gerüschten Unterrock. Sie lag auf einem mit scharlachrotem Samt bezogenen Ruhebett und aß Kirschen aus einer Silberschale.
Die hohe Stirn der Frau legte sich in Falten. Sie spuckte einen Kirschkern aus. »MrBlackthorn, Ihr seid sehr grausam. Ich winde mich vor Qualen.«
Meister Benedict verbeugte sich leicht. Dann sprach er so laut, dass ich unwillkürlich zusammenzuckte: »Ich bitte um Verzeihung für meine Verspätung, Lady Lucy. Gestattet, dass ich Euch Christopher vorstelle.«
Er trat beiseite. Lady Lucy betrachtete mich mit kritischem Blick. »Ihr seid ein bisschen jung für einen Apotheker, findet Ihr nicht?«
»Ähm, nein, Mylady. Ich meine, ja, Mylady«, stammelte ich. »Ich bin der Lehrling.«
Sie schaute mich verwirrt an. »Einen Herrenring? Was soll ich denn mit einem Herrenring, Bursche?«
Ich warf Meister Benedict einen Blick zu, aber sein Gesicht verriet nichts. Ich versuchte es noch einmal, und diesmal brüllte ich so laut wie zuvor Meister Benedict. »Ich bin der Lehrling!«
»Warum hast du das nicht gleich gesagt? Nun, dann vorwärts. Mein Rücken bringt mich noch um.« Die Zofe löste die Bänder von Lady Lucys Mieder. Schockiert wandte ich mich ab.
»Mach dich doch nicht lächerlich«, sagte Lady Lucy. Sie drehte sich zur Seite und hielt das Mieder vor ihre Brust, während ihre Zofe das Rückenteil aufklappte. Die Haut entlang ihrer Wirbelsäule war rot und wund. Sie sah aus, als würde sie fürchterlich jucken.
Wieder schaute ich zu Meister Benedict. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Diesmal deutete er auf den Beutel, den ich getragen hatte. Ich schaute hinein und fand einen bauchigen Keramikkrug, dessen weite Öffnung mit einem Korken verschlossen war. Ich zog ihn heraus und wich angeekelt zurück. In dem Krug befand sich eine krümelige, dunkelbraune Paste, die so ähnlich aussah wie das, was man in einer Babywindel vorfindet. Sie roch auch so.
»Streich es auf den Ausschlag«, sagte Meister Benedict leise. »So, dass es ihn gerade bedeckt, aber nicht dicker.«
Ich erschauerte, als ich meine Finger in den Schleim tauchte, wobei ich inständig hoffte, dass es nicht das war, wonach es aussah. Dann schmierte ich eine Handvoll davon auf Lady Lucys Rücken. Zu meiner Überraschung beklagte sie sich nicht über den Gestank. Im Gegenteil: Sie sackte vor Erleichterung zusammen, als die Paste sich auf ihrer Haut verteilte.
»Viel besser«, seufzte sie. »Danke, MrBlackthorn.«
»Wir kommen morgen wieder, Madam!«, schrie er und die Zofe führte uns hinaus.
Ich steckte den Krug wieder in den Beutel. Dabei fiel mir ein Wolllappen auf, der ganz unten lag. Draußen auf der Straße zog ich ihn aus dem Beutel und wischte mir, so gut es ging, das stinkende braune Zeug von den Fingern.
»Nun?«, sagte Meister Benedict. »Was hast du gerade gelernt?«
Ich antwortete, ohne nachzudenken. »Dass man immer Watte dabeihaben muss, um sich die Nasenlöcher zuzustopfen.«
Plötzlich wurde mir klar, was ich gesagt hatte. Ich duckte mich, weil ich dachte, Meister Benedict würde mir für meine Unverschämtheit Hiebe verpassen, wie es die Herren in Cripplegate getan hatten.
Stattdessen starrte er mich blinzelnd an. Dann warf er den Kopf in den Nacken und lachte. Sein Lachen war warm und dröhnend. Und da dachte ich zum ersten Mal, dass ich es vielleicht doch ganz gut getroffen hatte.
»In der Tat«, sagte Meister Benedict. »Nun, wenn du denkst, das sei schlimm gewesen, dann warte ab, was ich dir morgen zeigen werde.« Er kicherte. »Komm, Christopher, gehen wir heim.«
Am nächsten Tag brachte er mir mehr bei, und auch am übernächsten. Und an jedem neuen Tag seitdem. Wenn ich mir vorzustellen versuchte, wie es sein würde, als Apotheker zu arbeiten, sah ich mich immer im Ladengeschäft stehen. Aber in Wahrheit wurde der Arbeitsraum mein eigentliches Zuhause. Hier zeigte mir Meister Benedict, wie man ein Leckmittel aus Eibischwurzel und Honig herstellte, das Halsschmerzen linderte, wie man Weidenrinde zerkleinerte und einen schmerzlindernden Tee daraus machte, wie man vierundsechzig Zutaten über einen Zeitraum von vier Monaten zusammenmischte, um das Venezianische Theriac herzustellen, ein Gegenmittel gegen Schlangengift. Er lehrte mich auch seine eigenen geheimen Rezepturen und die Codes, um sie zu entziffern. In diesem Zimmer erschuf ich Wunder, die Gottes eigener Schöpfung entstammten; in diesem Zimmer fand ich meine Zukunft.
Jedenfalls manchmal. Heute fand ich dort lediglich Schrotkugeln, einen Eimer und einen Kotschaber.