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Ein Transporter ist in der Südtiroler Kurstadt Meran in ein belebtes Straßencafé gerast. Es gibt Verletzte, der Fahrer flieht: ein Anschlag! Capo Commissario Sonja Schwarz steht vor einigen Rätseln: Wer ist der Mann? Auf wen hatte er es abgesehen? Wo versteckt er sich nun? Gleichzeitig nimmt ein undurchsichtiger Gast Sonjas Weingut allzu genau unter die Lupe – ist sie selbst in Gefahr? Der aktuelle Kriminalroman zur erfolgreichen TV-Reihe mit über 7 Millionen Zuschauer:innen pro Folge.
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Seitenzahl: 150
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VERGELTUNG
SIMONE DARK
Nach einer Idee von Corrado Falcone
Gedruckt mit Unterstützung der Südtiroler Landesregierung, Abteilung Deutsche Kultur
1. Auflage
© Edition Raetia, Bozen 2022, Lizenz durch Merfee Film- und Fernsehproduktions GmbH
ISBN: 978-88-7283-809-9
ISBN E-Book: 978-88-7283-844-0
Projektleitung: Felix Obermair
Lektorat: Katharina Preindl, Gertrud Matzneller
Umschlaggestaltung: Philipp Putzer, www.farbfabrik.it
Umschlagfotos:
Vorderseite: Valeriy, Adobe Stock
Rückseite: ThomBal, Adobe Stock
Grafik und Druckvorstufe: Typoplus, Frangart
Printed in Europe
Unseren Gesamtkatalog finden Sie unter www.raetia.com.
Bei Fragen und Anregungen wenden Sie sich bitte an [email protected].
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Acht
Neun
Zehn
Elf
Zwölf
Dreizehn
Vierzehn
Fünfzehn
Sechzehn
Siebzehn
Achtzehn
Neunzehn
Zwanzig
Einundzwanzig
Zweiundzwanzig
Dreiundzwanzig
Vierundzwanzig
Fünfundzwanzig
Sechsundzwanzig
Siebenundzwanzig
Achtundzwanzig
Neunundzwanzig
Dreißig
Einunddreißig
Zweiunddreißig
Dreiunddreißig
Vierunddreißig
Fünfunddreißig
Sonja Schwarz sog die warme, süße Luft zwischen den Rebzeilen des Chardonnay ein und betrachtete zufrieden das Werk, das ihre Schwiegermutter Katharina, ihre Ziehtochter Laura und die Arbeiter in den letzten Wochen vollbracht hatten. Wie gerne hätte sie Thomas all dies gezeigt, seine Hand genommen und ihm gesagt: „Siehst du, nun ist doch alles gut geworden.“ In Momenten wie diesen vermisste sie ihren verstorbenen Ehemann ganz besonders.
„Katharina“, hörte sie Laura sagen, „ich mache eine Pause. Ich muss das Gästebett herrichten.“
Sonja verstand nicht und drehte sich zu ihrer Ziehtochter um.
„Wer kommt denn zu Besuch?“, fragte sie Laura überrascht.
„Hast du ihr denn nichts gesagt?“, wandte sich nun auch Katharina an sie und zog die Augenbrauen hoch.
„Ich dachte, du weißt Bescheid …“, entgegnete Laura mit geweiteten Augen. „Ich habe dir doch erzählt, dass die Zeitschrift VINTO eine Serie über junge Winzer in Südtirol macht. Das ist für uns eine Riesenchance.“
„Das schon, aber nicht, dass die hier wohnen sollen.“
Katharina und Laura erklärten ihr, dass die Übernachtung des Journalisten der VINTO nicht geplant gewesen war. Etwas war wohl mit der Hotelreservierung schiefgegangen, da hatten sie ihm kurzerhand die Gästewohnung angeboten. Das missfiel ihr zwar, aber sollte sie protestieren? Nein, entschied Sonja und lächelte beide an. Sie wusste, wie wichtig der Artikel für sie war; mit dieser Werbung würden sie ihren Umsatz vielleicht sogar verdreifachen können.
„Na gut, ist ja kein Problem. Vielleicht verdienen wir ja dann so viel, dass ich aufhören kann zu arbeiten“, lenkte Sonja ein.
Es schien, als hätte ihr Telefon das Gespräch mitgehört: Just in diesem Moment klingelte es und holte Sonja auf den Boden der Tatsachen zurück. Es war Jonas Kerschbaumer, ihr Kollege.
Sonja lauschte kurz seinem Bericht, ihre Stimmung änderte sich schlagartig. Ein Anschlag auf ein Straßencafé mitten auf dem Theaterplatz in Meran. Niemand war getötet worden, aber es gab viele Verletzte und die ganze Stadt stand unter Schock. Sie verabschiedete sich hastig von Katharina und Laura und rannte zum Haupthaus, um sich saubere Sachen anzuziehen.
„Mama?“, hörte sie Laura rufen und drehte sich zu ihrer Tochter um, die sie mit schuldbewussten Augen anblickte. „Wir haben den Journalisten auch zum Abendessen eingeladen … sorry …“
Sonja sagte nichts, lächelte nur kurz und versprach, ihr Bestes zu geben, um dabei zu sein. Es beeindruckte sie immer wieder, wie engagiert ihre Ziehtochter für das Weingut arbeitete. Auch Thomas wäre stolz auf sie gewesen, dachte sie und verspürte ein leichtes Ziehen in ihrem Herzen. Dann machte sie sich auf zum Tatort.
Sonja lenkte ihren Wagen über die MeBo, die die Landeshauptstadt Bozen mit Meran verband. Vor ihr sah sie die stillen, weißen, wohlgeordneten Gipfel des Passeiertals, im Rückspiegel hüpfte der Rosengarten auf und ab. So schön die Sonne auch schien und so herrlich dieser Sommertag im Weingut begonnen hatte, so schlagartig wurde ihr wieder einmal bewusst, wie schnell das Leben enden konnte. Ein Lkw war ungebremst in ein Straßencafé gerauscht. Er hatte zwar keine Toten, aber dafür Verletzte, Verwüstung und vor allem eines hinterlassen: Angst in der Stadt.
Als Sonja am Ort des Unglücks in der Meraner Innenstadt ankam, erkannte sie, dass Jonas nicht übertrieben hatte. Ein unbeschreibliches Chaos empfing sie: Hinter all den Einsatzfahrzeugen, einem Gewirr aus Feuerwehrmännern, Notärzten und Rettungskräften des Weißen Kreuzes, Polizeibeamten und Carabinieri sah sie umgestürzte Caféhaustische, Stühle mit nur mehr drei Beinen, zerbrochenes Geschirr, herumliegende Tischdecken, zerfledderte Eiskarten und zerrissene Sonnenschirme. Ganz hinten, am Ende dieser Schneise der Verwüstung, konnte sie einen Transporter erkennen. Er saß mit einem Vorderrad auf einem Blumenkübel auf, vermutlich war er von diesem schlussendlich gestoppt worden. Sonja schluckte hart, fast kamen ihr beim Anblick des verwüsteten Cafés die Tränen. Hier hatten sie damals oft gesessen, sie, Laura und Thomas. Sie hatten miteinander gelacht und im Sommer Kuchen oder ein gemischtes Eis genossen. Wie ein Hoffnungsschimmer in dieser Zerstörung lugte unter dem Reifen des kaputten Transporters ein kleines, gelbes Stiefmütterchen hervor.
Sonja blickte sich um und suchte nach den Opfern. Hinter der Absperrung saßen sie, mit starrem Blick, traumatisiert, abwesend. Ihre Kleider waren staubig, ihre äußerlichen Wunden wurden gerade versorgt. An den seelischen würden sie allerdings noch eine Weile zu leiden haben, wusste Sonja. So einen brutalen Anschlag verdaute man nicht einfach über Nacht.
Sonja trat auf ihre Kollegen zu. Peter Kerschbaumer und sein Sohn Jonas hatten schon mit den Befragungen begonnen. Jonas berichtete, dass der Transporter ungebremst mitten in die Cafétische gefahren sei. Der Fahrer sei laut den Zeugen in dem Chaos geflüchtet, keiner von ihnen könne ihn beschreiben. All dies sei viel zu schnell passiert. Es sei reines Glück gewesen, dass nicht mehr passiert sei, beendete Jonas seinen Bericht, und dies auch nur einem Gast zu verdanken, der den Wagen hatte kommen sehen. Er konnte die anderen warnen – auf der Flucht vor dem Transporter waren sie allerdings gestürzt und hatten sich Prellungen und Platzwunden zugezogen.
„Mit ihm möchte ich zuerst sprechen“, beschloss Sonja. „Wo ist er denn?“
„Tja, das ist seltsam, aber als wir hier eingetroffen sind, war er nicht mehr da. Wir haben ihn überall gesucht. Aber keine Spur“, erklärte Peter Kerschbaumer. Er war blass.
„Befragt die Leute, ob ihn irgendjemand kannte. Der Mann könnte unser wichtigster Zeuge sein. Was ist mit dem Täter? Jemand muss ihn doch auf der Flucht bemerkt haben?“, hakte sie nach. Sie mussten schnell reagieren.
Kerschbaumer deutete auf das Fahrzeug des Täters. „Leider nicht“, sagte er. „Der Wagen ist so zu stehen gekommen, dass der Fahrer für die Leute auf dem Platz nicht zu sehen war.“
„Hat der Täter irgendwas gerufen oder was hinterlassen, woraus man auf das Motiv schließen kann?“, fragte Sonja weiter. Es gab immer einen Grund, warum jemand so etwas tat. Ein politisches Motiv, Geisteskrankheit, Drogen, manchmal auch feurige Leidenschaft oder einfach nur pure Verzweiflung. Sie durften nichts außer Acht lassen.
Jonas verneinte und sah zu einem Mann hinüber, der etwas abseits von der Absperrung auf einem Randstein saß und den Kopf schüttelte. Sonja erkannte die Erschütterung in seinem Gesicht.
Jonas berichtete weiter, dass es sich um den Transporter eines Kurierdienstes handelte. Der Fahrer war nur ein paar Minuten im Haus gewesen, um seine Pakete abzuliefern, und hatte in der Eile den Schlüssel stecken lassen. Offenbar hatte der Täter die Gelegenheit ergriffen und den Wagen genommen, um dann in den Außenbereich des Cafés zu brettern.
„Wieso sind die noch hier?“, fragte Sonja und wies auf die Verletzten.
„Die kommen gleich ins Krankenhaus. Gab nicht genug Krankenwagen für alle. Also haben sie erst mal die mitgenommen, die es schlimmer erwischt hat“, antwortete Jonas.
„Ich hatte auf dem Weg hierher schon den Polizeichef am Telefon. Er will so schnell wie möglich eine Pressekonferenz abhalten. Bis dahin sollten wir schon etwas wissen. Könnte das ein gezielter Angriff auf einen der Gäste gewesen sein?“
„Die Zeugen haben ausgesagt, dass der Wagen erst mit Vollgas auf der Straße geradeaus gefahren ist und der Fahrer wohl erst dann das Lenkrad herumgerissen hat“, erklärte Jonas.
„Das hört sich an, als wollte er vermeiden, dass sein Angriff zu früh bemerkt wird. Fragt sich nur, wem der Angriff galt.“
„Die zwei mit den schwersten Verletzungen, der Besitzer des Lokals und ein Bankangestellter aus Bozen, waren nicht vernehmungsfähig. Alle anderen haben spontan gesagt, dass sie sich nicht vorstellen können, wer das getan hat“, bemerkte Jonas.
Langsam, als wolle sie die Frau, die gerade von einem Sanitäter verarztet wurde, nicht noch mehr verunsichern, stieg Sonja über die Trümmer der Verwüstung. Der Gedanke, dass es doch ein Anschlag war, ließ sie nicht los. Hatte Jonas nicht berichtet, dass der Kurierdienst den Schlüssel stecken gelassen hatte? Vielleicht hatte der Attentäter dies mehrmals beobachtet und seine Tat danach geplant.
„Guten Tag, mein Name ist Sonja Schwarz. Ich bin von der Kripo Bozen.“
Gequält blickte die Frau zu ihr auf. Sie hatte eine tiefe Wunde an der Stirn. Sie war blass und stand offensichtlich unter Schock. Ihre Hände zitterten und ihr schien kalt zu sein, obwohl die Außentemperatur inzwischen auf mindestens fünfundzwanzig Grad gestiegen war.
„Ich habe doch Ihren Kollegen schon alles gesagt. Außerdem verstehe ich nicht, warum ich ins Krankenhaus muss. Die haben mich doch schon versorgt.“
Sanft erklärte Sonja ihr, dass ihre Verletzungen für ein späteres Verfahren dokumentiert werden mussten. Außerdem wollte man sie vor Spätfolgen schützen. Sonja fragte sie, ob sie dieses Café des Öfteren besuche.
„Nein. Ich habe meine Schwester besucht und hier nur die Zeit bis zur Abfahrt meines Busses totgeschlagen.“
Sonja dankte ihr und ließ sie vorerst in Frieden. Unter diesen Umständen musste sie Geduld mit den Opfern haben. Vielleicht würde der Frau ja in einem zweiten Moment noch etwas einfallen, was der Polizei weiterhelfen konnte. Oft waren die kleinsten Details wichtiger, als man sich vorstellen konnte.
Jonas verschränkte die Arme, er musste kurz zur Ruhe kommen, seine Gedanken ordnen. Sonja hatte recht, natürlich mussten sie alle Möglichkeiten in Betracht ziehen. So eine Tat wurde nicht einfach spontan durchgeführt, hierfür musste es einen Grund geben. Vielleicht eine Racheaktion gegen den Besitzer des Lokals? Diese Verwüstung war das Ergebnis unkontrollierter Zerstörungswut. Er trat an den Kurierboten heran, dessen Fahrzeug entführt worden war, sah dann aber in der Traube von Schaulustigen einen Herrn, der den Tatort intensiv begutachtete. Immer wieder beugte er sich vor, um noch besser sehen zu können. Oder interessierte er sich für die verletzte Luisa Steiner, mit der Sonja gerade sprach? Kannte er sie?
Der Mann musste Jonas’ Blick gespürt haben, kurz trafen sich ihre Blicke, dann wandte er sich ab. Ein Fotograf drängte sich durch die Menschenmenge, anscheinend wollte er ein Bild von Sonja und der verletzten Zeugin schießen. Jonas machte einen Schritt zur anderen Seite, um den Neugierigen wieder in sein Sichtfeld zu rücken, konnte aber nur noch sehen, dass der Unbekannte die Menge verließ.
Jonas Kerschbaumer durfte jetzt nicht zögern. Zeit, um sich mit Sonja und seinem Vater Peter abzusprechen, blieb ihm nicht. Kurz entschlossen trat er in die Seitengasse, die neben dem Café abging, und konnte gerade noch sehen, wie der Mann um die nächste Ecke verschwand. Im Laufschritt eilte er ihm hinterher, konnte den Mann aber nicht einholen. Jetzt wurde es Jonas zu bunt. Eigentlich war er ja nicht der Typ Polizist, der gleich seine Autorität nutzte, doch hier blieb ihm wohl keine andere Wahl.
„Stehen bleiben“, rief er dem Mann hinterher, „Polizei!“
Völlig abrupt blieb der Mann stehen, Jonas konnte seinen Schritt gerade noch abbremsen. Er zog seinen Dienstausweis und verlangte schwer atmend den Personalausweis des Flüchtigen. Der Mann blieb völlig ruhig und sagte, er habe ihn nicht dabei.
„Ist das hier vorgeschrieben?“, fragte er und schien dabei sehr überrascht.
„Sie sind nicht von hier?“, erkundigte sich Jonas. War es denn in anderen Ländern nicht auch üblich, seine Dokumente bei sich zu tragen?
„Nein. Ich komme aus Deutschland“, sagte der Mann.
Als Jonas ihn nach dem Grund seines Aufenthalts fragte, sah der Mann ihn an, als halte er ihn für schwer von Begriff. Was bildete sich dieser Schnösel eigentlich ein? Erst stocherte er mit seinen neugierigen Blicken in einem Tatort herum, dann flüchtete er vor der Polizei und nun legte er auch noch so ein arrogantes Verhalten an den Tag.
„Ich bin Tourist“, erklärte der Mann knapp.
„Warum sind Sie dann vorhin weggelaufen, wenn Sie nichts zu verbergen haben?“, fragte Jonas.
„Ich bin nicht ‚weggelaufen‘. Ich habe mir das angeschaut und bin weg, als ich genug gesehen hatte. Wo ist das Problem?“
„Das Problem ist, dass Sie sich am Tatort eines Verbrechens auffällig verhalten haben und sich nicht ausweisen können. Also muss ich Sie zur Feststellung Ihrer Personalien mitnehmen“, erklärte Jonas mit ruhiger, entschlossener Stimme.
Genervt antwortete der Mann, dass er darauf keine Lust habe. Nun hatte Jonas wirklich die Nase voll. Gelassen zog er die Handschellen aus seinem Gürtel und ließ dabei auch seine Waffe sehen. Vielleicht würde der Tourist, als der er sich bezeichnete, ja nun spuren.
„Ist ja gut, die Handschellen können Sie sich sparen.“
Jonas diskutierte nicht weiter mit dem Mann und ließ ihn vorausgehen.
Katharina sah zu ihrer Enkelin Laura hinüber. Wie erwachsen sie geworden war. Und so engagiert, sie hatte sich wirklich ins Zeug gelegt, um diesen Artikel bei der VINTO zu bekommen. Stolz erfüllte sie, hinzu gesellte sich eine angenehme innere Ruhe. Katharina wusste, dass sie das Weingut in gute Hände geben würde, wenn sie sich eines Tages aus dem Arbeitsleben zurückzog. Dafür war es jetzt natürlich noch viel zu früh. Laura konnte zwar schon viel, wollte aber noch immer mehr dazulernen, um ihre große Neugier und ihren Wissensdurst zu stillen.
Katharinas Gedankengang wurde vom Geräusch eines Wagens unterbrochen, der vor dem Haus hielt. Laura sah auf, sie strahlte aufgeregt und ging schnellen Schrittes zu ihrer Großmutter. Gemeinsam nahmen sie den Gast in Empfang.
Auf den ersten Blick schien Laura ein wenig enttäuscht. Vielleicht hatte sie sich einen hübschen jungen Mann erwartet. Der Herr, der aus dem Auto stieg, schien eher von trauriger Gestalt. Er war etwa Mitte vierzig, vielleicht auch ein wenig älter, schätzte Katharina bei sich. Sein aschblondes Haar hatte er kurz geschoren, fast wie ein Soldat. Er trug eine Halbbrille und kam ihnen mit schüchternem Blick und geduckter Haltung entgegen. Auch sie hatte einen fröhlicheren Menschen erwartet, wenn sie ehrlich zu sich selbst war. Besonders an einem sonnigen Tag wie heute konnte man doch gar nicht so trüber Stimmung sein. Vielleicht war der Herr von der VINTO aber auch einfach nur müde und erschöpft von der Fahrt.
Laura gab sich einen Ruck, streckte ihm mit einem freundlichen Lächeln die Hand entgegen und hieß ihn auf dem Weingut willkommen. Dann stellte sie ihm Katharina vor.
„Ich hoffe, Sie haben gut hergefunden“, sagte sie. „Ist ja etwas abseits der Hauptstraße.“
Der Blick des Mannes ging an ihr vorbei, er brummte nur ein „Ja, sicher … alles kein Problem, war ja ausgeschildert“ in sich hinein. Er schien mit den Gedanken an einem völlig anderen Ort zu sein, gleichzeitig sah er sich um, als wolle er das gesamte Weingut auf einmal in sich aufnehmen. Katharina sah Laura an, auch sie blickte fragend und skeptisch zu ihr herüber. Was für ein seltsamer Gast, war er vielleicht enttäuscht von dem, was er hier sah? Oder plante er bereits seine Fotostrecke?
Katharinas Versuch, das Eis zwischen ihnen zu brechen, scheiterte. Sie bot ihm ein Getränk an, doch der Gast lehnte ab.
„Nein, danke. Bitte machen Sie sich keine Umstände. Ist mir ohnehin peinlich, mich hier einfach so bei Ihnen einzuquartieren“, sagte er, ohne die Miene zu verziehen. Ein Gesicht aus Stein, dachte Katharina.
Laura beruhigte ihn und bat ihn ins Haus. Er folgte ihr still, seine Haltung blieb die gleiche: geduckt, fahrig, er schien einfach nicht bei der Sache zu sein. Aber vielleicht würde es sich ja beim Abendessen geben, hoffte Katharina.
„Es kommt übrigens nicht infrage, dass Sie für das Zimmer bezahlen. Sie sind unser Gast“, erklärte sie ihm.
„Das ist sehr freundlich von Ihnen“, sagte der Journalist, „aber ich bestehe drauf. Außerdem zahle nicht ich das, sondern die Zeitung.“
Gemeinsam gingen sie die Treppe zum Gästehaus hinauf. Immer wieder sah der Mann sich um. Katharina sah seinen Blick, fast schien er traurig, melancholisch, ganz so, als habe er seelische Schmerzen. Vielleicht hatte der Mann ja einen Verlust erlitten und suchte in dieser Arbeit Ablenkung, die er aber nicht finden konnte?
Das Wiedersehen traf Sonja so heftig wie der Blitz eines Bozner Sommergewitters. Sie hatte gerade die fertige Pressemitteilung ausgedruckt, als ihre Kollegen Peter und Jonas Kerschbaumer das Büro betraten. Sonja drehte sich zu ihnen um und glaubte ihren eigenen Augen nicht: Der Mann, den sie im Schlepptau hatten, war ihr bestens bekannt.
„Er hat sich am Tatort rumgetrieben, und als ich ihn ansprechen wollte, ist er abgehauen“, erklärte Jonas und ließ erst jetzt den Arm des Mannes los.
„Und er kann sich nicht ausweisen“, fügte Peter Kerschbaumer hinzu.
Sonja erwachte aus ihrer Erstarrung, das konnte doch nicht sein. Sie fühlte sich zugleich verwirrt und erfreut. Und auch ein wenig verärgert, warum hatte er ihr denn nichts gesagt?
„Hallo, Mike“, flüsterte sie.
In einem ebenso leisen, vertrauten Ton begrüßte er sie. Seine sanfte, warme Stimme erzeugte sofort die altbekannte Gänsehaut. Sie musste sich zusammenreißen und für Klarheit im Kommissariat sorgen – oder zumindest in ihrem eigenen Büro.
„Darf ich euch Mike … äh, Michael Gerber vorstellen? Er ist ein Kollege aus Frankfurt.“ Ihn als Kollegen zu bezeichnen, widerstrebte Sonja. Mike war in ihrer Frankfurter Zeit sehr viel mehr gewesen. Dann deutete sie auf Peter und Jonas Kerschbaumer und stellte sie Mike vor. Sie konnte deutlich sehen, wie wütend Jonas über dessen Verhalten war. Seine blauen Augen waren dunkel geworden. Auch Peter war verärgert, aber im Gegensatz zu seinem Sohn bewahrte er Ruhe.
„Warum haben Sie mir nicht gesagt, dass Sie Polizist sind? Ermitteln Sie hier?“, fragte Jonas forsch.
„Nein“, antwortete Mike knapp. Wie immer ließ er sich alles aus der Nase ziehen.
„Was hatten Sie dann am Tatort zu suchen?“, hakte Peter Kerschbaumer nach.
Mike ließ sich von ihnen nicht aus der Ruhe bringen. Frech stellte er die Gegenfrage, ob sie beide denn nicht auch stehen geblieben wären, um den Kollegen bei der Arbeit zuzuschauen.
„Kann sein“, antwortete Jonas, „aber ich würde sicher nicht abhauen, wenn mich einer von denen ansprechen will.“