Der Bund der silbernen Lanze - Claudia Schulligen - E-Book

Der Bund der silbernen Lanze E-Book

Claudia Schulligen

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Beschreibung

Das Jahr 1147. Trier steht vor dem zweiten Kreuzzug. Während die Stadt in Erwartung des Papstes kopfsteht, wird ein Feind des mächtigen Erzbischofs in seinem Blut aufgefunden. Die kluge Klosterschülerin Laetitia macht sich auf die Suche nach dem Mörder und muss sich gegen einen fanatischen Templer durchsetzen. Sie stößt auf die Spur eines geheimnisvollen Bundes und deckt eine teuflische Intrige auf, die bis in die höchsten Kreise kirchlicher Macht führt und alles Vorstellbare sprengt …

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Claudia Schulligen

Der Bund der silbernen Lanze

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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© 2013–Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75/20 95-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: René Stein

Herstellung: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung des Bildes »Stundenbuch der Maria von Burgund«; http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Stundenbuch_der_Maria_von_Burgund_Wien_cod._1857_26v_27r.jpg

Für meinen Großvater Michel

Kapitel 1

14. Oktober 1147

Noch immer jagtedie Nachhutdes abklingenden Sturms, der bei Tag mit heftigem Niederschlag über Trier gefegt war, blauschwarze Wolkenfetzen über den Abendhimmel. Als Laetitia ihren Umhang überwarf und auf die Gasse trat, löste Stille das vorherige Peitschen der Regengüsse ab und breitete sich über die erschöpfte Stadt aus.

Keine Menschenseele begegnete ihr auf ihrem Weg, der sie nach Norden in Richtung Simeonskirche führte. Obwohl das schwächer flackernde Wetterleuchten am Horizont zusehends Finsternis Platz machte und alle Konturen im Nichts zerfließen ließ, setzte Laetitia entschlossen einen Fuß vor den anderen. Es war kühl und sie zog ihren Umhang fester um den Hals. Als sie am Marktplatz um die Ecke bog, leuchtete ihr aus dem zweiten Arkadengang der Simeonskirche der Schein einer einsamen Fackel entgegen, während das erste Geschoss dunkel dalag. Die Kirche ummantelte das von den Trierern ›Porta Nigra‹ genannte Stadttor, das noch aus der Zeit der heidnischen Römer stammte. Auf wie viele Schicksale der riesige Westturm in Hunderten von Jahren wohl herabgeblickt hatte? Jetzt kamen seine halbrunden Fenster Laetitia wie die leeren Augenhöhlen eines Totenschädels vor, die ihr bedrohlich entgegenstarrten. Klang nicht das Wispern der Baumkronen, in denen sich eine Windböe brach, wie eine Warnung?

Laetitia schöpfte tief Luft. Keinesfalls durfte sie zulassen, dass Furcht in ihr aufkam und sie von ihrem Vorhaben abbrachte. Sie musste weiter. Doch spürte sie etwas Ungewisses im Nacken und warf einen forschenden Blick über die rechte Schulter. Eigenartig. Sehen konnte sie nichts, aber sie hätte auf ihr Leben geschworen, dass jemand hinter ihr war. Sie hielt ihre Fackel höher. Glitt nicht ein Schatten über die Mauer? Erneut hielt sie inne, um in die Finsternis hineinzuhorchen. Besser nicht nochmals umwenden–nur lauschen. Nichts. Einzig das Blut, das in ihren Schläfen pulsierte, und ihr Atem.

Ihre Hand tastete nach dem Beutel aus weichem Rindsleder, den sie unter ihrem Umhang am Gürtel trug. Durch die gegerbte Tierhaut spürte sie die geschliffenen Kanten der drei Smaragde, die im schwächsten Licht heller funkelten als jeder Stern. Unzählige Male hatte sie sich während der langen Stunden ihrer einsamen Reise von der Champagne gefragt, woher die wertvollen Steine wohl stammen mochten. Ob die Äbtissin tatsächlich gewagt hatte, sie gewaltsam aus dem Reliquienschrein der heiligen Bathilda herauszubrechen? Unvorstellbar, welches Sakrileg sie damit begangen hätte! Doch eine natürlichere Erklärung dafür zu finden, wie sie in den Besitz solcher Reichtümer gekommen sein mochte, wollte Laetitia nicht gelingen. Bei der Vorstellung eines dermaßen ungeheuerlichen Frevels wie des Schändens eines geweihten Schreins biss sich Laetitia so fest auf die Unterlippe, dass sie Blut schmeckte. Aber wer war sie, eine Äbtissin infrage zu stellen? Ihr stand nicht zu, sie zu verurteilen. Wenn ihr die Briefe derart viel galten, dass sie sich auf das Schlimmste versündigte, um an genügend Mittel für deren Auslösung zu kommen, hatte Laetitia dies nicht zu werten. Es zählte Einzig, dass sie den geheimen Schatz bis zum Erreichen ihres Zielorts sicher verwahrte und im Gegenzug die Briefe erhielt. Und dazu war sie fest entschlossen.

Laetitias Blick glitt an ihrem lumpigen Mantel herab, den sie einer Bettlerin abgekauft hatte und der das fein gewobene Tuch ihres Gewands verhüllte. Tastend vergewisserte sie sich, dass keine Strähne ihres golden glänzenden Haares hervorlugte, welches sie zuvor sorgsam unter eine Haube gestrichen hatte. Nein, hinter dieser Verkleidung eines vermeintlichen Lumpenmädchens würden weder fremde Männeraugen nach Anmut noch lichtscheues Volk nach einem Schatz wie den drei glitzernden Smaragden suchen. Laetitia schüttelte den Kopf: Ihre Sorge musste unbegründet sein. Gewiss trugen die neuen Eindrücke, die ihr auf der langen Reise den Kopf zum Schwirren gebracht hatten, Schuld daran, dass die geschärften Sinne ihr jetzt einen Streich spielten. Sie richtete den Blick zum wolkenverhangenen Himmel, den kaum ein Stern erleuchtete. Auch das Licht ihrer Fackel wurde von der Dunkelheit, in der alles düster verschmolz, beinahe vollkommen aufgesogen. »Du wirst es schon schaffen«, sprach sie sich Mut zu.

Ein Rascheln zu ihrer Linken. Laetitia erschrak und stand einige Sekunden wie betäubt. Die Ahnung, dass sich jemand an ihre Fersen geheftet hatte, verdichtete sich zur Gewissheit und Laetitia fing an zu rennen. Dort, ein Mauervorsprung, nichts wie fort von der Gasse, durchzuckte sie ein Gedanke. Keuchend presste sie sich mit dem Rücken in eine Nische, die von den Wänden zweier schräg aneinander gebauter Häuser gebildet wurde, und löschte ihre Fackel. Durch ihr Gewand hindurch spürte sie die Kälte der regennassen Steine auf ihrer Haut. Für einen winzigen Moment lang hörte sie nur ihren eigenen Atem, dann vernahm Laetitia Schritte–weit ausholende, energische Schritte, die immer näher kamen. Ihr wurde flau im Magen. Sie drückte ihren Körper noch fester gegen das Gemäuer und hielt die Luft an. Ein winziger Tropfen Schweiß lief ihr den Arm hinab.

Wenn sie jetzt das Opfer von Dieben würde, wäre alles verloren, dachte sie. Das durfte auf gar keinen Fall geschehen. Sie wollte das Vertrauen, das die Äbtissin ihr entgegengebracht hatte, niemals enttäuschen. Ihre Mission musste einfach gelingen. Gewiss dürfte sie als Lohn dafür um ein Noviziat im Kloster bitten, damit sie Nonne und vielleicht einmal Bibliothekarin werden könnte. Bücher liebte sie mehr als alles andere auf dieser Welt. Obgleich sie die Enge der Klostermauern manchmal sehr bedrückte, zog sie das Leben hinter diesen dem Schicksal vor, das ihr sonst blühen würde. Allein die Vorstellung, zum Dienst an jemandem gezwungen zu sein, dessen Herrin sie eigentlich sein müsste, beschwor Wut in ihr. Genau das wartete außerhalb des Klosters auf sie: Nicht die glänzende Freiheit, sondern Unterwerfung gegenüber der intriganten Base ihrer Mutter, die über Besitz befahl, der ihr eigenes Geburtsrecht war. Nichts konnte sie gegen die Machenschaften tun, mit denen man sie ihres legitimen Anspruchs beraubt hatte. Laetitia presste für einen Moment die Augenlider zusammen und krampfte ihre Hände zu Fäusten, sodass ihre Handballen von den sich eingrabenden Fingernägeln schmerzten.

Als sie die Augen wieder öffnete, löste sich eine Gestalt aus dem Dunkel. Das Herz pochte Laetitia härter gegen die Rippen. Die Kapuze tief in die Stirn gezogen, ging der in einen Mantel gehüllte Mann so dicht an ihr vorbei, dass sie ihn fast berühren könnte. Mit der Zielstrebigkeit eines Pfeils hielt er auf ein Haus zu, das etwa einen Steinwurf entfernt von Laetitias Versteck lag. Der Fremde, der sich mit jeder Bewegung als energischer Willensmensch verriet, hatte dasselbe Ziel wie sie. Nicht irgendein Haus war es, wie sie erst jetzt bemerkte. Es trug kein Dach aus Stroh, sondern eines aus gebrannten Ziegeln. In diesem prächtigen Gebäude erkannte sie das von ihr Gesuchte. Ihre gestrigen Erkundigungen hatten ergeben, dass es sich bei Burkhards Haus um das stattlichste in Trier handelte.

Im milchigen Licht des Mondes, der mittlerweile den Kampf gegen die finsteren Wolkenungetüme aufgenommen hatte, schimmerten grünliche Fenster. Aus je acht kleinen Glasscheiben bestehend, fügten sie sich kunstvoll in einen Rahmen aus dunklem Holz. Noch nie hatte Laetitia an einem Wohnhaus derart Wertvolles wie Fenster aus Glas gesehen–ein Material, das gemeinhin ausschließlich in Sakralbauten verwandt wurde. Man brauchte keine prophetischen Fähigkeiten, um zu erkennen, dass hier Wohlstand herrschte. Desto geringer würden ihre eigenen Chancen ausfallen, Burkhard davon zu überzeugen, ihr die Briefe zu verkaufen. Mit weiteren Reichtümern würde man einen vermögenden Mann nicht locken können. Andererseits, sagte sich Laetitia, konnte wohl kaum ein Mensch dem Zauber widerstehen, der vom Funkeln der Smaragde ausging.

Im blassen Mondlicht hielt der Fremde mit dem Kapuzenmantel inne, blickte verstohlen über beide Schultern. Offenbar war ihm daran gelegen, nicht beobachtet zu werden. Wenn sie doch sein Gesicht sehen könnte! Aber die Kapuze warf einen Schatten, der es Laetitia unmöglich machte. Auf ein dumpfes Anklopfen hin öffnete das spärlich erleuchtete Haus seine Tür und nahm den Fremden auf. Im nächsten Moment lag die Gasse wieder verlassen da. Was sollte sie tun? Lieber abwarten oder ebenfalls um Einlass bitten? Noch bevor sie eine Entscheidung treffen konnte, zerrissen plötzlich Geräusche aus dem Hause Burkhards die Stille der Nacht. Zunächst ertönte eine scheltende Stimme, danach folgte dumpfes Gepolter. Wenn sie bloß wüsste, was da drinnen vor sich ging! Obwohl die Neugier in Laetitia brannte, fühlte sich ihr Körper an wie gelähmt, sodass sie keinen Wimpernschlag tun konnte. Erneut murrte und scharrte es drinnen, ein weiterer Ruf ertönte–oder klang dies nicht eher wie ein erstickter Schrei? Ja, zweifellos war es ein Schrei voller Entsetzen und Wut–unmittelbar abgelöst durch Stille, eine unheimliche, alles unter sich begrabende Stille. Laetitia stand wie gebannt. Eine Sekunde verging, zwei, drei–nichts.

Endlich durchbrach ein Knarren die gespenstische Ruhe. Vorsichtig tat sich die Tür des Nachbarhauses zur Linken auf und Laetitia beobachtete, wie eine Frau herausschlüpfte. Ihre Silhouette bewegte sich mit der lautlosen Umsicht eines Diebes. Da sie nichts in den Händen trug, verwarf Laetitia die Idee, die Fremde habe tatsächlich gestohlen, rasch. Nachdem sie wie mit den samtenen Pfoten einer Katze auf die Gasse getreten war, wandte sich die Frau um. Kein Zweifel: Sie wollte sich vergewissern, dass niemand sie sah. Plötzlich flog die Tür von Burkhards Haus auf. Sich die Kapuze tiefer ins Gesicht ziehend, kam der Mann mit fliegendem Mantel herausgestürmt. Seine eckigen Bewegungen und der keuchende Atem verrieten höchste Aufregung. Daher nahm es nicht Wunder, dass er ungestüm mit der Frau zusammenprallte, die aufgrund der Wucht zu Boden stürzte. Sofort verfiel sie in ein heftiges Gezeter, das an Vulgarität kaum zu überbieten war und Laetitia abstieß. In der behüteten Welt des Klosters benutzte niemand derbe Worte. Nicht nur die Nonnen und ihre Mitschülerinnen vermieden unflätige Reden, auch den Mägden war streng untersagt, sich unwürdiger Ausdrucksweisen zu bedienen. Die Welt hier draußen erwies sich leider nicht nur als der verheißungsvolle Ort, wie Laetitia sie sich manches Mal vorgestellt hatte. Zumindest barg sie hässliche Facetten.

Obschon die fremde Frau den bösesten Schimpf durch die Zähne stieß, lärmte sie nicht genug, um ein merkwürdiges Klingen zu übertönen. Dem Mann war ein Gegenstand entglitten und jener war offenbar auf einen Stein getroffen. Ein helles, metallenes Klirren, das Laetitias Ohren kurz, aber deutlich wahrnahmen. Eindeutig galt dem Mann der verlorene Gegenstand viel. Hastig, ohne sich im Geringsten um die Frau zu kümmern, die auf Knie und Hände gestützt aufzustehen versuchte, bückte er sich danach. Im Dunkeln der Gasse tastete er über den Boden, richtete sich hektisch wieder auf, drehte sich mit schwingendem Mantel um die eigene Achse und suchte vorgeneigt weiter, um schließlich zu resignieren. Die Frau war mittlerweile aufgestanden und klopfte sich den Schmutz vom Gewand. Wie zum Schlag holte der Mann mit der Rechten aus, doch hielt er unvermittelt inne und fasste sich an die Kehle. Ein Röcheln, als ob er zu ersticken drohte, war zu hören. Kurz darauf wandte er sich um, floh in eine schmale Gasse und verschwand gleich darauf in der Dunkelheit. Wenige Sekunden hallten seine Schritte nach, bis sie völlig verklangen.

Vor Verwirrung bewegungslos wie Lots Weib kam Laetitia gar nicht der Gedanke, der Frau ihre Hilfe anzubieten. Stattdessen beobachtete sie von ihrem Versteck aus, wie sie sich ebenfalls bückte. Offenbar war ihr mehr Erfolg beschieden als dem Mann. Sie führte mit ihrer rechten Hand einen winzigen Gegenstand, der im Mondlicht aufblinkte, voller Neugier dicht an ihre Augen. Dabei glitt eine Locke unter ihrer Kapuze hervor, die in einem derart flammenden Rot leuchtete, wie es Laetitia noch nie zuvor gesehen hatte. Die Hand der Fremden zuckte zurück, als ob ihre Finger in sengendes Feuer gegriffen hätten. Blitzschnell ließ sie den gefundenen Gegenstand unter ihrem Mantel verschwinden und machte sich davon.

Am liebsten hätte auch Laetitia auf der Ferse Kehrt gemacht, aber knapp vor dem Ziel durfte sie keinesfalls aufgeben. Ihre Glieder streckend, die sich vor Anspannung verkrampft hatten, schöpfte sie tief Atem. Obwohl ihr Herz seinen normalen Rhythmus nicht wiederfand, wagte sich Laetitia hinter dem Mauersprung hervor. Dabei streiften die Zweige eines Haselnussbusches ihr Gesicht und sandten einen Schauer über ihren Rücken. Sie fand die Tür des Hauses angelehnt vor. Zaghaft klopfte sie. Als auf das zweite, forschere Pochen hin niemand öffnete, schob sie vorsichtig die knarrende Tür auf und trat in die Stube, die wenige Kerzen erleuchteten.

»Jemand da?«, fragte sie aus trockener Kehle, jedoch erhielt sie keine Antwort. Die Ahnung einer drohenden Gefahr, deren Natur sie nicht kannte, wuchs. Im Halbdunkel zeichneten sich die Konturen eines mächtigen Schrankes an der Wand ab. Direkt vor Laetitia standen ein Weinkrug und zwei gefüllte Tonbecher auf einem langen Tisch, der sich beinahe durch den gesamten Raum zog.

Plötzlich hörte sie ein seltsames Geräusch, das sie nicht einzuordnen wusste. Unschlüssig, ob es sich um ein Raunen handelte oder einen Windstoß, der draußen in die Baumwipfel fuhr, streifte Laetitia mit der Rechten langsam die Kapuze vom Kopf. Sie spitzte die Ohren, um das Geräusch besser deuten zu können. Sie verortete es unter dem Tisch. Vorsichtig trat sie näher und beugte sich vor. Durchdrungen von einer bösen Ahnung, machte sich Laetitia auf das Schlimmste gefasst. Trotzdem entfuhr ihrer Kehle bei dem Anblick ein entsetzter Schrei. Auf der Erde lag ein alter Mann, das weiße Haar in einem Meer aus Blut, darinnen Scherben, die von Gefäßen rührten, die er im Fallen mit sich gerissen haben musste. Die wulstige Narbe, die sich über seine Stirn zog und Laetitia als markantes äußeres Merkmal des Kaufmanns genannt worden war, ließ keinen Zweifel zu: Burkhard. Geweitete Augen, die noch Leben verrieten, starrten wie im Fieber auf Laetitia. Mit schmerzverzerrtem Gesicht versuchte Burkhard, sich aufzurichten, um jedoch gleich wieder mit einem Stöhnen auf den Boden zurückzusinken.

Panisch stürzte Laetitia, mit einem Schlag zurück in der Wirklichkeit, an seine Seite und tastete ihm mit fahrigen Fingern über die Brust, als könnte sie damit den Fluss des Blutes, das ihm warm aus einer Wunde am Hals quoll, zum Versiegen bringen. Was sollte sie tun, damit Burkhard nicht zu viel Blut verlor? Sie war so aufgeregt, dass sie alles vergaß, was sie in den Lehrstunden der ehrwürdigen Schwester Botanikerin gelernt hatte, die sie heimlich in der Heilkunst unterrichtete.

»Oh mein Gott, oh mein Gott, Ihr dürft nicht sterben«, stammelte sie, unfähig einen vernünftigen Gedanken zu fassen. Jetzt bemerkte sie, dass die Lippen des Alten sich bewegten. Zögerlich beugte sich Laetitia zu ihm hinunter. Einzelne Strähnen lösten sich, hingen in die Blutlache und färbten sich an den Enden dunkelrot. Burkhard war nicht mehr zu helfen, das spürte Laetitia deutlich, wenige Sekunden trennten ihn vom Tod. Sekunden, die ihm offenbar wert schienen, ihr, einer Fremden, etwas anvertrauen zu wollen.

»Tor«, wisperten seine Lippen.

Sie starrte dem Alten fragend ins Gesicht. Seine Augenlider zuckten, als wollten sie eine Botschaft übermitteln, die Laetitia aber nicht verstand. Hilflos hob sie die Schultern. Burkhard musste bemerken, dass sie nicht begriff. Dabei mühte sie sich nach besten Kräften, ihn zu verstehen. Keinesfalls durfte er, der auf elendigliche Weise sterben sollte, mit seiner letzten Botschaft ungehört bleiben.

»Tor? Was meint Ihr damit, welches Tor?«, flüsterte sie beschwörend. Nochmals neigte sie ihr Ohr dicht an seine Lippen, die wiederum mehr gehaucht als gesprochen ein einziges Wort hervorbrachten: »Tour.«

›Tour‹ verstand Laetitia diesmal, was in der französischen Sprache ›Turm‹ bedeutete. »Welchen Turm meint Ihr, was ist in diesem Turm geschehen–bitte, was wollt Ihr mir damit sagen?«, bedrängte ihn Laetitia und verspürte ein Würgen. Es war zu spät, das Gesicht des Alten wurde bleich. Sein Kopf fiel leblos zur Seite. Mit vor Entsetzen eiskalten Fingern fuhr Laetitia Burkhard über die Lider, um seine Augen zu schließen. Der Ermordete sollte im Tod eine fromme und würdige Haltung einnehmen. Scheu fasste sie nach seiner rechten Hand, die schlaff neben dem Körper lag. Laetitia wollte sie mit der linken Hand verbinden und über Burkhards Brust verschränken. Auf einmal bemerkte sie, dass sich etwas aus den Fingern löste. Laetitia stockte: Es waren eingerissene Papiere, die am äußeren Rand mit Blut befleckt waren und von denen offenbar die obere Hälfte fehlte. Vorsichtig nahm sie die Schriften, oder vielmehr das, was davon übrig geblieben war, an sich. Heiß schoss ihr dabei durch den Kopf, dass sie wegen einiger Briefe den gesamten weiten Weg von der Champagne hergereist war. Was, wenn ihre Reise genau denselben Schriften galt, deren Fragmente sie jetzt vor sich sah und die jemand Burkhard offenbar mit Gewalt aus den Händen gerissen hatte? War es denkbar, dass die Briefe ein Geheimnis bargen, das jemanden zum Mörder gemacht hatte?

Ein Geräusch. Näherten sich da etwa Schritte? Laetitia erstarrte. Gott stehe ihr bei: In welcher Lage befand sie sich? Gebeugt über einen Ermordeten, in einem lumpigen, blutbefleckten Gewand steckend und am Gürtel einen Beutel mit Edelsteinen! Jeder, der Zeuge dieses Bildes würde, müsste zwangsläufig folgern, dass sie Burkhard bestohlen und getötet hatte. Auf frischer Tat ertappte Raubmörder brachte man so flugs an den Galgen, dass sie kaum Zeit fanden, ihre Unschuld zu beteuern. Wenn jemand sie hier entdeckte, kam das einem Todesurteil gleich. Den Gedanken vollenden und Aufspringen war eins. Mit keuchendem Atem tat Laetitia einen Satz und presste sich neben den Eingang an die Wand. Da schwang die Tür schon auf, ohne dass ein Klopfen oder Rufen die Besucher ankündigte, und zwei Kerle polterten herein. Lediglich durch das Türblatt verdeckt, saß Laetitia wie ein Tier in der Falle. Sie lugte aus ihrem Versteck heraus durch einen feinen Riss im Holz und beobachtete zwei Männer, deren Kleidung verriet, dass es sich um Wachleute von Erzbischof Albero handelte.

»He, schau mal!«, rief der eine und beugte sich über den Toten, während der andere mit der Rechten geistesgegenwärtig einen Dolch aus dem Gürtel zog und mit der Linken ein Wachslicht schwang, um alle Winkel des Raums zu beleuchten.

Wie ein Schmiedehammer klopfte Laetitias Herz, derart laut, dass sie fürchtete, die beiden Männer müssten es schlagen hören. Der mit dem Dolch beugte sich genau wie der andere Kerl über die Leiche. Laetitia presste die Lippen zusammen, um nicht vor Anspannung zu schreien. Sie musste handeln, und zwar jetzt. Der Augenblick erschien ihr günstig, denn die Männer richteten ihre Aufmerksamkeit auf die Leiche. Allein diese winzige Chance trennte Tod von Leben. Ohne zu zögern, stieß Laetitia das Türblatt vor und nutzte die Überraschung der Männer. Sie sprang förmlich aus dem Haus und stürzte der Finsternis entgegen, die ihr mit einem Mal wie ein Retter erschien, der sie mit offenen Armen umfing. Schneller, immer schneller holten ihre Beine aus, während ihr die Lungen stachen. Die Schriften fest umklammert versuchte sie die Wachleute abzuschütteln, die wütend die Verfolgung aufgenommen hatten. Wie besessen rannte sie, ja, wie im fiebrigen Wahn.

Kapitel 2

Den Becher voll Wasser,den sie mit zittrigen Fingern umklammert hielt, trank Laetitia gierig in einem Zuge leer. Danach ließ sie sich erschöpft auf den Schemel fallen, den ihr die Novizin zugewiesen hatte. Sie mochte kaum glauben, dass es ihr tatsächlich gelungen war, die Verfolger abzuschütteln und das mit ihrem Kloster befreundete Stift zu erreichen. Wenn Gott wollte, würde sie hier Schutz finden.

»Bedient Euch ruhig selber«, sagte die Novizin und deutete auf den Wasserkrug. »Ich ruf dann rasch Karolina.«

»Danke, das ist sehr freundlich von Euch.«

»Viel zu selten verirrt sich jemand zu uns. Karolina wird sich bestimmt über einen Gast freuen.« Noch einmal lächelte ihr die Novizin aufmunternd zu, bevor sie den Schreibsaal verließ, um die Bibliothekarin zu rufen.

Laetitias Blick streifte die blutbefleckten Mitbringsel, die sie zu anderen Pergamenten auf einem Schreibpult gelegt hatte. Dabei fuhr sie sich mit beiden Händen über den Kopf, an dem das schweißnasse Haar klebte, als ob sie die Erinnerung an das soeben Erlebte fortwischen wollte. Tief Atem schöpfend schaute sie um sich. Beherrscht wurde der riesige Raum von einem mächtigen, bis zur Decke reichenden Regal, das sich über die lang gezogene Wand erstreckte, die der Fensterreihe gegenüberlag. Dicht an dicht drängten sich Bücher darin. Laetitias Erstaunen hätte nicht größer sein können, denn solche Reichtümer hatte sie in diesem Stift keineswegs erwartet. Viel zu ärmlich waren ihr die Nutzgebäude und Ställe beim Überqueren des Hofes vorgekommen, als ob es den Nonnen an Kenntnis für eine sachgemäße Bewirtschaftung fehlte. Auch die dünnen Scheite, an denen die Flammen des Feuerplatzes nagten, wirkten kärglich und legten die Vermutung nahe, dass man am Brennholz sparen musste. Neben den Bücherschätzen waren sieben Schreibpulte aus Fichtenholz aufgereiht, alle so ausgerichtet, dass bei Tage das Sonnenlicht von links auf die Schreibfläche traf, um den Buchmalerinnen beste Bedingungen zu bieten. Auf jedem Pult befanden sich Weidenkörbchen, die der Aufbewahrung von geschärften Federkielen, Linealen, Glättsteinen und anderen Utensilien dienten, welche die Nonnen zum Schreiben verwendeten.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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