Der Bürgerkrieg in Lateinamerika - Michael Riekenberg - E-Book

Der Bürgerkrieg in Lateinamerika E-Book

Michael Riekenberg

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Beschreibung

Lateinamerika ist eine besonders interessante Region, um die Geschichte des Bürgerkriegs wie auch dessen Theorie zu betrachten, die nach wie vor wenig entwickelt ist. Denn hier spielten sich in der neueren Geschichte zahlreiche Bürgerkriege und bürgerkriegsähnliche Zustände ab. Doch gemessen am Idealtypus des Bürgerkriegs, wonach zwei Lager über einen längeren Zeitraum hinweg einen bewaffneten Kampf um die Macht im Staat führen, weisen die Bürgerkriege in Lateinamerika einige Besonderheiten auf. Vor allem gab (und gibt) es dort zeitweise eine Mehrzahl kriegsfähiger Gewaltakteure, die abseits vom Staat das Recht auf eine selbstbestimmte Kriegsführung für sich reklamierten – dies veränderte den Bürgerkrieg. In seinem neuen Buch befasst sich Michael Riekenberg eingehend mit der Geschichte wie der Gegenwart des Bürgerkriegs. Dabei erörtert er auch dessen Abgrenzungen von verwandten Phänomenen wie etwa der heutigen Bandengewalt der Drogenkartelle in Mittel- und Südamerika.

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Michael Riekenberg

Der Bürgerkrieg in Lateinamerika

Geschichte und Gegenwart

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

Lateinamerika ist eine besonders interessante Region, um die Geschichte des Bürgerkriegs wie auch dessen Theorie zu betrachten, die nach wie vor wenig entwickelt ist. Denn hier spielten sich in der neueren Geschichte zahlreiche Bürgerkriege und bürgerkriegsähnliche Zustände ab. Doch gemessen am Idealtypus des Bürgerkriegs, wonach zwei Lager über einen längeren Zeitraum hinweg einen bewaffneten Kampf um die Macht im Staat führen, weisen die Bürgerkriege in Lateinamerika einige Besonderheiten auf. Vor allem gab (und gibt) es dort zeitweise eine Mehrzahl kriegsfähiger Gewaltakteure, die abseits vom Staat das Recht auf eine selbstbestimmte Kriegsführung für sich reklamierten – dies veränderte den Bürgerkrieg. In seinem neuen Buch befasst sich Michael Riekenberg eingehend mit der Geschichte wie der Gegenwart des Bürgerkriegs. Dabei erörtert er auch dessen Abgrenzungen von verwandten Phänomenen wie etwa der heutigen Bandengewalt der Drogenkartelle in Mittel- und Südamerika.

Vita

Michael Riekenberg ist emeritierter Professor für Vergleichende Geschichtswissenschaft und Geschichte Lateinamerikas an der Universität Leipzig. Er gilt als einer der führenden Gewaltforscher zur Geschichte Lateinamerikas.

Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

Vita

Inhalt

Impressum

Inhalt

Einleitung

Der Irrtum des Regenwalds

Das antike Muster. Oder zur Psychologie des Bürgerkriegs

Der Spanische Bürgerkrieg. Oder das Paradigma des modernen Bürgerkriegs

Die Anfänge in Lateinamerika

Der koloniale Bürgerkrieg. Oder die bürgerkriegsarme Zeit

Bürgerkrieg und Nationalstaatsbildung. Oder die Zeit der Anarchie

Über Staatenkrieg, Bürgerkrieg und Ethnizität

Bürgerkrieg und Weltbürgerkrieg. Oder wie der Bürgerkrieg sich selbst verzehrte

Die Gegenwart des Bürgerkriegs

Ruinen-Geschichtskulturen

Zur Theorie des Bürgerkriegs. Oder Eindrücke aus Lateinamerika

Literatur

Einleitung

Dieses Buch handelt vom Bürgerkrieg in Lateinamerika. Berechtigt ist das allemal, ist Lateinamerika doch eine Region, die uns manches über den Bürgerkrieg zu sagen weiß. Freilich soll dieses Buch die Geschichte des Bürgerkriegs, wie wir sie aus anderen Teilen der Welt kennen, nicht einfach nur um eine weitere Erzählung ergänzen. Vielmehr weisen der Bürgerkrieg und seine Gestalt in Lateinamerika eine Reihe von Besonderheiten auf. Und nicht selten drohte der Bürgerkrieg dort seine Seele zu verlieren und da zu enden, wo Anderes beginnt: Beutejagden, Bandengewalt, Fehden, Terrorismus, wie auch immer. Dies alles macht den Bürgerkrieg in Lateinamerika jedoch zugleich besonders betrachtenswert. Schließlich fordert es uns auf, genauer über seinen Begriff und nicht zuletzt auch über dessen Ränder nachzudenken.

Insofern ist dieses Buch mehr als nur eine weitere Erzählung über den Bürgerkrieg. Überdies soll es, wie ein Blick in das Literaturverzeichnis verrät, zu dessen Theorie beitragen und diese nach Möglichkeit erweitern helfen. So wechseln sich in diesem Buch immer wieder Teile, in denen Geschichte erzählt wird, mit eher abstrakten Darlegungen ab. Auch werden zu diesem Zweck Vergleiche gezogen. Mal handelt es sich um nur kurze Ausflüge in andere Nationalgeschichten. Mal sind sie ausführlicher, so wenn es um den tribalen Krieg im amazonischen Regenwald und die Frage geht, was dieser uns als eine Kontrastfolie über den Bürgerkrieg zu zeigen vermag. Mal bezieht der Vergleich sich auf den Idealtypus des Bürgerkriegs, wie wir ihn in der stasis in den antiken Poleis angelegt finden. Ein eigenes Kapitel schließlich ist dem Spanischen Bürgerkrieg (1936–1939) gewidmet, gilt dieser doch gemeinhin als das Paradigma des modernen Bürgerkriegs. Dies macht seine Betrachtung auch mit Blick auf die Geschehnisse in Lateinamerika lohnenswert.

In diesem Buch beziehe ich mich weitgehend auf die in ihrer Kultur und Geschichte spanisch geprägten Länder Süd- und Mittelamerikas. Von Portugiesisch-Amerika (Brasilien) handele ich nur sehr gelegentlich. Wenn ich im Folgenden von Lateinamerika spreche, ist also im Grunde Spanisch-Amerika gemeint. Das Buch behandelt den Zeitraum von 1500 bis heute. Sein Inhalt reicht von der extrem bürgerkriegsarmen Kolonialzeit über die gewaltintensive Epoche der Nationsbildung bis in die Gegenwart Lateinamerikas. Diese ist für den Gegenstand dieses Buches besonders fruchtbar. Schließlich gelingt es heutzutage Großbanden (Rackets) in einigen Ländern Süd- und Mittelamerikas oder in der Karibik das zu erreichen, was die urbanen Guerillaorganisationen dort im vergangenen Jahrhundert nicht zu realisieren vermochten: die Bildung selbstkontrollierter, der Aufsicht des Staates entzogener Gebiete in den Städten eines Landes. Zu diskutieren, was dies für den Bürgerkrieg bedeutet, ist Bestandteil dieses Buches.

Was den Forschungsstand über den Bürgerkrieg in Lateinamerika betrifft, kann ich mich an dieser Stelle kurz fassen, zumal im Verlauf des Buches immer wieder einmal darauf eingegangen wird. Es fällt auf, dass manche Autoren sich nicht die Mühe machen, genauer zwischen dem Bürgerkrieg und verwandten Phänomenen, etwa der Revolution, zu differenzieren. Auch davon, von Unterschieden und Analogien, wird in diesem Buch die Rede sein. Überhaupt ist, und dies wohl mitunter aus unterschwelligen ideologischen Motiven heraus, in der wissenschaftlichen Literatur zu Lateinamerika viel von Revolten, Rebellionen und Revolutionen die Rede, wenig vom Bürgerkrieg. Ein Gesamtüberblick zum Thema fehlt. Sammelbände, die Aufsätze zu einzelnen Länderfällen zusammenstellen, können eine systematische Betrachtung des Gegenstands, wie sie in diesem Buch erfolgt, nicht ersetzen.

Wer vom Bürgerkrieg handelt, muss vom Staat sprechen. Anderes ist nicht möglich. Der politische Philosoph Thomas Hobbes behandelte den Staat in seinem Werk vom Leviathan bekanntlich wie eine Person (vgl. Skinner 2017). Er nannte ihn einen »künstlichen Menschen«. In diesem Buch verfahre ich ähnlich. Dies ist freilich nicht der Sache geschuldet, und keineswegs will ich vorgeben, dass der Staat (wie) ein Lebewesen und als solches zu betrachten sei. Es fällt nur leichter, auf diese Weise über ihn zu schreiben.

In meinen Arbeiten habe ich mich seit vielen Jahren mit dem Phänomen kollektiver Gewalttat, dem Krieg und dem Staat in Lateinamerikas Geschichte wie auch in historischen Vergleichen beschäftigt. Manches habe ich zu all dem geschrieben und veröffentlicht. Es bleibt deshalb nicht aus (und ich hoffe, der Leser sieht mir dies nach), dass es in diesem Band mitunter zu Überschneidungen mit dem kommt, was ich einmal an anderer Stelle bereits geschrieben habe. Darauf gegebenenfalls hinzuweisen, habe ich mich bemüht.

Der Irrtum des Regenwalds

Fragen wir nach einem Anfang für die Geschichte, die ich in diesem Buch erzählen will, so haben wir ihn im Regenwald zu suchen. Denn dort, im Regenwald, nahm die moderne Theorie des Bürgerkriegs ihren Ausgang – paradoxerweise, wie man wohl wird hinzufügen müssen. Denn nichts hat der Bürgerkrieg mit dem Regenwald zu tun. Aber schauen wir als Erstes zurück: in das frühe 16. Jahrhundert, als den Geographen und Kartographen in den westeuropäischen Seestädten und Handelszentren zur Gewissheit wurde, dass Christoph Kolumbus entgegen seiner ursprünglichen Absicht nicht nach Indien gefahren war, sondern einen neuen Erdteil entdeckt hatte. Für diesen musste nun ein Name gefunden werden; schließlich werden Dinge uns erst wirklich, wenn wir sie benennen. Und wie es damals in der Bezeichnung der Kontinente üblich war, gab man diesem Namen eine weibliche Fassung. Angelehnt war diese an den Namen des Florentiner Kaufmanns und Seefahrers Amerigo Vespucci, der die Ostküste Südamerikas bereist und in seinem berühmten Reisebericht Mundus Novus von 1502/03 davon Zeugnis abgelegt hatte.

So war fortan von »die America« die Rede, wenn es in den gelehrten Darstellungen der Europäer um die Neue Welt ging. Aber während »die Europa« in der Bildersprache der damaligen Zeit eine liebliche Gestalt war, benannt nach einer sagenhaften phönizischen Prinzessin, war die America in den Allegorien und der graphischen Kunst eine barbarische Figur (vgl. Kohl 2009). Verantwortlich dafür waren die ersten Reiseberichte von der Küste Brasiliens, die seit dem frühen 16. Jahrhundert nach Europa gelangten und die von kriegerischen Amazonen und von der Menschenfresserei der Regenwaldindianer erzählten. In den bekannten Drucken des französischen Kupferstechers Étienne Delaune oder seines flämischen Kollegen Adriaen Collaert, die im späten 16. Jahrhundert entstanden, war die America eine mit Pfeil und Bogen bewaffnete Figur, die oft einen abgeschlagenen Kopf in der Hand hielt. Eine wahre Kreatur der Gewalt war dies, dem Regenwald und den fiebrigen Phantasien seiner europäischen Betrachter entstiegen.

Mit Blick auf den Bürgerkrieg und das, was Menschen in ihren Gedanken und Empfindungen mit ihm verbinden, ist diese Geschichte nicht ohne Belang. Denn niemand Geringeres als der politische Philosoph Thomas Hobbes griff diese Bilderwelt auf und nutzte sie in seiner berühmten Schrift Leviathan (1651) für die Begründung einer Theorie von Staat und Bürgerkrieg. Darin stellte Thomas Hobbes die staatliche Ordnung dem Naturzustand des Menschen gegenüber, von dem er wenig hielt. Im Naturzustand würden die Menschen nur in ewiger Zwietracht leben, schrieb er, und einander wie die Wölfe zerfleischen. Dies sei ein elender Zustand, den Hobbes ausdrücklich mit dem des Bürgerkriegs gleichsetzte. Erst durch die Hervorbringung einer überlegenen, souveränen Macht, die ein Gewaltmonopol erringt, dem Staat eben, sei es möglich, den Naturzustand der Gesellschaft zu überwinden und dadurch zugleich die Drohung eines beständigen Bürgerkriegs vom Menschen abzuwenden.

Dieser Naturzustand, von dem er schrieb, war für Thomas Hobbes keineswegs ein bloßes Gedankenexperiment, am Schreibtisch oder im Spiel der Phantasie ersonnen. Er sah ihn vielmehr empirisch belegt, nämlich im Leben der Indianer in Amerika verwirklicht. Im Jahr 1641 war Thomas Hobbes aus Furcht vor einer drohenden politischen Verfolgung aus England nach Paris geflohen. Dort las er die frühen Reiseberichte und ethnographischen Beschreibungen aus Amerika wie Jean Lérys Histoire d’un voyage fait en la terre du Brésil (1578), die von den Tupi-Indianern in Brasilien handelte. Diese frühen ethnographischen Berichte arbeitete Hobbes in seiner Theorie von Staat und Bürgerkrieg aus (vgl. Helbling 2009). Die »wilden Völker verschiedener Gebiete Amerikas«, schrieb er im Leviathan, würden außerhalb der Familie »keine Regierung« besitzen (zit. bei Münkler 2013: 175). Somit sei ein Krieg aller gegen alle ihr Schicksal. Damit war eine Theorie des Bürgerkriegs begründet, die für die damalige Zeit und angesichts des Umstands, dass Hobbes ja unmittelbar den großen, konfessionellen Bürgerkrieg in England und dessen Schrecken erlebt hatte, in einem erstaunlich hohen Anteil auf der Betrachtung des amazonischen Regenwalds und der dort ansässigen Gemeinschaften und Kulturen beruhte.

Nun ist es angesichts des damaligen Kenntnisstands der Ethnographie (eine Wissenschaft davon gab es ohnehin noch nicht) nicht weiter verwunderlich, dass Thomas Hobbes in seinen Betrachtungen freilich einem Irrtum aufsaß. Denn die Gewaltbeziehungen, in denen die Regenwaldindianer einander begegneten, hatten wenig mit einem Bürgerkrieg zu tun. Ja, tatsächlich stellten sie eher dessen Gegenteil dar. Und schicksalhaft war die Gewalt für die Regenwaldindianer keineswegs, vielmehr war sie Teil wie Ausdruck einer festgefügten symbolischen Ordnung, in der sie lebten und an die sie glaubten. Schauen wir uns dazu den Krieg im Regenwald des Amazonas kurz an. An anderer Stelle, in meinem Buch über eine Ontologie der Gewalt, habe ich ausführlich dazu geschrieben (vgl. Riekenberg 2019), weshalb ich mich hier im Folgenden auf einige wenige Bemerkungen beschränken möchte

Die Ethnographie bezeichnet den Krieg im Regenwald als tribalen oder in ihren älteren Werken auch als primitiven Krieg (vgl. Divale 1973). Geführt wird er von einander verfeindeten Gemeinschaften oder Lokalgruppen, die sich auf dörflicher Ebene oder in Stammesform organisieren (vgl. Helbling 2006). Wir müssen, um diesen Krieg zu verstehen, uns zuerst vergegenwärtigen, dass die Kosmologie (im Sinn des Wissens von der Welt) der Regenwaldindianer eine gänzlich andere ist als die unsere. Denn die amazonischen Kulturen unterscheiden die Welt nicht in das, was wir in unserer technischen Zivilisation als »Natur« und »Kultur« bezeichnen. Stattdessen ist es in ihrem Denken und Empfinden eine große Verwandtschaft, die die Welt durchzieht und alle Wesen eint. Menschen, Tiere, gar Pflanzen, sie alle besitzen ein gemeinsames Inneres, sie sind wesensgleiche Geschöpfe. So bilden in kognitiver wie auch in emotionaler Hinsicht die Symmetrie und die Balance die Prinzipien, in denen die tribale Welt existiert (vgl. Descola 2011: 23 f., 38 f.). Die Wissenschaft bezeichnet dieses Denken und Fühlen der Regenwaldindianer als Animismus, als Glauben an die beseelte Natur.

Es bedarf wohl nicht weiter der Ausführung, dass eine solche Denkweise beziehungsweise ein derartiges Weltverständnis auch das Verständnis von Krieg und Gewalt und in der Folge deren tatsächlichen Austrag verändern. Denn im Denken und Empfinden der Regenwaldindianer darf auch die Gewalttat das große Einverständnis, das der Ordnung der Welt unterliegt, nicht beschädigen. Es geht darum, noch im Töten des Anderen »den dünnen Faden zu bewahren«, der alle Wesen verbindet, schreibt der französische Anthropologe und »Amazoniker«1 Philippe Descola (2011: 122). Der Unterschied zum Bürgerkrieg ist offenkundig. Die Gewalt im Regenwald ist zwar nicht als Tat selbst, jedoch in ihrer symbolischen Bedeutung eine integrative Kraft, während dagegen dem Bürgerkrieg das Zerstörerische anhaftet. Sie verweist auf eine Ordnung der Welt, der sie entstammt und die sie zu erhalten hat. Insoweit aber ist die Gewalttat der Regenwaldindianer weniger ein Akt der Kommunikation zwischen Menschen, wie es im Bürgerkrieg der Fall ist. Im Regenwald kommunizieren die Menschen im Krieg vielmehr mit einem symbolischen System, nicht in erster Linie mit ihrem Feind und Gegenüber.

Romantisieren müssen wir diese uns fremde Gewaltwelt deshalb nicht. Schließlich ist der tribale Krieg durchaus gewaltintensiv, mag er auch dem Prinzip der Symbiose verpflichtet sein. Er kann mit der totalen Vernichtung der einen Gemeinschaft oder Lokalgruppe durch eine andere einhergehen (vgl. Helbling 2006). Dies aber soll an dieser Stelle dahingestellt sein. Hier, für den Gegenstand dieses Buches, interessiert etwas Anderes: die strukturelle Funktion, die der tribale Krieg für den Bestand der amazonischen Gemeinschaften besitzt. Denn symmetrisch geordnet, richtet sich dieser Krieg gegen alle Hierarchie und Hegemonie, so auch gegen den Staat. Mit Blick auf die Balance ihrer Welt, die sie erhalten wollen, ist den Regenwaldindianern der Staat (über den wir ja sprechen müssen, wenn wir vom Bürgerkrieg reden) ein feindliches Wesen. Der brasilianische Anthropologe Eduardo Viveiros de Castro (2012), auch er ein bekannter »Amazoniker«, spricht aus diesem Grund vom »Jaguar-Staat«. Mit diesem Begriff will er verdeutlichen, wie sehr die Regenwaldindianer den Staat ablehnen. Denn der Jaguar ist in der amazonischen Welt der natürliche Feind des Menschen, er verkörpert das Gegenteil von Verwandtschaft. »And, if the Jaguar-State is the antithesis of kinship it is because kinship is, somehow, the antithesis of the State«, fasst Viveiros de Castro (2012: 87) diesen Umstand zusammen. Somit übertragen die Regenwaldindianer ihr Bild des Jaguars in das, was wir in unserer Sprache heute eine politische Theorie nennen würden.

Soweit in aller Kürze meine Anmerkungen zum tribalen Krieg. Mit einem Bürgerkrieg, wie Thomas Hobbes in seiner politischen Philosophie glaubte, hat all dies nun offenkundig nichts zu tun. Denn der tribale Krieg unterbindet, dass sich fest organisierte Herrschaften ausbilden und über das Gemeinwesen stellen würden. Das ist seine strukturelle Funktion. Dies unterscheidet ihn grundsätzlich vom Bürgerkrieg, in dem der Staat ja das Ziel allen Begehrens ist und dieses Begehren den Bürgerkrieg erst hervorbringt und definiert. Somit taugen der amazonische Regenwald und der tribale Krieg, der darin geführt wird, nicht dazu, eine Theorie des Bürgerkriegs zu begründen. Dennoch: Nützlich für eine Betrachtung des Bürgerkriegs ist der tribale Krieg im Regenwald durchaus, ich schrieb es schon einmal. Zwar kann der tribale Krieg nicht als empirischer Beweis des Bürgerkriegs und seiner Eigentümlichkeiten, wohl aber als seine Kontrastfolie dienen. Wir können die Betrachtung des tribalen Kriegs also nutzen, um im Vergleich dazu die Merkmale des Bürgerkriegs klarer für uns herauszuarbeiten.

Dabei zeigt sich, dass es keineswegs allein die Haltung zum Staat ist, die den Bürgerkrieg vom tribalen Krieg trennt. Es verhält sich nicht nur so, dass der tribale Krieg den Staat verneint, der Bürgerkrieg ihn dagegen bejaht und ohne ihn nicht existieren kann. Vielmehr ist dem Bürgerkrieg, wie der Vergleich zeigt, überdies eine negative Anthropologie eigen. Denn der Bürgerkrieg trennt Gemeinschaften da, wo der Krieg im Regenwald sich um deren Symmetrie und Balance bemüht. Der tribale Krieg bestätigt die Einheit und Identität aller Wesen. Als Kind einer animistischen Kosmologie schafft er eine symbolische Gemeinschaft, eine Solidarität aller Wesen, die über den Tod und das Sterben hinaus reicht. Der Bürgerkrieg dagegen sucht das Trennende auf. Er zerstört Einheit und Identität, wo es diese in der Vorkriegsgesellschaft gab, und setzt im Mittel der Gewalttat etwas Neues dagegen. An Stelle der alten Gemeinschaft bilden sich zwei Lager, die einander bekämpfen. Der Bürgerkrieg entsteht und geht über die gemeinsame Geschichte, die eine Gemeinschaft (Gesellschaft) in ihrem Innern einmal verband, hinweg.

Somit trennt der Bürgerkrieg nicht nur Gemeinschaften und zerstört nicht nur Leben, sondern er vernichtet zudem Erinnerung. Denn das Gefühl alter Verbundenheit, das sie einmal empfanden, muss zerstört, der Gedanke daran zerstreut werden, wollen Menschen den Bürgerkrieg führen. Und so ist der Bürgerkrieg zugleich ein Schöpfer neuer Geschichte, weil er Menschen dazu nötigt, sich fortan eine andere Geschichte als zuvor über das, was sie erlebt haben, zu erzählen. Kein anderer Krieg greift dermaßen schroff in die Erinnerung des Menschen und dadurch zugleich in seine daraus gespeiste Identität ein, wie der Bürgerkrieg dies tut. Wir wollen dies hier festhalten. Denn die negative Anthropologie des Bürgerkriegs wird uns in diesem Band noch beschäftigen, ebenso der Zusammenhang von Bürgerkrieg und Identitätsanfeindung, der mehr als diese nur eine Facette besitzt, von der eben die Rede war.

Das antike Muster. Oder zur Psychologie des Bürgerkriegs

Verlassen wir den Regenwald, wo die politische Theorie des modernen Bürgerkriegs ihren Anfang suchte. Schauen wir stattdessen auf den wirklichen, das heißt den historischen Anfang allen Bürgerkriegs. Diesen finden wir in der stasis, in den Stadtstaaten der griechischen Antike (vgl. auch Riekenberg 2021: 34 f.). Nun muss ich hier freilich zunächst für einen Moment einhalten. Denn in der Wissenschaft ist strittig, inwieweit wir für die damalige Zeit bereits von einer staatlichen Organisation, die ja die Voraussetzung für die Existenz des Bürgerkriegs darstellt, sprechen können. Schließlich sei, so der Einwand, der sich in der Literatur findet, der antike griechische Stadtstaat keine Zwangsanstalt oder -apparatur gewesen, sondern er habe eine Bürgergemeinschaft dargestellt. Dieser Vorbehalt führt dazu, dass in der Literatur mitunter eine scharfe Trennung zwischen dem »antiken« Bürgerkrieg und seinem »modernen« Pendant vorgenommen wird (vgl. Potsch 2023: 56). Ja, im Ergebnis kann der stasis dadurch ihr Charakter als Bürgerkrieg gar gänzlich abgesprochen werden.

Aber eine solche begriffliche wie gedankliche Trennung in zwei gänzlich verschiedene Bürgerkriegswelten, eine vormoderne und eine andere, dürfte ungeachtet aller Veränderungen, die es in der Geschichte des Bürgerkriegs selbst wie in der seines Begriffs gab, der Sache nicht angemessen sein. Ein Staatsdenken gab es in der Antike allemal (vgl. Zehnpfennig 2018). Und so halte ich es hier mit dem Althistoriker Edward van der Vliet (2005), der den Begriff des Staates vom Gewaltmonopolanspruch, wie ihn die Soziologie für den modernen Staat formuliert, trennt und der politischen Organisation der Städte in der griechischen Antike durchaus einen staatlichen Charakter konzediert. Auch Zeitzeugnisse, wenn ich sie recht verstehe, mögen dies stützen. So interpretierte der altgriechische Historiker Thukydides, der sein »Modell« der stasis (vgl. Price 2001) auf den Peloponnesischen Krieg anwandte, diese als einen »zerstörerischen inneren Konflikt«, der sich sowohl in dem Inneren der Menschen wie auch in dem des »Staates« abspielen würde. Jonathan Price (2001: 4) spricht diesbezüglich von der »internal disturbance in individuals and states«. Hier geht es also sowohl um die Psychologie, von der eben die Rede war, wie auch um die Struktur des Bürgerkriegs und die Verbindungen, die beide eingehen. Somit aber sollte dem Anspruch, den wir an den Kern des Bürgerkriegsbegriffs stellen müssen, Genüge getan sein, um von der stasis als dem historischen Ursprungsort des Bürgerkriegs sprechen zu können.

Auch wird kritisch eingewendet, dass der Begriff der stasis in den antiken Quellen weit gespannt ist und seine Bedeutung mancherlei Facetten aufweist (vgl. Berent 1998). Seine Semantik beschränkte sich nicht darauf, den gewaltsamen Konfliktaustrag in der Bürgergemeinde der antiken Stadt zu benennen. Es ging auch um den Meinungsstreit, den Kampf oder auch um die psychischen Folgen eines inneren Konflikts, wovon Thukydides handelte. All dies ist richtig. Aber es bleibt, dass der Begriff der stasis um die Zwietracht innerhalb der städtischen Bürgergemeinde kreiste, die sich zuspitzen und in der Gewalttat enden konnte. War dies der Fall und eskalierte der Streit um die politische Macht im antiken Stadtstaat, so geriet die stasis zum »offenen Bürgerkrieg« (van der Vliet 2005: 136), der, wie wieder bei Thukydides nachzulesen ist, unerbittlich und voller Hass ausgetragen wurde.

Von Lagern, die sich bildeten, mag man dabei freilich noch nicht recht sprechen, fiel der Beginn der Gewalttat doch intimer aus. Bei der französischen Historikerin und Anthropologin Nicole Loraux (2006; 2017) ist dazu zu lesen, dass Menschen als Erstes den nächsten Verwandten töteten, wenn sich der Bürgerkrieg in der Bürgerschaft der antiken Stadt zu entfalten begann. So waren die Familie und (im weiteren Sinn) das Haus die Keimzelle des Bürgerkriegs. Vom Brudermord auch sprechen antike Quellen, wenn sie von der stasis handeln, wobei sich in diesem Begriff wohl die historische Wirklichkeit mit der Mythologie vermengte. Verdichtet sich der Bürgerkrieg im Bild des Brudermords, so bedarf es jedoch wohl keiner weiteren Ausführung, dass es fortan für die an der Gewalttat beteiligten Akteure nicht zuletzt um Schuld und Sühne ging. Zwar vermag jeder Krieg Menschen mit Schuldgefühlen zu belegen, sofern ihnen der Gegner, den sie töten, nicht vollkommen gleichgültig ist. Denn im Krieg muss der Mensch die Tötungstabus, die seine Kultur im Regelfall aufweist, von sich abstreifen.

Aber im Bürgerkrieg geht es um mehr. Denn im Bürgerkrieg ist das Schuldempfinden vermutlich besonders stark ausgeprägt, weil sich darin Menschen bis zum Äußersten bekämpfen, die einander einmal nahe gewesen waren. Dies begründet die besondere Seelenlage des Bürgerkriegs, die diesen von anderen Formen kriegerischer Auseinandersetzung unterscheidet. In den Schriften der Psychologie ist das Schuldgefühl auf das Engste mit Vorgängen der Trennung verbunden (vgl. Hirsch 1997). Sicherlich denkt die Psychologie dabei nicht an den Bürgerkrieg, wenn sie über diese Trennungsvorgänge schreibt. Sie hat vielmehr individualpsychologische Prozesse vor Augen. Ihr geht es um die Loslösung aus den engen emotionalen Bindungen an die eigenen Eltern, die das Erwachsenwerden eines Menschen mit sich bringt, und die Individuation, die stattfindet. Haben solche Loslösungen und Abtrennungen einmal stattgefunden, so ist nichts mehr so, wie es einmal zuvor im »Zustand des Zusammenseins« war, heißt es bei Mathias Hirsch (1997: 38).

Aber ist es im Bürgerkrieg anders? Oder verhält es sich nicht auch dort so, dass nichts mehr ist, wie es zuvor einmal war, wenn der Brudermord geschehen ist und der Mensch sich dadurch in die Schuld gestellt sieht? So aber steht das Schuldempfinden mit all seinen dunklen Einwirkungen auf die Seele des Menschen am Anfang des Bürgerkriegs. In der Literatur ist dieser Zusammenhang übrigens erstaunlich wenig behandelt. Unter allen wissenschaftlichen Disziplinen ist sich vor allem die Literaturwissenschaft, sobald diese vom Bürgerkrieg spricht beziehungsweise Texte dazu behandelt, über diese besonderen seelischen Dimensionen des Bürgerkriegs bewusst und erörtert sie in ihren Studien. Vermutlich liegt dies daran, dass die Literaturwissenschaft es gewohnt ist, ihren Gegenstand, die literarischen Erzählungen und poetischen Strophen, besonders eindringlich auf die Gefühle und Empfindungen der Menschen hin zu prüfen, die darin erzählt werden. Der Soziologie des Krieges geht es dagegen gemeinhin um vergleichsweise gröbere Zusammenhänge und Strukturen, weshalb sie der Gefühlslage des Menschen in Krieg und Bürgerkrieg wohl weniger Aufmerksamkeit gewidmet hat.

Aber wie auch immer es sich verhält: Im Bürgerkrieg, lesen wir bei Michèle Lowrie (2022: 7), die sich als Altphilologin mit den literarischen Zeugnissen der Antike beschäftigt, würden alle »Sphären« auseinanderbrechen, die der Welt Sinn geben: die Seele, die Familie, der Kosmos, die Götter. Alles gehe unter, nichts habe mehr Bestand. Es zerstöre der Bürgerkrieg die »symbolische Ordnung« der Welt. In der Tat, dann ist nichts mehr wie es zuvor einmal war. Auch dies ist ein fundamentaler Unterschied zum tribalen Krieg. Denn nichts fürchtet der tribale Krieg mehr als den Zusammenbruch der Welt und ihrer Kosmologie, in der er stattfindet und deren Ordnung er zugleich spiegelt wie bestätigt. Offenkundig ist die Logik der Gewalt, die dem Bürgerkrieg eigen ist, somit eine gänzlich andere als die, die im tribalen Krieg regiert. Geht es im Regenwald um den Erhalt von Symmetrie und symbolischer Verwandtschaft (selbst noch in der Ausübung der Gewalttat hat dies zu geschehen), so ist die stasis der Gegensatz davon. Der Bürgerkrieg spiegelt keine Welt und deren Ordnung. Ganz im Gegenteil: Es ist, als würde er ein Tor aufstoßen, um in die Geschichte einzutreten und dort nichts weiter zu sein als Auflösung, Zersetzung, Lostrennung. Schließlich existiert der Bürgerkrieg, betrachten wir seinen Idealtypus, nur dort, wo eine alte, überkommene Gemeinschaft aufgehoben wird. Dies zwingt den Bürgerkrieg im Vergleich zum tribalen Krieg in die negative Anthropologie, von der ich schrieb.

Die Folgen davon sind beträchtlich. Der Bürgerkrieg verheert das Zutrauen und das Gefühl von Verlässlichkeit, das Menschen für ihr Leben benötigen. Eine Gemeinschaft erodiert, sie zerfällt in zwei Teile, die sich fortan im Mittel der Gewalt gegenüberstehen. Insofern aber ist der Bürgerkrieg nicht nur ein neuer, nunmehr eben nicht-ziviler, sondern ein der Gewalttat verpflichteter Politikmodus. Vielmehr ist er auch ein Seelenzustand, weil er die Furcht vor der Auflösung und Fragmentierung aller sozialen Bindungen und Verhältnisse schürt (vgl. Kissane 2016: 63). Es ist eben dieses »Modell« der stasis, das Thukydides entwarf und das uns hier wieder begegnet. Dies aber zerrüttet den Menschen in seinem Innern, weil er auf einmal spürt, wie vergänglich seine Gemeinschaft ist, in der er lebte, und wie leicht er zum Opfer eines Anderen werden kann, dem er bis dahin vertraute und der ihm nun zum Feind gerät. Keine Gewalt nimmt dem Menschen das Gefühl der Geborgenheit, das er mit seiner Familie und seinem Haus verbindet, stärker als die des Bürgerkriegs (vgl. auch Riekenberg 2021: 14; 49 f.).

So verändert der Bürgerkrieg die Gefühlswelt des Menschen stärker, als dies in anderen Kriegen geschieht. Seine emotionale Betroffenheit ist im Bürgerkrieg vergleichsweise höher, weil sich das Verhältnis von Nähe und Distanz, dass der Mensch zu seinem Gegenüber eingeht, verändert. Die »Engagement-Distanzierungs-Balance«, wie der Soziologe Norbert Elias (2003) es nennt, ist in Bürgerkriegen eine andere als etwa die, die im Staatenkrieg herrscht. Denn im Staatenkrieg ist der Mensch nicht erst dazu genötigt, eine emotionale Distanz gegenüber dem Anderen aufzubauen, um diesen als seinen Feind bekämpfen zu können. Hier ist ihm der Feind von vornherein eine vergleichsweise vertraute Figur, lebt dieser doch außerhalb der eigenen Gemeinschaft, als Fremder. Das »Tötungstabu« auszusetzen, das seine Kultur für ihn bereithält (vgl. Freud 1974: 39), fällt dem Menschen in diesem Fall leichter. Im Bürgerkrieg dagegen muss der Mensch mehr psychische Energie und ein größeres emotionales Engagement aufwenden, um sich aus den Verstrickungen nachbarschaftlicher Nähe oder gar familiärer Bindung, in denen er vor dem Krieg lebte, zu lösen und sich stattdessen nunmehr der Gewalttat gegen seine Nächsten zuwenden zu können.

Ungeachtet aller potentiellen Aggressionsbereitschaft, über die der Mensch verfügen mag, macht dies den Bürgerkrieg für ihn im Allgemeinen wohl schwerer zu führen, als es bei anderen Gewaltkonflikten der Fall ist. Und dies gilt umso mehr, als die Distanzierungsleistungen, die notwendig werden, um einen Bürgerkrieg auszutragen, sich ja nicht nur gegen einen Nächsten richten, der nun zum Feind gerät. Ebenso betreffen sie die eigene Lebensgeschichte (vgl. Riekenberg 2021: 21 f.). Denn der Mensch muss vergessen, dass er demjenigen, dem er nun nach dem Leben trachtet, einmal nahestand, ihm vertraute. Und sicherlich wird er sich dazu mancherlei Abwehrmechanismen bedienen müssen, von denen die Psychologie handelt, wenn sie vom Krieg spricht (vgl. Mentzos 1993). Nicht Weniges muss verdrängt, Anderes umgedeutet werden, wenn der Mensch in den Bürgerkrieg zieht. Insofern ist der Bürgerkrieg nicht nur ein soziales Geschehen, in dem Menschen in der Gewalttat interagieren. Er ist auch nicht nur ein psychologisches Phänomen, der seelischen Bedrängnis entnommen. Mehr als andere Kriege ist er überdies ein Element verstoßener Erinnerung. Der Bürgerkrieg zieht über die Geschichte des Menschen hinweg und macht sie vergessen, weil er in der Tat der Gewalt dem Menschen eine neue Geschichte schreibt.

Sicherlich, all dies ist nicht zwangsläufig in jedem Bürgerkrieg der Fall. Es gab in der Geschichte oft genug Bürgerkriege, in denen die Menschen, die diesen Krieg führten, einander nicht nahegestanden hatten, sondern einander fremd waren. Nehmen wir den Krieg in Spanien von 1936 bis 1939, der manchem Betrachter als Paradigma des modernen Bürgerkriegs überhaupt gilt. Dieser Krieg (im folgenden Kapitel gehe ich näher auf seine Geschichte und seine Bedeutung für den allgemeinen Begriff des Bürgerkriegs ein) war ja gerade durch das Eingreifen ausländischer Soldaten sowie freiwilliger Kämpfer, die sich nach Spanien begaben, gekennzeichnet. Hier also ging der Bürgerkrieg weit über die Auflösung alter Nachbarschaft hinaus und schuf stattdessen eine anonyme Realität des Bürgerkrieges, die sich der Wirklichkeit des Staatenkriegs anglich. Jedoch auch in einem Krieg wie dem in Spanien geschah es weiterhin, dass Freunde oder Verwandte auf verschiedenen Seiten standen und Brüder und Schwestern einander voller Hass bis in den Tod verfolgten. Und Gleiches, um dies an dieser Stelle zu ergänzen, geschah in den Guerillakriegen in Lateinamerika um und nach der Mitte des 20. Jahrhunderts. Auch hier konnte der eine Bruder in der Nationalpolizei oder Armee dienen, der andere dagegen in die Guerillaorganisation wandern und dort gegen die staatlichen Sicherheitskräfte Krieg führen.

Diese Aufkündigung von Nähe, die Menschen einmal verband, unterscheidet den Bürgerkrieg von dem Staatenkrieg, in dem diese Zerteilung von Freundschaften und Verwandtschaftsverbänden nicht geschieht und der Nächste nicht der aus der Gemeinschaft Ausgestoßene ist, den es zu vernichten gilt. Vermutlich ist es diese besondere Psychologie des Bürgerkriegs, die erst erklärt, warum den Menschen der Bürgerkrieg so besonders grausam, seine Gewalttat derart exzessiv vorkommt. Denn das zieht sich ja als fixer Glaube durch die Literatur, gleich ob es sich um die Geschichts- oder die Staatswissenschaften handelt, dass der Bürgerkrieg eine enorme, extreme Gewalt organisieren würde. Aber solche Urteile erklären sich weniger aus der Sache selbst als vielmehr aus dem Bedürfnis der Politik, den Krieg zu definieren und in Kategorien zu unterteilen. Besonders einflussreich war hierbei das Völkerrecht, das dem verregelten Staatenkrieg den anarchischen Bürgerkrieg an die Seite stellte. In der Logik der Jurisprudenz war es von dort aus nur mehr ein kurzer Schritt, aus dem rechtlichen Status des Krieges auf das tatsächliche Kriegsgeschehen zu schließen. Im Ergebnis wurde die Gewalttat im Bürgerkrieg als eine einzigartige, »äußerst brutale Kriegführung« begriffen, wie der Rechtsgelehrte Aldo Virgilio Lombardi (1975: 74) schrieb. Doch dieses Urteil täuscht. Es gibt keine Gewalt, die allein ein Kind des Bürgerkriegs wäre. Vielmehr ist es die Seele des Menschen, der auf den Bürgerkrieg schaut und von ihm erzählt, die diesen Eindruck erst hervorruft, ich schrieb es bereits einmal.

Der Bürgerkrieg ist ein politischer Krieg. Dies trennt ihn vom tribalen Krieg, der alle soziale wie andere Organisation auf die Ebene des Verwandtschaftsverbands oder stammesartiger Strukturen rückführen, das heißt Politik gerade vernichten will. Aber wie geriet der Bürgerkrieg zu einem politischen Unternehmen, wenn sein Ursprungsort doch, wie bei Nicole Loraux (2006; 2017) zu lesen ist, die Familie war? Vom »war in the family« als Keimzelle des Bürgerkriegs schreibt sie (Loraux 2017: 13). Mit dieser Frage hat sich der italienische Philosoph Giorgio Agamben (2012) genauer befasst und dabei in der Diskussion der Arbeiten von Nicole Loraux eine, wie mir scheint, eher einfache Antwort gegeben. Denn im Grunde definiert Agamben die stasis zu einem autoregulativen Prozess. Demnach ist der Bürgerkrieg nicht das Ergebnis einer Politisierung der Bürgerschaft, sondern vielmehr erzeugt er diese erst und wird selbst in dieser Politisierung zugleich erst wirklich. Wir werden später sehen, dass für den modernen Bürgerkrieg jedoch gerade das Umgekehrte gilt. Hier nämlich führt der Bürgerkrieg nicht in die Politisierung einer Gemeinschaft, sondern stellt vielmehr gerade das Produkt einer übersättigten Politisierung dieser Gemeinschaft dar.

So gerät der antike Bürgerkrieg bei Giorgio Agamben zu einer Politisierungsmaschine. Er verlässt das Haus und dessen Gemeinschaft (oikos) und tritt wie über eine »Schwelle« (Giorgio Agamben) in den öffentlichen Raum der Stadt (polis). Fortan bietet das Haus dem Menschen keinen Schutz mehr, und dem Einzelnen ist kein Entkommen vor der Gewalt mehr möglich. Der Bürgerkrieg stellt sich als totaler Krieg dar, ein Topos im Übrigen, der in der Literatur zum Bürgerkrieg wiederholt aufgegriffen ist. Insbesondere der Nordamerikanische Bürgerkrieg (1861–1865) wurde bereits von den Zeitgenossen als solch ein totaler Krieg wahrgenommen und beschrieben.2 Giorgio Agamben nun versucht, diesen totalen Charakter des Bürgerkriegs in einer Diskussion des antiken Rechts und der städtischen Verfassung durch den Hinweis auf das Solonische Gesetz zu begründen. Demnach sei jedem Bürger der Polis, der im Bürgerkrieg nicht Partei ergreift, das Bürgerrecht zu entziehen. Allerdings ist die Frage, wie genau dieser Gesetzestext zu interpretieren ist, unter den Althistorikern strittig. »Die Auseinandersetzung mit dem politischen Verständnis des Solon sowie mit dem überlieferten Gesetzeswortlaut zeigt«, so Oliver Grote (2017: 129), »dass die athenischen Bürger in einer Stasis keineswegs für irgendeine Seite Partei ergreifen sollten, wie die Forschung früher glaubte und was stets für Verwirrung sorgte, sondern einzig und allein für die Polis«. Vor allzu kurzschlüssigen Deutungen müssen wir uns also wohl hüten, wenn es um die Frage geht, wie das Solonische Gesetz gegen die Neutralität im Bruderzwist genau zu bewerten ist. Aber unabhängig davon lässt sich festhalten, dass der Bürgerkrieg fraglos dazu neigt, eine Zwei-Lager-Bildung zu betreiben, in der ein neutrales Verhalten des Bürgers von den einander befehdenden Kriegsparteien nicht (mehr) toleriert wird.

Noch eine Bemerkung zum Begriff des Lagers, der hier für die Beschreibung der verfeindeten Bürgerkriegsparteien Verwendung findet. In der Literatur ist ja die Kritik vorgebracht worden, dieser Begriff würde eine Homogenität der Bürgerkriegsakteure vorspiegeln, die tatsächlich gar nicht gegeben wäre. So moniert Stathis Kalyvas (2006), dass man nicht schlicht von einheitlichen Akteuren ausgehen könne, wie der Lagerbegriff annehmen würde, weil die Gruppen, die einen Bürgerkrieg führen, nicht monolithisch zusammengesetzt seien. Aber ich denke, dass niemand, der den Lagerbegriff verwendet, dies behauptet. Es ist doch eine Banalität, dass der Lagerbegriff nur einen Prozess beschreibt: den der Verengung und Polarisierung. Im Inneren der Lager können sich sicherlich sehr unterschiedliche, heterogene Elemente versammeln. Auch kann ein Bürgerkriegslager anfänglich nur eine lose Bewegung sein; ebenso ist möglich, dass es sich um fest verfasste, organisierte Akteure handelt. Für den Staat als Bürgerkriegspartei gilt dies ohnehin. »Lager« ist deshalb kein Begriff, über den zu streiten lohnt.

Der Spanische Bürgerkrieg. Oder das Paradigma des modernen Bürgerkriegs

Der Spanische Bürgerkrieg (1936–1939) zog die Menschen in Lateinamerika in seinen Bann. Zumindest traf dies für diejenigen unter ihnen zu, deren Familien spanischer Abstammung waren beziehungsweise die familiäre Bande auf die Iberische Halbinsel unterhielten. Voller Anteilnahme verfolgten sie das Geschehen in ihrer alten madre patria, dem Mutterland Spanisch-Amerikas, wobei ihre Herzen mal auf der einen, mal auf der anderen Seite der Bürgerkriegsparteien schlugen. Vielleicht nicht zufällig war es der chilenische Dichter Pablo Neruda (er erhielt viele Jahre später den Literaturnobelpreis), der im Jahr 1936 den Gedichtband España en el corazón (dt.: Spanien im Herzen) schrieb und darin als vielleicht erster Schriftsteller vom Krieg und Sterben vor den Toren Madrids erzählte (vgl. Torre Barón 1999). Der Krieg in Spanien war auch eine Zeit politischer Erregung in Lateinamerika.

Aber dies ist nicht der Grund, weshalb ich mich hier mit diesem Gegenstand beschäftige. Bislang habe ich das antike Modell des Bürgerkriegs, seinen Idealtypus, behandelt, weshalb es jetzt an der Zeit ist, in die Moderne zu schauen. Da nun gilt der Spanische Krieg in der Literatur als klassischer Bürgerkrieg der Moderne, einem Paradigma gleich. Über diesen Krieg gilt es also nachzudenken, auch wenn wir gar nicht über Spanien sprechen, sondern den Bürgerkrieg in Lateinamerika betrachten wollen. Dabei sind es zuvörderst die verschiedenen Verflechtungen, die diesen Bürgerkrieg auszeichneten und ihm das Attribut der Modernität verliehen. Zum einen handelte es sich dabei um die internationale Dimension des Krieges. Schließlich war das Geschehen in Spanien Mitte der 1930er Jahre Teil jenes Weltbürgerkriegs (vgl. zu diesem Begriff Traverso 2008; Potsch 2019) und seiner Ideologien, der Europa spätestens seit den Jahren des Ersten Weltkriegs durchzog und in seinen Grundfesten erschütterte. Zum anderen ging es um die Übergänge und Vermengungen, die sich um diesen Bürgerkrieg rankten. Denn es gehörte mehr zu dem Weltbürgerkrieg als nur die Ideologie, nicht zuletzt auch missratene Revolutionen, imperiale Phantasien und autoritäre Neigungen, die Menschen in den Bürgerkrieg führten. Insofern ist der moderne Bürgerkrieg eng mit anderen Phänomenen verflochten und von diesen mitunter nur schwer zu trennen, mit Philosophien, sozialen Bewegungen, (verlorenen) Staatenkriegen und nicht zuletzt eben mit der Revolution. Dies aber macht es erforderlich, den Bürgerkrieg schärfer zu konturieren und einzugrenzen, das heißt Begriffsarbeit zu betreiben (vgl. auch Koselleck 1984).

Die Frage, die da aufleuchtet und die lautet, was den Bürgerkrieg von verwandten oder ähnlichen kollektiven Gewaltformen oder anderen Typen des Krieges unterscheidet, hat die Wissenschaft wiederholt umgetrieben. Um eine Antwort darauf zu finden, ist es hilfreich, als Erstes nochmals in den Leviathan zu schauen. Dort notierte Thomas Hobbes, dass zum »Wesen« des Krieges der »Begriff Zeit« gehöre (zit. bei Münkler 1993: 109). Übertragen wir dies auf den Bürgerkrieg, so zeigt sich, dass dieser ein zeitlich längeres Geschehen ist, das sich über Monate oder gar Jahre erstrecken kann. Der spanische Fall, in dem der Krieg knapp drei Jahre dauerte, ist dafür ein Beispiel. Viele Bürgerkriege der Neuzeit weisen diese lange Zeitdauer auf. Im Durchschnitt, sagen uns die Statistiken, die darüber Buch führen, ist ihre Dauer gar länger als die des Staatenkriegs (vgl. Newman/DeRouen 2017). Der Grund ist einfach: Bürgerkriege berühren die Identität von Menschen. Darüber aber lässt sich nur schwer verhandeln, um zu einem Friedenabschluss oder einem Kompromiss zu finden. Eine Identität ist »da«, sie ist nicht verhandlungsfähig. Ich komme später, am Ende des Buches, darauf zurück, wenn es um die Theorie des Bürgerkriegs geht.

Dem Bürgerkrieg verwandte beziehungsweise sich mit ihm überlappende Phänomene wie der Militärputsch (Staatsstreich) sowie die Revolution besitzen im Vergleich dagegen ein anderes, kürzeres Zeitgerüst (vgl. auch Riekenberg 2021: 60 f.). Im Fall des Militärputsches, der grundsätzlich von kürzester Zeitdauer ist, ist dies offenkundig. Ein Militärputsch oder Staatsstreich gelingt oder scheitert im Grunde in nur wenigen Stunden. Man spricht mitunter auch von einem handstreichartigen Unternehmen (vgl. Bankowicz 2012), das stattfindet. Er stellt insofern eine enorme Zuspitzung und Verdichtung eines Konfliktgeschehens dar. Im Spanien Mitte der 1930er Jahre begriffen konservative und nationalistische Kreise den Putsch vom Juli 1936, den sie ausführten beziehungsweise mit Wohlwollen begleiteten, denn auch ursprünglich als ein solch schnell vorübergehendes Geschehen. Einen Bürgerkrieg zu führen planten die Putschisten keineswegs. Denn Menschen können der Gewalttat frönen, der Revolution, nicht aber dem Bürgerkrieg. Dazu ist dieser Begriff mittlerweile allzu negativ besetzt. Die Revolution ist vielen ein hehres Gebilde, das mit Symbolen des Widerstands und Phantasien der Emanzipation verbunden ist. Der Bürgerkrieg dagegen kreist um Bilder von Verzweiflung, Ausweglosigkeit, er verspricht nur Unheil, Entzweiung, Anarchie. Also verstanden auch die Aufrührer in Spanien die Erhebung des Militärs als einen, wie sie es nannten, kurzen, »chirurgischen« Eingriff in Gesellschaft und Politik (vgl. Vilar 1987: 7). Erst das Scheitern des Putsches führte sie in den inneren Krieg.

Ein ähnliches Zeitgerüst besitzt die Revolution, sofern wir mit dem Revolutionsbegriff nicht das Bild eines langen Strukturwandels (Beispiel: Industrielle Revolution), sondern vielmehr die Vorstellung eines politischen Umsturzes verbinden. Auch die Revolution geht in Momenten, meist sind es nur wenige Tage, vonstatten. Freilich ist diese kurze Zeitdauer nicht die Regel. Meist verebben Revolutionen nicht in einer geringen Zeitspanne, sondern gehen stattdessen in einen neuen Zeitabschnitt über. Dieser ist der Bürgerkrieg. In ihm wird nunmehr zwischen den verfeindeten Lagern über einen längeren Zeitraum hinweg ein bewaffneter Kampf ausgetragen, in dem über das Schicksal der Revolution entschieden wird. Der Osteuropa-Historiker Manfred Hildermeier (2017: 31) hat dies beispielhaft für die Russische Revolution von 1917 beschrieben: »In der Geschichte der Neuzeit gehörten Revolution und Krieg fast immer zusammen. Wenn einer Revolution kein Krieg voranging, dann folgte er ihr nach. Der Russische Bürgerkrieg von 1918 bis 1921, dessen Grausamkeit und Blutzoll die des Weltkriegs übertrafen, war im Kern ein solcher nachgeholter Revolutionskrieg«. Gleiches kann als Folge eines missglückten Militärputsches geschehen. Die Geschehnisse in Spanien zeigen uns dies exemplarisch.