Der Bürgermeister schläft - Martha Christensen - E-Book

Der Bürgermeister schläft E-Book

Martha Christensen

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Beschreibung

Eine Ehefrau erinnert sich. Am folgenden Morgen soll in der Provinzstadt das große 25-jährige Amtsjubiläum ihres Mannes als Bürgermeister gefeiert werden. Bitter erinnert sich seine Frau daran, wie sich ihr Mann seit der Amtseinführung vor 25 Jahren auf ihre Kosten zum machthungrigen Menschen entwickelt hat. Je weiter fort die Nacht schreitet, desto mehr reift in ihr ein Entschluss: Sie wird ihren heuchlerischen Mann verlassen. Doch hat sie auch wirklich die Kraft dazu?-

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Martha Christensen

Der Bürgermeister schläft

Unrecht von gestern

Zwei Romane

Aus dem Dänischen vonWerner Hennig und Udo Birckholz

Saga

Der Bürgermeister schläft

Er sagte, daß es wohl klug wäre, zeitig ins Bett zu gehen, um morgen ausgeruht zu sein, und ich gab ihm recht. Natürlich, nichts wäre klüger als das.

Er ist den ganzen Abend um mich herum gewesen, hat mich sozusagen unter Kontrolle gehabt, damit ich nicht anfangen sollte, mich aus einer der Portweinflaschen zu bedienen, die, zusammen mit dem Sherry und dem Rotwein, für den Abend auf dem Küchentisch in Reih und Glied aufmarschiert sind. Oder aus einer anderen versteckten Flasche. Er vermutet nämlich, daß ich immer irgendwo eine Flasche versteckt habe, und das ist ja auch nicht ganz verkehrt. Selbstverständlich verstecke ich sie, da er es nicht ertragen kann, sie zu sehen.

»Kommst du nicht?« fragte er, die Hand auf der Türklinke, und blitzschnell dachte ich mir das mit den Gläsern aus, so tüchtig bin ich geworden. Diese Leihgläser, die in übereinandergestapelten Kisten stehen, obwohl das Haus voll ist von kostbarem Glas. Doch das benutzen wir nicht, es könnte entzweigehen, und im übrigen würde es nicht reichen bei den vielen Abordnungen und Einzelpersonen, die er zur Gratulation erwartet. Ein so großer Tag ist das.

»Ich will eben noch die Gläser waschen«, sagte ich und fügte listig hinzu, ich fände, er solle ausnahmsweise einmal von seinen Prinzipien abweichen und eine Schlaftablette nehmen, damit er richtig zur Ruhe komme.

Ob ich die Gläser nicht morgen spülen oder ob das nicht eine der Aushilfen erledigen könne?

Selbstverständlich könnte das eine von ihnen, sie würden in der ersten Stunde ohnehin nicht wissen, was sie mit sich anfangen sollen, doch ich blieb dabei, daß ich das am liebsten selbst in die Hand nehmen wolle und daß am nächsten Tag unmöglich Zeit dafür bleibe. Er solle ruhig schon ins Bett gehen. Daraufhin feuerte er eine seiner gut gedrechselten politischen Wendungen ab – eine genau abgestimmte Mischung von Verschleierung und Deutlichkeit, für die er so viel Talent hat.

»Ich möchte gern, daß wir beide morgen gut in Form sind.«

Er sagte nicht etwa, nun würde ich mich – verdammt noch mal – wohl hinsetzen und picheln und morgen mit geröteten Augen und getönten Brillengläsern repräsentieren. Und ich, die ich im Laufe der Zeit auch einiges gelernt habe, bestätigte durch Nicken und Lächeln, daß wir beide gut in Form sein würden, und er kam nicht zu mir und hob mich vom Stuhl, um mich ins Bett zu tragen und meinen Körper mit dem Gewicht des seinen auf die Matratze zu pressen, denn mit all dem haben wir ja aufgehört; er stand bloß da, die Muskeln der Mundpartie gestrafft, und sagte, dann verlasse er sich also darauf – so eiskalt und drohend, wie nur er es sagen kann. Ich sagte: »Gute Nacht, mein Lieber«, so locker und höflich, wie es mir möglich war, und dann ging er endlich. Ich hörte seine Schritte auf der Treppe und die verschiedenen Geräusche, die anzeigten, wie weit er in seinen Vorbereitungen, zu Bett zu gehen, gekommen war, und schließlich wurde es still im Haus.

Selbstverständlich trinke ich nicht, damit am nächsten Morgen nichts mit mir anzufangen ist. Oder an den anderen Tagen, die danach kommen. Das will ich nicht. Und was das Repräsentieren betrifft, das werde ich schon nett und ordentlich hinter mich bringen. Die Gäste sollen nicht mit ihrem kleinen wissenden Lächeln weggehen und mit der zufriedenen Feststellung, daß ich wieder einmal die rauchfarbene Brille getragen habe, diesmal nicht. Er soll seinen Empfang in Ruhe genießen und die Möglichkeit haben, die Rede auf mich loszuwerden, auf mich, ohne deren Hilfe und Unterstützung er nie so weit gekommen wäre – das macht sich ja immer so gut. Zum richtigen strategischen Zeitpunkt, wenn all die bedeutenden Leute – die gesamte Claque –, das Glas in der einen Hand und die Zigarre oder Zigarette in der anderen, sich dicht an dicht drängen und das Zimmer so voller Rauch ist, daß man kaum noch die teuren Investitions-Gemälde wahrnehmen kann, und wenn die meisten ihre kurzen kleinen Ansprachen hinter sich gebracht haben, sorgsam darauf bedacht, alles darin aufzunehmen, was er am liebsten hört. Und schon beim ersten leichten Schnippen seines Fingernagels gegen die gewölbte Seite des Glases werden das in gleichmäßiger Tonlage andauernde Summen und das gedämpfte, kontrollierte Lachen aufhören, wird erwartungsvolle Stille eintreten. Zumindest jedenfalls Stille. Sein Blick wird den Umkreis der Claque und diese selbst suchend mustern – und dann habe ich da zu sein, nüchtern, lächelnd und ohne die Rauchfarbene, aufrecht und seiner Huldigung würdig. Und nicht betrunken zu schwanken oder weinend auf dem WC zu sitzen wie bei seinem fünfzigsten Geburtstag, als wir die letzte ganz große Show hatten und er mitten in seiner Rede wütend aufhören mußte, weil seine Augen vergebens nach mir suchten – woraufhin er mehrere Tage nicht mit mir sprach und dann lange, lange daran erinnerte, wie peinlich es für ihn gewesen sei, daß ich nicht zur Verfügung stand, sondern draußen auf dem WC saß und über so vieles weinte, was er in seiner Rede nicht erwähnt hatte.

Über Mik, der bei dem abendlichen Familiendinner nicht anwesend sein wollte. Über David und Jytte, die es auch nicht wollten. Über ein Projekt in der Stadt, aus dem nie etwas geworden war, und über ein anderes, aus dem etwas wurde. Und schließlich weinte ich darüber, daß ich auch nicht im entferntesten imstande war, zu verhindern, daß all dies immer und immer wieder geschah. Während ich weinte, wuchs sein Zorn, weil ich in diesen raucherfüllten Zimmern nicht anwesend war. Morgen jedoch werde ich bestimmt zur Verfügung stehen, selbst wenn Mik und auch David und Jytte nicht dasein werden. Das habe ich mir geschworen. Es wäre zu grausam, nicht dabeizusein, und ich bin ja nicht grausam.

Er darf den Sonnenschein auf seinem Berggipfel genießen wie ein Kind, und er darf seine Rede darüber halten, daß er ohne meine Hilfe niemals auch nur annähernd so weit nach oben gekommen wäre. Mit der kleinen eingeschobenen Bemerkung, begleitet von seinem schiefen Lächeln, daß er nicht nur an die praktische Hilfe denke – daß er zum Beispiel immer zwischen mindestens zwei frisch geplätteten Hemden wählen konnte, denn es gab ja eine Zeit, in der die Hemden geplättet werden mußten –, sondern mehr noch an die moralische Hilfe und Unterstützung, die er jederzeit bei mir gefunden habe und auf die er sich habe verlassen können, weil ich ihn so brav und treu geliebt und ihn den ganzen Weg begleitet habe. Die Worte werden wie ein Schauer auf mich niederprasseln und mich bis auf die Haut und noch weiter durchnässen. Es ist ja so wahr, was er sagt. Ich liebte und unterstützte ihn den ganzen Weg über, und als ich aufhörte, ihn zu lieben, unterstützte ich ihn auch weiterhin. Und als ich aufhörte, ihn zu unterstützen, habe ich zumindest nichts gegen ihn unternommen. Ich betäubte den Kummer über meine maßlose Loyalität, indem ich ständig ein wenig süffelte – und wurde beinahe Alkoholikerin.

Aber wieso beinahe. Wieso eigentlich beinahe. Ist jetzt nicht die Stunde der Wahrheit, und sollte ich nicht wenigstens jetzt ehrlich sein? Habe ich ihn nicht deshalb ins Bett geschickt? Damit ich hier mit mir selbst sitzen kann und herausfinde – nein, nicht herausfinde –, bekenne, Mut und Glauben gewinne.

Glaube. Ein kleines Wort nur und so eine schwierige Größe. Glaube an was? An den Rest Karin, der irgendwo sein muß, seitdem ich hier sitze.

So du Glauben hast wie ein Senfkorn ...

Aber man meint wohl nicht diese Art des Glaubens, den ich übrigens nicht habe. Dann geht es vielleicht so, ich werde dasitzen und suchen, ich, die ich eigentlich im Bett liegen und an die Zimmerdecke starren müßte, damit ich morgen frisch und ausgeruht bin. Nur so viel Glauben, wie in einem Senfkorn Platz hat, und ein klein wenig Mut. Aber dann darf ich mich auch nicht betrinken, dann muß ich mich damit begnügen, vorsichtig zu nippen und mich im Zaum zu halten.

»Prost, Karin. Du hast dir die Ruhe und den Frieden verschafft, um dich auf Herz und Nieren zu prüfen, nun tue es auch. Der Bürgermeister schläft. Sonst wäre er bereits hier gewesen und hätte mit Abscheu die Flaschen entfernt und dich ins Bett beordert, damit du ihn morgen nicht blamierst. Prost, Karinka!»

Und warum nun das? Warum nun plötzlich das. Seit Tausenden von Jahren geben wir einander keine Kosenamen mehr. Vor Tausenden von Jahren hast du mir einen Schal um den Kopf gebunden, mir verliebt in die Augen geschaut und gesagt, ich hätte Ähnlichkeit mit einer kleinen russischen Bäuerin. Die schönste kleine Russin auf der Welt. Karinka ...

Es gefiel mir, daß du mir einen Schal um den Kopf bandest, und ich wollte gern wie eine russische Bäuerin aussehen, doch das war in der Urzeit, als die Gedanken einfacher waren und die Worte groß und ergreifend, wenn wir halbe und ganze Nächte hindurch mit Freunden beisammensaßen. Wir wollten die Welt, in der wir lebten, besser und schöner machen. Das war wirklich alles. Den Kampf kämpfen für diejenigen, die nicht selbst kämpfen konnten, bis das Ziel erreicht war. Gleichheit zwischen den Menschen. Miteigentümer an allen Herrlichkeiten der Welt. Vor allem aber Mitmenschlichkeit, über alles andere Achtung vor dem einzelnen Menschen.

Die Worte stoben zwischen den billigen Möbeln der Urzeit und den Bierkastenregalen mit den abgenutzten und zerlesenen Büchern. Mitunter so viele Worte und so lange, daß einer von uns dabei in Schlaf fiel. Schliefen im Sitzen ein oder ließen uns hinuntergleiten auf das Überbleibsel einer Bettcouch, auf der immer so viele so unbequem sitzen mußten. Dann rückten die neben einem Sitzenden noch ein wenig weiter nach vorn, so daß man sich hinter ihnen zusammenrollen konnte, und die großen Gesten, die bleichen und übernächtigen Gesichter begleiteten einen ein Stück in den Schlaf. Jytte und ich waren als erste schwanger, und eine von uns beiden schlief gewöhnlich ein. Ich erinnere mich an den Augenblick kurz vor dem Einschlafen und an den Geruch der Decke – die gewiß nie den Luxus einer Reinigung kennengelernt hatte –, wenn irgend jemand mir diese Decke über die Schulter zog und sich die Zeit nahm, mir einmal über das Haar oder die Wange zu streichen, bevor er sich wieder dem Zimmer zuwandte und mit einem Wort oder einer Geste in das beinahe rituelle Muster zurückglitt.

Wenn Jytte einschlief, sah ich, daß ihr schmales Gesicht ein Kindergesicht geblieben war, daß ihr schmächtiger Körper trotz der beginnenden Schwere ein kindlicher Körper geblieben war, und ich wünschte, daß ich sie beschützen könnte, so wie man wünscht, ein Kind vor dem Leid der Welt beschützen zu können. Ich sah die Wärme in Davids Augen, wenn sein Blick sie streifte, und dachte: David und Jytte und du und ich.

Die anderen, sie kamen und gingen. Sie saßen eine Weile zwischen uns und erweiterten den Kreis ein wenig, solange sie da waren, sie leisteten ihren Beitrag, nahmen teil und sprachen unsere Sprache, und wir spiegelten uns in ihren Augen und Meinungen und erinnerten uns lange an ihre Gesichter und Namen, aber sie waren austauschbar und entbehrlich, sie waren das Fleisch und die Schale der Frucht, während wir den Kern bildeten – woran wir nie Zweifel aufkommen ließen.

Ich erinnere mich, wie du deine Arme um mich legtest, wenn du mich wecken mußtest, der letzte Bus war schon längst abgefahren, und wir mußten den weiten Weg nach Hause zu Fuß gehen. Du wußtest, wie lange ich brauchte, um wach zu werden, deshalb hieltest du mich geduldig fest, während sich die siedenden Laute der Aufbruchstimmen wie eine immer deutlicher werdende Brandung meinem Ohr näherten. Es kam auch vor, daß ich irgendwann gegen Morgen in Davids und Jyttes Bett aufwachte, Davids Arm über meinem Bauch und Jyttes leichter Atem an meinem Gesicht und eine schwache Erinnerung daran, daß mich jemand – du mußtest das wohl gewesen sein – ausgezogen, behutsam hochgehoben und ins Bett getragen hatte. Einen Augenblick lang betrachtete ich die fremde Zimmerdecke, bevor ich weiterschlief oder aber leise aufstand, mich im Halbdunkel aus dem Schlafzimmer stahl, mich an der Couch vorbeitastete, die andere gestrandete Gäste besetzt hatten, und dich fand, auf der schmalen Matratze, die sich wirklich nur für eine Person eignete und doch uns beiden Platz bot – wenn wir nicht zusammen auf dem Boden rollten und atemlos lauschten, ob uns jemand gehört hatte.

Die Vormittage waren etwas schwierig, wenn wir gähnend, einer nach dem andern, zum Badezimmer latschten und zurück und die Tassen und Gläser des Abends aus dem Zimmer räumten. Waren da überhaupt Gläser? Wir tranken damals wohl kaum etwas. Höchstens ein paar Bier und dann lieber direkt aus der Flasche. Wir waren so genügsam, daß wir stundenlang reden konnten, ohne daß ständig aus einer Flasche nachgeschenkt werden mußte – der Inhalt wurde erst im Laufe der Jahre stärker und teurer.

Allmählich wurde es Zeit, Wasser für den Kaffee aufzusetzen, und jemand – du oder David – ging Brötchen holen. Doch wenn wir dann endlich an Jyttes Küchentisch mit der rotkarierten Decke saßen und der Kaffee und die Brötchen nach Sonntag dufteten, kamen alle Worte eifrig zurück, und wir redeten weiter – als hätte es gar keine Pause gegeben, als hätte nur einer von uns mitten im Satz innegehalten, um Luft zu holen.

»Jetzt geht es nicht mehr nur um Worte«, sagtest du, als du eines Tages während der Arbeitszeit nach Hause kamst, ohne den Duft von Seife, der verriet, daß du vor Verlassen der Fabrik ein Bad genommen hattest, »jetzt ist es ernst, du, jetzt geht es um Taten. Jetzt wird es sich erweisen, ob wir zu etwas anderem taugen, als nur zum Reden.«

Du zogst den Küchenhocker vor, setztest dich mir gegenüber, beugtest dich zu mir und verlangtest meine volle Aufmerksamkeit, sahst nicht den Jungen, den ich mit Kartoffelbrei fütterte, und merktest nicht, daß er zwischen den Happen versuchte, mit dir Kontakt aufzunehmen. Du warst zu sehr beschäftigt, und dein junger Zorn machte dein Gesicht bleich und schön, deine Stimme bebte sogar ein klein wenig.

»Jetzt mußt du gut zuhören, Karin.«

Und dann begannst du zu erzählen. Zunächst etwas, was ich schon wußte, daß der Arbeitskollege, der eigentlich statt deiner zum Vertrauensmann hätte gewählt werden sollen, weil er der Beste für diesen Job gewesen wäre, es nicht geworden war, da seine Ansichten zu extrem waren, daß er weiter aufgefallen sei und daß sie ihn nun gefeuert hätten.

»Ihn nur deshalb gefeuert, Karin, weil er genau so klug war wie sie und wußte, worum es geht.«

Deshalb wart ihr alle gegangen. Ganz still und friedlich. Ihr hattet die Schalter auf »Aus« gestellt und die großen Maschinen angehalten, die noch einige Augenblicke dastanden und zitterten wie Tiere, die zu schnell gelaufen waren, bevor sie zur Ruhe kamen. Du warst für ihn eingetreten und hattest es geschafft, daß sie gingen, und danach warst du es, der zur Leitung gehen und Rechenschaft über die Geschehnisse ablegen mußte. Ihr wolltet euch um fünf Uhr wieder versammeln, und da kamst du mit der Antwort der Leitung – daß ihr alle gehen könnt, wenn die Arbeit morgen früh nicht wieder aufgenommen wird.

Der Junge machte sich bemerkbar, fuchtelte mit den Armen und brüllte, und ich hob wieder den Löffel, der mir plötzlich schwerer erschien, und fütterte weiter. Du fragtest, ob ich glaube, daß sie es wahr machen werden, euch alle zu entlassen, wenn ihr nicht nachgebt.

»Nein«, antwortete ich, »das werden sie keinesfalls tun. Das ist nur eine Drohung.«

So sicher sagte ich das – als hätte ich die leiseste Ahnung von dem, was die machen werden. Du sahst mich überrascht an, und die Hand, die wieder einmal die Finger durchs Haar fahren lassen wollte, fiel auf den Tisch.

»Ja«, sagtest du, »ja, vielleicht. Das ist es ja, es ist keine rechtmäßige Entlassung, das ist es ja, verstehst du, aber wieso bist du so sicher?«

»Weil ...«, sagte ich – und sprach nicht weiter, da du die Begründung niemals akzeptiert hättest –, weil du so großartig bist, und weil du jetzt handelst. Statt dessen fragte ich, was David meine.

»Oh, David ...« Er sei selbstverständlich dabei, zweifelte ich daran? Beinahe aggressiv, das vorgeschobene Kinn wirkte viereckig. Tat ich es? Ich beeilte mich, den Kopf zu schütteln, selbstverständlich zweifelte ich nicht. Ich hob den Jungen hoch, klopfte ihm auf den Rücken, damit er tief und inbrünstig aufstoßen konnte, wollte ihn dir hinüberreichen, aber ich sah ein, daß deine Hände noch zu unruhig waren und deine Gedanken zu unfriedlich, um ein Kind zu halten. Ich blieb also mit ihm sitzen und schaukelte ihn, mit geteilter Aufmerksamkeit – der größte Teil war dir zugewandt und der Unruhe, die du ausstrahltest, die dich dazu brachte, vom Hocker aufzustehen und in der Küche hin und her zu wandern. Ich mußte daran denken, ob nun auch all die anderen Männer so unruhig trabten und sich fragten, ob es eine übereilte Aktion sei und ob sie an der Forderung festhalten dürften, daß der andere – der sie möglicherweise nicht einmal besonders interessierte – wieder eingestellt werden müßte, bevor sie die Arbeit wieder aufnahmen.

»Du könntest uns ja eine Tasse Kaffee kochen«, schlug ich vor, und meine Hand umschloß den gewölbten Hinterkopf des Jungen, »während wir warten.«

Und meinte damit, darauf warten, daß du wieder zur Arbeit gehen würdest, ich konnte nicht wissen, wie viele Tassen Kaffee es werden würden. Während wir warteten.

Jytte kam gleich, nachdem du gegangen warst. Mit Kind, Babylift, Zigaretten und trockenen Windeln, und wir versicherten einander, daß es richtig sei, was ihr gemacht habt, und daß wir stolz auf unsere Männer seien, die sich gegen das Unrecht erhoben hatten, und daß wir ihnen die ganze moralische Unterstützung, die erforderlich war, geben würden. Währenddessen tranken wir kalten Kaffee, rauchten Zigaretten und zögerten die Vorbereitung des Abendbrotes lange hinaus, denn es war klar, daß sich derartige Versammlungen ausdehnen konnten. Aber wir hatten nicht gedacht, daß es so lange dauern würde, daß wir so häufig den Herd ein- und ausschalten mußten, bis die Frikadellen schließlich verkohlten Holzstücken glichen, so viele Zigaretten rauchen, den Kindern so oft zu essen geben, sie so viele Male trockenlegen und im Schlafzimmer ins Bett bringen mußten. Schließlich saßen wir am gedeckten Küchentisch einander gegenüber, Worte und Versicherungen waren versiegt, warteten nur noch und wandten wie auf Befehl die Gesichter fragend unseren müden Frontkämpfern zu, wenn sie endlich kamen und sich auf einen Stuhl fallen ließen.

»Wir halten nicht durch«, sagtest du schließlich. »Höchstens noch einen Tag, dann geben sie auf.«

»Sie haben Angst«, sagte David und blinzelte vor Müdigkeit mit den Augen, »sie haben nackte Angst.«

»Ja, selbstverständlich haben sie Angst. Ich habe auch Angst, ich verliere ja auch meine Arbeit, wenn der Ofen aus ist.«

»Mit dir ist es trotzdem etwas anderes«, murmelte David.

Ob er wohl so freundlich sei, dir zu sagen, was er damit meine, das müsse er dir bitte erklären.

»Ich kann es nicht erklären, es ist bloß irgendwie anders. Du wirst dich schon behaupten. Wollen wir nicht essen, was die Mädchen für uns gekocht haben?«

Du machtest die Augen halb zu und tatest so, als hörtest du nicht zu oder als sei essen im Verhältnis zu dem anderen etwas überaus Unwesentliches, woran man nicht einmal denken sollte.

»Die Mädchen haben doch hier gesessen und mit dem Essen auf uns gewartet.«

»Menschenskind, so iß doch, iß endlich, wenn du vor Hunger schon umkommst!«

David lachte ein wenig verlegen, und ich spürte Jyttes verwunderten Blick auf mich gerichtet. Da schütteltest du plötzlich die Schwierigkeiten und Unannehmlichkeiten ab, recktest dich einmal, lächeltest und wurdest wieder so sympathisch, wie nur du es sein kannst.

»Vielleicht geht es doch, vielleicht schaffen wir es, verdammt noch mal, David, wir werden es schaffen. Und jetzt werden wir auf jeden Fall etwas essen.«

Wie lange dauerte der Streik? Waren es Tage oder Wochen? Ich weiß es nicht, aber ich erinnere mich an die Wartezeit und an die Stimmung, oder mehr an den Stimmungswechsel. Das lange, lange Warten, als die Tageszeiten gleichsam ineinander übergingen, plötzlich war es Morgen und auf einmal Abend. Jytte und ich saßen in der Küche einander gegenüber. Und immer waren die Kinder um uns herum, sie schliefen oder schrien ungeduldig. Es war eine Art Belagerung oder Ausnahmezustand, wir warteten und warteten und versuchten uns vorzustellen, wie eure Stimmung wohl sein würde, wenn ihr nach Hause kommt – bereit, uns dann blitzschnell auf die Rolle einzustellen, in der ihr uns zu finden hofftet: tröstend und sympathisierend, aufmunternd, begeisternd und ausdauernd, vor allem ausdauernd, in einer zähen, verbissenen Gemeinschaft.

Die Gemeinschaft mit euch, der gewaltige Druck, wenn der Zusammenhalt zu zerbrechen drohte, und ihr heiser wart vom Überreden und vom Versprechen – ihr glaubtet selbst kaum noch daran – und erschöpft vom Betteln und Flehen und Sich-fast-Schlagen, um die Organisation zusammenzuhalten. Und die leeren Augenblicke, wenn jeder sich selbst und ihr euch gegenseitig fragtet, ob es auch richtig sei, was ihr machtet, ob ihr recht hättet, von den anderen bedingungslos Solidarität zu fordern, wenn ihr spürtet, daß der Kampf nicht nur um den entlassenen Arbeitskollegen und ein paar grundsätzliche Standpunkte ging, sondern daß er auch in hohem Grad eure private Kraftprobe geworden war, daß ihr euch selbst beweisen wolltet, wie lange ihr euch halten könnt, wieviel ihr wert seid.

Die Talfahrt und die Wartezeit, Davids runde Wangen, die allmählich schmaler wurden, und dann diese verteufelte Situation voller Ausgelassenheit, als plötzlich – der Himmel mochte wissen, weshalb – alles ganz anders lief. Ihr kamt lärmend mit einem Haufen fremder Menschen nach Hause; Bier, viele Flaschen Bier waren da, Kampflieder und große Gesten; die Kinder wachten erschrocken auf und mußten wieder zum Einschlafen gebracht werden. Und unser Nachbar über uns – hieß er Hansen oder Petersen? – unser friedlicher Nachbar, mit dem wir auf besonders freundschaftlichem Fuß standen, kam eines späten Abends in grauer Hose und gestreifter Pyjamajacke in die Stube und schimpfte, weil wir nicht nur streikten und die Gesellschaft zerstörten, die Gesellschaft, die er selbst mit eigenen Händen mit aufgebaut habe, sondern obendrein noch sangen, und das so falsch, daß man unmöglich einschlafen könne.

Das Auf und Ab und die langen Intervalle endlosen Wartens, die unregelmäßigen Essenszeiten und die unruhigen Kinder.

Sind sie zu uns gezogen – David und Jytte und ihr Säugling – und wohnten die ganze Zeit über bei uns, oder waren sie nur so oft und so lange da, daß es so wirkte? Auf diese Weise waren wir vier, die an einem Strang zogen, die einander stützen konnten, wenn es ganz schiefging. Dadurch war die Gruppe so groß, daß einer von uns immer genügend Kraft übrig hatte, um den Wagen weiterzuschieben, während die anderen Atem holten.

Du und ich und David und Jytte.

Und dann der Tag, an dem ihr ganz ruhig nach Hause kamt, gleichsam erstaunt darüber, daß es wirklich gelungen war, dankbar, daß ihr ausgehalten hattet. Beinahe verlegen, wie zwei Konfirmanden, einer den anderen vorschiebend.

»Sag du es ihnen, Stefan.«

Als hätten eure Mienen euch nicht in dem Moment verraten, als ihr zur Tür hereinkamt, eure jungen Gesichter konnten noch etwas verraten.

»Ja, wir haben also gewonnen.«

Und dann stürztest du durch die Küche, und deine Arme umfaßten mich.

»Wir haben tatsächlich gewonnen, Karinka, wir haben es geschafft, hörst du!«

Seitdem gewannen wir immer. Wir wurden eine Gruppe von Gewinnern. Wir gewannen, als du bei der Wahl der Stadtverordnetenversammlung aufgestellt und gewählt wurdest und als David es schaffte, und der größte Sieg war, als du Bürgermeister wurdest. Jedesmal, wenn wir gewonnen hatten, feierten wir und fühlten uns wie Beherrscher der Welt, und wir lachten so laut und so oft, daß das Echo des Gelächters irgendwo in einem Winkel der Wohnung, die andere lange nach uns bewohnten, versteckt sein muß.

Am ausgelassensten und überschäumendsten feierten wir, als du Stadtverordneter wurdest – wie Kinder, die ein Spielwarengeschäft plündern durften und immer wieder jedes einzelne Spielzeug ins Licht hielten und einander auf all die funkelnden Möglichkeiten aufmerksam machten. David lief aus dem Zimmer und kam mit der Messingkette vom WC zurück; lachend hängte er sie dir um, breitete die Arme mit einer großartigen, forschen Bewegung aus und sang mit seiner tiefen, wohlklingenden Stimme: »Beeilt euch doch – er kommt in kurzer Zeit, Stefan als Bürgermeister, als Bürgermeister steht er bereit.«

Dann stießen wir die Flaschenhälse so hart aneinander, daß einer zerbrach und der Bierschaum zusammen mit Davids Blut an der Flasche hinunterlief. Doch wir ließen uns die gute Laune nicht wegen einer Schramme an der Hand verderben, wir wickelten unser größtes und bestes Frottiertuch um die Hand, fuhren alle vier mit einem Taxi zur Rettungsstelle, besetzten lärmend eine Ecke des unpersönlichen, sterilen Wartezimmers und drängten die schwere Luft der Angst und Sorgen mit unserem Gelächter und Gerede beiseite. Und wir erlaubten niemandem und nichts, auch nur den geringsten Schatten auf unsere Freude und das Siegesgefühl zu werfen – weder dem jungen Mann mit dem gebrochenen Handgelenk und dem gequälten Gesichtsausdruck, der uns unter normalen Umständen leid getan hätte, noch dem älteren Mann mit der blutenden Oberlippe und schon gar nicht der steifen, unnahbaren Krankenschwester, die mit strengem Blick und mißbilligend hochgezogenen Augenbrauen hinter der Glasscheibe saß. Nicht einmal, als sie energisch ihre Papiere vor sich auf den Tisch knallte, aufstand und zu uns herüberkam, waren wir imstande, unsere mitgebrachte Heiterkeit zu dämpfen.

Sie müsse doch wirklich bitten, sich ein wenig zu beherrschen und ein klein bißchen Respekt zu haben. Dies sei kein Ort für so ein lautes Beisammensein.

»Aber es ist ein Festabend«, entgegnete David und hob seine Hand mit dem allmählich durchgeweichten, feuerroten Handtuch, das nie mehr als Handtuch benutzt werden konnte. »Wir waren im Kampf, und wir haben gewonnen!« Und mit einem Schlag in die Luft in deine Richtung, wobei er ihre weiße Schürze bespritzte, sagte er: »Und hier sehen Sie den zukünftigen Bürgermeister der Stadt.«

Plötzlich fing er an zu lachen, und Jytte, die versucht hatte, eine entsprechend ernste Miene aufzusetzen, gab japsend einer neuen Lachwoge nach, die durch das triste Wartezimmer rollte und auch die beiden anderen Wartenden widerstandslos mitriß. So bekam unser gemeinsames Gelächter neue, unbekannte Ober- und Untertöne; nur du saßest da mit einem drollig erstaunten Ausdruck von Nichtverstehen im Gesicht, und als deine Hände suchend über dein Hemd glitten und unsere alte Klosettkette zu fassen bekamen, wechselten Zorn und Heiterkeit einige Augenblicke in deinem Gesicht, bis auch du dich nicht mehr beherrschen konntest und mitlachtest.

»Wollen Sie bitte so freundlich sein ...«, begann die Krankenschwester, und dann machte ihr Mund ein paar eigentümliche, unfreiwillige Bewegungen, etwa so, als würde eine alte Jungfer plötzlich und zu ihrem eigenen Erstaunen von unbekannten und sündhaften Eingebungen heimgesucht. Da setzte David sich ganz ruhig in den Stuhl, und die Krankenschwester machte ihre Arbeit und legte ihm einen Verband an.

Als David in die Stadtverordnetenversammlung kam, tranken wir Schnaps und Bier zum nächtlichen Imbiß, doch als du Bürgermeister wurdest, nippten wir Sherry, während das Zimmer von den Stimmen fremder Leute summte; von diesen fremden lächelnden, redenden und Glück wünschenden Menschen wurden wir ständig voneinander weggeschoben, trotzdem standen wir zu einem bestimmten Zeitpunkt dann dicht nebeneinander in einer Gruppe und stießen sehr feierlich mit den Gläsern an, und David, der nie ein guter Redner war, räusperte sich, als wolle er etwas ganz Wichtiges und Besonderes sagen, doch er überlegte es sich und legte statt dessen einen Arm um Jyttes Schultern und einen Arm um meine und hielt uns beide ganz fest.

»Wir sind auf dem Weg, Mädchen«, sagte er mit einer Stimme, die ein ganz klein bißchen bebte. »Zum Teufel, und wie wir jetzt auf dem Weg sind!«

Und das war die ferne Zeit des guten Willens.

In jener Zeit wimmelten die Kinder um unsere Beine herum, und mitunter war es zuviel, manchmal waren es zu viele Kinder, dauernd warf eins eine Kaffeetasse hinunter oder machte sich selbständig und fiel hin und stieß sich, wenn wir sie vergaßen. Und immer hatte eins der Kinder Ziegenpeter oder Masern oder Keuchhusten oder hatte gerade zu gehen gelernt oder zu krabbeln.

Wir kriegten alle unsere Kinder in schneller Reihenfolge und abwechselnd – eins für sie, eins für uns. Ungefähr nach dem gleichen System, wie wenn Kinder einen Haufen Bonbons aufteilen. Jan für uns und Ole für sie. Kjeld für uns und Lene für sie. Aus irgendeinem Grund bekamen ihre Kinder runde, fröhliche Namen und unsere abgekürzte und etwas abgehackte, so daß es sich wie ein bellendes Kommando anhörte, wenn wir riefen, und wie ein fröhlicher, zweistimmiger Gesang, wenn sie es taten.

Mik für uns und Ronnie für sie. Ronnie für sie. Wie wenn man einen Haufen Bonbons aufteilt.

Sie krabbelten der Reihe nach um unsere Beine, wie kleine, ungeschickte und unfertige junge Tiere. Außer Ronnie, er krabbelte nicht. Er lag im Babylift oder in seinem kleinen Bett und sah mit seinen dunklen Augen geradeaus in die Luft, er war ein sehr stilles Kind.

»Er ist so lieb«, sagte Jytte und nahm ihn bei der leisesten Andeutung von Wimmern hoch und umarmte ihn beschützend. »Er ist so ungewöhnlich ruhig und lieb.«

»Beinahe zu ruhig«, sagte David, als er vor dem Gesicht des Kindes Grimassen schnitt und Fingerspiele machte, ohne daß es eine Miene verzog. Jytte nahm Ronnie noch fester in die Arme, faltete sich fast zusammen um das Kind und sagte immer wieder, wie auswendig gelernt: »So ruhig und lieb.«

Und Ronnie lachte nicht und krabbelte nicht und griff nicht nach irgend etwas, er lag nur da mit seinen dunklen Augen und war ein liebes Kind. Es war, als hätte Jytte um ihn eine Mauer gebaut, die es nicht zuließ, daß eine Frage oder ein Verwundern hindurchschlüpfte.

Er war im Frühling geboren, doch an dem Tag, als sie – mit ihm im Babylift – zu mir kam, schneite es. Sie kam allein, ohne David und die anderen Kinder. Und als sie, mit dem Rücken zu mir, Mantel und Tuch ablegte und den Babylift beiseite gestellt hatte und sich schließlich umdrehte, jagte ich die Kinder in die Stube, warf ihnen all ihr Spielzeug hinein, befahl ihnen, dort zu bleiben, und schloß die Tür hinter ihnen. Dann setzte ich mich ihr gegenüber an den Küchentisch, so, wie wir immer saßen, und weil ich es nicht aushielt, ihr ins Gesicht zu schauen, sah ich mir an, wie es draußen schneite. Ich sah, daß es immerzu große, schwere und nasse Flocken schneite, die am Fenster klebten. Ich sah nicht mehr, daß es schneite, als ich einen Laut hörte, den ich später nur noch einmal gehört habe, den furchtbaren, keuchenden Laut ihres unterdrückten Weinens, der mich zwang, mich ihr zuzuwenden.

Sie war mit Ronnie zur Untersuchung gewesen, der letzten einer langen Reihe, und sie wußte nun, daß in seine dunklen Augen niemals Licht und aus dem kleinen, schöngeformten Mund niemals Worte kommen würden, daß er wahrscheinlich niemals die Stimme eines Menschen oder dessen Nähe wahrnehmen könne, so unendlich weit weg war er in seiner Einsamkeit.

Nachdem sie das alles mit leiser, dünner Stimme erzählt hatte, schien sie zur Ruhe zu kommen, und ich nahm wieder wahr, daß es große, sanfte Flocken schneite. Bis Geschrei aus dem Zimmer zu uns herüberdrang und ich auf die Tür starrte und nicht wagte hinzugehen, weil es sich nicht gehört, seine Schätze vor den Augen eines Bettlers zu zählen.

»Geh hin und sieh nach«, sagte Jytte, und als ich zurückkam, saß sie da wie immer, nur daß sie nicht mehr versuchte, ihn mit sich selbst einzuhüllen.

»Ich weiß nicht ...«, sagte ich und dachte plötzlich, es müsse profan wirken, von Kaffee zu reden, und der Satz blieb in der Luft hängen, bis Jytte mich aufforderte, Wasser aufzusetzen, genauso, wie sie mich aufgefordert hatte, nach den Kindern zu sehen.

»Wir trinken ja immer Kaffee, weshalb sollten wir es jetzt nicht tun? Setz du nur Wasser auf Karin, für mich ist er nicht anders, als er die ganze Zeit gewesen ist.«

Und so begann unsere Zeit mit Ronnie. Unser so enges Verhältnis zu David und Jytte. Wurde er drei Jahre oder vier? Ich erinnere mich nicht, ob es drei oder vier Sommer waren, in denen wir gemeinsam Urlaub machten, im selben gemieteten Sommerhaus wohnten. Und ich kann auch die Sommer nicht voneinander unterscheiden – sie sind wie ein tiefer Atemzug mit Salzgeschmack und mit diesen wenigen deutlichen Bildern, die auf der Netzhaut der Erinnerungen festgehalten wurden. Das Bild von dem gedeckten Tisch mit allen Kindern rundherum – zwischen den dunklen die sommerhellen Haarschöpfe in unterschiedlicher Höhe über der Tischkante, und das Bild von uns Erwachsenen, in der sanften Abenddämmerung auf der Terrasse sitzend, eine einzige Kerze auf dem Tisch, die Gläser vor uns und unsere Last der tief schlafenden Kinder im Haus hinter uns. Die ständig aufgeschrammten Knie und das Lager von Heftpflaster, das unweigerlich früher zu Ende ging als die Urlaubstage. Und der kleine Handwagen natürlich. Das alles beherrschende Bild des kleinen Handwagens mit dem hohen Gitter und der langen Stange. Ich habe übrigens seither nie wieder einen derartigen Wagen gesehen – Gott weiß, ob die überhaupt noch angefertigt werden. Ihre Kinder und unser Mik, die den Wagen, wohin auch immer, hinter sich herzogen – zum Strand, in den Wald, den langen, hitzeflimmernden Weg zum Kaufmann und wieder zurück. Geduldig, selbstverständlich und sorgsam stellten sie ihn so hin, daß der Wind den Jungen nicht anblasen, die Sonne sein kleines Gesicht nicht verbrennen konnte. Sie zogen und schoben Ronnies Wagen, bis sie schwitzten und pusteten. Da ist das Bild eines besonders heißen Tages, als sie sich mit ihm an der Böschung zum Haus hinauf abrackerten, und als sie ihn endlich oben hatten, lachend verpusteten, Jytte und ich standen da und sahen ihnen zu, und ich sprach unwillkürlich laut aus, was ich dachte.

»Wie lieb sie doch zu ihm sind!« Und ich glaubte, nicht richtig zu hören, als Jytte antwortete, er sei auch lieb zu ihnen.

Das Sommerhaus, die Kindergeburtstage und die Weihnachtsabende. Weihnachten aßen wir zuerst, dann überreichten wir den Kindern nur ein Geschenk, und mit dem Rest der Gaben, die wir in ein oder zwei Taschen steckten, gingen wir durch die völlig leeren und verödeten Straßen und vergnügten uns damit, zu erraten und zu lauschen, wie weit die anderen in ihrem Weihnachtsabendprogramm waren. »Du armer Spatz, flieg hernieder vom Dach«, sangen sie im ersten Haus, und wenn wir am Ende der Straße ankamen, war dort die Taube auf dem Weg zur Weihnachtsfeier in einer Parterrewohnung. Mit unseren Taschen und unseren festlich gekleideten Kindern gingen wir zu Jyttes Weihnachtsbaum, der immer eine Überraschung und ein kleines Kunstwerk war – entweder ausschließlich mit Scherenschnitten aus hauchdünnem weißem Seidenpapier geschmückt oder mit Weihnachtsmännern aus rotem Wollgarn übersät oder mit Vögeln – in allen erdenklichen Farben –, die mit dem Schwanz wippten, sobald man sie berührte. Und das chaotische Durcheinander von Geschenken, Bändern und Papier; und David glättete sorgfältig das Papier und rollte es zusammen, damit es im nächsten Jahr wieder verwendet werden konnte, was aber nie geschah. Ronnie bekam immer das meiste, kleine Extragaben, die die Kinder von ihrem Taschengeld gekauft hatten und eifrig auspackten und vor ihm ausbreiteten, mit erhitzten Wangen und voller Erwartung, die auch durch sein totales Desinteresse für die Dinge nicht vermindert wurde. Es schien fast, als sei die Ablieferung dieser kleinen Geschenke an Ronnie der Höhepunkt des Abends, und vielleicht war es das, was Jytte gemeint hatte, als sie sagte, er sei auch lieb zu ihnen.

Wieviel verstand er, und wieviel nahm er auf von dem, was um ihn herum geschah – der kleine, stille Junge mit den unergründlichen dunklen Augen, die es vermochten, uns so fest und nah beisammenzuhalten in der Zeit, die er lebte, in den drei oder vier Jahren, bevor er starb, an einer der Kinderkrankheiten, die für uns schon fast Gewohnheit und Routine geworden waren. Jytte rief an und erzählte es. Ich erinnere mich, daß du an dem Tag von einer langen Sitzung nach Hause kamst, um zu Abend zu essen, und dann wieder zur nächsten Sitzung wolltest, aber du sagtest ab, damit wir zusammen zu David und Jytte gehen konnten. Ich weiß noch, daß du bei der Beerdigung geweint hast, und das war wohl das letzte Mal, daß ich dich weinen sah. Später, viel später, sagte Jytte einmal: »Weißt du, Karin, du und Stefan, ihr wart die einzigen, die niemals gesagt haben, daß es wohl das beste gewesen sei, daß Ronnie starb.«

Als er starb, wurden wir zwei Familien, wir, die schon fast eine geworden waren. Nicht plötzlich, nicht mit einem Mal, aber nach und nach. Ich weiß nicht genau, wie es geschah und warum. Nein, das ist nicht korrekt – ich wollte es nicht wissen, und es war ja auch nicht so, daß es zu einem Bruch kam, daß wir uns verfeindeten. Es entstand ein Graben. Zuerst war es nur wie ein Riß im Eis, wenn das Eis in der Mitte durchbricht und die eine Hälfte ins Meer zu treiben beginnt, dann wurde der Abstand unmerklich immer größer. Es hörte sich vernünftig an, als du den ersten Sommer nach Ronnies Tod mit deinem Plan kamst, du und ich und die Kinder sollten im Urlaub an die Nordsee fahren, nur wir allein, du würdest gern mit deiner Familie Zusammensein und du hättest inzwischen so wenig Zeit. Du sagtest nicht, wir hätten uns nun genug für Jytte und David geopfert und du hieltest die allzu einengenden Verpflichtungen für aufgehoben; du sagtest, du sehntest dich danach, mit deiner eigenen Familie zusammenzusein; und als es wieder Weihnachten wurde, hattest du so viel gearbeitet, daß du keine Geselligkeit mochtest.

»Nicht dieses Weihnachten, Karin.«

Und auch nicht das nächste.

Nein, es kam nie zu einem eigentlichen Bruch, es war nur ein unmerkliches Voneinanderwegtreiben. Manchmal kam Jytte. Wie sie früher immer gekommen war. Und wir redeten miteinander einen Nachmittag oder einen Abend lang, und wenn die Zeit verging und es plötzlich sehr spät war – zu spät, um dein Essen noch rechtzeitig fertigzumachen oder um zur Verfügung zu stehen und dich anzuhören, wenn du nach Hause kamst, weil ich zu sehr geschafft war –, verabschiedeten wir uns voneinander mit vielen Beteuerungen, daß wir uns auf jeden Fall bald sehen müßten; und wir sahen uns dann auch. Dann und wann. Wenn wir nicht gerade andere Menschen, die wichtiger für dich waren, sehen mußten. Aber die Abstände wurden immer größer, und oft begnügten wir uns damit, miteinander zu telefonieren, Jytte und ich.

»Ihr habt ja immer so viel zu tun«, sagte Jytte. »Weißt du, daß es über ein halbes Jahr her ist, seit wir einen Abend zusammen verbrachten, nur wir vier?«

Und ich log und sagte: »Gott nein, das glaube ich nicht, das kann nicht so lange her sein. Wie die Zeit vergeht! Das ist doch sehr schlimm, ich begreife einfach nicht, wie das passieren kann.«

Und ich beteuerte vor mir selbst, daß ich es nicht begriffe, warum wir einander so wenig sahen, wir hatten doch auch jetzt noch gemeinsame Interessen, du und David arbeiteten zusammen als Stadtverordnete, und die Kinder waren fast im gleichen Alter, also verstünde ich es wirklich nicht. Aber ich wußte ja genau, daß wir uns voneinander entfernt hatten. Das war deine Schuld, sie waren gleichsam stehengeblieben, unverändert und dieselben, in einer Zeit, die, wie du sagtest, Veränderung verlangte. Aber ich vermißte sie und spürte, daß du allmählich immer mehr Zeit zum Nachdenken brauchtest, bevor du zögernd nicktest, wenn ich darauf bestand, David und Jytte einzuladen, wenn es nicht ganz aussein solle. Aber du warst mit uns zusammen im Sommerhaus, als Ronnie drei oder vier Jahre alt war – du, der eine so empfindliche Nase hat und Unästhetisches so schlecht ertragen kann –, dir schien es nichts auszumachen, wenn Ronnie bei Tisch das Essen aus dem Mundwinkel lief und Jytte es mit dem Löffel auffing und wieder hineinstopfte und sich plötzlich der Geruch seiner schmutzigen Windeln im Zimmer ausbreitete. Du halfst David, den kleinen Handwagen zu reparieren, wenn der mal entzweiging, und du deutetest niemals an, daß es keinen Sinn habe, für Ronnie zu Weihnachten oder zum Geburtstag ein Geschenk zu kaufen, und bei seiner Beerdigung weintest du. Und ich habe auch Lust, die Hände vor das Gesicht zu legen und zu weinen, weil ich dich damals kannte – früher.

Ich schenke mir noch ein kleines Glas ein. Nur ein ganz kleines. Es ist ein guter Portwein, dieser hier. Rund und voll und warm. Wenn man ihn auf der Zunge spürt und er durch die Kehle gleitet, ist einem, als würde man mit etwas Wärmendem umhüllt und kuschelte sich darin ein.

Nur noch ein einziges Glas, das schadet nichts.

Wir waren ein schönes Paar, und wir wußten das. Wir glichen einem echten Präsidentenpaar, wie du lächelnd sagtest. Oder war es David, der das gesagt hatte: Dänemarks populärster Bürgermeister und seine bezaubernde Frau. Bezaubernde. Das war nicht gerade der Stil einer kleinen russischen Bäuerin. Du aber warst populär. Und mehr als das. Du wurdest respektiert. Auf alle Fälle zu Anfang. Jaja, das glaube ich.

»Sie werden mich respektieren müssen«, sagtest du, und sie taten es. Selbst deine Gegner brachten dir Respekt und Sympathie entgegen. Man konnte mit dir reden.

Der Bürgermeister der ganzen Stadt und seine bezaubernde Frau. Fotogen und interessant.

Als die Leute von den Zeitungen das erstemal kamen, um zu fotografieren und ein Interview zu machen, und uns hin und her dirigierten und die Bilder an andere Plätze hängten und die Möbel umräumten, damit das Zimmer nach mehr aussah und einen hübschen Hintergrund bildete, da lachten wir sehr viel. Wir lachten, weil wir unsere besten Sachen angezogen hatten und viel zu fein geworden waren und weil wir in aller Eile losgestürzt waren und einen neuen Couchtisch gekauft hatten – einen in völlig falschem Stil; den alten, verschrammten hatten wir ins Zimmer der Kinder geschafft, nun wurde der wieder hereingeholt, weil er persönlicher wirkte, und du wurdest auf eine Tischecke gesetzt, ein Bein über das andere, mit nachdenklichem Ausdruck im Gesicht. Du, der nie auf einer Tischkante herumhing.

Wir lachten und spielten die Szene noch einmal, als sie gegangen waren mit ihrem Notizblock und ihrem Fotoapparat, wir lachten und rückten die zwei Couchtische hin und her, hängten die Bilder verkehrt herum auf und plazierten uns in den verrücktesten Stellungen, mit ausgebreiteten Armen und einem starren Lächeln, wie Wachsfiguren in einem Schaufenster. Wir lachten über unsere Posen und über die Notwendigkeit, ein so oberflächliches und lächerliches Spiel mitzuspielen, und du griffst nach einem Block und einem Kugelschreiber und plaziertest mich in der Sofaecke und setztest dich mir gegenüber und fingst an zu fragen.

»Was ist das für ein Gefühl, mit einem Bürgermeister verheiratet zu sein? Prickelt es in den Zehen, oder tun die Haare weh? Und was ziehen Sie vor: den Sonntagmorgen oder einen guten dänischen Film? Und was glauben Sie: Haben wir eine Parlamentskrise, haben wir sie gehabt oder werden wir sie einmal haben, und wann beginnt die Revolution?«

Stell dir vor, wir hätten uns auch weiterhin über diese sich wiederholenden Pressevorstellungen amüsieren können – statt daß du feierlich bei den Zeitungen anriefst und verlangtest, diese oder jene Passage eines Interviews zu berichtigen, das einzusetzen, was du lieber gesagt hättest, bevor es in Druck ging, Dänemarks feierlichster Bürgermeister und seine ernste Frau. Farbenfreudige Fotografien auf glänzendem Illustriertenpapier und ein bißchen verwischte Bilder in den Tageszeitungen, über die du gereizt die Augenbrauen runzeltest, wenn die Fotos aus einem falschen Winkel aufgenommen worden waren. Und Blumen für die Frau. Teure Buketts, die allzu lange standen und das Haus nach Begräbnis riechen ließen.