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Seit vierzig Jahren leben Karl Aage und Regitze nun schon zusammen – mit allen Höhen und Tiefen. Immer wieder ist es Regitze, die ihren Ehemann mit verrückten Ideen irritiert und aus dem Takt bringt. Während sich Karl Aage zunehmend daran stört, wird er von seinen Mitmenschen um seine lebenslustige, kluge Frau beneidet. Doch Regitze ist unheilbar krank. Anders als Karl Aage bietet sie der Krankheit die Stirn und möchte sich nicht ihr Leben vermiesen lassen. Bereits zur Tradition geworden sind Regitzes legendäre Gartenpartys im Sommer – auch dieses Mal wird gefeirt, aber wird es die Abschiedsparty von Regitze sein?-
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Seitenzahl: 191
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Roman
Saga
Es wird ein schöner Abend werden. Einer von den seltenen stillen und warmen Sommerabenden, an denen gleichsam alles still steht und für eine Weile den Atem anhält. Regitze konnte sich keinen besseren Abend für ihr Fest wünschen. Er hielt inne vor der Flut der Farben des Blumenbeetes, niemals hatte es so verschwenderisch reich geblüht wie in diesem Jahr. Schwere dunkelrote Rosen, die nur mit Mühe ihre Köpfe tragen konnten und leichte gelbe, schlank wie das Licht. Gruppen von Sommerblumen, in hellerem und dunklerem Blau. Tiefviolette Stiefmütterchen, wie Flecken von Samt. Ein Rausch von Farben. Eine Symphonie.
Der dunkelgrüne, frischgemähte Rasen. Die schlanken Birken, Blautannen und die Eberesche mit ihren silbrigen Blättern. Das Vogelbad aus rotem Granit.
Es war, als sähe er seinen Garten zum ersten Mal, und dabei hatte es doch Jahre gedauert, um beides – das Haus und den Garten – zu gestalten. Vom ersten, winzigen Anfang bis jetzt, wo der Garten sich über zwei Grundstücke erstreckt und das Haus fast das Format eines Sommerhauses hat. Ihr halbes Leben. An Wochenenden und nach Feierabend am Alltag, wenn sie ihre Räder genommen hatten, um schnell eine Tour hierher zu machen. Frühjahrsabende auf der Terrasse. Herbstabende mit dem würzigen Geruch von verbranntem Abfall in der Nase und die Winterabende, an denen das Auto durch den Schnee pflügte, der weißer war als der in den Straßen der Stadt. Aber niemals war es so zu Herzen gehend schön gewesen wie an diesem Abend.
„Karl Aa-ge!“
So hatte ihr Rufen unzählige Male aus der offenen Küchentür geklungen.
„Ja. Ja, ich komme.“
Die Art, wie sie die Schüsseln mit Essen trug und wie sie ihr Haar mit dem Handrücken aus der Stirn strich und die wohlbekannte Ungeduld in ihrer Stimme: „Da sind die Tische.“ Seine Augen suchten besorgt ihren Blick. „Wirst du es schaffen, Regitze? Wirst du dies hier wirklich schaffen?“ Sie nickte.
„Der Küchentisch muß mit dem Gartentisch zusammengesetzt werden. Und die Stühle. Und die Hocker. Es ist nicht zu früh.“
Er nahm den Küchentisch, trug ihn hinaus, setzte den Gartentisch daran und die Stühle dazu. Er legte das Tischtuch auf, holte einen Stapel Teller und deckte sorgfältig den Tisch. Zwei an das eine Tischende, einen an das andere und vier an jede Seite. Oder fünf? Er zählte die Teller, sie hat offenbar mit fünf gerechnet, aber sie kann doch nicht im Ernst glauben –
Ihre leichten Schritte hinter ihm und der schnelle Feldherrenblick.
„Zwei und eins und fünf – und fünf, ja, so stimmt es.“ „Findest du nicht, daß wir uns damit begnügen sollten, für elf zu decken?“ Er fragte vorsichtig, und sie warf den Kopf in den Nacken. „Wenn wir nun dreizehn werden? Das ist doch eine tolle Idee. Deck mal ruhig!“
Sie machte dies und das und marschierte dann zurück in ihre Küche. Es war doch allerhand von ihr, zu glauben, daß Börge und Ilse kommen würden, so grob wie sie Börge persönlich verletzt hatte, als sie sich das letzte Mal gesehen hatten. Vor einem halben Jahr, oder war es noch länger her. Selbstverständlich – sie hatte recht mit dem, was sie gesagt hatte, aber trotzdem. Regitze war auf Hochtouren gewesen, und wenn sie ganz aufgedreht war, konnte man sie unmöglich bremsen. Das Ende der Freundschaft, hatte er gedacht, als er im Taxi auf dem Weg nach Hause war. Das Ende einer lebenslangen Freundschaft. Eine allmählich ausgedünnte Freundschaft. Es hatte sich schon lange zusammengebraut, gewiß, die Einladungen bei Börge waren seltener geworden und die Zeiträume dazwischen länger und länger. Aber sein Stil wäre gewesen, es so langsam ausebben, statt es zu einer gewaltigen Konfrontation kommen zu lassen.
Er hatte geahnt, daß es an jenem Abend schlimm ausgehen würde. Schon auf dem Wege zu Börges Villa, die so verdammt flott war. Oder vielleicht noch früher. Schon bei der Einladung, als sie vom Telefon zurückkam und mit dem gewissen Zug von Unversöhnlichkeit und Erregung um den Mund davon erzählte.
„Dein Jugendfreund wünscht uns zu sehen – bei einer warmen Frikadelle und einem Käsebrot“, sagte sie spitz.
„Ja, das ist doch nett“, erwiderte er.
„Findest du? Glaubst du, daß es außer uns noch andere gibt, die zu einer so üppigen Mahlzeit eingeladen werden?“ „Na, nun hör mal,“ protestierte er, „du stellst doch sonst nicht so hohe Ansprüche ans Essen, wir kommen doch nicht deswegen zusammen.“
„Weswegen kommen wir zusammen? Was haben wir eigentlich gemeinsam? Ehrlich gesagt, Karl Aage...“
„Wir haben uns schon immer gekannt, Börge und ich, das weißt du sehr gut. Ich will nicht derjenige sein, der die Verbindung abbricht. Es kann ja gut sein, daß wir uns gleichsam etwas voneinander entfernt haben – im Laufe der Zeit.“
„Etwas?“ sagte sie.
„Na-ja, die sind wirklich jedes Mal dabei gewesen, wenn wir ein Fest hatten, und wir haben sie doch auch sonst gesehen – oder? Hin und wieder.“
„Ja, und du warst unheimlich stolz, daß sie sich herabgelassen hatten zu kommen. Dein Freund, der Fabrikant im teuren Smoking und all dem Kram.“
„Nun hör aber auf, Regitze.“
„Er, der aufstand und eine Rede hielt, im Gegensatz zu unseren Freunden, die sich nicht so gut ausdrücken können. Aufstehen und die alte Scheißplatte laufen lassen über die treue Freundschaft, die alle Jahre hindurch allen Wechselfällen des Lebens zum Trotz hielt.“
„Regitze“, bat er.
„Dabei hat er sich nur mehr und mehr von dir und uns und von seiner eigenen Herkunft entfernt. Er hat auch ganz und gar vergessen, wo er herkommt. Und wenn er etwas angetrunken ist, erzählt er seine dummen Geschichten. Weißt du was, Karl Aage, ich habe keine Lust mehr, und eines schönen Tages sage ich ihm, was ich von ihm halte.“
„Das wirst du nicht tun“, murmelte er, „Börge und ich, wir kennen uns trotz allem seit der Lehrlingszeit, wir haben zusammen an der Drehbank gestanden.“
„Ja“, sagte sie, „aber das tut ihr nicht mehr, und ich habe große Lust zurückzurufen und zu sagen, daß wir leider verhindert sind. Jetzt und für alle Ewigkeit.“
Er schwieg, denn er wußte im Innersten, daß sie im Grunde recht hatte – sie hatte gerne recht, aber deswegen mußte sie das doch nicht immer unbedingt zum Ausdruck bringen. Börge war bestimmt ein harter Mann geworden, mit Interessen, die seinen eigenen so entgegengesetzt waren, daß es schwer war, noch Gemeinsamkeiten zu finden. Und – naja, es war ja auch zuweilen schwer, seine ewige Schauspielerei zu ertragen, sein schrilles, polterndes Lachen, mit dem er sich selbst applaudierte. Aber er war doch Börge.
Dieser besondere Abend war von vornherein zum Scheitern verurteilt. Er war für gewöhnlich ein guter Gastgeber, wenn sie sich schließlich zu einer Einladung entschlossen, aber er wirkte schlecht aufgelegt, als ob er keine Lust hätte. Das Lachen dröhnte nicht, es war schnarrend, und es fehlten die spritzigen Anekdoten, und seine Geschichten trug er ausgesprochen gleichgültig vor, so daß ihm beim Kaffee und Cognac der Gedanke kam, daß er an diesem Abend vielleicht deshalb nicht brillierte, weil sein Publikum zu klein und unbedeutend sei. Diesen Gedanken wies er jedoch als unwürdig zurück und spülte ihn mit einem ordentlichen Cognac hinunter, an dem er sich verschluckte.
„Das hier lernst du, weiß Gott, nie“, sagte Börge mißgelaunt und drehte sein Glas in der wärmenden Hand. „Karl Aage hat ja auch nur begrenzte Möglichkeiten, sich so im Genießen zu üben“, sagte Regitze mit der Stimme, die er zu fürchten gelernt hatte.
„Tja-a, vielleicht hätte man sich auch mehr an Bier halten sollen. Und an die Jobs ohne Verantwortung. Du mußt, weiß Gott, eigentlich ein glücklicher Mann sein, Karl Aage. Die Rente in greifbarer Nähe und nicht einen Dreck, um den du dich kümmern mußt. Ich wünschte, ich hätte selbst die Fähigkeit gehabt, alles aufzugeben.“
Ilse unterbrach ihn, und er meinte, plötzlich einen Unterton von Nervosität herauszuhören, der vielleicht schon immer hinter der eleganten Fassade und dem Lächeln vorhanden gewesen war: „Börge hat zur Zeit etwas Schwierigkeiten draußen in seiner Fabrik.“
Börge zog die Augenbrauen hoch.
„Überhaupt nicht. Ich habe, verdammt noch mal, nie Schwierigkeiten. Ich verstehe nicht, daß du so etwas sagst. Ich habe höchstens ein paar Dinge, die ich ordnen muß.“ „Ja“, sagte Regitze mit derselben unerschütterlichen Ruhe, „aber das schaffst du ja sicher mit links“.
Börge sah sie verunsichert an, biß sich auf die Lippen und wollte ablenken, aber das hatte ihm noch nie gelegen. „Was für Probleme können das sein“, sagte Regitze vor sich hin.
„Ach, nur so ein paar Kleinigkeiten.“
Es entstand eine Pause, und er wünschte, daß Börge in sein Gelächter ausbräche und sich dazu bereitfände, die eine oder andere Geschichte zu erzählen. Auch wenn seine Geschichten Regitze oft dazu brachten, ihre Lippen noch mehr zusammenzupressen als sie sowieso schon waren. Aber das tat Börge nicht, er sah weiter so aus, als hätte er keine Lust, richtig in seiner alten Rolle aufzugehen, oder als ärgere er sich. Ilse rührte in ihrer Kaffeetasse aus dem dünnen, kostbaren Porzellan, das man aus Furcht, es könnte bei Berührung zerbrechen, kaum anzufassen wagte, und sie fuhr fort umzurühren, bis Börge sie ansah, dann legte sie den Teelöffel auf die Untertasse. Es klirrte mit einem kleinen, feinen, zarten Laut.
Er wechselte die Beinstellung, und Börge schob schließlich das Glas von sich.
„Die sind etwas zu selbstbewußt geworden, die Leute bei mir.“
Nein, das war nicht Börges Abend, es war nicht seine Art, sich so zu äußern, und es war auch nicht seine Art, mit einem Mundwinkel leicht zu zittern. Vielleicht hatte er tatsächlich Schwierigkeiten. Wenn Regitze ihn doch in Ruhe lassen würde.
„Die Leute – sind damit deine Mitarbeiter gemeint, von denen du sprichst?“
„Mitarbeiter? Weißt du was, die sind, verdammt noch mal, nicht meine Mitarbeiter.“ Nun klang es, als ob er das Wort nachäffe. „Das sind meine Leute, die ich allzu teuer bezahle. Aber bei Gott nicht für ineffektive Arbeit und auch nicht, damit sie bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit aufbegehren. Das habe ich nämlich satt, und ich habe keine Lust mehr dazu.“
„Börge“, sagte Ilse und langte nach der silbernen Kaffeekanne, die sie dann doch stehen ließ. Sie blickte vor sich hin und lächelte nicht.
„Und nun willst du die Zügel anziehen?“, fragte Regitze so unschuldig, daß er mit einem Augenaufschlag an sie appellierte, ohne eine Antwort zu bekommen. „O Gott, Regitze, nun hör doch auf, es ist schon peinlich genug.“
„Zügel anziehen?“
Börge lachte kurz auf. „Nein, du, ich will meine Firma sanieren, bevor die Arschlöcher ganz die Macht übernehmen.“ „Und die Faulen und Unbequemen an die Luft setzen?“ „Die Firma sanieren, wie ich dir sagte. Das ist zufällig meine Firma, Regitze.“
„Und danach, wenn du zu Ende saniert hast, dann wirst du dir vielleicht überlegen, andere einzustellen, die gefügiger sind?“
Jetzt schwitzte er und hatte das Bedürfnis, die Krawatte zu lockern.
Börge hatte sich in seinem Stuhl zurückgelehnt und spielte wieder mit seinem Glas mit dem lächerlich kleinen Quentchen Cognac, so als müßte er etwas in den Händen haben. Es sah so aus, als hätte er keine Lust zu antworten, aber als die Stille eine Weile gewährt hatte, unterbrach er sie doch.
„Ich habe nicht die leiseste Ahnung, welche Gedanken ich mir zu dem Zeitpunkt machen werde, das wird ganz von der Situation abhängen.“
Und mit einem leisen, schiefen Lächeln: „Zufrieden?“ „Du bist ein Scheißkerl“, sagte Regitze ruhig, „und das bis du immer gewesen. Ein richtiger Scheißkerl. Ich habe schon oft und viele Male Lust gehabt, dir das zu sagen, aber nun ist es gesagt. Und weißt du was, ich glaube auch, daß Karl Aage derselben Meinung ist, auch wenn ich es bin, die es hier ausspricht. Sei so gut und telefoniere nach einem Taxi und bitte darum, daß es sofort kommt, denn jetzt wollen Karl Aage und ich nach Hause.“
Und als ob es noch nicht genug gewesen wäre, nicht mehr als genug, fügte sie noch hinzu, obwohl Börge sich schon von seinem Stuhl erhoben hatte: „Wir haben nämlich beide einen von diesen verantwortungslosen und uneffektiven Jobs, die verlangen, daß wir früh aufstehen müssen. Es tut mir leid, Ilse, aber...“
Ilse antwortete nicht. Sie saß schweigend da. Es war, als ließe sie alles um sich herum einstürzen, sie erhob sich nicht und begleitete sie nicht zur Garderobe.
Sie gingen an Börge vorbei, als er vom Telefon zurückkam. Er sah aus wie ein Politiker, der gerade von einer stressigen Sitzung kommt und noch nicht sein Lächeln aufgesetzt hat. Oder wie einer, der schon begonnen hat, alles um sich herum zu sanieren.
„Mußte das sein“, sagte er im Auto auf dem Heimweg, „war das wirklich nötig, Regitze? Hätten wir nicht alles still und ruhig im Sande verlaufen lassen können?“
Und sie antwortete, daß er ausgezeichnet wisse, daß das nicht ihr Stil sei.
„Aber du hast ihn ja auch provoziert; du hast erreicht, daß er viel gröber wirkte, als er in Wirklichkeit ist. Du hast ihn dazu gebracht, Dinge zu sagen, die er lieber nicht hätte sagen wollen.“
„Ja, das kann gut sein, aber ich mußte es tun, es mußte sein, Karl Aage.“
Er schwieg, denn es war ja geschehen. Eine Freundschaft – trotz allem eine lebenslange Freundschaft – war an einem Abend zerbrochen. Aber in Gottes Namen... Wie konnte sie glauben, daß sie kommen würden? Sie hatte ihnen eine Karte mit den Worten geschickt: „Hoffe, daß ihr Lust habt zu einem kleinem Ausflug in den Garten – am Sonnabend gegen sechs. Es kommen die üblichen Leute.“
Nicht ein entschuldigendes Wort, nur dieses: „Hoffe, daß ihr Lust habt...“
Er hatte die Karte, die er zur Post bringen sollte, gedreht und gewendet.
„Ja, aber Regitze“, sagte er, „ist das nicht ein Fehler, wie kannst du glauben, daß Börge und Ilse...“
„Die gehören doch dazu“, hatte sie gesagt, als würde diese Erklärung ausreichen.
Er deckte gehorsam für dreizehn, wie sie ihn gebeten hatte.
Während er das tat, kam er sich etwas dumm vor. Als er von weit oben am Gartenweg das feine Summen des Motors hörte, das näher kam; bis der große silbergraue Porsche an der Hecke entlangglitt und anhielt, war ihm nicht bewußt, daß es dieses Geräusch gewesen war, auf das er gewartet hatte. Ilse wand sich aus dem Vordersitz heraus, wie immer elegant in teuren engsitzenden Hosen und einer taubenblauen Seidenbluse, von dem diskreten Duft eines kostbaren Parfüms umwölkt.
„Ilse“, sagte er und wußte nicht, wie er fortfahren sollte, „nett, daß ihr gekommen seid – das ist wirklich eine Überraschung – das ist richtig nett von euch.“
Börge war ausgestiegen und um das Auto herumgegangen. Während nun beide dastanden, war Börge nicht weiter gekommen als zu seinem:
„Ilse...“
Dann war Regitze da, und nun war es an ihr, die richtigen Worte zu finden. Aber es sah nicht so aus, als ob das schwierig sei. Es schien vielmehr für Ilse ganz selbstverständlich zu sein, ihre Wange an Regitzes zu legen, und für Börge, seine Arme weit auszubreiten und sie an sich zu drücken.
„Gut, daß ihr kommen konntet“, sagte Regitze.
„Auch wenn ich der größte Scheißkerl der Welt bin“, sagte Börge.
„Na – jaa, vielleicht ja nicht gerade der allergrößte“ – Regitze wischte eine unsichtbare Fussel von seiner hellen Sommerjacke, „kommt, laßt uns auf die Terrasse gehen und uns ein Glas genehmigen, während wir auf die anderen warten.“
„Ja, Mensch, das hier ist wirklich ein richtiges Sommerhaus geworden“, polterte Börge los, lehnte sich im Korbstuhl zurück und ließ die Eiswürfel im Glas klirren. „Wenn ich an den elendigen Schuppen denke, mit dem ihr angefangen habt.“
„Und ein herrlicher Garten“, ergänzte Ilse, „ihr habt es wirklich nett hier.“
Er wunderte sich. Börge hatte eingestanden, daß er ein Scheißkerl sei, und war außerdem nicht einmal beleidigt, daß jemand ihm das ins Gesicht gesagt hatte. Es war unglaublich, was Regitze konnte, und immer kam sie damit durch. Kein Zweifel, daß er sich jetzt wohlfühlte. Seine langen Beine in den gut gebügelten Hosen weit von sich gestreckt, die eine Hand ruhte leicht auf der geschwungenen Armlehne des Korbstuhls. Mit einigen freundlichen Worten über Haus und Garten, das schöne Wetter, und daß sie sich gefreut hätten. Ilse und er. Ein feiner, älterer Herr mit schneeweißem Haar.
Aber Börges Haar war doch schwarz gewesen, pechschwarz und wie eine Kapuze, gut frisiert, mit wohlriechender Pomade. Er mußte damals eine beträchtlichen Teil von den paar Kröten, die er verdient hat, dafür ausgegeben und eine erhebliche Zeit vorm Spiegel zugebracht haben, um sich für den Stadtbummel am Samstagabend zurechtzumachen. Wie ein zweiter Filmheld, direkt von der Leinwand geholt, mit einer Zigarette im Mundwinkel und einer Hand lässig in der Hosentasche. Lüstern und reserviert – beides zugleich. Ein Streifzug durch die Stadt mit Börge an einem Samstagabend. Mit dem Geld für zwei Bier, an denen man möglichst lange nippte. Börge und er. Börges Fuß in einem gut geputzten Schuh, der im Rhythmus der Musik wippte. Börge auf dem Weg an den Tisch des auserwählten Mädchens, nachdem er sich einmal über das Haar gestrichen hatte. Börge auf dem Tanzboden mit flotten, richtigen Bewegungen und sicheren Schritten und dann seine schnellen und bequemen Verabredungen. Und das selbstsichere Auftreten, wenn er zurückkam zu ihm, der da immer noch wie ein Klotz saß und an seinem Bier nippte und – mit einer Hand in der Tasche – die nötigen Münzen zusammensuchte. „Ich gehe dann, du bezahlst die Rechnungen, nicht? Amüsier dich gut, Alter!“ Später waren es Börge, Ilse und er. Ilse mit ihrer Kaffeetasse, die kleine schwarze Lacktasche neben sich auf dem Tisch. Und er protestierte, er hätte es lieber gesehen, wenn sie zu zweit ausgegangen wären, die zwei, frischverlobt wie sie waren, aber Börge wehrte ab.
„Quatsch, du Alter, was wollte man sonst an einem Samstagabend anfangen. Ilse kann eine von ihren Freundinnen mitnehmen, von denen sie doch so viele hat.“ Und sie schien wirklich viele zu haben.
Es waren flotte und lustige Mädchen. Auch erfahrene Mädchen, mit Augen, die kühl abschätzten. Es waren stille, ernste Mädchen, und es waren kleine, verschreckte Püppchen mit kalten Händen, die unsicher auf der Kante des Stuhls saßen, immer nur lächelten, mit Augen, die immer mehr glänzten, je länger der Abend währte, und die ungelenk auf allzu hohen Absätzen hinter Ilse zur Toilette stolzierten, um sich mit Lippenstift zu beschmieren und mit Puder zu bestäuben.
Es waren Mädchen, mit denen er zusammensitzen, sich ruhig und friedlich mit ihnen unterhalten konnte und mit denen er hin und wieder aus Höflichkeit tanzte, auch wenn er kein geübter Tänzer war. Es waren auch solche darunter, die ihm leid taten, wenn Börge regelmäßig seinen Samstag-Markt veranstaltete. Es muß schrecklich demütigend für sie gewesen sein, und ihm war es peinlich. Er nahm sich immer vor, daß es das letzte Mal sein sollte, aber – wie Börge sagte – was konnte man sich sonst an einem hochheiligen Samstagabend vornehmen?
„Nun?“ sagte Börge, wenn die Mädchen zur Toilette gegangen waren, hob die Augenbrauen, zog die Schulter hoch und fühlte sich offensichtlich nicht besonders wohl. Und anschließend stellte er dann ärgerlich fest, daß er verdammt noch mal auch etwas von einem Schlappschwanz an sich habe, wandte sich dem Nachbartisch zu und war kurz darauf wieder im Gespräch und bald wieder der Mittelpunkt in einer größeren Gesellschaft, der er mit großen Gesten eine Geschichte erzählte, die mit seinem lauten Lachen endete.
Es war immer etwas los, wo Börge war. Nur nicht gerade an diesem Abend. Es war ein todlangweiliges Lokal, wo sie gelandet waren. Die wenigen Gäste hingen an ihren Tischen, und selbst der einzige Pianist, der ein Orchester darstellen sollte, gähnte und sah aus, als würde er sich zum Gotterbarmen langweilen, während er die Noten umblätterte. Ilses Freundin war im letzten Augenblick krank geworden, und Börge hatte gesagt, daß er, verdammt nochmal, selbst die Initiative ergreifen müsse. Als er aber seinen Blick prüfend herumschweifen ließ, seufzte er resigniert, und das bedeutete soviel wie, daß hier nicht viel zu holen sei.
„Laß uns tanzen, Ilse, jetzt wo wir einmal hier sind, und dann gehen wir woanders hin.“
Börge hatte eine Nase für Vergnügungsstätten, und es ärgerte ihn, daß dieses neue Lokal, das er gefunden hatte, so ohne Leben war. Aber sie waren ein schönes Paar, er und Ilse, sie stachen ab von den drei oder vier anderen, die so phantasielos und betrübt herumtrampelten, als befänden sie sich in der schwersten Prüfung ihres Lebens.
Er folgte ihnen mit den Augen, trank einen Schluck von seinem Bier und langweilte sich. Er ließ, wie es Börge zu tun pflegte, seinen Blick von Tisch zu Tisch schweifen. An einem mit drei Personen hielt er inne. Die dort saßen, wirkten eigenartig unberührt von der Jagd und dem Konkurrenzkampf und unterhielten sich. Ein junger, bebrillter Bursche, der einem schlecht bezahlten Büroangestellten glich, ein Mädchen mit aschblondem Haar und einem ganz alltäglichen Gesicht ohne Schminke und künstliche Augenwimpern und noch eins, seitlich von ihm, das etwas dünn und dunkelhaarig war – sie hielt den Kopf leicht vornübergebeugt, während ihr Nacken so rührend unbeschützt wirkte, daß er Lust empfand, seine Hand darüber gleiten zu lassen. Er konnte seine Augen nicht von dem Nacken lösen wie auch nicht von der kleinen Gruppe. Es war, als befänden sich die drei Menschen auf ihrer eigenen kleinen, privaten Insel, intensiv beschäftigt und miteinander vertraut. Sie könnten zusammen im Kino gewesen sein, vielleicht sogar im Theater und zufällig danach hier gelandet, um den Abend ausklingen zu lassen. Sie könnten zusammen auf Besuch gewesen und hier hineingeschlittert sein, einer plötzlichen Eingebung folgend. Sie könnten wer weiß wo gewesen sein. Sie zogen ihn an, sie waren mehr von seiner Art als die Leute, die Börge als Publikum um sich zu sammeln pflegte. Sein andauerndes Starren veranlaßte das dunkelhaarige Mädchen, ihren Kopf zu drehen, und plötzlich lächelte sie ihm zu und, als folge er einem inneren, unwiderstehlichen Drang, erhob er sich, ging zu ihr und fragte, ob sie mit ihm tanzen wolle. Er hätte genausogut fragen können, ob sie ihm von diesem Augenblick an für alle Zeiten folgen wolle. Der Mann sah ihn mit seinem kurzsichtigen Blick forschend an, so als ob er nicht ohne weiteres akzeptieren könne, daß irgendjemand sie auffordere. Aber sie erhob sich und sagte: „Ja, gerne!“ Sie tanzten in tiefstem Schweigen, denn es kam ihm zu dumm vor, die gewöhnlich einleitenden Floskeln über die gute Musik zu verwenden, die übrigens gar nicht gut war, oder zu sagen, daß hier eine gute Stimmung sei, was ja bestimmt auch nicht der Fall war. Da ihm nichts anderes einfiel, schwieg er. Sie hatten bereits drei Tänze miteinander getanzt, bis er sich anschickte, sie nach ihrem Namen zu fragen. Ihr Gesicht nahm einen etwas drolligen, leicht verärgerten Ausdruck an, bevor sie antwortete, daß sie Regitze heiße, sie ihren Namen aber nicht möge, er sei langweilig.
„R-e-g-i-t-z-e“, wiederholte er langsam und fühlte eine große Freude, allein schon beim Aussprechen ihres Namens. „Er ist doch schön. Ich finde, er ist schön. Und anders als die Namen, die man sonst hört. Er paßt gut zu dir. Regitze, findest du nicht selbst, daß er sich gut anhört?“ „Ja-a“, sagte sie nachdenklich und legte ihre Arme etwas fester um seinen Hals – „wenn du es sagst, dann hört es sich richtig gut an.“
Sie gingen an ihren Tisch, als die Musik eine Pause einlegte, und er setzte sich, als ob er dazugehöre. Etwas später stand Börge da, mit dem Mantel über dem Arm. „Ilse und ich gehen jetzt. Kommst du mit?“