Der Chef, den keiner mochte - Markus Jotzo - E-Book

Der Chef, den keiner mochte E-Book

Markus Jotzo

4,5

Beschreibung

Wie wird man von einem guten Chef zu einem exzellenten? Was das bedeutet und wie es funktioniert, zeigt dieser augenöffnende Ratgeber. Die Grundthese dabei ist: Nicht jeder Kumpelchef ist auch eine gute Führungskraft. Ganz im Gegenteil! Nicht selten sind es die unbequemen Chefs, die bei den Ergebnissen und der Mitarbeiterentwicklung nicht zu toppen sind. Für den Quantensprung zur exzellenten Führungskraft erhält der Leser konkretes Handwerkszeug. Das Buch zeigt den Weg vom konventionellen konsensorientierten Führungsstil hin zur individuellen Mitarbeiterentwicklung und zur Steigerung des Gesamtnutzens für das Unternehmen. Übersichtliche Erkenntnisse, Tipps und Werkzeuge springen dem Leser sofort ins Auge. So eignet sich das Buch auch zum schnellen Nachschlagen. Der flüssige Schreibstil und die authentischen Geschichten, machen das Buch zu einem wahren Lesevergnügen. Zusammen mit der spannenden Rahmenhandlung wirken sie motivierend und machen Lust, das Gelesene in die Tat umzusetzen.

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Für Claudia.

Danke, dass du mich täglich förderst und forderst.

Warum ich dieses Buch geschrieben habe

Der Grund dafür ist ganz einfach: weil ich immer noch zu vielen guten Führungskräften begegne – und zu wenig exzellenten.

Die Führungskräfte in meinen Trainings sind häufig so geprägt, wie es die Managementliteratur zurzeit propagiert und es in der Gesellschaft als vorbildlich gilt. Es gibt viele Chefs, die sich als freundlicher Coach ihrer Leute verstehen und die versuchen, stets lobenswerte Details zu finden – ganz egal, wie groß der Schaden ist, den ihr Mitarbeiter gerade angerichtet hat. Um es auf einen Nenner zu bringen: Der Trend läuft in der Führung eindeutig in Richtung »motivierender Sonnyboy« oder »verständnisvoller Familienvater«. Und ich fürchte, das ist ein Fehler.

Verstehen Sie mich bitte richtig: Ich plädiere nicht für einen Rückfall in einen autoritären Führungsstil. Was aber jeder, der die Wirtschaft von innen kennt, ebenfalls weiß, ist Folgendes: Der konsensorientierte Führungsstil bringt Unternehmen und Mitarbeiter nicht weiter. Denn damit laufen sie Gefahr, sich in der Komfortzone einzurichten und sich vor lauter Streben nach Harmonie mit Mittelmaß zufriedenzugeben. Und das ist sicherlich nicht das, was Sie wollen, oder?

Was also ist zu tun? Nett bleiben, den Kumpel geben und einfach noch deutlicher Ziele setzen, alles delegieren, was man delegieren kann, bei alldem engmaschiges Feedback geben und eine offene Fehlerkultur fördern – reicht das aus?

Meine Überzeugung ist: Der Chef, der all das macht, ist gut. Vielleicht sogar sehr gut. Aber eben nicht exzellent. Ein herausragender Chef tut mehr: Er ermächtigt seine Mitarbeiter, den Laden ganz allein zu schmeißen. Und das geht nur mit einem Quantensprung in der Führungskultur:

weg vom Streben nach Harmonie, hin zu einem fordernden, zuweilen unbequemen Führungsstilweg vom menschenverachtenden Leistungsdruck, wie ihn frühere Managergenerationen praktiziert haben, hin zu persönlichem Wachstum, bei dem jeder Mitarbeiter sein Potenzial entfaltetweg vom Versuch, Mitarbeiter »nur« zu motivieren, hin zum Entfesseln ihrer Begeisterung

Mit anderen Worten: Nicht jeder Kumpelchef ist auch eine gute Führungskraft. Für exzellente Ergebnisse braucht es konsequente, situative und individuelle Führung. Und die kann manchmal so unangenehm daherkommen, dass Sie zeitweilig kein Mitarbeiter mag. Aber die Ergebnisse werden Ihnen recht geben.

In diesem Buch zeige ich Ihnen, wie Sie genau das schaffen: von der guten zur exzellenten Führungskraft zu werden.

Markus Jotzo, März 2014

PS: Sie werden in diesem Buch an einigen Stellen auf eine URL stoßen (http://q-r.to/HEV), über die Sie hilfreiches Zusatzmaterial abrufen können. Um auf die entsprechende Seite zu gelangen, benötigen Sie ein Kennwort. Es lautet: Exzellente Führung.

Wie der Chef, den keiner mochte, einmal beinahe ganz allein dastand

»Cappuccino oder Espresso?«

»Hm, ich weiß gerade gar nicht. Was dir weniger Mühe macht.« Tom schaut sich in Mikes Wohnung um. Schick. Besonders der Ledersessel wirkt einladend. Tom setzt sich zu Yasmin, Petra und Benni, die schon um den gläsernen Couchtisch versammelt sind. Mike macht sich an seinem Kaffeeautomaten zu schaffen – natürlich das allerneueste Modell der Firma, für die sie alle arbeiten.

Noch.

Jeder der fünf ist in den letzten Tagen zu Hause von Ralf Sonne angerufen worden. Der ehemalige Vertriebsleiter hat ihnen Jobs in seiner neuen Firma angeboten, einem japanischen Hersteller für intelligente Haus- und Bürosteuerung, der sich gerade in Europa eine neue Zentrale aufbaut. Als Mike mitbekommen hat, dass mehrere seiner Kollegen ebenfalls so ein Angebot bekommen haben, hat er sie zu sich nach Hause eingeladen. Zur Besprechung. Es geht um die Frage: Was tun?

Und hier sitzen sie nun. Petra nestelt an ihrem Blusenkragen herum. Benni rührt in seinem Cappuccino. Aber direkt schaut niemand den anderen an.

»Wäre ja schon schade, wenn das Team auseinandergerissen wird«, bricht Yasmin das Schweigen und löffelt Zucker in ihren Kaffee. Mike und Benni murmeln Zustimmung.

Dass Ralf Sonnes Team zusammenhält wie Pech und Schwefel, hat Tom zur Genüge mitbekommen. Bei jeder Betriebsfeier sitzen sie zusammen. Ihr Tisch ist immer der lauteste und fröhlichste. Toms unmittelbare Kollegen aus dem Marketing dagegen verbringen die Feiern meistens mit Leuten, denen sie nicht täglich begegnen. So geht es auch Tom: Nicht, dass er etwas gegen seine Kollegen hätte, aber er spürt auch nicht das Bedürfnis, jede freie Minute mit ihnen zu verbringen.

Das muss man ihnen lassen, denkt Tom. Sie haben eine echt klasse Stimmung im Team. Woran das wohl liegt? Sicher daran, dass sie alle auf einer Wellenlänge sind. Aber bestimmt auch an Sonne. Der verbreitet gute Laune, wohin er auch kommt. Das wird bestimmt beim Japaner auch so sein. Vielleicht haben die ihn ja gerade deshalb genommen. Wäre schon nicht schlecht, dort mit von der Partie zu sein.

Tom starrt in seine Kaffeetasse. Eigentlich ist das ja eine Entscheidung, über die man gar nicht lange nachzudenken braucht. So eine einmalige Gelegenheit kann man sich doch nicht entgehen lassen. Aber irgendetwas lässt Tom zögern, bereitet ihm noch Bauchschmerzen. Die Frage ist nur: Was bloß?

Während die anderen sich unterhalten, rührt Tom mechanisch in seinem Kaffee. Obwohl er weder Zucker noch Milch genommen hat. Und seine Gedanken kreisen weiter.

Worauf kommt es bei der Arbeit eigentlich an?, schießt es ihm durch den Kopf. Auf die Stimmung? Auf die Kollegen? Was macht mir denn am meisten Freude?

Neulich zum Beispiel, als er sein Promotionkonzept abgegeben hat und wusste: Es ist rundum gelungen. Das war ein toller Moment! Da hat er sich gefühlt wie ein Rennwagen mit Düsenantrieb. Den ganzen Tag lief er danach strahlend durchs Unternehmen. Obwohl er noch gar keine Rückmeldung vom Chef hatte … Starke Sache, definitiv. Aber so etwas kommt nicht jeden Tag vor. Was aber jeden Tag vorkommt, sind die Rückmeldungen seines Chefs: »Nicht gut genug. Von Ihnen erwarte ich mehr.« Das macht natürlich nicht so viel Spaß.

So richtig gelacht hat er zuletzt – das fällt ihm jetzt ein, wo sein Blick den von Yasmin kreuzt – in der Kaffeepause letzten Dienstag, als Yasmin so umwerfend Michael Mittermeier nachgemacht hat. Wenn es solche Momente nicht gäbe, wäre er inzwischen vermutlich schon verzweifelt. Im Marketing kommen sie leider viel zu selten vor. Immer im unpassendsten Moment steht dort sein Chef, Alfred Grau, mit seiner sauertöpfischen Miene in der Tür und fragt, wie es um irgendein Projekt steht, das man gar nicht mehr auf dem Schirm hatte. Er fragt nach, was nicht läuft, und was man tun könnte, damit es läuft. Mit seiner bohrenden Fragerei kann er einem schon ziemlich auf die Nerven gehen. Und wenn man ihn um Hilfe bittet, entgegnet er meist nur mürrisch: »Was schlagen Sie denn vor?« Da vergeht einem die Lust am Flachsen.

Am besten wäre doch beides: gute Stimmung und gute Ergebnisse. Das muss doch möglich sein, denkt Tom. Und wenn nicht – was wäre mir wichtiger?

»Total schade, dass er geht«, hört Tom Mike laut sagen. Das anfängliche Murmeln hat sich in ein Gespräch verwandelt, das nicht mehr zu überhören ist.

»Ja, und ich verstehe es auch nicht ganz«, entgegnet Yasmin. »Wir sind so ein eingespieltes Team. Läuft doch super bei uns! Warum will er da weg?«

»Hmm«, macht Tom und denkt: Das ist schon ein bisschen komisch. Vor allem, dass das so spät bekannt wurde, erst als er fast schon weg war. Und in der Erklärung der Geschäftsleitung standen nur die üblichen Floskeln. »Im beiderseitigen Einvernehmen« und so weiter. Schwer zu sagen, was das heißen soll, da kann man so ziemlich alles reininterpretieren. Nicht ausgeschlossen, dass es hinter den Kulissen sogar Knatsch gegeben hat. Was da wohl genau gelaufen ist?

»Na ja, vielleicht hat er bei uns keine Entwicklungsmöglichkeiten mehr gesehen«, spekuliert Benni. »Oder er findet intelligente Haus- und Bürosteuerung einfach spannender als Kaffeemaschinen.«

»Stimmt, das würde zu ihm passen«, wirft Mike ein. »Er hat ja immer die neuesten Apps auf seinem Smartphone und …«

»Die Firma ist jedenfalls richtig cool«, fällt ihm Yasmin ins Wort. »Ich hab’ ihren Messestand gesehen. Doppelt so groß wie unserer, mindestens. Absolut durchgestylt. Der Hammer!«

»Ja, aber wie steht’s mit den Zahlen? Hat sich mal jemand den Geschäftsbericht angeschaut?«, fragt Petra.

»Nicht direkt«, sagt Mike und lehnt sich demonstrativ zurück. »Aber den Aktienkurs. Der ist im letzten Jahr um ein Drittel gestiegen.«

»Der Aktienkurs …«, murmelt Tom leise vor sich hin. Unserer steigt nur leicht, denkt er bei sich. Aber der Umsatz ist in den letzten Jahren auch immer gewachsen. Schade, dass wir über die Japaner keine Zahlen haben. Welches Unternehmen steht nun eigentlich besser da?

Über diese Frage kann Tom aber nicht weiter nachdenken, denn Benni hält ihm plötzlich sein Tablet vor die Nase.

»Guckt mal, die Website von den Japanern. Hier ist eine Simulation, was intelligente Haus- und Bürosteuerung alles kann. Cool, oder?«

»Sieht schon so aus, als ob es Spaß macht, mit diesen Produkten zu arbeiten. Stellt euch vor, einen ganz neuen Markt aufzubauen! Wenn das keine spannende Aufgabe ist«, sagt Yasmin und korrigiert sich im selben Moment selbst. »Andererseits, eine Kaffeemaschine braucht jeder, da ist das Marktpotenzial größer.« Jetzt bewegt sie ihren Kopf hin und her und fixiert dabei die Salzstangen, die bis jetzt noch niemand angerührt hat.

Da hat sie einen wichtigen Punkt angesprochen, denkt Tom. Die Wirkung, die ich mit meiner Arbeit erzielen kann. Die ist mir wichtig. Nur: Wo ist sie größer?

»Weiß jemand, was für einen Firmenwagen man dort bekommt?«, fragt Mike. »Es wäre ja schon nett, bei den Kunden in einem cooleren Auto vorzufahren als im Passat.«

»Du und dein Firmenwagen«, spottet Petra. »Als ob das das Wichtigste ist. Männer!«

»Also Entschuldigung«, wehrt sich Mike. »Ich sitze im Schnitt jeden Tag drei oder vier Stunden am Steuer. Das Auto ist mein Arbeitsplatz. Dir ist es doch auch nicht egal, auf welchem Bürostuhl du sitzt und auf welchen Bildschirm du jeden Tag acht Stunden starrst!« Er kreuzt die Arme und zeigt seinen typischen Beleidigte-Leberwurst-Gesichtsausdruck.

»Also, welches Auto die normalen Vertriebler dort bekommen, weiß ich nicht«, wirft Benni ein. »Aber Ralf hat mir gesagt, dass er einen 5er-BMW hat.«

Mike nickt anerkennend. Das klingt gut.

Klar, für einen Außendienstler ist das Auto wichtig, denkt Tom. Nicht nur als Wohlfühlfaktor, sondern auch für den Eindruck, den man beim Kunden hinterlässt. Aber es kann auch für Verkäufer nicht das Einzige sein, was zählt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es Mike egal ist, welches Produkt er vertreibt. Oder wie seine Kunden drauf sind. Und schon gar nicht, wie viel Umsatz er macht. Na, wie auch immer. Was Mike denkt, ist letztlich Mikes Sache. Die Frage ist, was ich denke. Was will ich denn erreichen? Mehr Gehalt? Schickes Auto? Würde mich freuen, klar, aber der Grund, warum ich mich hier ins Zeug lege, ist nicht nur das Geld. Sonst würde ich woanders arbeiten. Nein, sonst hätte ich gleich was anderes studiert …

»Also!«, sagt Mike bestimmt. »Ich denke, wir sollten entweder alle gehen oder alle bleiben. Sonst wirkt das komisch. Was meint ihr?«

Die anderen um den Tisch herum nicken stumm. Aber keiner will den Anfang machen und sich festlegen. Yasmin schaut zu Tom, Benni steht auf und holt sich noch einen Kaffee. Jetzt dreht sich auch Petra in Richtung Ledersessel, auf dem Tom es sich bequem gemacht hat.

»Mensch, sag doch auch mal was. Wieso bist du heute so still?«, fordert Petra ihn auf und schaut ihn durchdringend an.

Wie bei einer mündlichen Prüfung rutscht Tom jetzt in seinem Sessel nach hinten. Seine Kollegen sehen aus wie eine Prüfungskommission.

»Bitte, was, Petra?«, fragt er und hält eine Hand an sein Ohr, als hätte er sie nicht richtig gehört.

»Du könntest dort bestimmt Abteilungsleiter werden, mindestens. Würde dich das nicht reizen?«

Normalerweise ist er der Schnellste im Kopf, aber heute scheint Tom länger als alle anderen zu brauchen, um auch nur den einfachsten Gedanken zu fassen. Er schaut in die erwartungsvollen Gesichter und sagt schließlich:

»Sorry, ich weiß es grad’ echt nicht.«

Yasmin spielt nervös mit ihren Händen herum. »Natürlich, es wäre schon heftig, wenn gleich vier oder fünf Leute auf einmal gehen würden. Die Lücke können sie nicht so schnell wieder schließen. Das dauert ja, bis die Nachfolger eingearbeitet sind.«

Petra lehnt sich vor.

»Du meinst also, wir sollten bleiben?«

Yasmin macht eine abwehrende Geste.

»Ich meine nur, das ist auch ein Punkt, an den wir denken müssen. Immerhin haben wir der Firma auch einiges zu verdanken.«

»Aber Ralf hat unsere Loyalität mindestens genauso verdient«, platzt Benni heraus. »Wisst ihr noch, die Sache mit dem Leasingprojekt?«

Mikes lautes Lachen durchbricht die Stille.

»Ja, das hat er klasse hingekriegt!«

»Was ist da denn gelaufen?«, will Petra wissen. Und Benni legt los:

»Na ja, du kannst dich sicher erinnern, dass letztes Jahr unser neuestes Leasingkonzept zum Schwerpunktprojekt erklärt wurde.«

»Mhm, klar, die Sache hat ja Legendencharakter. Dass der Vertrieb so etwas durchsetzt, passiert nicht jeden Tag«, lächelt Petra.

»Tja, das war Ralf Sonnes Werk«, fährt Benni fort. »Ralf hat gegenüber dem CEO all seine Verkäuferfähigkeiten, all sein Charisma und seine brillanteste Argumentation aufgefahren, um ihn zu überzeugen, dass die Rentabilität besser sein würde als bei allen Vorschlägen der anderen Bereiche.«

»Ich erinnere mich«, ruft Petra. »Der Entwicklungsleiter war wochenlang sauer, weil er sich mit seinem Projekt übergangen gefühlt hat.«

»Mag sein. Aber wir Vertriebler konnten endlich zeigen, was in uns steckt. Über 10.000 Neukunden haben wir mit der Aktion gewonnen. Beim Firmensommerfest hat Sonne dann stolz die Ergebnisse präsentiert und sogar die Projektleiter auf die Bühne gerufen. Das war einfach genial, wie wir den Erfolg gefeiert haben.«

Respekt! Schon klasse, wie Sonne seine Leute ins Rampenlicht rückt, denkt Tom. Der Mann ist ein echter Motivator für seine Abteilung.

Andererseits steht der Vertrieb seit dieser Aktion in den Augen der meisten anderen Abteilungen weniger gut da. Anscheinend bringt Sonne seine Abteilung voran und trübt gleichzeitig das Verhältnis zu den anderen Unternehmensbereichen.

Tom spielt jetzt mit seinem Schnürsenkel und dreht ihn, als ob er einen Wollfaden spinnen würde.

Klar, in vielen Unternehmen gibt es Grabenkämpfe, fällt ihm ein. Aber gibt es die in jedem Unternehmen? Nun hat er so stark an seinem Schnürsenkel gezogen, dass die Schleife sich gelöst hat.

»Roten oder weißen?«, will Mike wissen.

Er hat Weingläser aus der Vitrine geholt und schenkt reihum ein. Beim Absetzen dreht er die Flasche leicht, sodass der letzte Tropfen zurück in den Flaschenhals rollt.

Während Tom noch überlegt, hält Petra schon ihr Glas hin und schenkt Mike ein charmantes Lächeln. »Das sieht ja echt profimäßig aus bei dir, wenn du Wein einschenkst«, sagt sie und schaut ihm in die Augen.

Tom runzelt die Stirn. Profimäßig? Das ist doch Standard! Und Petra ist doch verheiratet … Aber das ist ihm schon früher aufgefallen: Die Sonne-Leute lassen nie eine Gelegenheit aus, einander positives Feedback zu geben. Anscheinend haben sie sich das von ihrem Chef abgeschaut.

Sogar Tom, der gar nicht so viel mit Sonne zu tun hat wie die anderen, ist diese spezielle Masche schon aufgefallen: Selbst wenn so einiges gründlich schiefgegangen ist, findet der immer irgendeinen Erfolg für den Einstieg in das Feedback. Kein Wunder, dass seine Leute immer so gut drauf sind. Sonne schafft es, selbst ganz negative Rückmeldungen rhetorisch so zu verpacken, dass seine Mitarbeiter motiviert bleiben. Fast ein wenig zu viel kommt Tom das manchmal vor. Aber das ist vielleicht immer noch besser als bei Grau, von dem man selten etwas Positives hört.

Der haushaltet echt schwäbisch mit seinem Lob: Normal gute Leistungen werden kaum kommentiert. Nur wenn etwas wirklich herausragend war, findet er es erwähnenswert. Mit seiner Kritik dagegen kann er recht harsch sein. Besonders in seiner Anfangszeit ist es Tom mehrmals passiert, dass Grau sein sorgfältig erarbeitetes Konzept nur kurz überflogen und dann gesagt hat: »Das setzt ja am völlig falschen Punkt an. Das schaue ich mir gar nicht näher an, da müssen Sie noch mal ran. Und überlegen Sie sich, was Sie bei der Zielgruppe auslösen wollen.« Wamm. Das war heftig. In dem Moment hätte Tom dem Grau am liebsten seine Konzeptmappe an den Kopf geworfen. Aber der war schon längst zur Tür raus.

Andererseits: Danach wusste Tom, woran er war. Beim überarbeiteten Konzept hat Grau dann genickt. Und inzwischen weiß Tom selbst sehr genau, worauf er achten muss. So blöde Fehler wie am Anfang sind ihm nachher nicht mehr passiert.

Petra dreht ihr Weinglas zwischen den Fingern und sagt: »Die müssen ja einen ganzen Haufen Stellen besetzen, wenn sie jetzt ihre Niederlassung aufbauen. Von verschiedenen Positionen im Vertrieb über den Zuständigen für die Internetpräsenz bis hin zu Entwicklern, die ihre Systeme der europäischen Büro- und Wohnsituation anpassen. Wie die Organisationsstruktur bei denen aufgebaut ist, das würde mich interessieren.«

Offenbar versucht sie herauszufinden, wer welche Position angeboten bekommen hat, interpretiert Tom.

Klar, der Stellenwechsel ist eine tolle Chance, um Karriere zu machen. In Sonnes Abteilung ist sonst wenig Bewegung. Die Leute kommen und bleiben. Inzwischen sind Yasmin, Benni und Mike bestimmt schon für höhere Positionen qualifiziert, bei all den Fortbildungen, die Sonne ihnen zukommen lässt. Ständig ist jemand ein paar Tage hier oder dort auf einem Seminar. Sonne hat sich sogar ein festes Budget für Fortbildungen von der Betriebsleitung erstritten und sorgt dafür, dass es auch genutzt wird. Das hat Benni Tom ein paar Mal erzählt, als er völlig euphorisch von der einen oder anderen Fortbildung zurückkam, die Sonne ihm empfohlen hatte.

Ich habe nicht viele Fortbildungen gemacht, denkt Tom jetzt etwas selbstkritisch. Und sogar diese wenigen habe ich mir selbst organisieren müssen. Aber nach und nach habe ich trotzdem neue Aufgaben und anspruchsvollere Projekte übernommen. Teilweise hat mir der Grau Sachen anvertraut, die echt an meinem Limit lagen. Die Gesamtkoordination der Osterkampagne letztes Jahr. Das war hart. Nächtelang habe ich gegrübelt, wie ich das alles auf die Reihe bringe. Aber ich habe eine Menge dabei gelernt. Hätte ich noch mehr gelernt, wenn Grau mehr darauf gedrängt hätte, dass ich Fortbildungen mache?

Und wie wäre das bei der neuen Firma? Welche Entwicklungsmöglichkeiten gibt es dort? Wie sehr kümmern die sich um die Mitarbeiter, und wie sehr erwarten sie, dass sich die Mitarbeiter um sich selbst kümmern?

Ein Handy klingelt. Petra fischt es aus ihrer Tasche, schaut kurz auf die Telefonnummer des Anrufers und drückt das Gespräch dann weg. »Das ist nur mein Mann. Unser Gespräch hier ist gerade wichtiger.«

Prioritäten. Das ist auch noch so ein Punkt. Tom erinnert sich noch gut daran, wie er seinem kritischen Chef sein Konzept für die Osterkampagne vorgelegt hat: Er wollte die volle Breitseite fahren. Fernsehspots, Plakatwerbung, Printanzeigen, Social-Media-Kampagne, Handelsaktionen, ein Preisausschreiben, Produktplatzierungen in Filmen, Merchandising-Artikel wie Tassen und Zuckertütchen mit ihrem Markennamen. Grau hat sich das kurz angeschaut und ihn dann gefragt:

»Welche der Maßnahmen haben Ihrer Meinung nach den größten Effekt, welche sind Priorität B, und welche sind nur nett?«

Die A-Prioritäten waren klar: Plakatwerbung und Fernsehspots. Bei den restlichen Elementen musste Tom einen Moment überlegen, dann entschied er, dass die Social-Media-Kampagne und Handelsaktionen Priorität B waren und alles andere C. Grau nickte und sagte: »Dann lassen Sie die C-Sachen weg.«

Tom war verblüfft. Und auch ein bisschen beleidigt.

»Meinen Sie, dass ich das nicht alles schaffen kann?«

»Ich will nicht, dass Sie Ihre Zeit mit C-Prioritäten vergeuden«, sagte Grau knapp und verschwand in sein Büro.

Mal wieder so ein Auftritt, der Tom mit gemischten Gefühlen zurückließ. Trotzdem konzentrierte er sich danach auf die A- und B-Prioritäten. Und tatsächlich: Die Kampagne wurde ein voller Erfolg.

Woran wird wohl die Leistung im Haus- und Bürosteuerungs-Unternehmen gemessen? An den Ergebnissen, die jemand liefert? An der Zahl der Aufgaben, die er erledigt? An den Stunden, die er im Büro verbringt?

»Beim japanischen Unternehmen gibt es einen Kinderhort«, sagt Petra. »Und sie würden bei der Wohnungssuche helfen. Ralf hat zu mir gesagt, dass er dafür sorgt.«

Ja, das hatte er zu Tom auch gesagt. Und ihm auch sonst alle mögliche Unterstützung für den Standortwechsel zugesagt. Sonne kümmert sich echt um seine Leute. Tom ist sich nur nicht ganz sicher, was er davon halten soll. Ein bisschen erinnert ihn das an seine Mutter, die es sich immer noch nicht nehmen lässt, ihm nach jedem Besuch bei ihr ein Fresspaket mitzugeben.

Will ich wirklich das von meinem Chef, fragt sich Tom.

Mike macht noch mal die Runde mit den beiden Weinflaschen. Seinen stillen Kollegen, der im Ledersessel versunken ist, fragt er gar nicht mehr, ob rot oder weiß, nachdem der sich schon zweimal nicht entscheiden konnte. Aber jetzt ist Tom auf einmal wieder voll präsent. Er richtet sich auf, hebt sein Glas hoch und sagt zu Mike:

»Für mich roten, bitte!«

Alle stoßen miteinander an. Yasmin schaut von einem zum anderen und sagt mit komplizenhaftem Blick:

»Also, ich habe den Eindruck, dass wir uns eigentlich einig sind.«

Mike lächelt sie an, Benni nickt, und Petra atmet einmal tief durch. Nur Tom wirkt wie erstarrt. Sein Gesicht drückt gerade gar nichts aus.

Yasmin legt ihre Hand auf seine Schulter.

»Alles klar, Tom?«

»Ja ja, alles klar.«

»Was meinst denn du dazu?«, fragt sie ihn jetzt direkt.

Tom holt Luft, stellt sein Glas auf den Couchtisch, schaut jeden in der Runde kurz an und sagt dann:

»Ich bleibe bei Grau.«

Auf einmal herrscht Stille. Die Raumtemperatur ist mit einem Schlag um einige Grad gesunken. Yasmin starrt ihn verblüfft an. Petra verschluckt sich an ihrem Wein und muss husten. Der Einzige, der noch etwas sagen kann, ist Benni. Der stellt sein Glas ab und schaut Tom voller Unverständnis an:

»Wieso das denn?«

Kapitel 1: Passion.Wie Ihre Leute weit mehr machen als ihren Job

Was wäre aus der Dresdner Frauenkirche geworden, wenn es das Dritte Reich und die Bombardierung nicht gegeben hätte? Das kann niemand mit Sicherheit sagen. Aber es gibt Grund zur Vermutung: Sie hätte sowieso nicht mehr lange gestanden.

Seit dem Bau der Kirche im Jahr1726 wurden die Innenpfeiler der Kuppel jedes Jahr ein paar Millimeter mehr nach außen gedrückt, weil sie die gewaltige Last nicht tragen konnten. Der Architekt George Bähr, der im 18.Jahrhundert die Frauenkirche entwarf, hatte sich bei der Statik verrechnet. Die Konstruktion leitete nicht, wie er dachte, einen Teil der Kräfte über die Außenmauern ab. Die acht Innenpfeiler mussten das gesamte Kuppelgewicht tragen; dafür wurden ein viel zu weicher Sandstein und schlechter Fugenmörtel verwendet. Die Folge: Schon beim Bau traten erste Risse auf. Immer wieder bröckelten einzelne Steine heraus und wurden notdürftig ersetzt; alle paar Jahrzehnte mussten die Pfeiler mit weiteren Metallklammern verstärkt werden. Erst 1942 wurde die Kuppel mit Gurtbögen und Ringankern aus Stahlbeton stabilisiert– knapp drei Jahre, bevor die Dresdner Frauenkirche im Bombenregen unterging.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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