Der Comic - Klaus Schikowski - E-Book

Der Comic E-Book

Klaus Schikowski

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Beschreibung

Comics haben sich längst zu einer ernstzunehmenden Gattung gemausert: Graphic Novels werden wie Romane in den Feuilletons rezensiert, Klassiker erscheinen in eigenen Reihen und als hochwertige Liebhaberausgaben, Manga sind aus den Buchhandlungen nicht mehr wegzudenken. Doch was genau sind Comics? Klaus Schikowski führt in die speziellen Formen des Comics ein – vom Strip der frühen Tageszeitungen über die Superhelden-Comics bis zu den Underground Comix, von eigenen Ausformungen wie dem frankobelgischen Comic, den Manga bis hin zu digitalen und Web-Comics. Zahlreiche Abbildungen geben Einblicke in den Stil und die spezielle Technik großer Comic-Schöpfer. Für diese zweite Auflage wurde der Text vollständig überarbeitet und ergänzt.

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Klaus Schikowski

Der Comic

Geschichte, Stile, Künstler

Reclam

2014, 2018 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Durchgesehene und aktualisierte Ausgabe

Coverabbildung mit freundlicher Genehmigung von Flix und Volker Hamann

Autorenabbildung © Bernd Kissel

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2021

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-960438-1

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020544-0

www.reclam.de

Inhalt

Vorwort

Der Comic – Ein Medium zwischen Tradition und Moderne

Das Ende eines Massenmediums

Das goldene Jahrhundert oder Das Ende einer Ära

Was ist ein Comic?

Der Comic im 20. Jahrhundert

Comics in den USA

Der Superheld – Eine amerikanische Erfindung

Der frankobelgische Comic

Deutschland, deine Comics

Manga – Japanische Comics

Underground Comix

Die Graphic Novel

Der Übergang zur Moderne: Die Independent Revolution der »Alternative Comics« und der »Association«

Der Comic im 21. Jahrhundert

Der globale Comic

Die Zukunft der Helden von gestern

Die Graphic Novel heute

Die Vergangenheit ist die Zukunft

Digitale Comics und Webcomics

Anhang

Literaturhinweise

Glossar

Zum Autor

Vorwort

Als am 24. Oktober 2013 ein neuer Asterix-Band von einem neuen Team erschien, geriet die Veröffentlichung eines Comics zu einem kleinen Phänomen: Nahezu jede Tageszeitung berichtete über das Album, und selbst im heute journal und in den Tagesthemen gab es Beiträge dazu. Für einen ganz kurzen Moment war der Comic in aller Munde, es fand ein Diskurs statt, die Kulturredaktionen setzten sich mit dem Thema auseinander, und die Menschen setzten sich neugierig hin und lasen wieder einmal ein klassisches Album. Es ist kaum anzunehmen, dass die Geschichte einen Boom auslösen wird und sich die Leser, angetan von der bekannten Art des Erzählens mit Bildern, nun auf andere Comics stürzen. Für viele war es eine Reise in die Vergangenheit: Wer in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg groß wurde, der wird sie noch erlebt haben, die Zeit, in der die bunten Hefte den Kiosk überschwemmten, wo zahlreiche Helden-Serien darauf warteten, gelesen, geliebt und gesammelt zu werden. Je nach Alter las man die zahllosen Hansrudi-Wäscher-Titel oder das Zack-Magazin und hütete seine Comics wie einen Schatz. Daran erinnert ein neuer Band von Asterix – immerhin eine der erfolgreichsten europäischen Comic-Serien. Dennoch lässt sich ein gewisser Traditionalismus hier nicht verbergen.

Denn insgesamt hat sich der Comic weiterentwickelt, neue Themen gesucht, die Erzählweise ist komplexer geworden, und moderne Neuerscheinungen kommen in unterschiedlichen Stilen daher. Die Bandbreite der verschiedenen Comic-Formen ist inzwischen unüberschaubar: Es gibt die Einbildwitze in Zeitungen, die Comic-Strips, die wöchentlichen Hefte, die Alben, ganze Bücher in Comic-Form, die Graphic Novels genannt werden, es gibt Manga, Bilderbuchcomics, aber auch neue Comic-Romane für Kinder, in denen die Bilder aus Comic-Sequenzen bestehen. Die Comic-Zeichner von heute beschäftigen sich mit der Form als einer faszinierenden Möglichkeit zu persönlichem, künstlerischem Ausdruck.

Denn dass es sich bei den Comics um eine eigene Kulturform handelt, um eine Lektüre, die zwar eine gewisse Übung voraussetzt, aber dass es um gezeichnete Geschichten geht, die zwischen Kunst- und Unterhaltungsform pendeln, und schließlich, dass Comics Einflüsse aus dem Film, von der Literatur und von der Kunst aufnehmen, wird nur allzu gerne übersehen. Comics sind genau das: gezeichnete Geschichten, mal konventionell mit umrahmtem Einzelbild bzw. mit Panel1 und Sprechblase erzählt, dann wieder ganz frei komponiert auf den Seiten, mal subversiv, mal kindisch, mal anspruchsvoll, mal witzig, bewegend, tiefgründig oder einfach nur komisch.

Eine Kulturgeschichte des Comics schreiben zu wollen ist jedoch nahezu unmöglich. Es gibt kaum eine andere Kunstform, die sich gleichermaßen dem Zugriff entzieht und sich so wenig festlegen lässt. Es gibt keine schrittweise, sich aufbauende Entwicklung, im Gegenteil. Fast abgeschottet von den anderen Künsten hat sich die Form des Comics quasi selbst entwickelt. Und schließlich war sie lange gar nicht in der Lage, sich weiterzuentwickeln oder auszuweiten: Zu stark grenzten die Trägermedien (erst die Zeitung, dann das Heft) sie ein. So sah sie sich in extremer Weise den Marktgesetzen und der Industrie unterworfen. Entsprechend wurde ihre Produktion im 20. Jahrhundert auf ein vermeintliches Zielpublikum ausgerichtet: lediglich Stoff für Kinder. Hinzu kommt, dass die Geschichte der Comics deutlich stärker als die Geschichte anderer Medien durch Einschnitte und Zufälle geprägt ist: Es waren manchmal nur Ideen einzelner, die ganze Märkte beeinflussten.

Auf diese Weise haben sich verschiedene Comic-Kulturen beinahe unabhängig voneinander entwickelt, sie gediehen fast ohne jegliche Fremdeinflüsse und bildeten entsprechend völlig eigene Traditionen und Schulen aus: Im Grunde genommen hat also jedes Land eine eigene Comic-Tradition. Auch wenn einige interessante Parallelen zu beobachten sind, so muss doch zwischen Comics aus den großen Comic-Nationen – USA, Frankreich/Belgien und Japan – unterschieden werden. Natürlich gab es auch in anderen Ländern eine eigene Comic-Szene, die den regionalen Comic prägte. Eine Vermischung der Kulturen und Stile fand letztlich jedoch erst im 21. Jahrhundert statt.

Erst jetzt werden die Grenzen überschritten, die Entwicklung aus anderen Nationen wird übergreifend wahrgenommen, und es entsteht so etwas wie eine globale Comic-Produktion, die sich nicht mit der ständigen Reproduktion der eigenen Tradition begnügt, sondern neue Wege des grafischen Erzählens sucht. Der Comic schwankt zwischen Tradition und Moderne. Wir leben also in einer spannenden Zeit: Einerseits werden immer noch die bekannten Rezepturen wiederholt, andererseits suchen die Künstler neue Ausdrucksformen.

Liest man einen Comic, so hält man nicht eine gezeichnete Geschichte in der Hand, die scheinbar aus dem Nichts kommt: Sehr oft finden sich Verweise und Referenzen auf eine Comic-Tradition, auf bestimmte Erzählgattungen oder aber auch auf bestimmte grafische Techniken und Stile. Erst auf diese Weise wird die Funktionsweise der eigenständigen Kunstform deutlich. Einen Comic einordnen zu können erhöht nicht nur den Lesespaß beim Konsumenten ungemein, es macht auch kritikfähig, denn mit einem bestimmten Grundwissen über Funktionsweise und spezifischen Besonderheiten lässt sich leichter unterscheiden, ob es sich um einen »guten« oder um einen »schlechten« Comic handelt.

Dieses Buch zeigt auf, wie sich der Comic im 20. Jahrhundert etabliert hat, zunächst werden die Entwicklungen in den einzelnen Comic-Traditionen beschrieben, unter Berücksichtigung des Lesepublikums und der Formen und Formate, die sich ausprägten – es wird also eine Geschichte der Comics erzählt. Abschließend wird versucht zu umreißen, wie sich die Bilderzählung im 21. Jahrhundert bereits verändert hat, wo der Comic heute steht, wie er mit seiner eigenen Vergangenheit umgeht und in welche Richtungen er sich entwickeln könnte.

Es soll also ein Einblick gegeben werden in die Welt der Comics. Es geht darum, zu erklären, warum sich das Medium so entwickelt hat, wie es sich heute darstellt. Der Band möchte jedoch auch und vor allem die Freude am Lesen von Comics vertiefen. Denn die Art und Weise, wie Comics mit Bildern erzählen, ist einzigartig.

Der Comic – Ein Medium zwischen Tradition und Moderne

Dem Comic sind im 20. Jahrhundert viele unvergessene Momente zu verdanken, die, ähnlich berühmten Filmszenen, tief im kulturellen Gedächtnis verankert sind. Etwa die Verteidigung einer Brücke durch Prinz Eisenherz mit dem ›Singenden Schwert‹; das Geldbad von Onkel Dagobert; der Ritt von Lucky Luke in den Sonnenuntergang; Snoopy, Schreibmaschine schreibend auf dem Dach seiner Hundehütte; Obelix mit dem Finger gegen die Stirn tippend und dem unvergesslichen Ausspruch »Die spinnen, die Römer«; oder der mit dem Gewehr über dem Kopf schwingende und »Hunderttausend Höllenhunde« fluchende Kapitän Haddock. Diese Szenen sind weithin bekannt, und die entsprechenden Comic-Serien, aus denen diese Szenen stammen, sind es auch.

Das Ganze hat leider nur einen Haken, denn all diese Szenen stammen aus Serien, die älter als ein halbes Jahrhundert sind. Anscheinend wird hierzulande das Bild des Mediums Comic von den populären Reihen geprägt, und man setzt sich nur wenig differenziert, wenn überhaupt, mit der Gegenwart auseinander. Die Behauptung, dass solche kollektiven Erinnerungen eine Frage der jeweiligen Generationszugehörigkeit seien, je nachdem, mit welchen Comics man aufgewachsen ist, setzt voraus, dass es sich beim Comic immer noch um ein Medium für Kinder handelt. Das tut es auch tatsächlich in gewisser Weise, nur werden die Kinder von heute sich womöglich an Stellen aus asiatischen Manga erinnern, der fernöstlichen Form des Comics, die seit gut 20 Jahren ihren Siegeszug in der westlichen Welt fortsetzt. Manga formen eine eigene jugendliche Subkultur, der sich die Elterngeneration etwas hilflos und meist vor allem ahnungslos gegenübersieht.

Die Auflistung der obigen Szenen zeigt aber auch eine weitere Problematik im Zusammenhang mit dem Phänomen Comic aus dem letzten Jahrhundert, denn weniger sind es emblematische, erinnerungswürdige Momente aus einzelnen Meisterwerken als vielmehr charakteristische Momente von Serien. Sehr wenige Comics wurden als Einzelwerke bekannt. Diese Tatsache unterscheidet sie grundlegend von der Literatur oder vom Film. Comics werden weitgehend mit Reihen assoziiert.

Aus diesem Grunde ist auch der Vorstoß der Graphic Novel als Versuch zu verstehen, den Comic als in sich geschlossene Erzählung bekannter zu machen. Graphic Novel ist ein 1978 von Will Eisner etablierter Begriff, der in der Hoffnung geprägt wurde, sein Comic-Roman würde nicht als normaler Comic, sondern als eine literarische Bilderzählung aufgefasst. Wie der Manga sind natürlich auch Graphic Novels nichts anderes als Comics. Ihr etwas schlauerer Name verführt aber als kulturelles Phänomen dazu, den Comic ernster zu nehmen.

Wie hätte man Comics im letzten Jahrhundert auch ernst nehmen können, galten sie doch als kommerzielle Kunst für die Massen, die ihre eigene Trivialität kultivierten. Das macht sich nicht nur in der vermeintlichen Verknappung sprachlicher Ausdrücke fest. Comics erhoben zudem die ewige Wiederholung zum Stilmittel. Dieser Wesenszug des Comics lässt sich wunderbar an den Peanuts von Charles M. Schulz aufzeigen: Die Figuren müssen jeden Tag immer wieder von vorne beginnen, mit der gleichen Naivität und mit denselben Problemen. Niemals hatte Charlie Brown gelernt, dass er kein guter Baseballspieler ist, und Linus ist jedes Jahr aufs neue mit derselben Naivität ins Kürbisfeld gezogen, um auf die Ankunft des großen Kürbis zu warten. Die Comic-Strips bezogen also ihre Komik aus der Variation des Vertrauten, die Figuren hatten feste Rollen und Eigenschaften, und dies war sehr übersichtlich für die Leser. Schulz hat dieses Wiederholungsprinzip natürlich nicht erfunden, es war schon in dem Aufkommen der ersten Zeitungsstrips angelegt, aber er hat es als Stilmittel erkannt und dadurch erst zu seiner Perfektion geführt. Und seien wir ehrlich: Wäre es nicht todlangweilig, wenn Donald im voraus wüsste, dass er gegen Gustav Gans doch (wie immer) den Kürzeren ziehen wird, und sich gar nicht erst auf einen Wettkampf einlässt? Oder was wäre, wenn die Daltons einfach im Zuchthaus blieben, da sie dort sowieso wieder landen werden, und am Ende Lucky Luke gewinnt?

Beim Film heißt es oft, wenn eine Szene neu gedreht wird: Alles auf Anfang. Und genau das passierte jedes Mal zu Beginn eines neuen Strips oder einer neuen Geschichte. Ein Comic-Held ist letzten Endes also ein moderner Sisyphos: Am Ende steht er wieder unten am Berg und muss diesen verdammten Stein diesen verdammten Berg hinaufrollen. Und deswegen sind viele Comics auch so komisch: Letztlich lachen wir über uns selbst und unsere Versuche, das Leben zu meistern.

Das Ende eines Massenmediums

Die Tatsache, dass die Kunst des Comic-Machens gesellschaftlich gesehen nicht sonderlich anerkannt ist, hat aber noch einen gewichtigen Grund: Den Comic begleiten seine Vorurteile wie nebulöse Schatten, die einen Blick auf das wahre Wesen verhindern. So wurde dem Comic im 20. Jahrhundert beispielsweise nachgesagt, er sei ein populäres Massenmedium. Schaut man aber auf die Auflagenhöhen vieler zeitgenössischer Comics, so wird deutlich, dass dieser Status längst schon verlorengegangen ist. Als die frühen Comics als Strips in amerikanischen Zeitungen veröffentlicht wurden, war das Erscheinen noch ein Ereignis: Durch ein Zeitungsabonnement konnten große Teile der Gesellschaft die Entwicklung der Comics verfolgen, die Serien waren wohlbekannt und Teil einer Massenkultur. Das wurde im 20. Jahrhundert durch den weltweiten Erfolg von Mickey Mouse noch einmal verstärkt, denn dieser Strip erschien sowohl in Zeitungen als auch in Comic-Heften und legte auf diese Weise den Grundstein für den Erfolg von Comics in vielen Ländern. Walt DisneyComics & Stories verkaufte in den 1950ern (in der Hochzeit des großen Duck-Zeichners Carl Barks) monatlich vier Millionen Hefte.

Auch Comics anderer Länder können erstaunliche Zahlen aufweisen. Die Figur Tintin (Tim) etwa ist einer der größten Exportschlager des kleinen Königreiches Belgien: Über 230 Millionen Exemplare wurden weltweit verkauft, die Abenteuer in mehr als 100 Sprachen übersetzt, und die Figur dürfte zu den bekanntesten Charakteren aus der Welt der Comics gehören. 1990 verkaufte sich X-Men # 1 nahezu acht Millionen Mal. So hoch beziffert sich in etwa auch die weltweite Startauflage eines neuen Asterix-Bandes, von der Serie sind weltweit über 320 Millionen Alben verkauft worden.

Das sind beeindruckende Zahlen, und sie verdeutlichen noch einmal die Popularität einzelner Figuren. Aber heutzutage erreichen nur einzelne Werke ein so großes Publikum, ein Großteil der Veröffentlichungen hierzulande hat Auflagen im niedrigen vierstelligen Bereich. Sobald – selten genug – ein Comic fünfstellige Auflagen-Zahlen schreibt, gilt das schon als großer Erfolg – wie ähnlich für viele Autorencomics von unabhängigen Verlagen weltweit. Letzten Endes kann man die Form also nicht mehr als Massenmedium verstehen. Im Gegenteil ist der Comic zum Liebhaberprodukt geworden und besetzt eine eigene Nische. In dieser Nische kann er jedoch besser gedeihen und sich entwickeln als noch mit dem Etikett des Massenmediums. Indem Comics nicht mehr für die Massen gemacht werden, können sie ihr eigentümliches Profil schärfen und sowohl in erzählerischer als auch in grafischer Hinsicht neue Wege beschreiten.

Solange der Comic aber als Massenkultur galt, begleitete ihn zudem immer der Verdacht des Trivialen. Die Begleiterscheinungen dieser Verdächtigung waren vielfältig: 1949 schrieb die Neue Zürcher Zeitung über die Comic Books aus Amerika, ihr Charakteristikum sei, »dass sie das Wort durch das Bild ersetzen«, hier in Deutschland schimpften Pädagogen in den 1950ern, die »Sprechblasenliteratur« sei »Lesefutter für Analphabeten«, christliche Verbände verbrannten Comics, als hätten sie aus der Vergangenheit nichts gelernt, in Amerika wurde gemutmaßt, dass die Kriminellenrate bei Comic-lesenden Jugendlichen erhöht würde, und der Psychologe Fredric Wertham führte mit seinem Buch Seduction of the Innocent geradezu einen Kreuzzug gegen die bunten Hefte, der in Schauprozessen mündete, die Inhalte auf das einfachste nivellierte und für lange Jahre innovative Strömungen unterband. Hier wie dort war man sich sicher, dass es sich bei Comics um eine Vorform des normalen Buches handelte: Die Bilder würden sich die Kinder schon wieder abgewöhnen. Comics, so der einhellige Tenor, seien eine reine Kinderlektüre, weshalb 1954 auch die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften (heutzutage: für jugendgefährdende Medien) gegründet wurde, die fortan mit wachsamen Augen alle für Kinder gedachten Publikationen überwachte. Die ersten indizierten Publikationen waren natürlich zwei Comics, nämlich Der kleine Sheriff und Jezab der Seefahrer, im Grunde harmlose Abenteuercomics, denen aber von der Bundesprüfstelle eine »entartete Phantasie« vorgeworfen wurde. Das war wohlgemerkt bereits in der Nachkriegszeit, doch auf diese Weise wurden die Vorurteile noch weiter geschürt. Die Ressentiments gegenüber dem gesamten Medium verhinderten, eine eigenständige Ästhetik der Bilderzählung wahrzunehmen.

So bemühte sich das Medium Comic lange Zeit um Legitimation. Als Massenmedium gefeiert und als trivial gebrandmarkt, bekam der Comic im 20. Jahrhundert keine Chance, sich frei zu entfalten und als eigenständige Kunst- und Erzählform zu etablieren. Denn nicht nur fehlte eine breitere gesellschaftliche Akzeptanz, auch das Selbstverständnis der Comic-Zeichner als Künstler war nicht vorhanden: Sie verstanden sich eher als Gebrauchsgrafiker, die ausschließlich dazu da waren, den Lesern angemessene Unterhaltung zu bieten. Als Carl Barks erstmals einen Fanbrief erhielt, dachte er, es handele sich um einen Scherz seiner Kollegen. Es war undenkbar, dass Comics über die Heftveröffentlichung hinaus irgendeinen Wert haben könnten. Will Eisner wurde in den 1940er Jahren noch von den Kollegen verlacht, als er behauptete, Comics seien eine eigene Kunstform.

Deshalb blieb auch die Anerkennung durch die schönen Künste dem Comic im 20. Jahrhundert verwehrt. Entsprechend fand die Kulturgeschichte des Comics losgelöst von der Kunst- oder Literaturgeschichte statt, ein gegenseitiger Austausch kam nicht zustande. Dies bedeutete jedoch gleichzeitig, dass das Medium seitens der Hochkultur keinerlei Druck oder Erwartungen ausgesetzt war: Es konnte sich also in der eigenen Nische aus sich selbst heraus entwickeln.

Und so paradox es klingen mag: Der große Erfolg einiger Serien war gleichzeitig auch der Hemmschuh für eine Weiterentwicklung. Erfolgreiche Rezepte wurden immer wieder wiederholt und kopiert, und die eigene Tradition stand oftmals den Innovationen im Weg. Das ist der Grund dafür, weshalb es nur wenige Serien ins kulturelle Bewusstsein geschafft haben, und diese sind in der Regel die Serien, die Kinder und Erwachsene gleichermaßen ansprechen, also Asterix, Lucky Luke oder Donald Duck.

Das goldene Jahrhundert oder Das Ende einer Ära

So entwickelte sich bei den Comics eine eigene Tradition, und wie so üblich bei Traditionslinien war die Abweichung von der Norm unerwünscht. Das macht sich schon allein bei den Formaten fest. Kurz vor Beginn des 20. Jahrhunderts, also etwa zeitgleich mit dem Film, setzte der Siegeszug des Comics in den amerikanischen Zeitungen ein. Doch während der Film sich weiterentwickelte und ausdifferenzierte, blieben die Comic-Strips über 30 Jahre ein Zusatz-Service der Zeitungen und übten sich in der Kurzform. Die Comic-Hefte, die in den 1930ern aufkamen, etablierten den Superhelden, und die frühen Tage, in denen sich die Hefte explosionsartig als Teil einer neuen Jugendkultur über Amerika verbreiteten, werden aus diesem Grunde auch gerne als das »Golden Age« bezeichnet. Heutzutage erscheinen die Heftreihen mit den kostümierten Verbrechensbekämpfern immer noch in fast demselben Format: Selbst die Superheldenformel wird immer und immer wieder wiederholt und variiert, um sich dann erneut zu wiederholen. Ähnliches gilt für andere Comic-Kulturen: Die Abenteuercomics von Tintin prägten die Ausrichtung der Bande Dessinée (so der französische Ausdruck für Comic) für viele Jahrzehnte. Mitte des Jahrhunderts erreichte der frankobelgische Comic seine Blütezeit, und diese Jahre des Comic-Booms gelten auch für die französische Szene als das »Age d’Or«.

Sowohl in den USA als auch in Frankreich waren es die gesellschaftlichen Veränderungen der 1960er Jahre, die die Comics von ihren eigenen Stereotypen befreiten. Eine junge Generation von Zeichnern brachte neue Impulse, überholte auch die objektive Erzählweise und brachte einen persönlichen Ton mit in die Werke. Erstmals erzählten die Künstler von sich und ihrem Leben, immerhin über 60 Jahre nachdem sich die Form gebildet hatte. In Amerika führte das letzten Endes zum Autorencomic und zur Graphic Novel, und in Frankreich zum »Erwachsenencomic«. Die Auswirkungen dessen sind erst heutzutage richtig zu spüren. Und trotzdem blieb die Tradition immer präsent: Die populären Titel auf dem Markt waren dieselben wie zuvor.

Will man das 20. Jahrhundert als das goldene Zeitalter des Comics bezeichnen, so endete es konsequenterweise mit Beginn des 21. Jahrhunderts. Als am 12. Februar 2000 der Zeichner Charles M. Schulz starb, war das ein weiteres Zeichen für das Abtreten einer Generation, die den Comic groß gemacht hat. Ganze 50 Jahre hatte Schulz die amerikanischen Zeitungsleser begleitet, und sein täglicher Comic-Strip wurde dabei für viele zu einer wichtigen Institution des täglichen Lebens. Darüber hinaus wurden seine Figuren, die Peanuts, so erfolgreich, dass Schulz zu einem der einflussreichsten (und reichsten) Cartoonisten der USA wurde. Doch mit seinem Tod endete auch die Zeit der Peanuts in den Zeitungen und damit auch eine ganze Ära: Einen allerletzten Strip hatte er gezeichnet, der am darauffolgenden Tag auch noch erschien, in dem die berühmten Figuren ihrem Schöpfer »good-bye« sagen.

Gäbe es ein imaginatives Comic-Museum, in dem alle Künstler und ihre Serien postum ausgestellt würden, so wäre ein Großteil des Comics aus dem 20. Jahrhundert zu musealen Ehren gekommen, und die Kunstwerke hingen dort als Nachlass für kommende Generationen. Das goldene Zeitalter des Comics wäre in jenem Museum zu bewundern: Carl Barks, der große Duck-Zeichner, starb am 25. August 2000. Will Eisner, der große Pionier, starb 2005 und überließ die Entwicklung der Graphic Novel nun anderen. Auch beim französischen Comic kann das 20. Jahrhundert als ein abgeschlossenes Zeitalter gesehen werden: Tintin starb mit seinem Schöpfer Hergé1983, und die Serien Asterix und Lucky Luke waren seit dem Tod des genialen Humoristen Goscinny1977 nur noch ein Schatten ihrer selbst. Peyo, der Vater der Schlümpfe, verstarb 1992, der großartige André Franquin1997 und Morris, dem der »poor, lonesome Cowboy« Lucky Luke zu verdanken ist, 2001. Im März 2012 ist mit Giraud/Mœbius einer der Revolutionäre aus der Folgegeneration von uns gegangen.

All diese Zeichner haben den Comic geprägt und weitergebracht – doch viele ihrer Serien laufen nahtlos weiter. Neben diesen Serien differenziert sich das, was wir als konventionellen Comic kennengelernt haben, weiter und weiter aus, wie es sich für eine ernstzunehmende Kunstform gehört. Das ist natürlich die große Chance für das Erzählen mit grafischen Mitteln: Eine junge Generation prägt neue Erzählweisen, neue Stimmen setzen sich durch, und es wächst endlich das zusammen, was auch zusammengehört. An die Stelle des Comics, wie viele ihn kennen, sind eine Vielzahl von Varianten getreten, die zwar immer noch das Erzählen mit Bildern und Sprechblasen gemein haben, aber sich deutlich unterscheiden vom herkömmlichen Comic.

Comics sind auch nicht mehr alle komisch, wie die Grundbedeutung »funnies« oder »comic« nahelegt. Mit den Graphic Novels hat der Comic sich eine neue Leserschaft gesucht und gefunden. Doch mit dem Flirt mit der Belletristik hat der Comic nicht nur sein eigenes Modell der ewigen Wiederholung überwunden, sondern gleichzeitig auch die Form für alle möglichen Leser geöffnet. Nun kann – sofern er denn gewillt ist – jeder Comics lesen, ganz ohne Vorwissen. Für ein kulturinteressiertes Publikum gibt es eine Vielzahl an neuen Themen, etwa Sach-Comics, Literatur-Adaptionen und Biographien berühmter Persönlichkeiten. Und der Manga, dieses junge Phänomen, bildet eine eigene Subkultur, mit eigenen Codes und Stilmitteln, die dem herkömmlichen Comic-Leser gänzlich fremd sind. Auch das Trägermedium ist dabei, sich zu verändern: Von den bedruckten Seiten geht es auf die Bildschirme, und digitales Veröffentlichen ist eines der Zauberworte der Verlage. So sucht eine Form, die am Ende des 19. Jahrhunderts entstand, ihren Platz in der Moderne. Es wird sich zeigen, ob zwischen Nostalgie und Tradition genügend Raum für Innovation und Fortschritt bleibt. Der Comic, so scheint es, sucht seine Identität. Oder besser gesagt, er hat endlich zu sich selbst gefunden und kann sich frei entwickeln. Willkommen in der Zukunft!

Was ist ein Comic?

Wenn, wie in diesem Buch häufiger, von ›dem Comic‹ gesprochen wird, so ist damit natürlich nicht ein einzelnes Werk gemeint, sondern die Gattung. »Comic« steht dabei als Sammelbegriff analog zu den Begriffen »Film« oder »Literatur«, die ähnlich eine große Bandbreite an verschiedenen Ausdrucksmöglichkeiten und Formen erfassen. Doch die Selbstverständlichkeit, mit der in den beiden anderen Gattungen Genres und Subgenres klassifiziert werden, fehlt dem Comic. Womöglich liegt das auch in der Unschärfe des Oberbegriffs, denn »Comic« kommt von »comical«, also vom Komischen, Absurden. Deshalb ist es schwierig, einen solchen Sammelbegriff, der sich Anfang des 20. Jahrhunderts etablierte, zu einer Zeit also, als das einzige Trägermedium für den Comic noch die Zeitungen waren, heute noch als Oberbegriff auch z. B. für Comic-Romane mit ernsthaften Inhalten zu verwenden. In anderen Kulturen haben sich eher formale Begriffe für das grafische Erzählen gefunden, die mehr die Funktionsweise beschreiben. In Frankreich heißen Comics »Bande Dessinée«, was nichts anderes bedeutet als ›gezeichnete Bildstreifen‹. Im Chinesischen dagegen werden die Comics »Lien-Huan Hua«2 genannt: Der Begriff zielt analog zum Französischen auf den Aspekt der Bildfolge ab und bedeutet so viel wie ›Kettenbilder‹. Und in Japan wird die Bildergeschichte »Manga« genannt, zusammengesetzt aus zwei Schriftzeichen: Das »erste ›man‹ gelesene steht für ›spontan, impulsiv, ziellos‹ und damit auch für die Rhetorik der Übertreibung […]. Das zweite ›ga‹ gelesene heißt ›Bild‹ […].«3 In Italien hingegen werden die Bildergeschichten »fumetti« genannt und beziehen sich dabei auf die Sprechblasen, die wie Rauchwölkchen wirken und mit denen die Figuren zu sprechen in der Lage sind. Beim Comic handelt es sich also um ein internationales Massenphänomen, die Sprachverwirrung aber verdeutlicht, dass der Begriff nicht universell verständlich ist. Die unterschiedlichen Bezeichnungen drücken allerdings auch ein breites Spektrum der Bedeutung aus, das sich im Laufe des 20. Jahrhunderts noch weiter ausgeprägt hat.

Natürlich lässt sich ein Comic leicht erkennen, denn er hat einige ganz typische Merkmale: Er ist z. B. gezeichnet. Eine Zeichnung ist ein subjektiver, künstlerischer Ausdruck und kann demzufolge auch einen ästhetischen Effekt beim Betrachter auslösen: Entweder gefällt eine Zeichnung, oder sie gefällt nicht. Viel liegt also im Auge des Betrachters: Die Bildkultur, die vom Comic vorgeschlagen wird, muss man begehen wollen.

Doch so leicht macht es uns der Comic auch wieder nicht, denn in die Zeichnungen ist Text integriert. Im Comic vereinen sich also zwei verschiedene Zeichensysteme, Bild und Sprache. Es ist ein Leichtes für das Auge, beides simultan wahrzunehmen (man denke nur an die Untertitel bei einem fremdsprachigen Film oder an den Computerbildschirm). Der Comic ist aber in der Lage, beide Systeme so miteinander zu verschränken, dass das Werk zu einem einzigen Ausdruck wird. Wer sich also einen Comic zur Hand nimmt, muss sich, um das Gelesene verstehen zu wollen, nicht nur auf die Zeichnungen einlassen, sondern er muss auch den Zusammenhang zwischen dem geschriebenen Text und der Grafik herstellen: Er muss die Zeichensysteme interpretieren. Dies geschieht im Einzelbild, das in der Regel als Panel dargestellt wird: Das Bild wird dabei von Panelgrenzen umrandet. Es handelt sich dabei um regelrechte Kästen, in deren Grenzen sich Bild und Wort treffen. Heutzutage werden die Umrandungen auch weggelassen, um einen anderen Erzählfluss zu erhalten. Ein klassischer Comic hat jedoch Panels. Man könnte das Panel nun die kleinste Einheit des Comics nennen. Ein einzelnes Panel allein macht zwar noch lange keinen Comic aus, doch welche Kraft schon im Einzelbild steckt, zeigen die Einbildwitze oder Cartoons, die eben mit genau nur einem Bild arbeiten und vom Leser verlangen, dass er die dargestellte Situation vervollständigt. Wenn etwa ein Stein über dem Kopf einer Figur schwebt, ist dem Betrachter klar, dass er im nächsten Moment auf den Kopf prallen wird. Gerne wird in den Einbildwitzen auch mit Sprechblasen erzählt, wie dies im konventionellen Comic üblich ist. Die Sprechblase ist das Werkzeug im Comic, um Figuren sprechen zu lassen. In einer Sprechblase, die durch einen verlängerten Dorn einer Figur zugeordnet ist, finden sich gedruckte Dialoge. Die Blase gibt also einen Sprechakt im situativen Moment seines Entstehens wieder. Gedacht wird in sogenannten Gedankenblasen (die wie Wölkchen dargestellt sind). Erzählender Text findet sich in Blocktexten, also in abgegrenzten Texten in einer Ecke des Panels. Heutzutage begegnen einem kaum noch Gedankenblasen. Innerer Monolog (quasi Selbstgespräche der Figur) findet sich stattdessen verteilt im Bild in Blocktexten. Auf diese Weise wird der Monolog als stilistisches Mittel eingesetzt, um Dynamik zu erzeugen.

Das Panel funktioniert als solches aber nur in Zusammenhang mit einem anderen Panel, zwischen beiden ist ein schmaler Steg. Den Freiraum zwischen zwei Panels bzw. die weißen Flächen, die die Panels voneinander trennen, nennt man »gutter«, der englische Ausdruck für ›Graben‹. Dadurch wird angezeigt, dass es sich hierbei um verschiedene Momente handelt. Genau dieser schmale Raum stellt eines der großen Geheimnisse der Comics dar: Der Leser muss eine Verbindung beider Panels herstellen, und zwar unabhängig davon, wie nah oder wie fern die Bildinhalte zueinander stehen.

Mehrere Panels hintereinander ergeben eine Panelreihe, ähnlich einem Comic-Strip, wie er sich in den Zeitungen etablierte – in mehreren Panels hintereinander wird eine kurze Geschichte oder ein Witz erzählt. In einem Comic breiten sich die Panels allerdings auf einer Seite aus, verteilen sich als Folge und werden – zumindest im westlichen Kulturraum – von links nach rechts und von oben nach unten gelesen.

Das Einzelpanel hängt also mit weiteren Bildeinheiten zusammen und unterliegt einer eigenen, übergeordneten Struktur. Die übergeordnete Struktur des Panels ist die Seite. Auf einer Seite ordnen sich die Panels auf bestimmte Weise an, können arrangiert und regelrecht komponiert werden. Man kann hier von Seitenarchitektur sprechen, denn über eine bloße Aneinanderreihung gleich großer Panels hinaus bietet die Comic-Seite einige Möglichkeiten: Die Panels können querformatig oder längs arrangiert sein; einzelne Elemente können durch ihre Größe hervorgehoben werden; die Seite kann als Metapanel aufgebaut sein, also als ein großes Panel, in das mehrere kleine integriert sind; es können die Panelgrenzen weggelassen werden. Kurz und gut: Dem Künstler bieten sich eine Vielzahl an Variationsmöglichkeiten. Der Aufbau bzw. das Design einer Seite ist dabei weniger Selbstzweck als vielmehr Ausdruck des Erzählten, mit dem es korrespondiert (vorausgesetzt, dass man einen Comic liest, dessen Comic-Zeichner sein Handwerk versteht).

Der Comic-Zeichner legt also im voraus fest, wie die einzelnen Panels räumlich auf der Seite angeordnet werden. Diese Festlegung wird nicht durch die Gattung der Bildergeschichte vorgegeben, sie hält nur die Möglichkeiten bereit. Der Comic-Zeichner komponiert aus dem Comic-immanenten Vokabular eine Comic-Seite und passt sie der Geschichte an. Das bedeutet aber auch, dass auf der Comic-Seite zwei Prinzipien miteinander ringen, nämlich ein gestalterisches und ein erzählerisches Prinzip. Diese Prinzipien bedingen einander. Die Comic-Seite regiert also ein Mechanismus, der dem Zeichner nicht vorgegeben wird, sondern von ihm optional als bestmöglicher Ausdruck ausgewählt wird. Hat er aber die Seite einmal gezeichnet, so hat er sein System unlösbar miteinander verkettet. Das bedeutet, dass man bei einem Comic zwar nachträglich die Bildsprache analysieren kann, es aber keine vorab vorgegebene Struktur gibt, die beim Zeichnen eines Comics notwendigerweise aufgegriffen wird. Will man sich diese spezielle Struktur vorstellen, muss man sich nur ganz einfach alle Bilder und den Text wegdenken, so dass nur noch leere Panels übrigbleiben. Diese Kästen geben die zugrundeliegende formale Struktur des Comics wieder. Sie sind, ähnlich wie bei der Sprache, die Regularitäten, die den Satzbau bestimmen. Welche speziellen Wörter man dann schließlich als Subjekt, Prädikat oder Objekt einsetzt, bleibt einem auch in der Sprache selbst überlassen. Die kreativen Freiheiten eines Zeichners sind also unbegrenzt, denn er kann seine Geschichte in einer völlig neuen Anordnung, einer völlig eigenständigen Folge und Struktur ausdrücken.

Wie erzählt nun der Comic? Das lässt sich am besten an einem Vergleich erläutern. Der frühe Stummfilm zeigte eine Szene als Abfolge von Bildern, dann wurde eine Texttafel eingeblendet – bis sich der Tonfilm durchsetzte. Dieses Nacheinander hat der Comic zu einem Nebeneinander verbunden. Und durch die Integration von Texten in das Bild unterscheidet sich der Comic von den klassischen Bildergeschichten, wo die Bilder nur eine illustrierende Funktion hatten. Die Sprechblase aber sorgte im Comic dafür, dass das gesprochene Wort in seiner eigenen Umgebung abgebildet werden kann und dass Gleichzeitigkeit entsteht. Der Comic entwickelte sich wie der Film ab dem Ende des 19. Jahrhunderts – und hat auch eines der Merkmale des Films übernommen, nämlich die Verbindung von Einzelmomenten zu einem erzählerischen Akt. Die grundlegende Mechanik des Comics besteht also auch in der Verkettung einzelner Momente. Deshalb bezeichnet man den Comic auch gerne als »sequenzielle Kunst«4. Als Leser muss man sich das Erzählte regelrecht erarbeiten, indem man die Mechanismen der Bilderzählung erkennt und anwendet. Diese damit verbundene, bestimmte Form des Erzählens macht die Besonderheit des Comics aus. Das hört sich komplizierter an, als es in Wirklichkeit ist. Es zeigt aber auch, dass ein Comic nicht so einfach gestrickt ist, wie viele glauben.

Weil der Comic aber nun mal erzählt, ist es womöglich einfacher, sich einen Comic als einen Text vorzustellen – als einen Text, der sich deshalb lesen lässt, weil er auch verschiedenen Parametern und bestimmten Regularitäten in einer gänzlich eigenen Struktur unterliegt. Den Gesamttext eines Comics erfährt der Leser, wie gesagt, durch die Zusammenführung der erzählerischen und der gestalterischen Ebene. Diese zwei Informationsstränge laufen beim Leser zusammen. Bild und Wort bilden also ein Referenzgeflecht, durch das erst eine inhaltliche Kohärenz möglich wird. Das einzelne Panel bildet dabei, wie erwähnt, die kleinste Erzähleinheit, die eine bestimmte Funktion in einem Gesamttext erfüllt. Diese Erzähleinheit ist in ein Vorher und ein Nachher integriert, das im Moment gelesene Panel stellt also die Gegenwart dar, das vorige die Vergangenheit.

Der Comic ist also in seinem Herzen eine erzählende Gattung. Er ist aber aufgrund seiner visuellen Komponente ebenso mit der Kunst verwandt, denn schließlich eignet er sich grafische Ausdrucksweisen an. Allerdings hat er auch Ähnlichkeiten mit einem Theaterstück, dort wird schließlich der Text auch in dialogischer Form vorgetragen. Oder ähnelt er doch eher dem Film? Sind nicht viele Mittel zur Beschreibung der Bildsprache aus der Filmtheorie entlehnt, Kamerafahrt, Zoom, Blickwinkel oder Totale? Den Film charakterisieren jedoch dynamische Bilder. Im Vergleich dazu ist der Comic statisch, kann sich jedoch vor und zurück in der Zeit quasi räumlich ausbreiten.

Nein, der Comic ist eine eigenständige Kunstform, die Dinge kann, die andere Formen nicht können. Zudem ist der Comic in der Lage, das Beste aus anderen Formen zu entleihen: Er ist ein Medium mit der besonderen Fähigkeit, andere Mittel zu absorbieren. Indem Bild und Wort auf diese spezielle Weise miteinander kommunizieren, entsteht ein konzeptionelles narratives Ganzes als grafische Literatur. Diese Beziehung, diese Kommunikation zwischen Wort und Bild stellt somit neben dem leeren Raum zwischen den Panels das große Geheimnis dar: An diesen Stellen zeigt sich die große Kunst der Comics in ihrer ganz und gar einzigartigen Funktionsweise.

Die Definition aber von Comics ist eine der schwierigsten Fragen, die die Comic-Wissenschaftler bis heute umtreibt. Bislang hat noch niemand eine wirklich umfassende Definition erbringen können. Deshalb wird auch von einer unmöglichen Definition5 gesprochen. Zu vielfältig sind die verschiedenen Ausdrucksweisen des Erzählens mit grafischen Mitteln. Mittlerweile hat sich jedoch Eisners Begriff der sequenziellen Kunst als Grundlage durchgesetzt.

Der amerikanische Comic-Zeichner und -Theoretiker McCloud hat eine essayistische Comic-Theorie in mehreren Bänden selbst in der Form eines Comics vorgelegt und darin auch einen modernen Comic-Begriff geprägt: Dieser besagt, dass der Comic mindestens zwei stehende Bilder haben muss, um eine Geschichte zu erzählen. Letztlich beruft er sich damit auch wieder auf Eisner. McCloud definiert den Comic als »zu räumlichen Sequenzen angeordnete, bildliche oder andere Zeichen, die Informationen vermitteln und/oder eine ästhetische Wirkung beim Betrachter erzeugen sollen«.6 Er versteht Comics als System, als eigene Sprache. Obwohl also jeder weiß, was ein Comic ist, ist eine erschöpfende Definition selbst den größten Experten unmöglich. (Entsprechend stehen verschiedene Theorien nebeneinander, was denn der erste Comic war – seien es Höhlenzeichnungen.)7 Im Grunde genommen ist der Comic jedoch schlicht eine Bilderzählung. Denn das deutet sowohl auf seine Mechanik hin als auch auf seine Mittel.

Vielleicht hilft es, sich einige exemplarische Comics anzuschauen, also Prototypentheorie zu betreiben. Eine ganz normale Seite von Carl Barks bildet solch einen Prototyp eines Comics. Um diesen ersten Prototypen gruppieren sich nun zunächst alle Sprechblasencomics. Etwas weiter entfernt, an den Rändern, finden sich auch wortlose Comics oder an einer anderen Stelle Comics, die Bild und Text fein säuberlich voneinander trennen. Diese Bereiche überschneiden sich jeweils mit anderen Formen, etwa dem Bilderbuch, das sowohl Bild als auch Text präsentiert. Je näher aber eine Geschichte am Prototypen der Bilderzählung ist, umso eher fällt sie in die Kategorie Comic.

Art Spiegelman8 hat es etwas weniger kompliziert ausgedrückt: Er sieht die Form als großen Stammbaum, an dem die unterschiedlichen Ausprägungen der Bilderzählung an verschiedenen Ästen wachsen.

Seine Metapher eines großen Comic-Baums ist für ein genaueres Verständnis des Phänomens Comic sinnvoll, denn damit verdeutlicht er die Verwandtschaft des Comics zu weiteren Bilderzählungen, die ebenfalls mit der Vermischung von Text und Bild arbeiten, wie das Bilderbuch, der Cartoon oder aber – ganz weit außen an den Ästen der verzweigten Kunstform zu finden – Gebrauchsanweisungen.

Worin liegt aber nun der Unterschied zwischen einem Comic-Strip und einem Comic Book? Warum heißen die Comics nun Graphic Novels, und wovon unterscheiden sich diese? Wie erzählen Bandes Dessinées, und was ist die Besonderheit am Manga? Jede dieser Fragen deutet auf einen eigenen Ast am Baum. Und diese Fragen versucht dieses Buch zu beantworten. Der Comic ist dabei ein sich ständig fortentwickelndes Phänomen: Wir schauen einem Baum beim Wachsen zu.

Der Comic im 20. Jahrhundert

Comics in den USA

»The sunday page and the Funnies« – Comic-Strips in der Wochenendbeilage

Es ist der 25. Oktober 1896 in New York, endlich ist Wochenende und es gibt wieder die sonntägliche, bunte Zeitungsbeilage The American Humorist. Dort ist auch wieder eine dieser witzigen gezeichneten Geschichten in Bildern zu lesen, mit diesem glatzköpfigen Kerl im gelben Nachthemd, auf dem manchmal sogar etwas steht, auch an diesem Tag. Die neue Episode nennt sich »The Yellow Kid and his new Phonograph«. Sie besteht aus fünf Einzelbildern, auf denen jedesmal die Figur in einer anderen Pose mit der titelgebenden Erfindung des Phonographen (einer Vorform des Plattenspielers) von Edison zu sehen ist. Zunächst hält die Figur den Apparat unter dem Arm. Auf ihrem Nachthemd ist in einem eigenwilligen Slang zu lesen, was den Leser erwartet: »Listen te de woids of wisdom wot de phonograff will give yer«. Dann scheint eine gezeichnete Stimme aus dem Phonographen zu kommen, die durch eine Sprechblase dargestellt wird. Das Gesagte ist Werbung für die Wochenendbeilage, die als »de greatest ding on earth« beschrieben wird, bunt und lustig. Artig bedankt sich der Junge, während das Gerät weiter spricht. Erst im fünften Bild dann wandert die Sprechblase und kommt nun aus dem Mund des Jungen, das Nachthemd bleibt leer, während ein sprechender Vogel aus dem Gerät kommt. Der Junge scheint zu fallen und verharrt in seltsamer Pose.

Yellow Kid und die wandernde Sprechblase. Strip vom 25. Oktober 1896.

Was auf den ersten Blick bloß als obskure Randnotiz auf der Suche nach Sprechblasen in frühen Bildergeschichten wirkt, ist eine kurze Geschichte mit großer Wirkung und von Comic-historischer Bedeutung. Denn die Serie mit dem berühmten Yellow Kid von Richard Felton Outcault steht am Beginn des Zeitalters der Comic-Strips und stellt letztlich die Geburtsstunde des modernen Comics dar. Eigentlich ist dieser kurze Strip für einen Comic ungewöhnlich: Es fehlen ihm die typischen Umrandungen des Einzelbildes, die ein Panel als solches erst erkennbar machen. Auch grafisch bleibt Outcault in der Tradition der Karikatur des 19. Jahrhunderts – kein Wunder, hatte der Illustrator schon vorher eigene Werke in bekannten Satiremagazinen veröffentlicht. Doch die Figur mit dem Nachthemd verwendete der Zeichner zu diesem Zeitpunkt wöchentlich: Sie war der »Star« der Reihe, eine wiederkehrende Figur, an der sich die Leser orientieren konnten. Und neben der Integration von Text in das Bild durch die Sprechblase lassen sich hier die Bilder auch hintereinander lesen: Das Ganze wirkt beinahe wie ein kleiner Kurzfilm oder Daumenkino – eine sequenzielle Darstellung. Die Serie zeigt wichtige Charakteristika des Comics.

Neu war das alles nicht, denn die Elemente, mit denen Outcault erzählt, hatte es früher schon gegeben, etwa die erzählende Bilderreihe bei Wilhelm Busch oder noch früher beim Schweizer Rodolphe Töpffer in seinen Histoires en estampes (Geschichten in Bildern), der äußerst vorausschauend ein Comic-Inventar, wie es sich im 20. Jahrhundert erst richtig etablieren sollte, genutzt hatte – obwohl dort Text und Bild noch fein säuberlich voneinander getrennt waren. Die wiederkehrende stehende Figur gab es schon in den britischen Geschichten um Ally Sloper von 1867, die mal als Einzelbild, mal als Bildfolge erschienen und deren derber Humor ebenfalls richtungsweisend für die Comics war. 1889 erschienen in einer französischen Zeitung die Bildergeschichten Le Famille Fenouillard von Christophe (d. i. Georges Colomb), einem Professor für Naturwissenschaften: Der erzählte humoristische Reiseerlebnisse einer Familie. Wie bei Töpffer und Busch standen auch hier die Texte unterhalb der Bilder. Diese Bildergeschichten stehen in der Tradition der beliebten europäischen Bilderbögen und der Fliegenden Blätter, in denen Bild und Texte voneinander getrennt waren. Die Geschichte der Sprechblase und damit die Integration von Text in das Bild reicht noch weiter zurück: Die Technik wurde in Hieroglyphen genutzt, auf Spruchbändern in der Malerei, Thomas Rowlandson nutzte sie auf seinen 24 Blättern, die er als Groteske Bordüren veröffentlichte, und es gibt in beinahe jeder Kultur auf der Welt weitere Einzelbeispiele. Sogar Friedrich Schiller hatte schon 1786 die Avanturen des neuen Telemach als Geschenk für seinen Freund und Gönner Körner angefertigt. Veröffentlicht wurden diese Abenteuer zwar erst nach Schillers Tod, jedoch werden in diesen Zeichnungen schon Stilmittel vorweggenommen, indem Schiller den Figuren wörtliche Rede zuordnet.

Das sind nur einige Beispiele aus einer langen Tradition von Bilderzählungen. Viele Comic-Forscher betätigen sich als Archäologen, machen Ausgrabungen, sichten Fundstücke und setzen so die Vorläufer des Comics, den sogenannten Protocomic9, wie in einem Mosaik zu einem Gesamtbild zusammen. Die so entstandene Ahnengalerie zeichnet eine lange Kultur vom Erzählen in Bildern nach, doch die Comic-Forschung ist gespalten: Gibt es Comics also nun, seitdem es das Erzählen mit Bildern gibt (also seit den ersten Höhlenzeichnungen), oder erst seit dem Aufkommen der Comic-Strips in den amerikanischen Zeitungen? Letztlich ist auch die Beantwortung dieser Frage abhängig davon, nach welchen Kriterien man Comics definiert.

Der Glaubenskrieg geht sogar quer durch die Comic-Kulturen: Während für die Amerikaner der Strip The Yellow Kid1896 die Geburtsstunde des modernen Comics markiert, verweisen die Franzosen auf eine europäische Tradition, die von Töpffer im Jahr 1827 als eigenständige Publikation veröffentlichte Bildergeschichte L’Histoire de Monsieur Vieux Bois, die auch von Goethe wohlwollend zur Kenntnis genommen wurde. 1831 bekam Goethe von Eckermann Töpffers Bildergeschichten vorgelegt und zeigte sich beeindruckt von den Zeichnungen. Er sah in den »komischen Romanen« eine neue Kunstform aufkeimen, die die bürgerlichen mit den oberen Schichten verbinden könne. Töpffers Arbeiten selbst gründeten jedoch leider keine eigene Tradition: Comic als Kunstform im französischen Sprachraum sollte sich erst gut 100 Jahre später ernsthaft etablieren. Doch indem man in Frankreich auf die europäischen Traditionen der Bildergeschichte verweist, geht es dabei um mehr als nur um die Erfindung der Sprechblase, wie die britische Comic-Forscherin Anne Miller10 herausarbeitet: Wollte man nämlich behaupten, dass die Ursprünge des Comics in den amerikanischen Zeitungen liegen, so wäre der Comic ein Kind ausschließlich der Massenkultur. Mit Töpffer aber stünde die Form in der Tradition großer europäischer Illustratoren wie Gustave Doré, was den Comic noch einmal deutlicher als eigene Kunstform herausheben würde. Letzten Endes geht es also auch um die Frage der kulturellen Legitimation der Kunstform.

Doch selbst dann, wenn man Amerika als Geburtsort sieht, herrscht über die exakte Geburtsstunde des modernen Comics keine Einigkeit. Es werden verschiedene Möglichkeiten angeboten: Im Gespräch sind neben dem erwähnten 25. Oktober 1896 auch der 5. Januar desselben Jahres, als das Nachthemd des Jungen erstmals in Gelb erschien, oder der 5. Mai 1895, als die Bilder unter dem Titel Hogan’s Alley erstmals farbig in der New York World abgedruckt wurden. Andere Historiker sehen gar die Geburtsstunde im späteren Aufkommen eines zweiten Strips am 12. Dezember 1897, nämlich der Katzenjammer Kids von Rudolph Dirks, der im Gegensatz zu Outcault nicht nur ausnahmsweise regelmäßig typische Comic-Elemente verwendete. Diese Unterschiede rühren auch daher, dass sich Experten uneins sind, welche Elemente den Comic als solchen eigentlich konstituieren. Doch der sequenzielle Sprechblasencomic trat in dieser Phase seinen Siegeszug an. Damit steht fest: Der moderne Comic ist in New York entstanden, irgendwann zwischen 1895 und 1897 – und zwar in einer Zeitung. Die Strips sorgten für den Durchbruch dieser Erzählform, und durch sie wurde das Erzählen in Bildfolgen zu einem Massenmedium.

Zum Ende des 19. Jahrhunderts war die Welt reif für erzählende Bilder, wie der parallel entstehende Film unterstreicht: Und da war der Yellow Kid zur richtigen Zeit am richtigen Ort, wie der Comic-Historiker Bill Blackbeard ausführt.11 In New York kämpften zwei legendäre Zeitungsverleger um die Vorherrschaft in der Stadt, Joseph Pulitzer mit der New York World und William Randolph Hearst mit dem New York Journal. In diesem Verdrängungswettbewerb war ihnen nahezu jedes Mittel recht. In der World erschien ab 1889 eine Wochenendbeilage, die Illustrationen und Sachinformationen bot. Als man 1894Outcault verpflichtete, steuerte dieser für die Beilage regelmäßig Bilder aus den Hinterhöfen einer erfundenen Großstadt bei, eine Serie, die bald den Titel Hogan’s Alley trug. In diesen Hinterhofszenen tauchte auch erstmals der berühmte Charakter auf, den Outcault zwar schon vorher im Truth-Magazin genutzt hatte, der aber erst seit dem ersten Abdruck in der Zeitung Comic-Geschichte schrieb. Mit dem ersten Farbdruck wurde der glatzköpfige, segelohrige Junge zum Mittelpunkt der Bilder und bekam bald großen Wiedererkennungswert. Erst musste sich noch die Farbe des Nachthemdes in blassgelb ändern, damit der Junge zu seinem Namen kommen konnte: The Yellow Kid. So hatte, ganz nebenbei, Outcault durch die wiederkehrende Figur auch den Seriencomic geschaffen.

Zunächst arbeitete er noch mit Einzelbildern, Tableaus voller Figuren in verschiedenen Umgebungen, bisweilen von Details fast schon überfüllt, und überall tauchen in den Bildern selbst wiederum Plakate und Poster auf: Der Text scheint sich regelrecht in das Bild hineindrängen zu wollen. Am 12. April 1896 ließ Outcaultdann mit einem einfachen Trick die Figur das Geschehen um sie herum kommentieren, indem er das von der Figur Gesprochene auf das Nachthemd schrieb. Auf diese Weise schuf er eine Vorform der Sprechblase, die ein halbes Jahr später, nachdem er zu Hearst gewechselt war, schließlich in den Strip Eingang fand, und zwar gleichzeitig mit dem Erzählen in mehreren Bildern.

Die große Wirkung auf die Leser, die diese großformatigen bunten Zeitungsseiten in der sonntäglichen Beilage der Boulevardzeitungen hatten, ist heutzutage beim selbstverständlichen Umgang mit der Vielzahl von Medien kaum noch nachvollziehbar: Damals wirkten die Bilder sensationell, extravagant, und The Yellow Kid wurde zu einem frühen Pop-Phänomen und Outcault zum ersten Star einer neuen Gattung, die zunächst noch namenlos war und nach einiger Zeit nur The Funnies genannt wurde – weil sie eben so lustig war.12

Dabei waren es weniger die Strukturelemente des Comics wie Panel oder Sprechblase, die den amerikanischen Comic-Strip am Beginn einer bestimmten Tradition verankern, sondern eine doppelte Dynamik: Das Erzählen mit der Bildfolge wurde nicht mehr in statischen Einzelbildern dargestellt, sondern als filmartige Abfolge von einzelnen Bildmomenten in einen Zusammenhang gebracht. Plötzlich gab es Bewegung in den Panels. Zudem entwickelte auch der finanzielle und mediale Erfolg der neuen Bildergeschichten eine eigene Dynamik: Andere Zeichner wurden ermutigt, sich dieser neuartigen Erzähltechnik anzunehmen, damit wurden letztlich alle früheren Beispiele Einzelphänomene. Für den Comic im 20. Jahrhundert gilt daher: Die Comic-Strips entwickelten die Grundlagen für den modernen Comic. Auf dem Strip fußt die amerikanische Comic-Tradition. Und diese Tradition hatte Auswirkungen auf die Arbeiten von Hergé in Europa und auch von Osamu Tezuka in Japan, die wiederum eigene visuell-narrative Traditionen gründeten. Am Anfang also war der Strip.

Der Beginn des 20. Jahrhunderts: Die Pioniertage des Comic-Strips

Als angehende Kunst- und Erzählform war der Comic natürlich abhängig von der Erscheinungsform und seinem Trägermedium. Zunächst erschienen die Comic-Strips nicht täglich, sondern wöchentlich. Für ihre Ideen hatten die Künstler entweder eine halbe oder eine ganze Zeitungsseite zur Verfügung. Zumeist wurden die Geschichten ganz konventionell erzählt, in hintereinander folgenden Panels und mehreren Panelreihen untereinander. Oben links begann die Geschichte, und unten rechts endete der in sich auf diese Weise abgeschlossene Strip. Auch vom erzählerischen Thema her gesehen waren die frühen Comic-Zeichner funktional ausgerichtet: Es ging darum, eine massentaugliche Unterhaltungsform zu etablieren, die neue Leser bringen sollte. Die frühen Comic-Strips wendeten sich entsprechend an ein breites Publikum und standen damit in der Tradition der Einblattdrucke-Bilderbogen der frühen Neuzeit, der politischen Karikatur und des Cartoons, also des Einbildwitzes. Die Strips haben das Repertoire nur ergänzt: Sie integrierten Text in die Bilder und vermittelten so eine Unmittelbarkeit des Geschehens während des Lesens. Es wurden kurze Gags abgedruckt, die eigentlich nichts anderes als ein erzählter Witz waren. Während beim Cartoon oder Einbildwitz jedoch nur eine einzelne Idee dargestellt wird, hatte der längere Comic die Möglichkeit, diesen Witz langsam zu erzählen, oder besser gesagt, auf eine Pointe hinzuarbeiten. Zumeist verwendeten die Zeichner ein bis zwei Ideen pro Seite mit der Konzentration auf die überraschende Pointe. Häufig wurde dabei von einer immer gleichen Ausgangssituation Gebrauch gemacht. Genau das war aber das Neue an den Comics und unterscheidet sie letztendlich von der thematischen Beliebigkeit des Cartoons und der Karikatur. Durch ein festes Figurenpersonal waren Identifikationsfiguren gegeben, die es dem Leser erleichterten, in die jeweilige spezielle Welt des einzelnen Comic-Strips einzutauchen.

Um die Wende zum 20. Jahrhundert war es also noch gar nicht möglich, dass im Comic ernsthaft erzählt wurde. Das hatte zweierlei Gründe: Erstens war die neue Form abhängig von ihrer Publikationsform bzw. von den Zeitungen. Das Publikum, das angesprochen werden sollte, hätte sich womöglich gar nicht für anspruchsvolle Erzählungen interessiert. Die Comics waren letztlich an Käufer adressiert, die des Englischen nicht sonderlich mächtig waren, oder an Analphabeten, die gar kein Interesse an Zeitungen entwickelten. Mit den Strips wollte man ja auch nicht den gebildeten Zeitungsleser überzeugen, der längst ein Abonnement hatte, sondern die Leserschaft erweitern und gesellschaftliche Teile ansprechen, die bisher keine Zeitung gekauft hatten. Dementsprechend ungezügelt ist der Slapstickhumor. Comics wurden als »Appetizer«, als förderndes Verkaufsargument eingesetzt. Und die Zeitungen wurden deshalb besonders am Wochenende gekauft, weil nur in den Wochenendausgaben bunte Bilder zu finden waren. Je mehr Zeitungen man aufgrund einer neuen Serie verkaufte, umso größer war die Chance, dass diese Serie auch fortgesetzt wurde.

Zweitens standen die frühen Comic-Strips in einer humoristischen Bildergeschichten-Tradition. Der Einfluss von Wilhelm Busch, der auch in Amerika große Popularität besaß, wurde auch inhaltlich bemerkbar. Mit den Katzenjammer Kids, die sich direkt bei den Max-und-Moritz-Geschichten bedienten, nutzte Rudolph Dirks das neugewonnene Inventar der Funnies mit großem Eifer und Erfindungsgeist. Zeitungsherausgeber Hearst wollte einen Strip im Blatt haben, der ähnlich den Bildergeschichten Buschs sein sollte. Für solch eine Aufgabe war in seinen Augen der deutschstämmige Dirks13 genau der richtige Mann. So erschien die erste Folge von The Katzenjammer Kids am 12. Dezember 1897 und sollte neben Outcaults Yellow Kid zur anderen legendären Serie der Gründertage werden. Neben der Popularität von Busch ging es vor allem darum, die deutschen Auswanderer ans Blatt zu binden. Also probierte es Dirks ganz einfach mit einem veränderten Figurenpersonal. Aus Max und Moritz wurden Hans und Fritz, und die waren ähnlich unbekümmert in ihren Streichen wie ihre deutschen Vorfahren, respektierten weder Obrigkeit noch Erwachsene. Die Katzies wurden dann auch schnell zu einer der erfolgreichsten Serien in der Beilage American Humorist.

Outcault hatte bereits alle Merkmale in seinen Bildergeschichten herausgearbeitet; er verwendete sie jedoch nicht regelmäßig. Auch Dirks verzichtete zunächst auf Comic-typische Elemente, arbeitete ohne Panelumrandungen und setzte den Text ähnlich wie Busch unter die Bilder. Bald schon wurde seine Reihe aber zunehmend eigenständiger, und Dirks erzählte in Panels, baute Sprechblasen ein und erfand Bewegungslinien (sogenannte »speed-lines«, die die Bewegungen von Personen symbolisieren), Sternchen des Schmerzes oder Schweißperlen, die Angst oder Anstrengung ausdrückten, und viele weitere visuelle Elemente, die für das Comic-Vokabular unabdingbar werden sollten.

Vor allem aber begründete Dirks den Funny, jenen rundlichen Comic-Stil, der so prägend für die gesamte Form werden sollte. Da die entsprechende Art des Comics oftmals mit burleskem Slapstick arbeitet, ist es nur naheliegend, diesen Handlungsstil auch auf die Bildebene zu übertragen. Zusammen mit den übertriebenen Proportionen und seltsamen Physiognomien der Figuren ist der Funny letztlich natürlich antinaturalistisch und damit perfekt geeignet, um den Witz eines Strips noch zu unterstreichen.

Wilhelm Busch hatte schon mit ähnlichen Elementen gespielt: So setzt er in seiner frühen Bildergeschichte Der Virtuos (1865) musikalische Tempi in Bewegungsabläufe um und nimmt die so Comic-typischen wachsenden Ohren oder hervorspringenden Augen vorweg. Doch Dirks musste sich von den Geschichten von Wilhelm Busch abgrenzen und entwickelte einen rundlich-dynamischen Stil, den man auch als »Knollennasenstil« bezeichnen könnte. Somit setzte er sich nach einiger Anlaufzeit vom grafisch vorherrschenden übertriebenen karikaturesken Stil ab und etablierte einen eigenen grafischen Stil, der die Katzenjammer Kids zum langlebigsten Comic-Strip aller Zeiten machen sollte, denn die Serie wurde bis 2006 fortgeführt. Thematisch allerdings waren die frühen Geschichten von Dirks wie auch von Outcault nichts anderes als einfacher bis vulgärer Slapstick mit Situationskomik.

Noch ein weiterer Aspekt trug zur Popularität der frühen Strips bei, nämlich ihr umgangssprachlicher Slang in den Sprechblasen. Durch die Umgehung grammatischer Konventionen und durch eine Art Lautschrift gesprochener Sprache gewannen die Funnies an humoristischem Potenzial und wurden zu einer subversiven Kunstform, die der Hochkultur die Zunge herausstreckt. Viele frühe klassische Comic-Strips entwickelten für ihre Figuren entsprechend ein eigenes Idiom, einen eigenen Sprachduktus. Den Katzenjammer Kids legte Dirks Slang von deutschen Einwanderern in die Sprechblase. Dieses Kauderwelsch (»Mit dose Kids, society iss nix!«) machte den Strip nicht nur äußerst beliebt, sondern schuf auch eine typische Kunstsprache, die nur der jeweiligen Serie vorbehalten war. Mit dieser Kunstsprache konnte sich die angesprochene Leser-Gruppe identifizieren. Eine bestimmte sprachliche Eigenheit wurde zum Charakteristikum vieler Strips. Dies galt auch über die frühen, anarchischen Tage der Form hinaus: »Then, I would say, lenguage is, that we may mis-unda-stend each udda«, lässt George HerrimanKrazy Kat1918 philosophieren. Auch Popeye von E. C. Segar, eine der beliebtesten Stripfiguren der 1930er, gefiel durch seinen Akzent und seine Wortwahl: »I yam what I yam an tha’s all I yam!«

Doch die Inhalte der Comic-Strips wurden schnell zum Gegenstand der Kritik: Die Tatsache, dass Outcault ein Straßenkind zur Hauptfigur erhob, wurde nicht überall begeistert aufgenommen. Zudem wurde darauf hingewiesen, dass sich die sprachlichen Inhalte auf niedrigstem Niveau bewegen und deshalb wenig angemessen für einen Abdruck in der Zeitung seien. Im Grunde genommen startete also schon hier eine frühe Diskussion über Comics, wie sie im Laufe des Jahrhunderts noch häufiger in ähnlicher Weise stattfinden sollte. Outcault zog daraus die Konsequenzen, gab 1898The Yellow Kid auf und schuf Buster Brown, einen Jungen in einem edlen Lord-Fauntleroy-Kostüm, der seine Streiche ganz einfach in einer gehobenen Schicht trieb.

In kurzer Folge griffen weitere Zeichner die immer populärer werdende Comic-Form auf. Frederick Burr Opper war 1900 der Erste, der auf das gesamte Comic-Inventar zurückgriff, das seine Vorgänger erarbeitet hatten. Opper schuf die Serien Happy Hooligan über einen liebenswerten Vagabunden und Pechvogel, dessen Markenzeichen eine Konservendose auf dem Kopf war, oder And Her Name Was Maud über einen störrischen Esel. Opper suchte dabei noch stärker als Outcault oder Dirks die Nähe zum frühen Stummfilm. Auch dieser bediente sich des humoristischen Stilmittels und präsentierte dem Zuschauer Katastrophen ohne Ende. Den Comics fehlt eigentlich nur die Hintergrundmusik.

In diesem späten Strip vom 22. Mai 1949 wird deutlich, wie sehr sich Dirks auch nach über 50 Jahren noch immer an Wilhelm Busch orientierte.

Doch das vermeintlich »Lustige« war kein obligatorischer Wesenszug der Comics, mit Bildern ließen und lassen sich schließlich noch alle Arten von Geschichten erzählen. James Swinnerton hatte in seiner Cartoon-Reihe The Little Bears in Sprechblasen redende, vermenschlichte Tiere eingeführt und nahm dadurch das Genre des »funny animal« vorweg. Mit Hugo Hercules (1902) vom deutschstämmigen W. H. D. Koerner gab es auch einen Vorläufer des Superhelden, denn Hugo konnte Automobile in die Luft heben und Häuser wegtreten. Ähnliches gilt für Billy Bounce14, der fliegen konnte. Dessen Zeichner, der in Bayern geborene Auswanderer C. W. Kahles, schuf mit Hairbreadth Harry (1906) einen der ersten Abenteuerhelden, der ständig in Situationen geriet, in denen er seine Angebetete vor seinem Widersacher retten musste. Auf diese Weise kam es zwar immer wieder zu slapstickhaften und grotesken Situationen, aber Kahles erzählte seine Sonntagsseiten zusammenhängend und plazierte am Ende der Seite einen Cliffhanger, also ein Spannungsmoment, das eine Fortsetzung und Lösung forderte. Parallel wurde durch Künstler wie Winsor McCay in Little Nemo in Slumberland (1905–1911) das phantastische Element stärker betont und dabei jeweils eine vollständige Zeitungsseite als Ausdrucksmittel erforscht, indem mit Variation von Bildausschnitten und Panelgrößen experimentiert wurde. Schließlich wurde sogar noch der Ton erfunden: Explosionen wurden zunächst einfach durch Striche dargestellt, Geräusche durch ein »Snip« oder »Boom« verstärkt, und sogenannte »Soundwords« kamen hinzu.

Bald genügte es dem Publikum nicht mehr, dass die Strips nur am Wochenende erschienen. Der erste erfolgreiche täglich erscheinende Strip machte sich Pferdewetten zum Thema. Der Sportcartoonist Bud Fisher zeichnete am 15. November 1907 für den San Francisco Examiner einen kurzen Strip mit dem Titel A. Mutt über Wetten auf drei reale Pferde, um einen prominenteren Platz auf der entsprechenden Seite zu erhalten. Am nächsten Tag konnten die Leser dann sehen, wie das Rennen ausgegangen war. Der schwarzweiße Strip erschien an allen sechs Werktagen und bezog sich häufig auf aktuelle Geschehnisse. Selbstverständlich verlor die Hauptfigur das von ihr gewonnene Geld schnell wieder, aber nur ein Jahr später gesellte sich Jeff zu Mutt, und aus den beiden sollte ein bekanntes, stilbildendes Komiker-Duo werden. Später wurde die Serie in Mutt and Jeff umbenannt und machte den Schöpfer Bud Fisher zum Strip-Millionär, denn er behielt das Copyright an seinen Strips. Damit war er der erste in einer langen Reihe von Comic-Zeichnern, die durch den Erfolg ihrer Strips quasi zu frühen Popstars wurden und schnell zu den berühmtesten Männern des Landes gehörten. Mit seiner Disziplin und dem routinierten Erzählen in wenigen Bildern hintereinander prägte Fisher das Erscheinungsbild der Tagesstrips. Dieser eine, werktäglich veröffentlichte Streifen führte letzten Endes auch zur Begrifflichkeit der Strips: ein Streifen Comic.

Alles, was im Nachhinein entstand, orientierte sich an diesen frühen Bildergeschichten. Auf diesen Basiserrungenschaften wurde in der Folgezeit aufgebaut, und die Strukturen und Erzählmöglichkeiten wurden verfeinert. Innerhalb von wenigen Jahren wurde also das komplette Inventar erfunden, das die formalen Grundlagen für den Comic im 20. Jahrhundert bildete. Erst aus diesem Inventar entwickelte sich der Comic, wie wir ihn heute kennen.

Von Slumberland nach Coconino County – Kunst im Comic-Strip

Neben den in der Frühzeit verbreiteten, am Gag orientierten Lausbuben- oder Landstreichergeschichten mit derbem Humor gab es Geschichten von Zeichnern mit viel Experimentierfreude, die eigentümliche Welten schufen und die Form des Comics auch ästhetisch veränderten. Diese Künstler begriffen die Comic-Seite als eigene Kunstform und erarbeiteten ihre ganz eigenen Visionen – vor allem verstanden sie es, das großformatige Layout zu nutzen. Eines der frühen Genies, die die Form der Bilderzählung vorantrieben, war Winsor McCay, der ein großes Gespür für Rhythmus, die Architektur und das Design einer Seite aufbrachte. Zudem war er der Erste, der seine Geschichten mit viel Phantasie ausstattete: McCay war in vielfacher Hinsicht ein Visionär und seiner Zeit weit voraus.

Ab 1904 erschienen die Serien Little Sammy Sneeze und Dream of the Rarebit Fiend, das er mit ›Silas‹ signierte. Beiden Serien lag das Prinzip der immer gleichen Ausgangssituation zugrunde: Sammy Sneeze muss immerzu niesen, und Käsetoastesser (Rarebit Fiend) quälen durch übermäßigen Genuss Albträume. Little Sammy Sneeze ist dabei mit seinem anarchischen Humor, bei dem auch ganze Läden durch seine Niesattacken verwüstet werden, noch stärker von den zeitgenössischen Funnies geprägt. Doch McCay erlaubte es sich, auszubrechen und die Panelgrenzen zu zerstören, wie es bei einem Strip geschieht, als die Begrenzungen nach einem heftigen Niesanfall zusammenfallen. Bemerkenswert früh begann McCay, mit dem Layout der Seite zu experimentieren und die weitreichenden Möglichkeiten zu erkunden, die die Form der Bilderzählung ihm bot. Dream of the Rarebit Fiend hingegen spielt mit den Ängsten und Neurosen des Großstadtbürgers: Allein durch diese Einfühlungskraft in die Psyche des Normalbürgers ragt dieser Gagstrip aus dem Gros der frühen Zeitungsstrips heraus. Was ihn allerdings neben den erwachsenen Themen und der innovativen Grafik, die sich auch schon an Filmeinstellungen orientiert, so besonders macht, ist der Verzicht auf eine Hauptfigur. Das Fehlen eines Serienhelden macht den Strip so visionär, dass niemand sich getraute, ein ähnliches Experiment zu starten. Im Grunde genommen nimmt McCay damit die modernen Graphic Novels vorweg, bei denen ähnlich das Thema allein im Vordergrund steht: Figuren sind nur dazu da, dieses Thema irgendwie zu transportieren. Auffällig ist, wie radikal McCay den Comic selbstreflexiv nutzt: Er verengt die Panelbegrenzungen und sorgt damit für großes Unwohlsein bei seiner Figur; in einem anderen Albtraum lässt er seine Figur wachsen und wachsen, bis sie schließlich auf der Erde steht, sich an ihr festklammert, um dann ins Nichts zu fallen; oder er zeichnet sich selbst am Zeichentisch, ideenlos, bis ein kleines Wesen als Idee erscheint, das ihm sofort entschwindet, als sein Zeichenkollege etwas zu ihm sagt. Für dieses frühe Stadium in der Geschichte des Comics, in dem sich die Form befand, war seine technische Meisterschaft bzw. Handhabung aller Möglichkeiten visionär.15

Little Nemo in Slumberland, das ab 1905 erschien, gilt zu Recht als das große Meisterwerk von McCay. Auch dort geht es um Träume, und der grafische Einfallsreichtum, mit dem McCay die Traumwelt des kleinen Nemo darstellt, macht die Serie so einzigartig. McCay zeigte im wahrsten Sinne des Wortes in den Bildergeschichten so noch nie gesehene Perspektiven auf. Die Geschichte von Nemo scheint inspiriert von der Literatur eines Lewis Carroll (Alice’s Adventures in Wonderland [Alices Abenteuer im Wunderland], 1865) und den Ideen des Filmpioniers Georges Méliès (Le voyage dans la lune [Die Reise zum Mond], 1902). In Bildwelten, die aus dem Jugendstil zu kommen scheinen, reist Nemo durch verschiedenartige Traumländer, eines phantastischer als das andere. In der ersten Episode schickt Morpheus, der Herrscher der Traumwelt, nach dem kleinen Nemo, der sich auf einem Pferd sofort aufmacht und durch den Himmel fliegt, nur um am Ende aus unruhigem Traum zu erwachen. Der zu jedem Seitenende aus dem Bett fallende Knabe war bald nicht mehr der Abschluss der Geschichte, sondern bloße Konvention, denn