Der Damm gegen das Eis - Herbert Friedrich - E-Book

Der Damm gegen das Eis E-Book

Herbert Friedrich

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Beschreibung

Ein Zukunftsroman von 1964 aus der DDR, den die Gegenwart in vielen Fragen überholt hat. Der Autor beschreibt den aufopferungsvollen Kampf um den Bau eines Dammes durch das Eis, der die Sowjetunion mit den USA in der Beringstraße verbinden wird – 20 Jahre nach der sozialistischen Revolution in den USA. Die Tschuktscheninsel Ratmanova soll mit der Heimat der Eskimos auf Little Diomede verbunden und das Eis zum Schmelzen gebracht werden. An diesem über mehrere Jahre angelegten Projekt sind Fachkräfte aus der ganzen Welt beteiligt. Ureinwohner müssen umgesiedelt werden. Ein Atomkraftwerk liefert den Strom für das Projekt und soll auch die neuen Häuser beheizen. Als dann noch bei einer Havarie das Öl aus Zeitgründen ins Meer gepumpt wird und ein Vogelsterben einsetzt, verweigern die Tschuktschen und Eskimos die Mitarbeit und verzichten auf ihre komfortablen neuen Häuser. Ohne Pathos beschreibt der Autor das Ringen mit den Naturgewalten und um das Vertrauen der Ureinwohner und der Menschen aus den jungen sozialistischen Staaten. Das Buch scheint aus heutiger Sicht antiquiert, fordert zum Widerspruch auf, lässt den Leser aber auch von einer Zeit der friedlichen Zusammenarbeit über Ländergrenzen hinaus träumen.

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Impressum

Herbert Friedrich

Der Damm gegen das Eis

Zukunftsroman

ISBN 978-3-96521-501-6 (E-Book)

Umschlaggestaltung: Ernst Franta

Das Buch in seiner 3. Auflage erschien 1964 im Mitteldeutschen Verlag Halle (Saale).

2021 EDITION digital

Pekrul & Sohn GbR

Godern

Alte Dorfstraße 2 b

19065 Pinnow

Tel.: 03860 505788

E-Mail: [email protected]

Internet: http://www.edition-digital.de

DIOMEDEA,

der albatros, ist der könig der luft.

Die stätte seiner geburt ist

ein fels im südlichen ozean,

ein punkt in der unendlichkeit des wassers,

Campell etwa oder Auckland oder Tristan da Cunha.

Sein reich aber ist der himmel über dem wasser,

und das wasser umspült Tasmanien und Kap Hoorn,

umschäumt die vulkane der Kurilen und nagt

an den gletschern Alaskas.

Unübertroffen an ausdauer im flug, folgt der albatros

chilenischen und chinesischen schiffen, trotzt

dem monsun und dem passat.

Und es ist, als könne ihm kein sturm etwas anhaben,

als benötige er nicht die inseloasen, um die wasserwüste

zu überwinden. Und der albatros fliegt

über das Beringmeer,

in die kälte,

streicht über St. Lawrence Island,

erreicht King Island und wagt noch

den Sprung bis zu den felseneilanden in der meeresenge.

Hier hat er seine grenze erreicht.

Und seine grenze ist das eis.

Und er, der Sturmvogel,

der könig der segler aus den australischen meeren,

schenkt den felsigen eilanden am Polarkreis seinen namen:

DIOMEDE-INSELN.

I

An einem Märznachmittag des Jahres 2005 lagen sich Insel und Schiff gegenüber, länger als eine Stunde schon. Die Entfernung betrug etwa zwei Seemeilen. Die drei auf dem Schiff konnten mit ihren Gläsern die Menschen im Hafen gut sehen. Bewegungslos stand die Menge auf der Mole, trotz der Kälte. Sie stand die Straße hinauf bis zur Felsterrasse des Helikopterplatzes hundert Meter über dem Meer, unbeweglich wie die Schneeberge, deren Spitzen in die tiefgehenden Wolken reichten.

Zwischen Insel und Schiff schwamm das Eis. Die ganze Beringstraße war vollgestopft damit. Der Südwind stieß es zwischen die beiden Kaps in einer Breite von fünfundvierzig Seemeilen, presste es gegen die Inselpfeiler in der Mitte und schleuderte es gegen das Schiff. Wenn die Inseln Pfeiler waren, winzige Quadratkilometer inmitten des Eisbreis, so war das Schiff eine Nadel. Es war der „Arktische Vogel“, gebaut für den Kampf mit dem Eis. Wendig glitt er in die Rinnen zwischen den mörderischen Eiskanten, zitterte, wartete. Wartete, dass der Eispfropf aus dem Hafen von Ratmanova gerissen werde.

Auf diesem Schiff kehrte der Ingenieur Tetuk Sobolew heim. Er saß neben seiner Tochter Lisa im Bug des „Arktischen Vogels“, während der dritte, der alte Tschuktsche Nuwat, über ihnen im Kommandoraum den Kampf mit dem Eis dirigierte. Sobolew hatte die Verspätung nicht gewollt, obwohl ihm die eine Stunde nichts bedeutete. Nach fünfunddreißig Jahren des Wartens, der Abwesenheit war dies wie ein Auskosten von Vorfreude, wie ein Atemholen. Nur um der jungen Frau willen, die seine Tochter war, bedauerte er nun seinen skurrilen Einfall, mit dem Schiff in Ratmanova landen zu wollen, geradeso wie er es verlassen hatte. War das ein romantischer Zug, ein Tribut an die Erinnerung, an dreieinhalb Jahrzehnte aufgespeicherten Wartens? Solche Einfälle hängten sich in ihm fest, bohrten und hatten ihn bei seinen kühnsten Bauten beflügelt. Jetzt hatten sie ihn auf das Boot in Eis geführt. Keiner in Yandogai hatte ihm ernsthaft abgeraten, als er mit seinem Einfall herausgerückt war. Alle waren höflich, freundlich, machten das Unmögliche möglich. Für Tetuk Sobolews Heimkehr stellte man ein Schiff bereit. Der Hafenbevollmächtigte von Yandogai, ein alter Kahlkopf, hatte einen Helikopter starten lassen, obwohl seine Berichte über die Eisverhältnisse noch keine Stunde alt gewesen waren. Er hatte Signale die fünfzig Seemeilen nach Ratmanova geschleudert und den alten Nuwat von Akkani herüberkommen lassen. Denn der war ein Fuchs der Meeresstraße. Und dann war der „Arktische Vogel“ klar gewesen. Sobolew lächelte heiter. Sein braunes, breitknochiges Gesicht war ein Ausdruck der Gesundheit, die in diesem Körper steckte. Hokkaido und der Nordpol, Tibet und Australien – alles schien diesem gedrungenen, robusten Körper eine Medizin gegeben zu haben, die ihn umso widerstandsfähiger machte. Hier im Bug des „Arktischen Vogels“ glich er eher dem Harpunier eines Walfangbootes, der mit seinen flachlidrigen, kaum bewimperten Schlitzaugen den Sprühstrahl des Wals sucht, als dem Baumeister unerhört kühner Projekte.

Er hatte mit seiner Energie die Heerscharen geleitet, die den Tunnel unter dem Tatarensund nach Sachalin getrieben hatten.

Berühmt gemacht hatte ihn die Untertunnelung eines Steinrückens von einigen lächerlichen tausend Metern Höhe auf dem Dach der Welt, durch die er dem Tsanpo ein Gefälle verschafft hatte, wie es dies noch in keinem Wasserkraftwerk der Erde gab.

Und nun kehrte er heim. Oder: Er wartete auf die Heimkehr, berstend vor Kraft, mit der Gelassenheit seiner Vorfahren, die die Beringstraße bei Treibeis in winzigen, mit Seehundfellen bespannten Booten überquert hatten. Sechzig wurde er im Herbst. Er wartete darauf, es dem Eis, das ihn nun gefangenhielt, zeigen zu können. Er lauerte auf das Zeichen von Ratmanova: Schiff leg an!

Und während er hin und wieder das Glas an die Augen führte, um Ratmanova zu sehen, die unruhigen, bepelzten Menschen und die Eisfräsen im Hafengewässer, dachte die Frau neben ihm: Wie erregt er ist, wie er fiebert!

Lisa war fasziniert vom Anblick des Eises, von der Schwärze der Felsklötze in der dunstigen Atmosphäre. Aber es war eine Faszination des Schreckens. Dies war die Heimat ihres Vaters, ein Felsenhorst, eine Klippe. Tausendfach hatte sie in seinen Schilderungen davon vernommen. Nun sah sie es zum ersten Mal. Nicht nur diese Insel am Polarkreis war ihr fremd. Keiner hätte sie für die Tochter eines Tschuktschen gehalten mit den rotbraunen, schmalgeschnittenen Augen und den lebhaften vollen Lippen. Nur die breiten Wangenknochen gaben ihrem Gesicht einen asiatischen Einschlag, der es umso reizvoller machte.

Sie wartete ungeduldiger als Sobolew, während das Eis an der Wandung schabte. Und dachte der Grauhaarige neben ihr an die Boote seiner Väter, so dachte sie an die schlanke, schöne Mutter, die vor nahezu achtundzwanzig Jahren sie an der Petschora geboren hatte und nicht viel später im Flusseis ums Leben gekommen war. Eis, Eis, wohin sie schaute.

Lisa hatte die Fahrt im „Arktischen Vogel“ gutgeheißen, obwohl sie lieber im Helikopter zur Insel gereist wäre. Zu nahe war ihr vom Schiff aus das Eis. Achtundzwanzig Jahre war sie alt, und die meisten davon hatte sie unter südlicher Sonne gelebt, in Neapel, in Lumumba am Kongo. Als Pianistin hatte sie in Paris und Sofia Konzerte gegeben, bis die Musik allein sie nicht mehr befriedigte. Als Hydrologin hatte sie mit an der Vervollkommnung des Bewässerungssystems im innerasiatischen Wüstengebiet gearbeitet. Sobolew hatte sie vom verdurstenden Kaspi weggeholt. „Wenn du mit am Kaspi-Damm bauen willst, kannst du ebenso gut zu mir kommen.“ Sie hatte keinen Grund gehabt, nein zu sagen.

Nuwats raue Stimme klang im Lautsprecher. „Sie geben Signal. Die Einfahrt ist frei.“ Lisa berührte Sobolews Arm.

Der „Arktische Vogel“ zitterte stärker, schob sich vor. Dann glitt er, sich aus dem Wasser reckend, durch das Schollengewirr. Die Unterwasserflügel verhalfen ihm zu einer Wendigkeit, die etwas vom Flug der Seemöwe an sich hatte. Und so trug das Schiff seinen Namen zu Recht.

Die Insel flog heran, der Hafen Ratmanova am Fuße der Steinkolosse, von denen sich die Möwen stürzten. Unergründlich waren Sobolews Augen.

Bei einer Wendung des Schiffes gewahrte er für einen Augenblick die blassen Felsen der Insel Little Diomede, die schon zu Amerika gehörte, dann schoben sich bizarr die Klippen von Ratmanova dazwischen.

Drüben, erstickt unter dem Getürm der Schollen, lag die Otterbucht. Oh, sie barg eine Menge Erinnerungen für ihn. Die schwarzen Klippen linker Hand hatte er vor nahezu einem halben Jahrhundert mit Imak erstiegen, der der verwegenste Junge des Fleckens gewesen war.

Dutzende von Schneestürmen waren seitdem über die kleinen, geduckten Häuser hergefallen, die sich in langer Reihe auf dem Küstensaum zwängten.

Das Heizwerk schien sich ausgedehnt zu haben; er hätte aber im Augenblick nicht gewusst, ob es auch damals bereits drei Schornsteine gehabt hatte.

Seine Erinnerung wies freilich bedeutendere Lücken auf; und diese betrafen die Menschen. Was war aus dem verwegenen Imak geworden, was aus den Bewohnern jenes schmutzigen Gebäudewürfels, der auf einem Felsplateau über allen anderen lag und von dem ihm nicht einmal bekannt war, ob er noch die Wetterstation beherberge …

„Sie müssen doch frieren“, hörte er Lisa sagen, „und sie warten und warten.“

Er betrachtete sie erstaunt, als habe er ihre Anwesenheit vergessen gehabt. Warum sollten sie nicht warten, stundenlang nach dem Schiff schauen? Der „Arktische Vogel“ war das erste der Saison, das erste seit acht Monaten. Und es schwamm drei volle Wochen eher als im Vorjahr zu ihnen hinüber. Da lohnte schon das Warten.

Und während der Ingenieur und seine Tochter im Begriff standen zu landen, flogen schon die Funkbilder von ihrer Abfahrt aus dem windigen Yandogai in die Empfänger von Montevideo und Cape Town und Prag. Und Sobolews sonore, gebieterische Stimme, die doch jetzt schwieg, da sie durch die Rinnen der Mole zu schlüpften, sprang im gleichen Augenblick in die Stereolautsprecher der ganzen Erde. Zu Hause wie im Hafen – überall wären die Bewohner von Ratmanova auf Tetuk Sobolew gestoßen.

„Allgemeen Dagblad“, „Diario de Noticias“, die Journale aller Erdteile versetzten ihre Rotationsmaschinen in Umdrehungen. In der gleichen halben Stunde bereits entrissen die Menschen den Automaten die Blätter und überflogen sie in den Einschienenbahnen und Turbinenbussen.

Die Arktis wird schmelzen!

Die Internationale Beringdamm-Kommission ernennt Tetuk Sobolew zum Oberbauleiter

Sobolew, der Unterwassermann von Sachalin, schon angeflogen

Tetuk baut den Damm

Und dann folgten Berichte über Sobolews Ankunft auf dem Flugplatz von Yandogai, wie er zusammen mit dem bekannten jungen Juri Kirenew die Gangway hinunterstieg, und Bilder von ihm und seiner Tochter, wobei man nicht vergaß, Lisas Konzerte in Paris und Sofia zu erwähnen. Was aber die Jugend zu wahren Begeisterungsstürmen hinriss, woran sie ihren Tetuk Sobolew erkannte, war sein Entschluss, mit dem Schiff in den Hafen von Ratmanova einzufahren.

Der Mann, dem dieser Salut in Licht- und Schallwellen der verschiedensten Schlüssel galt, dachte jetzt am wenigsten an den Damm. Die Anspannung der letzten Monate, ja Jahre hatte sich in ihm gelöst, da er an den Ausgangspunkt seines Lebens zurückkehrte. Für ihn war in diesem Augenblick der Landung jener im Eis erstickte, von Frost und Schneesturm wundgeschlagene Hafen nicht Zukunft, sondern Vergangenheit. Nichts drang davon in sein Gesicht. Die breite, braune Oberlippe zuckte nicht. Lisa hätte sich gewundert, hätte sie gewusst, wie es in ihm sang: Ratmanova, du stilles, du freundliches Auge …

Die Signalstation war passiert. Stille trat ein. Nuwat hatte die Triebwerke abgeschaltet. Der „Arktische Vogel“ machte nur noch wenig Fahrt. Sobolew sah auf dem Bildschirm Nuwats Gesicht im Kommandoraum breit lächeln. Der hatte es geschafft, drei Wochen früher als in den vergangenen Jahren. Lisas Augen grüßten ihn. „Ich wünsche dir Glück.“

Er wurde lebendig. „Da hast du’s!“ schrie er, als schenke er ihr die Insel. „Schau dir den Taumel an! Das hätte Kirenew sehen müssen!“

Sie lachte. „Kirenew ist Ehrungen gewohnt.“

Angesichts der jubelnden Menge begann er zu scherzen. „Ich glaube, unser guter Kirenew ist in Yandogai geblieben, weil er Angst gehabt hat, ins Schiff zu steigen.“ Er lachte rau. „Wer fährt auch bei diesem Eis mit solch einem Schiffchen.“ Sie wurde jäh ernst. Sie war es, die Angst gehabt hatte. Kirenew, Mitte Dreißig und ein vorzüglicher Unterhalter, wie sie sich gestand, sollte die Tunnelbauten auf den Inseln übernehmen und einiges mehr. Er war der Sohn des weltbekannten Venusfliegers David Kirenew. Und sie wusste, ein Kirenew ließ sich nicht aus Furcht vor etwas zurückhalten. Sie ahnte den Grund, weshalb er auf dem Festland geblieben war: Sobolew sollte ohne Zeugen Besitz von seiner Heimat nehmen, nach fünfunddreißig Jahren. Dass Kirenew es verstand, sich im richtigen Augenblick im Hintergrund zu halten, rechnete sie ihm hoch an.

Sobolew spannte auf die Überbrückung der letzten Meter Wasser. Er blickte in die Gesichter, die nun schon unter ihm waren. Er überflog die jungen und biss sich dann an den bärtigen, zerzausten, gefurchten fest. Keiner, der unter fünfzig zählte da unten, konnte ihn kennen. Viele standen ohne Mützen mit bereiften Haaren. Wie mochte Imak aussehen, der spitzkinnige Teufel, der es mit allen im Ringen aufgenommen hatte? Vor fünfunddreißig Jahren hatte er gerade die hübsche Kyma geheiratet. Großvater würde Imak heute sein. Wie sollte er einen Großvater herausfinden, den er als jungen Burschen in Erinnerung hatte.

Dann schlug das Schiff an.

Der Ingenieur richtete sich aus seiner gebückten Haltung auf. Jetzt mussten sie ihn schon durch die runden Fenster sehen können. Lisa stand in der Tür, die geräuschlos zur Seite glitt. Die Kälte schlug in das Schiff wie mit einem Messer. Unwillkürlich duckte sich die Frau und stülpte den Pelzkragen hoch. Doch wehrte sie Sobolews Hand ab, der ihr auf den Steg helfen wollte. Allein stieg sie über die Bohlen zu den Menschen hinüber, die plötzlich losschrien und die Arme vor Freude in die Luft stießen. Zwei Schritt hinter ihr ging ruhig der Ingenieur. Er riss sich die Pelzmütze vom Schädel, als er den Fuß aufs Land setzte. Zwanzig Schritt vor ihm, im Halbkreis, standen die Tschuktschen. Gedrungen, plump in ihren Pelzen, in ihren Joppen aus Rentierhaut, so standen sie um Sobolew und seine Tochter. Die Biber- und Ottermützen hatten sie tief in die Stirn gezogen, und in den kleinen Bärten nistete der Reif. Zu ihren fellbestiefelten Füßen fieberten die Hunde. Robbenjäger, Pelzarbeiterinnen, die Frauen aus der Blaufuchsfarm, die wetterharten Männer aus der Seetierfanggemeinschaft, ganze Scharen von Kindern: Ratmanova schaute auf die Heimkehrer. Sie lächelten und schwiegen auf einmal. Nur ab und zu fuhr eine Hand hinunter, um einen Hund zu beruhigen.

Eine Sirene gellte über dem Koloss der Eisfräse, die an der jenseitigen Pier festgemacht hatte. Der Mast neben der Signalstation trug steife Flaggen.

Sobolew setzte die Mütze auf das kurz geschnittene Haar und trat einen Schritt vor. Da löste sich einer drüben aus der Mauer.

„Ich bin der Älteste von Ratmanova, der Kamakaj. Ich heiße Sie willkommen.“ Er streckte ihnen eine kleine, knochige Hand hin. Alle klatschten, als sie sich umarmten. Zwei Mädchen reichten ihnen Brot und Salz. Sobolew legte den Arm um Lisa und sagte in der Tschuktschensprache: „Ehei. Da bin ich.“ Als wäre er nie fortgewesen.

Der Kamakaj legte ihm die Hand auf den Arm. „Haben wir uns sehr verändert? Als Robbenjäger hattest du bessere Augen, scheint mir.“

Sobolew riss den Ältesten von Ratmanova, diesen kleinen Mann Ende der Fünfzig, erneut in die Arme. Imak war es. Da hatte er seinen Imak. Die Menge trennte sich und hob sie auf die Schultern, und als sie wieder auf dem Boden standen, ließen sie sich nicht mehr los. Die Leute umdrängten sie. Sie schrien. Sie rissen ihn bald um. Sie schwangen Fahnen und sangen. Sie führten Bilder vom Damm bei sich. Eine blühende Arktis, mit grellen Farben hingestellt. „Diese Quartiere haben wir frei gemacht für die ersten“, schrie einer und schwenkte ein Heft. Ein Dicker drängte sich vor. „Wohn bei uns, Ingenieur. Uns haben sie niemand gegeben.“ – „Wann kommen sie?“ – „Es wird Sommer, Leute.“

Die Sirene von der Eisfräse kreischte immer noch. Eine zweite klang vom kleinen Kraftwerk unterhalb der Felswand herüber, die den Schrei verhundertfachte. Erregt strichen die Möwen über das Treibeis, über den „Arktischen Vogel“, in dessen Tür der alte Nuwat stand.

„Erdrückt sie nicht!“, schrie dieser. „Das Eis hat sie nicht erdrückt, und ihr erdrückt sie!“

Gelächter belohnte ihn. Der unbeschreibliche Lärm dröhnte in Lisas Ohren. Sie lauschte den vielen Zurufen. Durch ihren Vater beherrschte sie die Sprache dieser Menschen gut. Sie spürte die Herzlichkeit und lächelte. Sie vernahm Dutzende Einladungen. Festessen, die man geben, und Reden, die man reden wollte. Menschen drängten sich vor. „Erkennst du uns nicht, Tetuk?“ Robbenfänger, verwitterte, gegerbte Gesichter. Kirenew hatte sich zurückgehalten, um Sobolew in den ersten Stunden auf der Insel nicht zu stören. Kirenew hätte gerade wie jeder andere herüberkommen können. Sie waren nicht als Besucher empfangen worden, die still für sich einige Tage verbringen wollten an Stätten der jungen Jahre ihres Vaters. Sie waren von der ersten Minute an die Erbauer des Damms.

Dann fragte sie:

„Wo werden wir wohnen?“

Pfiffig verriet der Älteste: „In der Wetterstation.“

Der Ingenieur lächelte in einer tiefen Freude. Die Wetterstation. Jeden Nagel kannte er dort. Wie der Schlittenhund war er, dessen erster Weg zu der Jaranga führt, in der er aufgewachsen war.

Einige Jungen stiegen in den „Arktischen Vogel“, um das Gepäck der Sobolews herauszuschleppen. Dann erklommen sie schon die steile Uferstraße. Die Menge folgte ihnen in langem Zug.

Mit klammen Füßen schritt Lisa zwischen ihrem Vater und einem Jungen von der Fangflotte, der Nuko hieß und heiter einen Koffer auf der Schulter schleppte. Schweiß perlte auf seiner tief eingebuchteten Nase.

Imak, der Älteste von Ratmanova, hineingewählt in dieses Amt von den Bewohnern der Insel, ehemals Robbenjäger und nun Pilot vom Amt für Küstenbefeuerung, schritt rasch neben Sobolew aus und redete lebhaft.

Die Straße führte am Steilhang entlang. Unten zog lautlos das Eis, nun schon fast verborgen vom aufkriechenden Abend, der auch die Kälte anblies. Lisa zog den Kragen enger an den Hals. Die verwaschenen Plattenhäuser musste ihr Vater noch von früher kennen, drüben die Schule auch. Vor einigen großen Gebäuden waren Pfähle für die Hunde eingerammt. Manche Schuppen bestanden noch aus Holz. Schneegatter in endloser Reihe verbanden sie. Hier und da gab es aluminiumverkleidete Schaumplasthäuser, das neue Ratmanova. Und während sie so versuchte, mit den Augen ihres Vaters zu sehen, dachte sie: Wie werde ich hier leben?

Auf einer zum Meer vorspringenden Terrasse hundert Meter über dem Hafenbecken, aber noch nicht zu einem Viertel in der Höhe der Gletscherfelsen, standen die Gebäude der Wetterstation. „Lebt Pitak noch?“, fragte Sobolew plötzlich. Alles erkannte er wieder, trotz der verschiedenen Neuerungen.

„Pitak kam im Eis um“, sagte Nuko von der Fangflotte neben Lisa, ehe Imak es verhindern konnte. „Sein Schüler Neran leitet jetzt die Station.“

Sobolew setzte schweigend Fuß vor Fuß. Bei Pitaks Eltern war er aufgewachsen, hier, hoch über dem Meer, wie Pitaks Bruder. Und nichts hatte er gehört in diesen langen Jahren von Pitak. Und nun hörte er von dessen Tod.

„Da steht Neran“, sagte Nuko und stellte den Koffer ab.

Auf den Stufen zum Turm stand der Meteorologe, ein athletischer Mann, barhaupt in der Kälte und dunkelhäutig. „Seid mir willkommen!“, schrie er. Der Atem dampfte aus seinem dicklippigen Mund. Nebel schlug aus der Tür, als er sie rasch öffnete. Sie drängten hinein. Die Zurückbleibenden winkten. Drinnen verabschiedete sich auch Imak. Er küsste beide nach russischer Sitte. Er musste noch vor Ausbruch der Nacht zum Ostkap fliegen; er hatte sich ohnehin verspätet. Sobolew sah ihn mit weitausgreifenden Schritten hinter den anderen herstreben, die Straße zum Hafen hinunter. Er hatte heitere Augen.

Plötzlich war eine Frau da, jung, mit schmalem Gesicht und hoher Stirn. Sie fegte ihnen den Schnee ab und half ihnen geschickt aus den Pelzen. Dankbar schaute Lisa sie an, als sie ihr in der Wärme des Zimmers die Stiefel herunterzog.

Einfach waren die Räume eingerichtet, nüchtern in ihrer Zweckmäßigkeit. Sie waren nicht zu vergleichen mit den Moskauer Wohnungen. Sie war verwöhnt, doch hatte sie auch am Kongo gelebt. Es würde nicht an der Wohnung liegen, wenn sie hier nicht leben könnte.

Der Meteorologe wies auf die junge Tschuktschin. „Das ist Mado, meine Frau.“ In einem jähen Gefühl beugte sich Lisa vor und küsste sie.

Im Wohnraum saß ein Grauhaariger in einem altertümlichen Rollstuhl. Ohne Zögern ging Sobolew auf ihn zu, auf dieses lächelnde Gesicht mit den vorstehenden oberen Schneidezähnen. „Kennst du mich, Väterchen?“

Der Alte hatte eine dünne, pfeifende Stimme. „Da bist du, Tetuk Luzki. Ruhelos wie der Albatros.“

Sobolew nickte vergnügt, als er seinen Geburtsnamen hörte. Weniger als die Hälfte seines Lebens hatte er ihn getragen, genau bis zu dem Tag, da er die Ärztin Anna Sobolewa geheiratet hatte. „Wenn du ,Luzki“ sagst, kennst du mich noch von früher.“

Der Alte im Rollstuhl begrüßte ihn mit sichtlicher Freude. „Aufstehn kann ich nicht, auch wenn du fünfzehn Jahre eher gekommen wärst. Ich hätte dich grad so empfangen müssen. Hast Falten gekriegt, Tetuk. Aber die Nase. Daran hätt’ ich dich rausgefunden unter allen an der Beringstraße.“

Der Ingenieur rieb sich vergnügt die massige Nase, dann hockte er sich an den Tisch, den die junge Mado vollgepackt hatte, als wären sie ausgehungert wie Eisbären. Hinter seiner mit dicken Brauen bestandenen Stirn wühlte er unter dem Berg der fünfunddreißig Jahre nach diesem Gesicht, in dem die Schneidezähne blitzten. „Verändert habt ihr euch.“ Das ähnelte eher einem Vorwurf als einer Entschuldigung.

Der Alte rollte behände an den Tisch heran. „Ich kam auf dein Fangboot, kurz bevor du auf den Eisbrecher gingst. Imlerat bin ich.“

„Der Junge, der in der Otterbucht dem Eskimo nachgesprungen ist?“

Imlerat zog die kleine, knorplige Nase hoch. „Ich habe den Eskimo herausgefischt, du das Mädchen.“ Er lachte heiser. „Imlerat“, sagte Sobolew warm. „Ich finde euch alle wieder.“ Er aß rasch, ließ sich nicht bitten. Er hatte Mühe, seine Esslust zu bezähmen. Nur einmal blickte er rasch zu Lisa, die sich mit Mado unterhielt.

Die junge Tschuktschin war lebhaft und von mädchenhafter Gestalt, während ihr Mann Neran zum Fettansatz neigte. Neran trug das schwarze dichte Haar gescheitelt, wie es selten bei den Tschuktschen war, und reckte das Kinn vor beim Sprechen. „Vor fünfzehn Jahren“, erklärte Neran, der Meteorologe, „war es ähnlich wie damals in der Otterbucht. Vor fünfzehn Jahren wollte unser Imlerat da den Pitak retten. Das Eis war schneller.“

Imlerat nickte bedächtig zu den düster vorgebrachten Worten. Seine gelähmten Füße lagen unter einer Decke. Und doch hatte er damals, sechzehnjährig und tollkühn, zuerst das gekenterte Boot erreicht und den Eskimo Ivanuk aus dem Wasser gezerrt, noch ehe Sobolew dem zweiten Verunglückten ein Tau zuwerfen konnte. Dieser, ein Mädchen, hielt sich an dem kieloben treibenden Boot fest und wagte nicht, nach dem Tau zu greifen …

„Was ist mit Ivanuk?“, fragte Sobolew.

„Davongewandert. Wohin, frag die Sterne.“

„Und Amik?“ Das Mädchen, was war mit ihm?

Imlerat hob die Schultern und schwieg.

Ivanuk und Amik, zwei Eskimos, zwei Freunde von Little Diomede, der amerikanischen Nachbarinsel.

Fünfunddreißig Jahre sind eine lange Zeit, sann Sobolew.

Lisas Gesicht war blass und trug den Ausdruck gespannter Aufmerksamkeit. Der Meteorologe sah, wie das Gespräch der Alten sie schockierte. Er begann zu plaudern. „Das war ein Feuerwerk für Sie im Äther, Tetuk. Sie haben alles blockiert. So wurde nicht einmal die Ankunft der ersten Mondrakete gefeiert.“

Lisa erhob sich. „Hierher zu fahren, dazu gehört mehr Mut als zum Mondflug.“ Sie lachte gekünstelt. „Zum mindesten euern Reden nach.“ Sie sah sich wieder vom Eis eingeschlossen, von allen Seiten bedrängt. Dabei ging es auf den Sommer zu. Wie würde sie hier leben?

Sobolew fixierte mit zusammengekniffenen Augen seine Tochter. Sie hatte Angst gehabt, und sie war ihm dennoch gefolgt …

„Auf deine Heimkehr, Tetuk Luzki!“ Der Mann im Rollstuhl trank.

Der Ingenieur schnippte mit dem Finger. „Der Luzki, das war der Robbenfänger, der Vogeljäger von den schwarzen Klippen, der Mann vom Fangboot. Meine Frau hättet ihr kennen sollen. Die Tochter habe ich euch mitbringen können. Auf dein Wohl, Lisa! Was schenke ich ihr am Tag ihrer Ankunft? Meine Heimat. Zehn Tage auf dem stillen Ratmanova. Ihr wisst, das ist nicht wenig.“ Und er wusste auch, dass es dann mit der Stille vorbei war.

Der Ingenieur war hinter seine Tochter getreten und stieß mit ihr an. Als sie trank, begriff sie, was es für ihn bedeutete, diese dreißig Quadratkilometer Felsen im Meer wiederzusehen. Was hätte er ihr Größeres bieten können, als ihr das Land seiner Herkunft nahezubringen. Das Mondland am Weltende. Sie wurde etwas froher. Draußen lag die Nacht, und die verhüllte das Eis. Sie würde sich eingewöhnen wie jede andere.

Neran rief, die Gläser füllend: „Seit letztem Sommer fiebert die Insel. Nun seid ihr da. Nun bleibt ihr. Drüben“, er wies zum Fenster hinaus auf die Leuchtfeuer von Little Diomede, „drüben werdet ihr es schwerer haben.“

Sobolew wiegte den Kopf. Damals hatten sie es ihm sauer genug gemacht auf der amerikanischen Nachbarinsel. Aber heute, da seit knapp zwei Dutzend Jahren in Washington die Volksregierung saß … Freedom-Day würden sie miteinander feiern auf Little Diomede. Und arbeiten.

Er dachte an die Freunde, die er drüben besessen hatte, Ivanuk und Amik. Als Kind hatte der Eskimo einen anderen Namen getragen. Sobolew hatte ihn vergessen. Als sie Freunde wurden nach jener Rettung in der Otterbucht, suchte der sich einen Namen, der dem russischen „Iwan“ ähnelte. Er hatte nun einen Bruder auf der kleinen Nachbarinsel, die zu dem großen weiten Land gehörte, das sich über Asien bis nach Europa hinein erstreckte.

Ivanuk war verschollen, Amik ebenso. Aber sie würden Freunde werden mit allen Leuten von Little Diomede, deren Insel sie zu einem einzigen Bauplatz umgestalten wollten.

Nerans Frau war eine gute Gastgeberin. Mit raschen Bewegungen schenkte sie ein, wobei sie mit ihrer hohen Stimme erzählte. Sie war sichtlich froh, dass mit der Ankunft der Sobolews Leben in ihr stilles Haus gekommen war; und so verging der Tag in Fröhlichkeit.

Die alte Gonguhr zwischen den Fenstern schlug Mitternacht. Und dieses Läuten trieb Neran in die Höhe. „Entschuldigen Sie mich. Ich muss die Geräte kontrollieren.“ Er strich seiner Frau über das glatte, glänzende Haar und ging rasch hinaus. Mados Vater im Rollstuhl war eingeschlafen. Sein Atem ging schniefend.

Als ihn die Tschuktschin aus dem Zimmer schieben wollte, stieß sie in der Tür mit ihrem Mann zusammen. Der Meteorologe warf ein Bündel Blätter auf den Tisch.

„Für Ihren Empfang sind wir nicht eingerichtet, Ingenieur. Die Maschine im Fernschreibraum fliegt bald auseinander.“

Er lachte breit. „Petropawlowsk kommt nicht zum Schlafen, wenn sie uns alles durchgeben.“

Gelassen nahm Sobolew das oberste Blatt in die Hand. Glückwünsche, eine endlose Kette. Von der Akademie der Wissenschaften, vom American Science Klub, von der Unionskonferenz der Meteorologen, vom Astronomischen Rat. Das waren Vorschusslorbeeren. Er blätterte ruhig, suchte, fand auch in den schlechten Typen des uralten Fernschreibers Mitteilungen anderer Art. Kasachstanskaja Magnitka versprach den besten Stahl für die Brücken. North West Company meldete lakonisch:

Die ersten sieben Schiffe verließen Frisco.

Canadian Eastern Airways: Liegen bereit. Wir grüßen den Adler vom Tsanpo!

Sobolew war strahlender Laune. Das Heer setzte sich in Bewegung.

Anfragen, Bitten, Forderungen von Zeitungen. Er strich sie zur Seite. Und dann Angebote.

Wir sind acht Freunde in unserem Dorf. Wir kommen alle. Per Lars. Enontekis. Lappland.

Beenden soeben Ausbildung. Kommen geschlossen. Klasse der Ingenieurschule von Tbilissi.

Grüßen Dich, Tetuk. Lagen mit Dir unter dem Tatarensund. Sind schon unterwegs. Sechs Submarinemen von Sachalin. Und immer wieder: Wir kommen!

Der Ingenieur erhob sich, ruhig, angespannt. Die Frauen waren fort, nur Neran stand bei ihm. „Stell das irgendwie ab“, sagte er gelassen. „Nein, warte, ich komme mit.“ Das Heer marschierte, und er hatte um zehn Tage Ruhe gebeten?

Voller Energie ging er hinter dem zur Fülle neigenden Meteorologen her in den Fernschreibraum. Hier war es kalt. Der Temperaturausgleicher schien defekt zu sein. Sekunden betrachtete Sobolew die hämmernden Tasten, das Rücken des Maschinenwagens und das Auswerfen der beschriebenen Blätter. Dann befahl er: „Mach die Leitung frei!“

Mitten im Wort stockte die Maschine. Er zerrte das halbbeschriebene Blatt heraus. Eine grüne Lampe blinkte auf, dann zwängte Neran seinen Riesenkörper hinter die Maschine und schrieb: „Leitung frei für Sobolew.“ Und die Buchstabenhämmer in Petropawlowsk-Kamtschatsky, fünfzehnhundert Kilometer südlicher, hielten dies im gleichen Augenblick fest.

Sobolew diktierte:

An Timofei Baterow, Jermark, Taymirhalbinsel. Mitglied der Internationalen Dammkommission. Erbitte Besprechung zehn Tage früher als vorgesehen, nämlich am 3. April, 16 Uhr Beringstandardzeit auf Little Diomede. Sobolew.

Und da er diesen Ort festlegte, entgegen den alten Vereinbarungen, wollte er vom ersten Tag an die Nachbarinsel einbeziehen in das Baugeschehen. Er wollte sie ehren, indem er den Stab dorthin berief. Er wollte ihnen auseinandersetzen: Little Diomede, die Diomede-Inseln sind die wichtigsten Stellen beim Bau. Wir werden jahrelang miteinander leben müssen auf einem winzigen Felsennest, in den Unbilden der Natur.

An Al–ai Wanitsch. Bratsk. Mitglied der … Erbitte … Mrs. Molly Galton. New Orleans La. Member of the … Please …

An Juri Kirenew, Yandogai…

Ja, Kirenew, du sitzt immer noch in dem windigen Nest, aus dem wir mit dem „Arktischen Vogel“ weggeschwommen sind, jetzt musst auch du herüber, sofort!

Er fluchte, da die Maschine so langsam arbeitete, aber ihre abgegriffene Tastatur war auch nur für die Durchsage von meteorologischen Beobachtungen bestimmt.

„Du bist wie ein Sturm, du fegst alles um“, knurrte Neran, das volle Kinn vorgereckt, während er die kurzen mit kleinen Härchen bedeckten Finger auf die Tasten hieb.

„Schreib! Wenn der ‚Albatros‘ im Hafen liegt, werden wir alle technischen Raffinessen haben.“

„Im Hafen der Apparat ist schneller!“

„Im Hafen? Los, verbinde!“

Aufatmend drückte Neran den Knopf der Sprechanlage. „He, Apika, schlaft ihr? Klemm dich hinter die Maschine und hau auf die Tasten. Ich habe schon keine Finger mehr.“ Er lachte kurz und sagte zu Sobolew: „Wut hat er, der Apika Dickhals. Hast ihn schon mit den Eisfräsen geärgert. Er hält gern Winterschlaf, der Apika.“ Er horchte eine Weile, betrachtete die Lämpchen, dann rief er: „Es ist soweit.“ Und Sobolew sprach in das Mikrofon: „An den Canadian Pacific Service, Vancouver. Habe noch keine Erklärung für die sich widersprechenden Angaben über den Meeresgrund zwischen den Inseln Ratmanova und Little Diomede. Erbitten sofortige Aufnahme der Arbeit des Vermessungsschiffes.“ Und die Stunden, in denen der Ingenieur die Armeen für den Kampf gegen das Eis formierte, saß Neran neben ihm und dachte belustigt: Das hat Apika Dickhals noch nicht erlebt. Der wird sich das Winterfett herunterschwitzen.

Einmal fragte Sobolew kurz zwischen zwei Meldungen: „Ähnelst so meinem alten Freund Imak?“

Neran lächelte verschmitzt. „Ich bin dessen Sohn.“

Sobolew stieß einen Pfiff aus, schaute den anderen überrascht an und diktierte in die Sprechanlage: „An den Hydrometeorologischen Dienst …“ Und er lächelte, da er immer und immer noch auf Freunde aus der Vergangenheit stieß. Dieses Lächeln blieb in seinem Gesicht Stunde um Stunde, auch als er klamm wurde vor Kälte. Und als er endlich seine letzte Anweisung diktierte, vernahm er durch ein Schnarchen, dass Neran hinter ihm eingeschlafen war.

„Schluss?“, fragte ungläubig Apikas heisere Stimme aus dem Lautsprecher, und als Sobolew bejahte, grob: „Hol dich der Teufel, Ingenieur.“

Dann klickte es im Lautsprecher, und die Verbindung zwischen diesem Kommandoturm hoch über der Meeresstraße und dem wiederum zugefrorenen Hafen war getrennt.

Hätte es hier ein Videophon gegeben, hätte Sobolew sehen können, wie Apika sein faltiges, über und über mit silbrigen Bartstoppeln bedecktes Doppelkinn in die Hand gestützt und erschöpft auf die Karte der Meeresstraße gestarrt hätte. Imak, sein Pilot, hatte ihn heute eine geschlagene Stunde sitzengelassen wegen dieses Sobolew. Apika hatte geflucht. Wenn der werte Ingenieur arbeiten wollte, sollte er das mit den eigenen Leuten tun. Kam wie ein Kommandant und befahl über die Insel! Jetzt hatte selbst er, Apika, sich übertölpeln lassen, mitten in der Nacht. Er kam sich dumm vor wie die Robbe an Land.

Sobolew im Fernschreibraum der Wetterstation, hundert Meter über der Meeresstraße, sah mit Befriedigung das grüne Licht verlöschen.

Er rüttelte Neran, der schnarchend in der dunklen Ecke auf einem Feldbett lag. Nerans mächtiger Brustkasten hob und senkte sich gleichmäßig, und da Sobolew einsah, dass hier sein Bemühen vergeblich sei, zerrte er eine Wolldecke unter Nerans Beinen hervor und deckte ihn zu.

Er selbst spürte keine Müdigkeit, er steckte voller Tatendrang. Er schüttelte die steifgewordenen Beine und holte sich den Pelz aus dem Kleiderraum.

Dann stand er draußen in der sternenlosen Nacht, in der das Eis leuchtete und das Meerwasser. Sicher schritt er am Abgrund entlang, kletterte über scharfkantige und vereiste Felsblöcke, ging den schmalen Weg, der im Sommer selten und im Winter nie begangen wurde. Er schaute auch hinauf zu den schwarzen Felswänden. In langwieriger, zäher Wanderung umging er den Bogen der Otterbucht. Einmal bewegte sich etwas im Schatten, als seine Schritte heranknirschten, ein Schneehuhn vielleicht oder ein Fuchs.

Dann sah er drüben über dem Eis ein Licht blinken. Grün – weiß. Dunkle Nacht. Grün – weiß. Das war das Leuchtfeuer von Little Diomede, nicht weiter als drei Seemeilen entfernt. Als er länger hinschaute, erkannte er auch die im Nachtdunst verschwimmende Steilküste der Insel. Ein Felsen hob sich ab gegen den Himmel wie ein Menschengesicht im Profil.

Dorthin hatte er die Kommission gerufen, zehn Tage eher, und sie würde kommen. Und diese zehn Tage waren doch das Geschenk für Lisa gewesen.

Auf Little Diomede wurde der Startschuss gegeben. Die Einwohner des kleinen Hafens würden nicht minder mitgerissen werden als die Leute von Ratmanova.

Ein leuchtender Schweif fegte einen Augenblick tief über den Horizont, ein Wettersputnik oder ein Satellit für die Navigation der Schiffe und Flugzeuge. Wenn Sternschnuppen fielen, hatten früher die alten Tschuktschen gesagt: „Die oberen Menschen werfen mit Sternen.“ Die oberen Menschen, das waren die Toten. Sein Vater war in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts von der Eisbärenjagd nicht zurückgekehrt. Die Mutter hatte mit ihm, dem Fünfjährigen, im Treibeis die Überfahrt nach dem Festland gewagt; nach dem Tod ihres Mannes hielt sie nichts mehr auf den Inseln. Das Eis hatte das Boot leck geschlagen. Aber sie hatte das Kind auf die Scholle stoßen können, ehe sie, gelähmt vom eisigen Wasser, mit dem Boot versank. Von den Inseln kann man nicht los. Noch nach fünfunddreißig Jahren nicht. Ein Hubschrauber vom Eisdienst hatte das Fellbündel mit dem Kind gefunden.

Mit Pitak war es in der Wetterstation aufgewachsen. Als Tetuk groß war, hatte er das Eis verlassen, hatte eine Russin geheiratet, eine schöne Frau. Die eisige Petschora hatte die Frau behalten. Drüben schlief ihre Tochter in einer Kammer der Wetterstation, und er hatte sie mit ins Eis geschleppt. Er vernahm ihre Stimme: „Hierher zu kommen, dazu gehört mehr Mut, als auf den Mond zu fliegen.“ Alles würde fremd für sie sein, diese Eisfestung Ratmanova, der Eisbrei rings um die Nadel des „Arktischen Vogels“ und die Reden des lahmen Imlerat, alles neu, ungewohnt, unbequem. Und nur einen Punkt gäbe es für sie in dieser bestürzenden Umwelt: den Felsen Sobolew.

Das waren Sobolews letzte Zugeständnisse an die Vergangenheit, als er so auf das Leuchtfeuer von Little Diomede schaute, auf den Felsen, der dem Profil eines Menschengesichts glich.

In der Kälte stand er wie mit dem Boden verwachsen und baute den Damm.

Von drüben, von Kap Deshnew herüber, schlug er sich durch das Eis in einer Länge von siebzehn Seemeilen, zwang eine Straße vor unter die Fünfhundert-Meter-Berge von Ratmanova und sprang wieder hinaus ins Meer nach Little Diomede. Tunnel nahmen ihn auf und senkten ihn jenseits der Felsen erneut ins Meer, bis er endlich nach weiteren achtzehn Seemeilen Kap Prince of Wales erreichte.

Als Sobolew in dieser Märznacht auf das zuckende Leuchtfeuer schaute, sah er den Damm und hörte die Pumpen arbeiten und spürte die Wärme.

Nicht die oberen Menschen werfen am Himmel mit Sternen, sondern die lebenden, die von der Erde.

II

Am nächsten Morgen, als Sobolew in Nerans kargem Arbeitsraum seine Pläne durchging, ließ sich ein Mann bei ihm melden. Er war mager und kurzsichtig, ein Fünfziger etwa, der sich mit dünner Stimme vorstellte. „Baranof. William Baranof.“

Sobolew blickte ihn überrascht an. Ein Amerikaner. Er begrüßte ihn herzlich, fragte, von welchem Institut er käme.

„Oh, nicht Institut“, sagte Baranof und rieb sich die kleinen Hände. „Ich habe ein Hotel drüben. Eine Übernachtungsstätte, eine Kneipe, wie Sie wollen.“

„Drüben?“

„In Little Diomede.“

„Ah.“

„Ihr Vertreter war heute Morgen bei mir wegen der Besprechung, die Sie in meinem Saal abhalten wollen.“

„Ich freue mich, dass Sie kommen“, sagte Sobolew.

Die Insel reichte ihnen die Hand in Gestalt dieses Amerikaners Baranof, der freundlich am Tisch lümmelte, breite Zähne entblößte und seinen Wein trank.

„Es ist nicht viel los bei uns“, gestand Baranof dünnstimmig. „Wir sind wie die Murmeltiere. Wir zehren im Winter von dem, was wir uns im Sommer angefressen haben.“

Sobolew lächelte verstehend. Viel Geschäfte waren nicht zu machen hier. Little Diomede war kein Anziehungspunkt für Touristen. Wer Eskimos sehen wollte, der reiste nach Kotzebue und nicht auf die Steinklippen. Baranof spekulierte auf Betrieb, wenn das Heer der Dammbauer anrückte.

Baranof sagte: „Sie haben Ihre Tochter hier. Das mit dem Saal geht klar, aber Ihre Tochter …“

„Was wollen Sie?“, fragte Sobolew geradezu.

Baranof griff mit dürren Fingern in die Innentasche seines offenstehenden Halbpelzes und zog, während ein ankündigendes Lächeln sein Gesicht verklärte, eine Zeitung hervor. Es war die neueste Ausgabe der „Northern News“, die in Wales erschien.

„Was soll das?“

„Hier.“ Baranof entfaltete das Blatt und schob es Sobolew hin.

Über die halbe Seite ging ein Bild: ihre Ankunft im windigen Yandogai. Sobolew stieg mit grüßender Hand die an das Flugzeug herangefahrene Treppe hinunter, während der junge Kirenew vorsorglich Lisa stützte. Keine vierundzwanzig Stunden war das Bild alt. Sobolew schmunzelte.

Dann las er eine Zeile, die Baranof blau unterstrichen hatte: „Sobolews Tochter hat auch Konzerte in europäischen Städten gegeben.“

Abwartend musterten ihn Baranofs kurzsichtige Augen. „Einen Flügel haben wir im Saal, einen alten. Sie müsste spielen.“

„Ein Konzert?“

Baranof nickte. „Das wäre das Ereignis für die Insel. Sie kommen alle, da garantiere ich.“ Er stieß den Kopf vor. „Und dann fangt ihr an und baut.“

Sobolew erhob sich vergnügt, nahm die „Northern News“ vom Tisch und streckte sie dem Mann von Little Diomede entgegen. „Wenn Lisa will.“

„Sie wird, sie wird! Raten Sie ihr.“

Als Baranof endlich ging, war Sobolew auch aus dem Grund zufrieden, da Lisa sich durch ihre Kunst hier schneller heimisch fühlen würde.

Einen Tag später schon flogen sie im Helikopter hinüber. Imak flog sie, der alte Freund. Der Helikopter löste sich wie eine Möwe von der Felsterrasse hoch über den Dächern und strich über das Meer.

Der Frost hatte sich in der Nacht verschärft. Das Eis war zu Schollenfeldern zusammengefroren, zwischen denen offene Rinnen dampften. Erst als der Flugschrauber die Felsnase an der Otterbucht hinter sich gelassen hatte, wandte er sich ostwärts, Little Diomede zu.

Imak, zwei Jahre jünger als Sobolew, hatte ein breitknochiges, offenes Gesicht, das in ein spitzes Kinn auslief. Er erzählte trocken, mit kratziger Stimme, während er den Flugapparat bediente. Sein halbes Dutzend Kinder wohnte an der ganzen Beringstraße verstreut. Nur der Neran hockte noch auf der Insel. Ein Dutzend Enkel war schon dazugekommen, wie er lachend berichtete.

Von Providenja erzählte Imak, dort hatte er fliegen gelernt. Südlicher war er noch nicht gekommen. Und im Norden nur bis Chegitun. Das lag gerade am Polarkreis. Dieses Stück Erde aber kannte er umso besser.

Jetzt schwebten sie schon über der Enge zwischen den Inseln. Unter ihnen barst mit hellem Knall das Eis.

Sie konnten von ihrer Höhe Little Diomede und den größten Teil von Ratmanova gut übersehen. Die amerikanische Insel betrug nur ein Fünftel der Fläche, die Ratmanova innehatte. Auch waren ihre Felsen um hundert Meter niedriger. Dort, wo der Diomede-Damm, der Mittelabschnitt des Baues, die Insel treffen musste, lag die Siedlung Diomede auf einem schmalen Saum, der kaum zwei Bungalowzeilen Platz bot. Nach dem Black Stone zu schob es sich den Hang hinauf, wo zusammen mit Magazinen und Stores das „Hotel Baranof“ an einem kleinen Platz stand. Die Siedlung zählte zu jener Zeit sechshundert Einwohner, ein Drittel davon waren Eskimos, die anderen Amerikaner und Nachkommen aus Mischehen. Der Damm würde einen Teil des Hafens schlucken und die Häuschen in seiner Nähe.

Sobolew sagte: „Wenn das Eis noch lange die Schifffahrt behindert, lassen wir die Teile für die neue Eskimostadt mit Lastraketen heranbringen. Im Sommer muss sie stehen.“ Imak drückte den Helikopter tiefer. „Deine Sorgen möchte ich nicht haben, Tetuk. Little Diomede, das ist ein harter Brocken.“

Der Flugschrauber fegte über das leere Hafenbecken. Schnee stob auf. Er hob sich über Schuppen und Leuchtturm und sank endlich sanft auf das Eis.

„Du wirst nun sehen, wie es hier zugeht. Ruf an, wenn ihr fertig seid hier, mit Beulen oder ohne. Ich hole euch ab.“ Imak gab ihnen die Hand, sie lachten. Er blieb gleich in der Maschine sitzen.

Als Sobolew neben Lisa im kalten Wind die Straße hinaufstieg, suchte er die kahlen Bergflanken, auf denen sich die neue Wohnsiedlung erheben würde, die dreitausend Menschen beherbergen sollte.

Es wimmelte von Kindern zwischen den Bungalows und Trockengestängen. Auf den Treppen standen braungesichtige Männer und Frauen mit Pfeifen im Mund vor den Eingängen ihrer Häuschen. Sie starrten dem Ingenieur und seiner Tochter nach.

Das windschiefe, aus Steinquadern errichtete Hotel Baranof war überfüllt. Der Besitzer hatte nicht zu viel versprochen. In den Gängen standen die Leute. In alle Lücken hatten sie Stühle gestopft. Auf der Bühne dufteten Blumen in großen Vasen.

Sobolew setzte sich in die erste Reihe. Breit nahm er den mittelsten von drei leeren Stühlen ein. Im Saal brodelte es. Über die Reihen hinweg schrien sich die Männer Begrüßungen zu. Zehn Tage vor dem vorgesehenen Termin war er ins Eis gegangen, zehn Tage, in denen Ratmanova nur ihm gehören sollte, dem verwegenen Tetuk Luzki, der auf den winzigen Fangbooten mit den Walrossen gekämpft hatte. Und schon am dritten Tag saß er nun nicht mehr in Ratmanova, sondern in Little Diomede.

Sobolew griff sich an den Kragen. Die Hitze schien zuzunehmen mit jedem, der noch in den Saal hineindrängte. Und er war wieder schon weiter, wieder Tage voraus, da die anderen hier hereinströmen würden, die Ingenieure und Spezialisten, die Wissenschaftler, mit denen er zu arbeiten hatte.

Immer ungeduldiger wartete er in der Hitze und dem Brodeln und musste sich doch sagen, dass er in dieser Stunde des Konzerts nichts mehr tun konnte. Er musste abwarten, was seine Botschaften, die er in alle Erdteile geschleudert hatte, ausrichten würden. Zehn Tage eher Besprechung des Stabs, mitten in der Beringstraße, hier in diesem Saal, in weniger als vierundzwanzig Stunden. Der Frühling lag in der Luft. Es gab keinen Grund, weshalb man mit dem Angriff zögern sollte.

Und in den Minuten, da Sobolew im überhitzten Saal auf den Beginn des Konzertes wartete, stiegen vielleicht schon die Vertikalstarter von der Taymirhalbinsel und von San Francisco die Flugboote auf, so wie es Sobolew in seiner Botschaft gefordert hatte.

In dem Augenblick, da das Brodeln abebbte, führte Baranof mit eifrigem Gesicht einen Fremden zu dem leeren Platz neben Sobolew. Eine Sekunde ruhte der Blick dieses jungen Mannes auf dem Ingenieur, dann murmelte er einen Gruß und setzte sich. Der Mann war, wie Sobolew an der Stimme hörte, Amerikaner. Hell war seine Haut, sein ausgeprägtes, kantiges Kinn ließ auf Energie schließen. Der einzige im ganzen Saalrund, der nicht auf Little Diomede zu wohnen schien. Denn er kannte keinen, er begrüßte niemand. Er saß stumm da und knackte mit den Fingern.

Der Lärm verstummte, als Lisa an den Flügel trat. Sie grüßte mit einer leichten Neigung des Kopfes ihr Publikum, bevor sie sich setzte. Innerlich fieberte sie, wie sie vor diesen Menschen bestehen werde. Dann schlug sie die Tasten an. Lisa spielte die Kalendersonate des Bulgaren Simeon Dondukoff. Er war eine Zeit lang im Konservatorium zu Kasan ihr Lehrer gewesen und hatte die Sonate eigens für solch ein altes Instrument komponiert, und zwar anlässlich der Einführung des neuen Kalenders.

Welch ein Wirrwarr hatte dereinst im Kalender geherrscht. Es hatte Monate mit dreißig und einunddreißig Tagen gegeben, in buntem Durcheinander. Einer hatte sogar nur achtundzwanzig gezählt. Nach welchem Prinzip? Jetzt besaß jeder erste Monat im Vierteljahr einundzwanzig Tage, die anderen folgten mit einem weniger. Der dreihundertfünfundsechzigste Tag aber stand außerhalb der Woche, blieb ohne herkömmlichen Namen, ohne Ziffer, ohne Monat. Das war der Weltfeiertag am Ende des Jahres. Einen zweiten solchen Tag ohne Datum hatte es im vergangenen Jahr zwischen den Monaten Juni und Juli gegeben, den Schalttag, der aller vier Jahre eingefügt wurde. Bei diesem Streichen und Zufügen waren natürlich die persönlichen Lebensdaten etwas durcheinandergeraten. Nicht nur der Todestag ihrer Mutter war so ausgetilgt worden, sondern auch der 31. Mai, ihr Geburtstag. Sie lächelte. Sie alterte nicht mehr. Sie blieb jung.

Der erste Sonatensatz brachte ein schweres feierliches Motiv, das unversehens unterging in wuchtigen Dissonanzen. Es wurde aufgenommen und variiert und setzte sich durch, obwohl es immer leiser zu werden schien. Jetzt klang es harmonisch, leicht, sieghaft. Der Frühling war da.

Lisa spielte vor Unbekannten, vor einem fremden Volk, und sie spürte, wie es sich mehr und mehr für ihr Spiel erwärmte. Sie war nicht fremder hier als drüben auf Ratmanova. Sie war sogar vertrauter noch, da sie am Flügel saß. Sie neigte den Kopf und ließ die Hände ruhen, bis der letzte hohe Ton verklang.

Der zweite Satz. Sommer. Das Scherzo. In ihm hatte Dondukoff russische und amerikanische Volkslieder verarbeitet. Der Rhythmenwirbel trug Lisa fort. In Lumumba war es ewiger Sommer. Ein Jahr lang hatte sie dort bei den Regulierungsarbeiten am Kongo mitgewirkt. Ein Jahr hatte sie mit dem Arzt Gennadi gelebt. Dann war sie vor diesem schwülen, dumpfen, ewigen Sommer und Gennadi geflüchtet. In der Kindheit hatte ihr die Großmutter vom Bau der Kraftwerkskaskaden an der Angara erzählt. Diese nüchternen Berichte waren ihr immer wie alte Legenden erschienen. Die Familie der Großmutter war aus einem kleinen Ort bei Leningrad an die Angara gezogen. Als das Heer der Erbauer der Kraftwerke anrückte, verzehnfachte sich die Einwohnerzahl von Ust-Ilimsk. Die Mutter, Anna, war zur Petschora gezogen, unweit des Polarkreises, hatte dort Kälte und Unbequemlichkeiten auf sich genommen, um das Heer der Erbauer des Petschora-Dammes ärztlich betreuen zu helfen. Und nun war sie, die Tochter, in die Beringstraße gegangen, und in diesem kurzen Sommer würde das Heer anrücken, das den Damm gegen das Eis errichten würde.

Der Herbst. Der langsame Satz.

Der Vater. Irgendwo dort unten saß er. Er würde seine dichten, nach der Stirn zu in einzelnen Strähnen verästelten Brauen ungeduldig zusammenrücken und aufmerksam jede ihrer Bewegungen verfolgen. Aber er würde kaum an die Musik denken. Sie kannte sich aus in seinem rotbraunen Gesicht. Die massige, nach der Stirn zu flache Nase, das vorgeschobene breite Kinn, die scharfen Augen, all dies war der Ausdruck beharrlicher Zielstrebigkeit. Er war durchdrungen von dem Gefühl der eigenen Würde. Sein Vertrauen auf die eigene Kraft hatte sie stets erneut in Staunen versetzt. Und diese Meldung seinerseits hatte sie erregt: Er würde den Damm bauen. Sie kannte seine Größe, die Untertunnelung des Tatarensundes. Seine Pläne hatten nie viel Zeit für die Tochter geduldet. Sie liebte ihn. Und sie fürchtete für ihn in diesem Eis noch mehr als für sich selbst. Er würde Sieger bleiben. Ein Irrtum würde ihn zu Fall bringen. Er glaubte, vertraut zu sein mit diesen Inseln, gab vor, ein Teil von jenen Menschen zu sein, die jetzt vor ihr saßen, um die Kalendersonate zu hören. Und doch trennten ihn mehr Jahre von den Inseln, als sie selber zählte. Alle Brücken zu diesen Eilanden hatte er abgebrochen gehabt. Jahrzehntelang hatte er nicht nach Imak gefragt. Nichts hatte er von Pitaks Schicksal gewusst. Und er glaubte, zu kommen und zu siegen. Welch gefährliche Anmaßung von ihm, mit dem Schiff im aufbrechenden Eis nach Ratmanova zu treiben! Das war nicht die rationelle, streng durchdachte Nutzung der Kräfte, die sie von ihm kannte und ohne die er nie das Kraftwerk am Tsanpo und den Tatarentunnel gebaut hätte. Ein Junger, ein Fremder, ein von diesen Dingen Unbelasteter hätte den Damm bauen sollen. Wer? Vielleicht sogar Kirenew, der noch immer in Yandogai hockte, als habe er Sobolews Telegramm nie erhalten.

Sie spielte. Und trotzdem stiegen die Gedanken in ihr auf wie aus einem unerschöpflichen Brunnen, alles, was sie schmerzte, bedrängte und was sie erhoffte.

Dann kam der Schlusssatz. Der Winter. Mit elementarer Wucht fiel er in den Saal, stürzte gegen die Eskimos, die Säulen, den Rang. Jaulen und Pfeifen, eisige Winde. Wie würde der Winter werden?

Getragen stieg das Hauptthema auf, klar gegliedert, volkstümlich, es kämpfte an gegen die Dissonanzen und blieb.

Frisch, freudig, unvermittelt setzte die Coda ein. Sehr aufrecht saß Lisa und spielte die letzten Takte. Der letzte Akkord brandete in einer einzigen Disharmonie in den Saal. Wie würde der Winter werden?

Sobolew bemerkte, wie sie müde das Haar aus der Stirn strich und wie die Freude in ihren schmalgeschnittenen Augen glänzte.

Die Leute von Diomede klatschten, riefen, winkten der jungen Frau, die nun klein neben dem Flügel stand. Zwei Mädchen brachten ihr Rosen.

Zufrieden lächelte Sobolew und trat nach vorn. Der Amerikaner neben ihm klatschte gelassen. Ein kurzbeiniger Eskimo in den Vierzigern stand plötzlich bei Lisa auf der Bühne.

Da brandete der Beifall noch einmal los. „Vakoma!“, schrie einer. Und nun wussten die Einheimischen, dass der Beifall nicht mehr der Musik galt, sondern dem Fängerkönig. Er sprach zu Lisa, und als der Lärm versickerte, da die Leute von Diomede ihren Vakoma sprechen sahen, vernahm der Ingenieur, wie dieser sich bedankte. Lisa winkte mit den Rosen, verneigte sich und ging an Vakomas Arm dem Bühnenhintergrund zu.

Da eilte Sobolew mit ausgreifenden Schritten zur Bühnentür. Jetzt konnte er arbeiten. Zum Hafen würde er gehen, nach Ratmanova fahren, mit Apika Dickhals sprechen. Vielleicht lagen neue Meldungen vor.

Als er die Hand auf die Klinke legte, rief ihn einer an. Die Stimme kam laut aus dem Saal, in dem keiner den Platz verlassen hatte, als würde eine Zugabe erwartet.

„Sobolew!“

„He, Ingenieur!“

Eilig kam Lisa aus dem Bühnenhintergrund zurück, gefolgt von dem kurzbeinigen Vakoma, der schnell auf sie einredete und zur Tür zeigte. Die Sobolewa setzte sich mit erregtem Gesicht an das Instrument und blickte in den nun hellen Saal auf die Eskimos hinab und auf ihren Vater.

Nach den beiden Rufen war vollständige Stille eingetreten. Der junge Amerikaner an Sobolews Seite hob die starken Augenbrauen.

Wie eine Pauke dröhnte es durch den Raum. Lisa begann zu spielen, vier, fünf Takte, dann brach sie ab.

„Sobolew!“ Der Ruf war lauter. Vakoma vor Lisa hob bedauernd die Schultern und versuchte sie hinauszugeleiten. Jetzt war wieder die Stille eingetreten, als ob die Kalendersonate noch immer durch den Raum wehe. Aber es war die Stille des Eises.

Gelassen betrat Sobolew die Bühne. Sein Gesicht war streng. „Hier bin ich“, sagte er knapp. Hier waren seine Kraft, sein Wissen, Können, in Jahren aufgespeichert. Hier war seine ganze Persönlichkeit für die Inseln. Und er wusste, all dies Vergangene in den fünfunddreißig Jahren, Tibet und Sachalin und die anderen Stationen, war nur Vorbereitung gewesen für das einzige: den Bau des Damms.

„Hier bin ich“, sagte er.

„Hast du unsere Sprache nicht vergessen?“

„Sprich russisch, wie du es gewohnt bist. Jeder versteht dich hier.“

Von allen Seiten hämmerten die Worte auf Sobolew ein.

Er machte eine knappe Handbewegung, still lag der Saal. „Was wollt ihr?“, fragte er in ihrer Sprache.

Und nun folgte ein langer Dialog, in dem sich jede Seite der Sprache der anderen bediente.

Ein knochiger Eskimo von unbestimmbarem Alter, kurz geschoren und grau, erhob sich. „Wir empfangen dich nicht mit offenen Armen. Wir kennen dein Gesicht sehr gut vom Telecolor her, den uns Baranof hingestellt hat. Wir achten deine Leistungen …“

Rufe unterbrachen ihn.

„Rühr nicht an die Inseln!“

Der knochige Eskimo drang schließlich durch. „Wir haben alles sehr aufmerksam verfolgt. Wir wissen, du baust den Damm. Wir haben die Vermessungsschiffe die letzten beiden Sommer gesehen und einen von euern Geodäten aus einer Wake herausgefischt. Sicher bist du als Bauleiter gut unterrichtet über die Ergebnisse der Vermessungsschiffe. Vielleicht weißt du aber nicht …“, der Eskimo hob die Stimme, „… dass durch die Vermessungsschiffe die Jagd auf die Bärenrobben um ein Drittel zurückgegangen ist.“

Andere drangen durch, gellten, pfiffen. „Erzähl ihm doch das vom Vogelfelsen!“

Die dunklen Augen funkelten aus dem Saal zu Sobolew hinauf. Überall, wohin er blickte, das gleiche Gesicht, der gleiche Zorn. Der Saal war wie ein riesenhafter Mensch gegen Sobolew.

„Auf dem Vogelfelsen“, brachte der Saalriese mit gellender Stimme vor, „haben die Geodäten ihre Kletterspaziergänge durchgeführt, natürlich in der Brutzeit. Das hat der Insel eine Vogelgeneration gekostet.“

„In einer anderen Zeit hätten die Geodäten ja auch vor Kälte gezittert!“ Der Saalriese hatte hundert Stimmen.

Sobolew stand kaltblütig auf der Bühne. Da hatte er seine Brücke, die Lisas Kunst geschlagen hatte, eine Brücke, über die das Eis auf ihn zukam.

Der junge Amerikaner lehnte nachdenklich neben Lisa am Flügel. Auch der Fängerkönig, Vakoma, stand noch dort, finster, das tiefschwarze Haar nach der Art der Amerikaner frisiert. Man sah ihm an, er fühlte sich nicht wohl.

Sobolew versuchte, mit seiner Stimme durchzukommen, aber als Stille eintreten wollte, schwang sich der Saalriese zu ihm hinauf: Der Fängerkönig lächelte spöttisch, und seine Augen glitzerten wie Fischschuppen. „Den Streit bedauere ich sehr“, sagte er, „aber da wir einmal dabei sind: Du warst in Ratmanova mal auf ’nem Fangboot, habe ich mir sagen lassen. Dir brauche ich nicht zu erzählen, wie schwer es ist, an die Robben heranzukommen. Wie haben wir geschuftet, ehe wir sie mit Kuttern ans Land zerren konnten. Du bist kein Robbenjäger mehr. Deine Sache. Die Regierung hat mir vor zwei Jahren einen Orden verliehen. Alle hier haben Anteil an dem Orden. Wofür hat mir die Regierung den Orden gegeben? Unsere Seetierfanggemeinschaft hat seit der Jahrtausendwende die Fangergebnisse verdoppelt. Mit den alten Kuttern, mit den verbrauchten Arbeitsgeräten. Die schwimmenden Robbenfabriken aus Tin City kamen nicht mit uns mit! Und sicher kennst du unsere Schwalbenbucht. Dort kannst du mal in den nächsten Wochen hingehen. Da wirst du die Bärenrobben zu Tausenden liegen sehen. Ja, wir haben die Bärenrobben auf der Insel heimisch gemacht. Du weißt nicht, was das gekostet hat.“ Vakoma sprach in den Saal hinunter zu seinen Leuten, obwohl doch Sobolew drei Schritt neben ihm stand. Und so fuhr auch seine Frage hinunter zu den Männern, die mit ihm in den Booten die See gepflügt hatten. „Glaubst du, dass mir die amerikanische Regierung für die Robben einen Orden verleiht und mir dann die Robben nimmt?“

Das war das Signal für die hundert Stimmen des Saalriesen.

„Habt ihr an die Seetiere gedacht?“

„Habt ihr gesehen, wie wir uns vor zwanzig Jahren den Riemen enger geschnallt haben, weil die Tierbestände durch die technisch ständig verbesserten Fangflotten aller Länder dezimiert wurden? Jetzt wird der Fang erneut zurückgehen!“ Jetzt kamen die Pelzhändler in Fahrt, lange Amerikaner, ausgedörrt vom Frost; die Magazinverwalter, aufgeschwemmte Halbeskimos. Die Fischer standen auf, die verwitterten Blaufuchszüchter.

„Ihr wollt wohl keine Seals mehr, ihr Südländer?“

„Sollen wir Rentiere züchten auf den Klippen, he?“

„Sollen wir den Robben bis zum Pol nachjagen?“

Dann riss der knochige, untersetzte Eskimo Anolik von der Saalmitte aus wieder das Wort an sich.

„Gib es ihm, Anolik!“, schrie einer.

„Es heißt, ihr wollt die Arktis wärmer machen, nun gut. Wir Eskimos können nur so von der Arktis leben, wie sie ist.“ Hier nickten auch die Amerikaner, an die Felle ihrer Seebären und an die Pelzrobben denkend, an die Auktionen in Anchorage, die für ein einziges Zobelfell zweihundertvierzig Dollars brachten, und an die Mäntel in den New Yorker Modehäusern, deren Verkäufer auf Befragen den zweihundertfachen Betrag nannten.

„Sie leben“, schrie Anolik, „von den Tieren der Arktis. Sie können auch die Kälte ertragen. Ihr aber, ihr kühnen Erbauer aus dem Süden, die ihr glaubt, wir holen uns in der Arktis kalte Füße, und die ihr uns freundlicherweise einen Heizofen bauen wollt: Wie wollt ihr denn hier leben, in der Kälte, wenn ihr dabei seid, den Ofen zu bauen?“

„Sie bauen den achtzig Kilometer langen Damm in den beiden Sommermonaten. Der kühne Sobolew baut ihn ja.“ Der Ingenieur blieb ruhig. Er reckte die massige Nase vor und witterte, wie um diese Reden wegzusaugen. Seine kurzen, kräftigen Hände hingen ruhig an der Seite. Er war zäh; da hatte er nun seine Begrüßung. Der Saalriese zwang ihm den Mund zu, doch er würde sich verausgaben. Spare, Sobolew, spare Kraft.

„Wir wissen, dass der Damm gebaut wird, ob wir gegen dich reden, Ingenieur, oder nicht. Man hat uns wenig gefragt bis auf die letzten Jahre. Von uns Eskimos sind nicht viele übriggeblieben. Wir sind aufgesogen worden, aufgegangen in den anderen. Wir bekamen Schulen, gewiss. Wir lernten die Geheimnisse der Maschinen, gut und schön. Wir wurden aber immer weniger und blieben Attraktion für die Globetrotter. Der Tag von Washington hat uns endlich mehr Rechte geschaffen, hat uns anerkannt als selbstständiges Volk, und wir sind stolz darauf …“

Die Pelzaufkäufer und die Farmer lächelten und ließen Anolik reden, in Gedanken immer noch bei den New Yorker Preisen.

„Und jetzt haben wir es geschafft, und jetzt kommt ihr und nehmt uns die Heimat.“

Sobolew straffte sich. Sicher waren die Freunde schon unterwegs.

Sein ungleicher Kampf hier war eine Sache von Stunden. Sicher zogen schon hoch über den Eiswolken die Vertikalstarter und Flugboote aus allen Teilen des Planeten zu den Diomede-Inseln.

„Manchmal muss man sich umstellen“, sagte Sobolew. „Ich bin wirklich kein Robbenjäger mehr. Ich werde mich jetzt wieder umstellen müssen, mich an euch, an die Inseln, an das Eis gewöhnen. Manchmal muss man sich radikal umstellen. Das ist nicht einfach. Das ist unbequem. Und manchmal kriegt man auch einen Orden für die Robben, und dann werden einem die Robben weggenommen. Das ist bitter. Mit der Errichtung des Damms wird sich das Leben in der Arktis wandeln. Vieles, was früher in euerm Leben richtig war, als es den Damm noch nicht gab, wird nun falsch sein. Der Damm wird euch Arbeit geben. Die Umgestaltung der Arktis braucht unermesslich viele Hände. Helft mit, ich bitte euch. Es wird eine Zeit kommen, in der ihr das Walrossfest nicht mehr feiert, dafür aber das Dammfest. Ringkämpfer mit bloßem Oberkörper werden eure Jungen machen, aber nicht mehr im Schnee. Der Frühjahrslauf der Kajaks bleibt euch, nur das Treibeis wird euch herausgenommen werden.“

Lisa übersetzte dem hochgewachsenen Amerikaner, was ihr Vater in der Eskimosprache sagte.

„Viele Leute, die zu euch kommen, um den Damm zu bauen, kennen die Arktis. Sie fürchten sich nicht vor dem Frost. Einer davon ist Timofei Baterow. Er wird bald sechzig Jahre alt. Die meisten davon hat er nördlich des Polarkreises verbracht. Kennt jemand Baterow?“

In der ersten Reihe erhob sich ein eisgrauer Alter, der, die Hand hinterm Ohr, andächtig gelauscht hatte. Er besaß einen Vollbart und genoss, der eintretenden Stille nach, großes Ansehen.

„Woher kennst du ihn, Väterchen?“, fragte Sobolew.

„Station Nordpol 22, vor zwanzig Jahren.“

Die Ruhe zum Sprechen war Sobolew gesichert. „Baterow war der Leiter von Nordpol 22. Er ist Hydrologe, Meteorologe, Kenner des Polarmeeres. Seine eigentliche Aufgabe jedoch sah er stets in etwas anderem. In den achtziger und neunziger Jahren baute er auf der Taymirhalbinsel und auf Inseln von Sewernaja Semlja verschiedene Polarstädte vom Typ Schneestern. Ihr kennt sie vielleicht von Baranofs Telecolor her, die Hochhäuser auf Stelzen und die überdachten, hermetisch vom arktischen Klima abgeschirmten Straßen. Der Bau dieser Städte war Baterows Lebensaufgabe. Dahinein hat er sich verbissen. Dafür hat er sich auf Nordpol 22 herumgeschlagen. Und jetzt hat er seine Erfahrungen in den Dienst des Damms gestellt. Durch den Damm aber werden seine Polarstädte vom Typ Schneestern überflüssig. Baterow arbeitet an der Vernichtung seiner eigenen Städte, wenn man so will. Du, Vakoma, hängst am Orden und an den Robben. Wirst Zitronenzüchter lernen müssen, wenn es notwendig sein sollte.“

Der Saal schwieg. Der Ingenieur atmete tief. Der Kampf gegen das Eis begann schon hier. Er war schlecht gerüstet gewesen, war in Konzertstimmung hergekommen. Jetzt wollten sie ihn rupfen wie eine Schneegans.