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Ein höchst aktuelles Buch über die komplexe Macht nonverbaler Kommunikation. Das neue Buch des großen Soziologen Richard Sennett
In immer mehr Ländern beherrschen Demagogen die politischen Bühnen. Was sie alle eint, ist die Fähigkeit, ihre Anhänger mitzureißen, sie sind begnadete Darsteller. Ausgehend von dieser beunruhigenden Tatsache untersucht Sennett die ambivalenten Beziehungen zwischen Darstellung in der Politik, in der Kunst und im täglichen Leben und macht uns bewusst: Wenn alle dieselbe nonverbale Welt der körperlichen Gesten und Inszenierung teilen, können auch die Rollen und Rituale des alltäglichen Handelns bösartig oder erhebend, repressiv oder befreiend sein. In weitgespanntem Bogen führt Sennett durch Spielarten des darstellenden Menschen vom Redner im antiken Athen bis zum Straßenmusiker in Harlem. Dabei entsteht eine Partitur der Performance, die erkennen lässt, worauf es ankommen könnte in diesem Spiel: die Bewahrung der Freiheit.
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Seitenzahl: 387
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Ein höchst aktuelles Buch über die komplexe Macht nonverbaler Kommunikation. Das neue Buch des großen Soziologen Richard SennettIn immer mehr Ländern beherrschen Demagogen die politischen Bühnen. Was sie alle eint, ist die Fähigkeit, ihre Anhänger mitzureißen, sie sind begnadete Darsteller. Ausgehend von dieser beunruhigenden Tatsache untersucht Sennett die ambivalenten Beziehungen zwischen Darstellung in der Politik, in der Kunst und im täglichen Leben und macht uns bewusst: Wenn alle dieselbe nonverbale Welt der körperlichen Gesten und Inszenierung teilen, können auch die Rollen und Rituale des alltäglichen Handelns bösartig oder erhebend, repressiv oder befreiend sein. In weitgespanntem Bogen führt Sennett durch Spielarten des darstellenden Menschen vom Redner im antiken Athen bis zum Straßenmusiker in Harlem. Dabei entsteht eine Partitur der Performance, die erkennen lässt, worauf es ankommen könnte in diesem Spiel: die Bewahrung der Freiheit.
Richard Sennnett
Der Darstellende Mensch
Kunst, Leben, Politik
Aus dem Englischen von Michael Bischoff
Hanser Berlin
Für QQ
Der Autor stellt seine Ware aus
»Die ganze Welt ist Bühne«, sagt der »melancholische Jacques« in Shakespeares Wie es euch gefällt. Das ist kein neuer Gedanke. Das Bild des Lebens als Bühne oder Theater lässt sich bis in die Antike zu dem römischen Dichter Juvenal zurückverfolgen, bei dem es heißt: »Ganz Griechenland ist eine Bühne, und alle Griechen sind Schauspieler«, wie auch nach vorn bis zu dem amerikanischen Soziologen Erving Goffman, der meinte, das »soziale Leben« sei »ein Mosaik aus Darbietungen« unterschiedlichster Art. Der Gedanke verdeckt allerdings mehr, als er enthüllt.
Als ich mit der Niederschrift dieses Essays über die Gesellschaft und die darstellenden Künste begann, beherrschten diverse Demagogen die Bühne der Öffentlichkeit. Donald Trump in den USA und Boris Johnson in Großbritannien sind geschickte Darsteller. Bei bösartigen Darbietungen dieser Art werden allerdings dieselben Ausdrucksmittel eingesetzt wie bei anderen Ausdrucksformen. Bühnenaufstellung, Beleuchtung und Kostümierung sind nonverbale Mittel, die bei Darbietungen aller Art zum Einsatz kommen, ebenso wie Tempowechsel bei Sprache und Klängen oder die ausdrucksstarke Bewegung von Händen und Füßen.
Tatsächlich ist Darstellung eine der Künste — eine unreine Kunst. Wir sollten keinesfalls versuchen, ihr krummes Holz zu begradigen, indem wir Darstellungen an die richtigen sozialen Werte ketten. Das war Rousseaus Gedanke, den er Mitte des 18. Jahrhunderts in seinem Brief an d’Alembert über das Schauspiel darlegte, und das ist auch, was autoritäre Regime von jeher tun. Reinheit im Namen der Tugend ist zutiefst repressiv. Wir sollten die Kunst in ihrer ganzen Unreinheit verstehen wollen. Doch genauso sollten wir auch Kunst schaffen wollen, die moralisch gut ist, und zwar ohne jede Unterdrückung. Ein antiker Gott zeigt, wie das gehen könnte.
Wenn jemand als »janusköpfig« bezeichnet wird, ist damit gemeint, dass er unaufrichtig sei. Das Gesicht, das er der Welt zeigt, entspricht nicht seiner wahren Person. Die Römer sahen Janus anders. Er war ein Gott des Übergangs, des Durchgangs, der Möglichkeiten. Der erste Tag im Januar ist nach ihm benannt, weil er den Gang über eine zeitliche Schwelle markiert. In der Antike brachte man über Türen oder Toren Plaketten mit dem Januskopf an, um den Übergang von der Straße ins Innere des Hauses zu kennzeichnen.
Alle römischen Rituale begannen mit einem Gebet an Janus, und die Menschen hoffen auf eine gute Zukunft. Er war jedoch kein Gott, der für Ruhe und Sicherheit stand. Als Gott der Übergänge und Verwandlungen eröffnete er den Weg durch Zeit und Raum, ließ das Ziel aber im Unbestimmten. So hielten frühchristliche Theologen Janus im Unterschied zu Jesus für einen grausamen Gott, weil er sich weigerte, die Gebete der Menschen zu erhören und ihnen zu sagen, wie die Dinge ausgehen würden. Janus tat nur eines: Er lenkte die Aufmerksamkeit auf die neue Seite im Kalender, auf die Plakette über der Tür. Diese Unbestimmtheit hat jedoch auch ihre gute Seite.
Darstellende Kunst, im guten janusköpfigen Geiste ausgeführt, konzentriert sich auf den Prozess statt auf ein festgelegtes, fertiges Ergebnis. Darbietungen verändern sich mit der Zeit, weil es keine festgelegte Bedeutung gibt. Gute Künstler suchen stets nach Möglichkeiten, ein Werk mit neuer Frische zu erfüllen, es einen Schritt weiter zu treiben, es anders zu machen. Und ebenso fordert eine offene Darbietung die Zuschauer auf, sich an der Reise des Ausdrucks zu beteiligen, statt der Reise des Darbietenden passiv zuzuschauen. Janusköpfige Kunst ist zwar offen, aber durchaus nicht ohne Form. Mit wachsender Erfahrung lernt der Künstler die besonderen Punkte kennen, an denen Ausdruck sich verändern lässt — und wie ihm das gelingt.
Ich bilde mir nicht ein, die offene, im Zeichen des Janus stehende Ausübung der Kunst werde die Macht der manipulativen, bösartigen Darbietung auflösen. Auch bösartiger Ausdruck ist emotional überzeugend. Doch die Ausübung von Kunst kann dem entgegenwirken, indem sie ein Modell für Freiheit anbietet — eines, in dem nicht mehr der Anspruch auf Wahrheit und Richtigkeit vorherrscht und Ausdruck stattdessen zur Erkundung wird.
Ich habe noch nie der berühmten Behauptung geglaubt, dass »die Vergangenheit ein fremdes Land« sei. Wie mag es gewesen sein, als afrikanischer Krieger im 17. Jahrhundert gefangen, versklavt und nach Amerika gebracht zu werden? Natürlich können wir diese Erfahrung nicht in all ihren Einzelheiten verstehen, doch es wäre absurd, wenn wir bestreiten wollten, dass wir sie als menschliche Wesen sehr wohl nachempfinden können. Umgekehrt sind wir keine derart besonderen Wesen, dass dieser Krieger nicht in der Lage wäre, uns zu verstehen. Aus demselben Grunde wäre es schiere Arroganz, wenn man meinte, Platon, Machiavelli oder Kant hätten uns nichts Relevantes zu sagen, weil sie — Pech für sie — vor der Moderne lebten.
In meiner ganzen schriftstellerischen Arbeit habe ich nach dem gesucht, was die Menschen über Zeiten und Räume hinweg miteinander verbindet. Die Unterschiede, die es gibt, können Möglichkeiten des Lebens oder Ausdrucks offenlegen, die untergegangen oder durch Macht erstickt worden sind. Die Vergangenheit ist Kritik an der Gegenwart.
Daher die Geschichte, die ich hier erzähle. Buch I betrachtet die beunruhigende, mehrdeutige, gefährliche Macht darstellerischen Ausdrucks. Buch II untersucht die Orte, an denen Darbietungen stattfinden, und genauer noch die schrittweise Trennung der Bühnen von den Straßen. Buch III geht der Frage nach, wie der Darsteller in einem entscheidenden Augenblick der Geschichte als eigenständige Person hervortrat. Buch IV schaut auf den Zuschauer, dessen Rolle heute im Dunkeln liegt. Buch V versucht zu klären, wie die Dunkelheit sich durch würdigere Formen der Darbietung ein wenig erhellen ließe. Buch VI macht sich Gedanken über die Frage, wie Darstellung sowohl die Politik als auch das alltägliche Leben emporheben könnte.
Ich nähere mich der Darstellung und Darbietung aus einer besonderen persönlichen Perspektive als Darbietender. In meiner Jugend bereitete ich mich darauf vor, Berufsmusiker zu werden, und spielte hauptsächlich klassische Kammermusik. Dann arbeitete ich als Klangkünstler für experimentelle Tanzgruppen. Eine Handverletzung und ein fehlgeschlagener chirurgischer Eingriff setzten meinem Cellospiel ein Ende, und auch in der Klangkunst verlor ich den Mut. So vollzog ich denn eine große Wende und fand eine Nische als Autor von Schriften über die Gesellschaft, vor allem über Arbeit in Städten und die Gestaltung öffentlicher Räume. Auch in diesem neuen Leben schlug ich mir das alte nicht vollkommen aus dem Sinn.
Zweimal habe ich versucht, die Beziehung zwischen Kunst und Gesellschaft auf soziologischer Ebene zu untersuchen — zunächst 1977 in Verfall und Ende des öffentlichen Lebens und dann, vierzehn Jahre später, in Civitas. Die Großstadt und die Kultur des Unterschieds. Welchen akademischen Wert diese Bücher auch haben mögen, sie wurden jedenfalls nicht aus der Perspektive des Künstlers geschrieben. Als Musiker weiß ich von jeher, dass eine große Gefahr besteht, darstellende Kunst oder Musik auf eine simple Manifestation, eine Abbildung der Gesellschaft zu reduzieren. Die ethischen Probleme des Darstellens und Aufführens liegen jedoch tiefer, und zwar innerhalb der Kunst.
»Darstellung« und »Aufführung« decken ein breites Spektrum an Darbietungen ab. Ich wollte, meine Erfahrungen mit der Kunstausübung wären umfassender. Jenseits westlicher klassischer Musik bin ich ein musikalischer Laie. Ich habe jedoch versucht, aus diesem Mangel eine Tugend zu machen und der Frage nachzugehen, wie hohe Kunst Bedeutung für das alltägliche Leben erlangen könnte. Aus Gründen meiner persönlichen Biographie, von denen noch die Rede sein wird, habe ich nur wenig Erfahrung mit der Schauspielerei, eine weitere Einschränkung, der ich zu begegnen versuche, indem ich mich auf jene körperlichen Aspekte des Theaters konzentriere, die Darbietende im Bereich der Musik und des Tanzes gemeinsam haben, weil sie auf der Bühne nicht sprechen.
Falls ich lange genug lebe, möchte ich drei Essays über die Präsenz der Kunst in der Gesellschaft schreiben: diesen hier über Darbietung, einen weiteren über Erzählen und einen dritten über Abbilden. In meinen Augen decken diese drei Aspekte das gesamte Ausdrucksspektrum des Menschen ab; sie bilden unsere Ausdrucks-DNA. Natürlich gibt es hier Unterschiede. Eine Geschichte zu lesen, ist nicht dasselbe, wie eine dramatisierte Fassung auf der Bühne oder auch im Film zu sehen. Dennoch ist die ethische Verbindung stärker als das Medium: Alle drei können sowohl schaden als auch inspirieren.
Ich sollte kurz erläutern, warum ich oben gesagt habe: »Falls ich lange genug lebe.« Ich bin jetzt fast achtzig. Der Sensenmann könnte mich jederzeit holen. Deshalb schreibe ich die drei Essays als eigenständige Texte und hoffe das Beste.
Gewöhnlich rät man jungen Autoren, über Dinge zu schreiben, die sie kennen. Das ist ein schlechter Rat. Wer jung ist, sollte seiner Fantasie freien Lauf lassen. Für ältere Autoren ist der Rat dagegen gut. Für sie ist es höchste Zeit, vor sich selbst Rechenschaft über ihr Leben abzulegen. Erinnern kann indessen auch gefährlich sein. Still in einem Café sitzend, eine verbotene Zigarette in der Hand — mit achtzig ist einem Vergnügen mit Recht wichtiger als Gesundheit —, verliert man sich leicht in seinen Träumereien. Solche Erinnerungen können für andere durchaus langweilig oder irrelevant sein. Man sollte sich fragen, ob, wie und warum etwas, das man erlebt hat, auch für andere Menschen mit einem ganz anderen Leben bedeutsam sein könnte. Beim Erinnern sollte man Disziplin üben.
Zwischen Kunst und Stadt besteht eine besondere Affinität. »Die Kunst ist eine Folge der Übervölkerung«, erklärte einmal der Literaturkritiker William Empson und meinte damit, dass dicht besiedelte Orte Menschen stimulieren, die dort durch Vergleich und Konkurrenz neue Möglichkeiten erkennen, wie man etwas tun könnte. Solch eine kreative Stimulierung kann nicht entstehen, wenn die »Kreativen« isoliert werden oder unter sich bleiben — in einem Dorf oder einem Campus gleichgesinnter Menschen.
Ville und cité sind französische Ausdrücke für zwei Aspekte urbanen Lebens. Ville ist der physische Aspekt auf der Landkarte, die Gebäude und Räume; cité besteht aus den Verhaltensweisen und Vorstellungen der Menschen, die in dieser physischen Umgebung leben. Beides passt nicht immer nahtlos zusammen. So bewohnen die Menschen verschiedener Kulturen bestimmte Haustypen auf unterschiedliche Weise. Umgekehrt kann ein gutes Design eine Herausforderung für selbstverständlich erscheinende Lebensweisen darstellen. Städte funktionieren weitgehend deshalb nicht wie gut geölte Maschinen, weil es Reibung zwischen ville und cité gibt. Wenden wir diese Unterscheidung auf die darstellenden Künste an, ist die Bühne eine physische Baulichkeit, die Straße eine physische Aneinanderreihung von Räumen in deren Umfeld. Die materielle ville des Darstellens besteht auch aus Kostümen, Masken und Schminke, gemalten Landschaften, Bühnenbeleuchtung, der Technik in Aufnahmestudios. Die cité der Kunst besteht dagegen aus den Bedeutungen eines Textes, den Bemühungen der Darbietenden, ihn zu interpretieren, sowie den Bedürfnissen, Wünschen und Bedeutungen, die ein Publikum an die Darbietung heranträgt. Auch hier gibt es eine Spannung zwischen der ville der Kunst und ihrer cité, zwischen ihrer Materialität und ihren Bedeutungen. Diese Spannung prägt die Erfahrung einer Darbietung, erzeugt ihre Ecken und Kanten, ihre Komplexität.
Ich sollte freimütig bekennen, dass ich nicht versucht habe, dieses Buch in den Rahmen des boomenden akademischen Feldes der »Performance Studies« zu stellen. Ich wollte selbst über diese Dinge nachdenken. Was zweifellos zur Folge hat, dass ich hier das akademische Äquivalent zur erneuten Erfindung des Rades unternommen habe. Dennoch hoffe ich, das Interesse der Leser zu finden, die wahrscheinlich ebenfalls keine akademischen Fachleute sind.
Besonderen Dank schulde ich Patrick O’Conner, dessen Leidenschaft für Varietés, verwelkte südamerikanische Diven und die chanteuse Josephine Baker Vergnügungen eröffnete, die von der Juiliard School of Music nicht berücksichtigt wurden. Dem Musiker Richard Gode und der Musikerin Marcia Gode verdanke ich Jahrzehnte gleichermaßen leidenschaftlich geführter Diskussionen über Kochen und die Bedeutung von Kunst. Dankbar bin auch Ian Bostridge, der mir ein Beispiel gab, wie man zwanglos und ausdrucksstark über Musik schreibt. Vor allem aber möchte ich dem Pianisten und Dichter Alfred Brendel danken, mit dem ich seit fünfzig Jahren befreundet bin.
Zwei Menschen öffneten mich für Darbietungen außerhalb meiner Komfortzone. In den neunzehnhundertsiebziger Jahren schleppte Robert Gottlieb mich mit zum New York City Ballet, damals die grandioseste Tanztruppe der Welt, die er im Unterschied zu mir kannte. John Guare nahm mich mit zu Theateraufführungen, die aus eigenem Antrieb zu besuchen ich damals zu snobistisch und engstirnig war.
Dieser Band knüpft an Bücher über die Darbietung von Musik an, die von befreundeten, Bücher schreibenden Musikern und Musikerinnen stammen: George Lewis, Georgina Born und Alex Ross. Dankbar bin ich auch für die Erkenntnisse von Menschen, mit denen ich nicht bekannt bin, insbesondere dem Soziologen Jeffrey Alexander, dem Musikwissenschaftler Richard Taruskin und der Philosophin Judith Butler.
Gelernt habe ich auch aus dem Meinungsaustausch mit mehreren jüngeren Freundinnen und Freunden: John Bingham-Hall und Gascia Ouzounian, mit denen ich im Theatrum-Mundi-Projekt zusammenarbeite; der Tänzerin Adesola Akinleye, die mir den Mut gab, selbst wieder aufzutreten, wenn auch schlecht; Daniel Jütte, der so gelehrt und ein so sorgfältiger Leser ist. In dieser Reihe junger Leute ist der persönlich für mich bedeutsamste Andrew Barratt, der diesen Essay argwöhnisch Wort für Wort gelesen und meine Aufmerksamkeit vor allem auf aktuelles statt früheres Geschehen gelenkt hat.
Schließlich möchte ich meinem anspruchsvollen, aber freundlichen Lektor Stuart Proffitt und meiner zugleich als psychiatrische Betreuerin fungierenden Agentin Cullen Stanley danken. Die Lektorin Bela Cunha verbesserte, was als chaotischer und schlecht organisierter Text auf ihren Tisch kam.
Dieses Buch wurde durch einen Zuschuss der Leverhulme Foundation gefördert.
Ich bin zu jung, um drei Spannungen zwischen Kunst und Leben zu verstehen
Im Frühsommer 1963 besuchen die Kusine meines Vaters Sylvia und ich das Thalia-Filmtheater in New York. Sie lebt gleich doppelt im Exil. Als junge Frau floh sie während der stalinistischen Säuberungen 1936 aus Odessa nach München und dann während Hitlers Säuberungen 1938 aus München nach New York. Jetzt, in ihren mittleren Jahren, verdient sie ihren Lebensunterhalt als Puppenspielerin in New York und springt gelegentlich als Ersatzspielerin für Ollie (einen Drachen) in der TV-Show Kukla, Fran and Ollie ein. Häufiger tritt sie allerdings bei Puppentheatervorstellungen in Schulen auf, wo ihr immer noch massiver ausländischer Akzent offenbar der Prüfung durch die Kinder standhält.
Das Thalia war ein Programmkino, das sich auf ausländische Filme ohne größeren kommerziellen Wert spezialisiert hatte. In den neunzehnhundertsechziger Jahren entstanden solche umsatzschwachen Kleinunternehmungen überall in der Stadt in Vierteln, in denen viele Künstler, Ausländer und Studenten zusammenkamen. An der 95th Street Ecke Broadway lag das Thalia mitten in dieser polyglotten Community in der Upper West Side Manhattans. Es befand sich im Untergeschoss eines Gebäudes, unterhalb eines populäreren Filmtheaters. Der Kinosaal war ein seltsamer Raum, geformt wie ein Schiff, dessen Bug von einer Woge angehoben wurde, sodass die Sitze tiefer lagen als die Leinwand. Da oft mehrere Filme eines Regisseurs nacheinander gespielt wurden, verbrachten kinobegeisterte Stammkunden dort häufig viele Stunden am Stück, und so roch dieses schlecht belüftete Kunstschiff stark nach Schweiß.
Auf Anregung Sylvias besuchten wir eine Retrospektive von Leni-Riefenstahl-Filmen, die sie sehr aufmerksam, aber still anschaute. Obwohl sie so redselig und ausgelassen war, wenn ihre Hand in einer Puppe steckte, und sichtlich Spaß daran hatte, ließ sie sich abseits der Bühne meist nur zu kurzen, rätselhaften Bemerkungen hinreißen, falls sie überhaupt redete — vielleicht wegen ihres holprigen Englischs oder wegen ihrer Erinnerungen.
Riefenstahls Triumph des Willens, der Hitlers Besuch in Nürnberg 1934 feiert, verbindet wortlos Kunst und Leben. Der Soundtrack ist brillant konstruiert. In der Eröffnungssequenz hören wir das Motorengeräusch eines Flugzeugs und sehen dabei nur Himmel. Der Führer ist in den Wolken verborgen, aber das Geräusch sagt uns, dass er da ist und gleich aus den Wolken in die Stadt herabsteigen wird. Der chaotische Lärm des Straßenverkehrs signalisiert das übliche städtische Gewirr der Aktivitäten und Menschen unten am Boden. Das Horst-Wessel-Lied ist zu hören, allerdings gedämpft vom Brummen der Propeller. Dann Stille. Bald taucht seine Wagenkolonne auf. Er kommt. Nun sind organisierte Heil-Hitler-Rufe zu hören. Riefenstahl filmt den Einzug in Zeitlupe als ein Geschehen, das sich schrittweise entfaltet. Als der Führer zum Podium hinaufsteigt, wird alles schneller. Seine Rede gleicht einer plötzlichen Explosion, die wachrüttelt und beschleunigt.
Mit solchen nichtsprachlichen Mitteln lässt Riefenstahl sein Charisma lebendig werden. Tatsächlich hat der Film seine schwächsten Augenblicke, wenn Hitler tatsächlich spricht und Klischees hinausspuckt, die das Publikum inzwischen fast auswendig kennt. Riefenstahl kompensiert das, indem sie sich auf seinen Gesichtsausdruck, die Gebärden seiner Arme, seine Bewegung auf dem Podium konzentriert. Sie lässt den Zugriff des Demagogen auf die Menschen körperlich spürbar werden.
Diese wortlose Macht ist keineswegs grobschlächtig. So setzt der Film auf raffinierte Weise Wagners Meistersinger ein. In Beckmesser schuf der Komponist eine archetypische Figur des durchtriebenen Juden. In der 6. Szene des 2. Akts wird Beckmessers Macht in einer der verästeltsten und spannungsvollsten Passagen, die Wagner jemals komponiert hat, auf die Probe gestellt und schließlich besiegt. Der in der 5. Szene des 3. Akts folgende Choral »Wach auf« ist dagegen friedvoll, und viele der unaufgelösten Harmonien werden unvermittelt geglättet. Triumph des Willens eignet sich Wagners Choral an und bringt ihn als Begleitmusik zum friedvollen Erwachen Nürnbergs am Morgen nach Hitlers Besuch. Ein erhabener Augenblick aus der Oper markiert Hitlers Macht über eine Stadt — überzeugend selbst für mich als Juden.
Wir bleiben und schauen uns auch den nächsten Film des Festivals an, Olympia, der von den Olympischen Spielen 1936 in Berlin handelt und den ich erst kürzlich wieder gesehen habe — noch stärker ergriffen von Riefenstahls Kunst. Hier zeigt sie Schwimmer, die »ins Reine tauchen«, wie Rupert Brooke einige Jahre davor ganz unschuldig über das Schwimmen geschrieben hatte. In zahllosen Wiederholungen, wobei sie den Wechsel von Jubel und Stille unablässig repetiert (es gibt Schnitte dieses Films, in denen bei jedem Sprung vom Brett der Ton wegbleibt, als hielten wir den Atem an), wird die Nacktheit der Springer zum Symbol für den idealisierten arischen Körper.
Nackte Körper dienen seit der Antike politischen Zwecken und stehen für tugendhafte Stärke. Bei den Nazis symbolisierte Nacktheit einen reinen Körper wie etwa bei den nackten Torsos des Nazi-Bildhauers Arno Breker. Die Logik des Rassenhasses und der Verachtung folgt aus diesem Bild des idealen arischen Körpers. Der jüdische Körper ist dagegen angeblich durch herabhängendes Fleisch und starke Körperbehaarung gekennzeichnet. Brekers Statuen sind allerdings Schund, und tatsächlich ist politische Kunst größtenteils nur Klischee, wobei die Botschaft wie mit dem Vorschlaghammer eingebläut wird. Grobschlächtigkeit macht die Botschaft zugänglich. Riefenstahls Kunst ist alles andere als grobschlächtig. Bei ihr wird große Kunst in den Dienst des Staates gestellt.
Wortlose große Kunst erklärt natürlich nicht die Politik. Die Filmemacherin beutete Verwundungen und Verwirrungen ihres Publikums aus, deren Wurzeln anderswo lagen: im verlorenen Krieg, in der großen Inflation der neunzehnhundertzwanziger Jahre, der endemischen staatlichen Korruption … Das Theater formte diese Ereignisse jedoch um, sodass der Faschismus die Öffentlichkeit auf eine Weise in den Bann zog, der man nicht leicht etwas entgegensetzen konnte, weil sie über Worte hinausging. Die Traumata verwandelten sich in Erlebnisse, die keine Diskussion zuließen.
Sylvia verlor nie das angstvolle Gefühl, sie sollte immer einen Koffer gepackt haben für den Fall, dass sie überstürzt abreisen musste. Dennoch sah sie sich im Thalia die Macht einer Kollegin aus einer anderen Sparte der darstellenden Kunst an. Sie saß gespannt vorgebeugt da und war von Riefenstahl in Bann geschlagen. Ich hätte diese unheilvolle Verzauberung mit Sylvia diskutieren müssen, aber ich tat es nicht. Wenn wir jung sind, meiden wir instinktiv Themen, die wir nicht verstehen können, und die Jugend ist kein Lebensalter, in dem man etwas von unauslöschlichem, unwiderruflichem Verlust hören möchte.
Ich war stattdessen mit einem persönlichen Problem beschäftigt, von dem ich fälscherweise annahm, dass es ein ganz anderes sei.
Ich ging 1963 nach New York, um meine musikalischen Fähigkeiten zu verbessern. Zwei Jahre zuvor hatte ich mich dank eines Stipendiums an der University of Chicago eingeschrieben. Ich hielt damals die Universität für eine Art Hotel, in dem nach dem Frühstück Vorlesungen serviert wurden, doch die akademische Arbeit war weitaus anspruchsvoller, als mein siebzehnjähriges Ich es sich vorgestellt hatte — erst recht an der University of Chicago, damals eine Bastion intellektueller Strenge. Auch begann ich mit einem Quartett etwas älterer Musiker Konzerte zu geben, und es fiel mir schwer, diese Reisen mit dem Vorlesungsplan in Einklang zu bringen. Frank Miller, mein Mentor beim Chicago Symphony Orchestra, riet mir, nach New York zu gehen und mich dort an der Juilliard School vollständig dem Musikstudium zu widmen.
Das Konservatorium befand sich damals am westlichen Rand von Harlem. Karosseriebauwerkstätten, Parkplatzgelände und Lagerhallen säumten die Straßen, die meist menschenleer waren. Doch das Gebäude der Juilliard School, eine massive Festung aus Ziegel und Stein, umgab die Musiker und Tänzer mit ihren sicheren Mauern, als drohte ihnen draußen Gefahr. Die Bezeichnung »Musikkonservatorium« war damals in der Tat sehr treffend. Diese Einrichtungen glichen Gewächshäusern, in denen Gärtner-Maestros musikalische Pflänzchen aufzogen, beschnitten und aussortierten. Nur sehr wenige Farbige und nicht viele Frauen studierten damals an der Juilliard School. Und ganz gewiss hatte das Konservatorium nichts mit der »Gegenkultur« zu tun. Ich bezweifle sehr, dass unsere Lehrer den Geruch von Pot hätten erkennen können, der im Übrigen auch niemals durch diese Hallen zog. Das Konservatorium verkörperte kulturelle Orthodoxie, ganz wie wir selbst: Kids mit großer Selbstdisziplin, die vier bis sechs Stunden am Tag übten und den Gärtnern meist gehorchten.
Diese Isolation ließ einen Augenblick nach, als im späten Frühjahr 1963 eine Bürgerrechtsdemonstration auf dem Broadway einige Leute aus dem Gebäude lockte, die zusehen und zuhören wollten. Die Demonstranten hatten eine New-Orleans-Bluesband angeheuert, doch obwohl viele Studenten der Juilliard School den politischen Vorstellungen der Demonstranten mit Sympathie begegneten, wäre es Cellisten, Harfenisten oder Kesselpaukenspielern schon rein physisch schwergefallen, sich den marschierenden Musikern anzuschließen. Nur wenige Musiker in der Festung kannten die Melodien, und die korrekte Phrasierung der Anfangstakte in Schuberts Celloquintett schien keine Erkenntnisse zum Kampf für Rassengerechtigkeit zu bieten.
Einmal abgesehen von der Politik, löste die Atmosphäre im Treibhaus der Juilliard School bei recht vielen Studenten die Befürchtung aus, die klassische Musik gleiche — um hier das Bild zu wechseln — einem Kunstmuseum und der Musiker sei gewissermaßen ein Konservator, der ein Stück von Schubert bei seiner Darbietung renoviere und auffrische — ganz wie Gemälde im Museum gereinigt und restauriert werden. In der Angst, für unsere eigene Zeit irrelevant zu werden, spiegelte sich zum Teil auch der Bedeutungszuwachs, den die populäre Kunst in den neunzehnhundertsechziger Jahren gegenüber der klassischen Kunst erlebte. Bob Dylan war ein unendlich aufregenderer Musiker als der akademische, heute zu Recht vergessene Komponist Easley Blackwood. Wir hatten Angst, als Ästheten angesehen zu werden — doch unsere Lehrer hatten eine ganz andere Erfahrung des Abgeschnittenseins hinter sich.
Die meisten Musiker, die an der Juilliard oder der Mannes School of Music studierten, lebten in großen Wohnungen in der Upper West Side, die von Familien in Richtung der Suburbs verlassen worden waren. Die Wohnhäuser waren und sind für Musiker deshalb besonders attraktiv, weil sie mit ihren massiven Betondecken und dicken Wänden die Möglichkeit boten, noch spätabends zu üben, ohne allzu große Proteste bei den Nachbarn auszulösen. Auch viele unserer Lehrer lebten in solchen Wohnungen. Darin fand man mit einiger Sicherheit Gegenstände wie einen Aschenbecher aus einem Café in München, von wo die Nazis den Wohnungsinhaber einst vertrieben hatten, oder eine hochgeschätzte frühe Ausgabe von Novalis-Gedichten, die gerade noch Platz im Gepäck der Fliehenden gefunden hatte.
Sylvias Vater landete nach der Flucht aus Europa schließlich in Chicago, wo er jede Nacht, statt zu schlafen, seine Foltererlebnisse neu durchlebte. Die ins Exil getriebenen Musiker waren zwar verzweifelt, aber nicht zerstört. Die Kunst hielt sie am Leben. Kunst um ihrer selbst willen auszuüben, ist ein in heutigen Kunstschulen aus der Mode gekommener Gedanke. Er lässt offensichtlich an Ästheten und Connaisseure oder Connaisseusen denken, die in getäfelten Bibliotheken genussvoll kostbare Zeichnungen betrachten. Solche Hochnäsigkeit ist — in der Sprache der »cultural studies« eine Folge ihrer »privilegierten Stellung«. Unsere verfolgten Lehrer und Lehrerinnen dagegen bewahrte der Glaube an die Kunst um ihrer selbst willen davor, wahnsinnig zu werden. Dabei ging es nicht nur um die Bewahrung der Musik jüdischer Komponisten wie Mendelssohn und Mahler, sondern um das breite Spektrum humanistischen Ausdrucks in der von den Nazis unterdrückten Literatur, Malerei und Theaterkunst. »Konservatorium« bedeutete für diese Exilanten »bewahren«, und das Wort »Ästhet« verwies auf den Glauben an die Kunst, der ihnen Kraft verlieh.
Wie ich in diesem Jahr erfahren sollte, verlieh um ihrer selbst willen ausgeübte Kunst auch Künstlern in Harlem Kraft, für die »Exil« eher soziale als politische Vertreibung bedeutete.
Im Ferment des Bürgerrechtskampfes machte die Juilliard School eine Geste in Richtung ihrer Umgebung und öffnete einen ihrer Übungsräume für die Nutzung durch die Allgemeinheit. Musiker aus Harlem machten von diesen Möglichkeiten Gebrauch, weil es in dem Übungsraum ein gutes Drumset gab — ein teures und erstaunlich empfindliches Instrument. Daraus ergab sich eine Art Verbrüderung, die etwas von einem Kaffeekränzchen hatte. Wie sich zeigte, bestand bei den Demonstranten eine gewisse Ambivalenz in der Frage, ob man New-Orleans-Musik spielen sollte, um eine größere Menschenmenge anzulocken. »Sambo Music« sagten sie und betrachteten den eingängigen New-Orleans-Jazz als eine kommerzialisierte und kolonisierte Musik für Touristen. Die künstlerische Leidenschaft der marschierenden Musiker galt dem »Second-stage Bebop«, einer komplexen, innovativen Musik.
Wie diese Musik klingt, können Sie in einem Album mit dem Titel Free Jazz: A Collective Improvisation hören, das Ornette Coleman 1960 aufnahm. Dort sind zwei Quartette aus Instrumenten zu hören, die stereophon getrennt sind, sodass sie sowohl gegeneinander als auch miteinander spielen. Die Rhythmen sind komplexe Kombinationen wie ein 5/8-Takt mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten in den beiden Quartetten. Das melodische Material ist sparsamer als im barocken First-stage-Bebop Charlie Parkers, der eine Generation vor Coleman arbeitete. Harmonische Dissonanzen werden nun ausgeschrieben, auch wenn man hier von Free Jazz spricht, um zu verdeutlichen, dass Führungsstimmen (die Stimme, die zu einer auflösenden Harmonie zu führen scheint) in der Schwebe bleiben. Free Jazz dauert lange, hat jedoch keinen Anfang, keine Mitte und keinen Schluss. Er ist reiner Prozess.1
Ein paar Freunde und ich besuchten einen Jazz-Club in der 125th Street, um dort Free Jazz zu hören. Die Musiker waren nicht in Colemans Kurs, aber sie waren wirklich gut und keineswegs meilenweit entfernt von Stücken, die uns begeisterten wie Le Marteau sans maître von Pierre Boulez. Überraschend war ihr Verhältnis zur Harlem-Community.
Große Jazz-Clubs an der 125th Street wie das Apollo waren auf Touristen, hauptsächlich französische, eingestellt, die mit Begeisterung — in Bussen, nicht zu Fuß — von downtown bis hinauf zu le ghetto uptown gefahren wurden. Die in diesen Clubs gespielte Musik im le hot jazz-Stil war eingängiger Big-Band-Swing, der für den internationalen Konsum aufgezeichnet und vertrieben wurde. Die Musiker, die wir dort hörten, spielten dagegen in einem schäbigen, nur spärlich mit Zuschauern besetzten Raum. Sie standen oder saßen an einer Wand, und statt einer erhobenen Bühne trennte sie ein freigelassener Streifen vom Publikum. Die Musik war zwar kompliziert, machte aber keinen großen Eindruck irgendwelcher Art auf die Zuhörer, bei denen es sich nicht um französische Touristen, sondern eher um Einheimische handelte. Sie benutzten das Lokal als Social Club, redeten, rauchten und tranken, und die Musik bildete nur den Hintergrund dazu.
Damals sah ich keinerlei Verbindung zwischen den Post-Bebop-Musikern und unseren mitteleuropäischen Lehrern. Heute erkenne ich, dass die Jazz-Musiker eine Trennung zwischen Kunst und Gesellschaft erlebten, die zugleich anders und doch auch wieder nicht anders war als bei den klassischen Musikern.
Anders vielleicht deshalb, weil die Post-Bebop-Musiker unter Gleichgültigkeit zu leiden hatten statt unter Verfolgung wie die ins Exil getriebenen Lehrer. Die Jazz-Musiker waren bereit, um der Sache willen »Sambo Music« zu spielen, doch ihre eigene Kunst bedeutete ihrer Community nicht viel. Alle Mitglieder des Quartetts waren in Harlem geboren — ihre Eltern stammten aus dem tiefen Süden — und kannten dort jeden Winkel, wie man es nur tut, wenn man schon als Kind in diesem Stadtteil aufgewachsen ist. Als Künstler jedoch litten sie unter einer Art inneren Exils. Die Besitzer des Clubs entließen sie schließlich, weil sie keine »zugängliche« Musik spielten.
Die Rettungsleine zur Juilliard School riss wenig später, als unser Konservatorium aus Harlem wegzog und Teil der Art Factory im Lincoln Center for the Performing Arts sechs Kilometer weiter downtown wurde. Die Musiker aber blieben, wie ich entdeckte, als ich den Bassisten mehrere Jahre später zufällig im Patelson’s traf, einem Musikalienladen hinter der Carnegie Hall, der allen New Yorker Musikern als Treffpunkt diente, bis man das Gebäude abriss, um Platz für Luxuswohnungen zu schaffen. Wie die Sängerin Alberta Hunter arbeitete Carl inzwischen in einem Krankenhaus. Sie verbrachte Jahrzehnte als Krankenschwester, er als Pförtner. Wie sie machte auch er in seiner Freizeit weiterhin Musik.
Es ist allzu leicht, das verkannte Genie zu romantisieren. Weder die Exilanten noch die ins innere Exil Getriebenen wären glücklich, wenn man sie schlichtweg als Opfer betrachtete. Carl und Alberta Hunter führten ein ruhiges Leben, wie die meisten unserer Lehrer, die keine Stars waren, aber durchhielten, weil sie aus der Ausübung ihrer Kunst Sinn und ein gewisses Selbstwertgefühl bezogen. Ich habe mich schon oft gefragt, was genau sie nun durchhalten ließ, denn darstellende Künstler benötigen ein Publikum und insbesondere den direkten Kontakt zu ihm. Wir können unmöglich in Isolation arbeiten, wie das Schriftstellern vielleicht möglich ist.
Das innere Durchhaltevermögen ist mir vor allem deshalb ein Rätsel, weil die Kulturszene Ästheten wie Carl immer weniger Raum bietet. In den letzten fünfzig Jahren ist die Zahl der »Kleinkonzerte« in New York ständig zurückgegangen. Das Publikum möchte wissen, wer spielt, und eher selten, was gespielt wird. Wenn die Leute den Namen nicht kennen, gehen sie nicht hin. Die Ökonomie der Darbietungen vereinigt sich hier in allgemeinerer Weise mit einem Kult der Person, wie er durch Facebook und andere Formen der Online-Selbstdarstellung verkörpert wird. Damals sah ich nur, dass Carl wie meine Lehrer an der Juilliard School irgendwie aus ihren Darbietungen Kraft bezogen — obwohl kaum Nachfrage nach ihrer Kunst bestand.
Ab Herbst 1963 unternahm ich Ausflüge downtown in die florierende Tanz- und Experimentalmusik-Szene in der Judson Memorial Church am Washington Square mitten in Greenwich Village. Die dortigen Choreografen wollten nach urbanen Klängen tanzen. Im Herbst wurde ich gebeten, für drei Monate ein schwangeres Mitglied der Gruppe bei der Aufzeichnung solcher Geräusche zu vertreten. Wir nahmen heulende Sirenen, Hupkonzerte bei Verkehrsstaus, das Geräusch von Regen, das Summen einer Trafostation auf. Uptown war ich ein ziemlich arroganter Pinsel gewesen; downtown folgte ich den Anweisungen der Choreografen und verbrachte die meiste Zeit mit dem Zerschneiden und Zusammenkleben von Tonbändern.
Die Erinnerung an diese Bemühungen stellt keine sonderlichen Anforderungen an die verfluchte Brüchigkeit meines Gedächtnisses, denn die Szene downtown ist inzwischen aus der Dunkelheit, in der wir damals agierten, zu einem ikonenhaften, kuratierten und archivierten Status aufgestiegen und wird in offiziellen Einrichtungen wie dem Museum of Modern Art in New York gefeiert. Doch obwohl das Museum diese Szene als Wahrzeichen der Avantgarde präsentiert, ist doch etwas verlorengegangen: unsere häufige Frustration bei dem Versuch, die Kluft zwischen hoher Kunst und Alltagsleben zu überbrücken.
Washington Square hatte das richtige urbane Zeug zum Bohème-Mythos. Um den Brunnen in der Mitte des Platzes lagerten junge Leute mit Gitarren; Alkohol- und Drogenabhängige schliefen auf den Bänken an der nördlichen, schattigen Seite des vier Hektar großen Parks; ältere Menschen bevorzugten dagegen die sonnenbeschienenen Bänke der Westseite, wo sie von morgens bis abends miteinander schwatzten. Die Szene war eine ständige Einladung an Touristen, die auch angenommen wurde — wiederum von Franzosen, die möglicherweise in denselben Bussen dort eintrafen, mit denen man sie zu le hot jazz in der 125th Street gefahren hatte.
Auf der Südseite befand sich die Judson Church, eine architektonische Kopie der Kleinstadtkirchen, aus denen die meisten ihrer italienischen Pfarrgemeindemitglieder kamen, nur dass dies keine katholische Kirche war. Als Howard Moody, eine führende Stimme in der Bürgerrechtsbewegung, dort 1957 das Amt des Pastors antrat, wurde die Kirche zu einem absolut nicht konfessionsgebundenen Ort. Judsons Engagement für die Kunst begann fünf Jahre später, als Al Carmines hinzukam, ein Geistlicher mit einer furchterregenden Bildung, der zugleich Komponist und Lyriker war. Von 1962 bis 1964 probte das Judson Dance Theater in den für die Jugendgruppe der Gemeinde bestimmten Räumen, trat im Untergeschoss der Kirche auf und verlegte ihre Vorstellungen gelegentlich auch nach draußen in den Bereich um den Brunnen auf dem Washington Square.
Die Choreografen zielten dabei eher auf die älteren Parkbankbenutzer als auf die Gitarre spielenden Kids oder die Drogensüchtigen auf dem Platz. Die Italiener und Polen, weiß und eher älter, gehörten erkennbar zur Arbeiterklasse und daher zum »Volk«. Moody, der bei ihnen sehr beliebt war, versicherte der Gemeinde, unsere ganze Arbeit gelte dem »Dienst« an der Kirche. Dabei half ihm die Tatsache, dass wir erkennbar hart arbeiteten und uns nicht pseudokünstlerisch kleideten, im Unterschied zu den Kids im Park mit ihren Batikhemden und durchsichtigen Blusen im Stil der »befreiten Jugend«. Carmines drängte die Tänzerinnen und Tänzer, sich als politische Akteure zu begreifen: Ihr tanzt an denselben Orten, an denen Moody Protestaktionen gegen Rassenungerechtigkeit organisiert. Hier geht es um ein und dasselbe Projekt.
Hohe Kunst und alltägliches Leben waren allerdings auf zweierlei Art voneinander getrennt: physisch und spirituell. So versuchten die Tänzerinnen und Tänzer, eine physische Verbindung herzustellen, indem sie ausbildungsferne natürliche Bewegungen wie Gehen oder Trippeln in ihren Tanz aufnahmen. Yvonne Rainer nutzte bei der Ausbildung der Älteren Schrittfolgen, die sich in kurzer Zeit erlernen ließen. Sie mochte die Art von Broadway-Theater nicht, in der Stars ein in Bewunderung erstarrtes, unterwürfiges Publikum hypnotisierten. Auf Yvonnes Anregung versuchte Trisha Brown, einen, wie sie es nannte, »demokratischen Tanz« zu schaffen. Sie erarbeitete eine Technik, bei der der Körper in seiner Bewegung den Weg des geringsten Widerstands nimmt, indem er auf frappierend schwierige Sprungsequenzen verzichtet, sich langsam statt mit wirbelnder Geschwindigkeit dreht oder realistisch fällt, statt anmutig niederzusinken.
Das Bemühen, hohe Kunst und alltägliche Bewegung miteinander zu mischen, war keine Besonderheit der Tänzerinnen und Tänzer im Judson-Ensemble oder auch des Tanzes überhaupt. In der Musik reicht die Mischung des Hohen mit dem Alltäglichen zurück bis zu den Ursprüngen der Kunst. Die politische Form dieser Verbindung ist allerdings ein modernes Phänomen. So sammelte Béla Bartók Volksmusik aus Ungarn und Rumänien, zeichnete sie auf und baute sie in seine eigenen Kompositionen ein. 1904 schrieb er an seine Frau: »Noch ein weiterer, ganz anderer Faktor macht die zeitgenössische Musik (die des XX. Jahrhunderts) realistisch: dass sie nach Impressionen von der großen Realität der uns umgebenden Volkskunst sucht, die alles umfasst.«2 Diesen »Realismus« im Klang verstand er als politischen Tadel: Die Klänge gewöhnlicher Menschen seien »gesund«, wie er an anderer Stelle anmerkte — eine Zurückweisung der dekadenten, sich um sich selbst drehenden, bourgeoisen Musik, die seines Erachtens aus Wien kam.
Die Tänzerinnen und Tänzer des Judson-Ensembles machten deutlich, wie schwierig es ist, die politische Form der Verbindung zwischen hoher und populärer Kunst zu verwirklichen. Trisha Brown war zwar eine Verfechterin des »demokratischen Tanzes« und glaubte, dass selbst die alten Leute im Park die zugehörigen Bewegungen ausführen könnten, doch sie machte diese Verbindung gleichzeitig unmöglich. Sie nutzte die Stadt als Bühne und platzierte auf den Dächern separater Wohnhäuser Tänzer, die einen gemeinsamen Tanz aufführten, indem sie einander gleichsam körperliche Rauchsignale quer über die Dächer zusendeten: Wenn ich mich nach vorn beuge, beugst du dich nach hinten. Diese Tanzbewegungen waren weit entfernt von der Art, wie Handwerker dort oben hantieren oder Mieter ihre gymnastischen Übungen vollführen mochten. Gelegentlich wurden die Tanzfiguren auch am Rande des Dachs ausgeführt, sodass hier nur geschickte Tänzer in Frage kamen, wenn ein Schwindelanfall nicht zur Katastrophe führen sollte. So verwandelten sich denn auch Browns ursprüngliche Bemühungen, Bewegungen zu schaffen, die jeder Mensch ausführen konnte, in Experimente, bei denen selbst professionell ausgebildete Tänzer und Tänzerinnen sich verrenken mussten. Zum Beispiel stattete sie Tänzer mit Gurten aus, sodass sie an Mauern hinaufgehen und tanzen konnten, von der Schwerkraft befreit, aber auch ohne die Sicherheit festen Bodens unter ihren Füßen. Statt alltägliche Bewegung zum Ausdruck zu bringen, erkundete dieses Experiment, wie weit sie sich untergraben ließ. Ihr Problem bei der Herstellung einer Beziehung zum Publikum lag im abenteuerlustigen Charakter ihrer Kunst. Und dort liegt es heute noch.
Im Jahr 2020 ließ mich eine Veranstaltung erneut über das vertrackte Verhältnis zwischen inklusiver Kunst und künstlerischer Innovation nachdenken. Ich hatte das Privileg, einer Jury anzugehören, die dem kenianischen Schriftsteller Ngũgĩ wa Thiong’o einen Preis für sein Lebenswerk zusprach, den Premio Internacional Cataluña, der jährlich von der Regierung von Katalonien vergeben wird. Er hatte 1977 ein Theater gegründet, das die Barrieren zwischen Darstellern und Publikum niederreißen, die Bühne durch in Kikuyu geschriebene Stücke »entmystifizieren« und eine direktere Verbindung zum kenianischen Publikum herstellen sollte, als in Englisch geschriebene Stücke dies taten. Als man mir das Textbuch für Ngaahika Ndeenda übersetzte, erklärte mir der Übersetzer, dass einige Wörter oder Phrasen radikale Abweichungen vom Kikuyu darstellten und deshalb nur schwer verständlich waren. Ngũgĩs Kunst ist inzwischen immer experimenteller und damit auch für das Publikum immer schwieriger geworden. Dennoch war und ist er ein sozial engagierter Künstler. Er bemüht sich auch weiterhin um die Inklusion seines Publikums.
Im Rückblick auf meine Zeit an der Judson Memorial Church erscheint mir heute vor allem bewundernswert, dass die Tänzerinnen und Tänzer nicht bereit waren, um der Inklusion willen Risiken einzugehen und die Schwierigkeit der »Zugänglichkeit« zu opfern — jener repressiven, kunstbürokratischen, medienfreundlichen Version der Kunst und des Alltagslebens. Die Tänzerinnen und Tänzer dort hatten wie Carl oder Alberta Hunter den Mut, Kunst um der Kunst willen auszuüben. Ich denke, am Ende ehrt solche Integrität ein Publikum eher als »Zugänglichkeit«, die in Wirklichkeit nur ein anderer Name für Herablassung ist: »Sie würden es nicht verstehen.« Im Unterschied zu einem Fehlschlag macht die Spannung zwischen Kunst und Alltag das Erlebnis nur zu einer größeren und tieferen Herausforderung, sowohl für die Darbietenden als auch für das Publikum. Wir sollten daher die Schwierigkeit offenhalten wollen, statt sie zu schließen, indem wir einer leicht konsumierbaren, »freundlichen« Kunst den Vorzug geben.
Im Rückblick bot die Judson Memorial Church mir einen ersten Einblick in eine ähnliche Spannung eher spiritueller als soziologischer Art. Die Kunst wurde im Untergeschoss der Church gemacht. Oben im Kirchenraum hießen Taufen neues Leben willkommen, wurden Ehegelöbnisse abgelegt, gedachte man der Toten. Wände hinaufzulaufen, schien keine Verbindung zu diesen Ritualen zu haben. Rituale sind nur selten Ereignisse, die Menschen vollkommen neu erfinden. Während es in der Kunst auf Originalität ankommt, spielt sie im Ritual kaum eine Rolle. Welche Verbindungen bestehen zwischen diesen beiden Arten von Darstellung? Zwanzig Jahre später erlangte diese Frage während der größten Krise für schwule Männer meiner Generation enorme Bedeutung.
Verstörende Darbietungen
Aufführungen im Angesicht des Todes
Anfang der neunzehnhundertachtziger Jahre besaß das St Vincent’s Hospital in Greenwich Village eine der wenigen großen Aids-Stationen der Stadt. Viele Krankenhäuser verfügten nicht über die nötige Ausstattung, um Aids-Kranke zu behandeln, zumindest nicht in größerer Zahl. Falls sie dennoch einen Patienten aufnehmen mussten, isolierten sie ihn. St Vincent’s verfügte dagegen über eine große offene Station für Aids-Patienten, in der Familienmitglieder, Geliebte und Freunde frei aus und ein gehen konnten, ohne einen separaten Eingang benutzen oder Schutzhandschuhe tragen zu müssen wie in manchen anderen Kliniken. Das war umso erstaunlicher, als es sich beim St Vincent’s um ein katholisches Krankenhaus handelte und die katholische Amtskirche in New York Homosexualität als eine Sünde an der Grenze zur Todsünde behandelte. Dennoch plauderten die Schwestern im St Vincent’s zwanglos mit ihren Patienten, während sie sie wuschen, die Männer zum Essen überredeten, obwohl sie oft nur wenig bei sich behalten konnten, und mit Besuchern schwatzten, die dort nutzlose Nachtwachen hielten. Ich kannte die Station nur allzu gut, da viele meiner Freunde zum Sterben dorthin gingen.
Charles war damals mein überorganisierter Assistent, der abends noch zusätzlich bei Theaterstücken Regie führte oder selbst auftrat. Im St Vincent’s Hospital, wo er auf halber Strecke seiner Reise in den Tod logierte, lud man ihn ein, bei einer gemeinsamen Lesung von Shakespeares Wie es euch gefällt mit einigen Mitpatienten Regie zu führen, da er dieses Stück zuvor schon mit rein männlicher Besetzung in einem Theater unweit der Judson Memorial Church am Washington Square auf die Bühne gebracht hatte.
Die meist jüngeren Patienten hatten ihr Stück gut gewählt, denn das Textbuch lässt sich durch Geschlechtsvertauschungen realisieren, die eher vergnüglich als aufdringlich sind — wie Virginia Woolf wusste, als sie ihren an Shakespeares Stück angelehnten Roman Orlando schrieb. Wie es euch gefällt beginnt an einem düsteren Ort, in einem Reich, in dem ein Thronräuber den rechtmäßigen Herrscher bedroht. Der Herzog flieht samt seiner Familie und seinem Gefolge in den Zauberwald von Arden, wo nach einigen verblüffenden Geschehnissen der Sieg über eine Löwin eine Reihe von Ereignissen auslöst, die alles wieder ins rechte Lot bringen.
Tatsächlich wurden im elisabethanischen Zeitalter alle Theaterstücke ausschließlich von männlichen Schauspielern aufgeführt, wobei die Frauenrollen von Knaben gespielt wurden — damals offenbar keine Grenzüberschreitung. Doch in den neunzehnhundertachtziger Jahren war es eine Provokation, auf der Bühne erwachsene Männer, oft mit Schnurrbärten, in Frauenkleidern einander umarmen zu sehen. Besonders sonderbar war es, in einem katholischen Krankenhaus zu erleben, dass Männer Frauen spielten. Auf der Station trugen die Schauspieler Schwesternkittel und waren fleischfarben geschminkt, um die rötlich braunen Läsionen des Karposi-Sarkoms auf Hals, Gesicht und Händen zu verdecken. So wurden die Schauspieler nicht ständig an die Spuren des Krebses auf ihrer Haut erinnert und konnten so überzeugend und ansprechend spielen. Im Liegen oder Sitzen — nur wenige hatten noch die Kraft, länger zu stehen oder umherzugehen — lasen die Patienten/Schauspieler ihren Text und lächelten dabei oft in sich hinein.
Charles übernahm im Krankenhaus die Rolle des melancholischen Jacques, wie er es zuvor auf der Bühne getan hatte, und sprach gleichsam sotto voce, weil die Krankheit seine Lunge geschwächt hatte. Mitten in Jacques’ berühmtem Monolog, der mit den Worten beginnt: »Die ganze Welt ist Bühne / Und alle Fraun und Männer bloße Spieler«, bekam er einen Hustenanfall. Als der Anfall vorüber war, wiederholte er den gesamten Monolog, als antwortete er damit auf ein begeistertes Publikum. Er sprach leicht und ironisch, als amüsierten ihn die Worte.
Wie zimperlich war ich doch zwei Jahrzehnte zuvor gewesen, als ich Angst hatte, das Leben könnte an mir vorbeigehen, wo nun meine Generation von Männern von einer Krankheit bedroht wurde, gegen die niemand etwas zu tun vermochte. Im Rückblick hat es etwas Heroisches, wie die Schauspieler sich weigerten, Patienten zu sein und sich in ihr Schicksal zu ergeben — und sei es nur für zwei Stunden. Bemitleidet uns nicht, betet nicht für unsere Seelen — oder wenigstens noch nicht! Uns ist die Flucht in den Wald von Arden gelungen.
Die trauernden Freunde und Verwandten schlossen sich diesem Geist jedoch nicht an. Unsere Gesichter blieben versteinert. Auch war nicht klar, was die Priester, die demnächst die Sterbesakramente spenden sollten, von dieser Transvestitenshow halten würden, und vor allem von den Schwestern auf der Station, denen das zu gefallen schien. Die Priester wollten tröstende Gebete, rituelle Worte und Gesten anbieten, die vielleicht eine Verbindung zwischen uns und den zum Sterben Verurteilten herstellen konnten. Doch die Schauspieler wollten all das nicht — sie wiesen das Mitleid der Priester wie auch das unsrige zurück. Die Kluft zwischen dem Machen von Kunst und der Ausführung von heiligen Ritualen, die eine Generation zuvor in der Judson Memorial Church erkennbar geworden war, hatte eine moralische Umkehrung erfahren.
Der gar nicht so unterschwellige Subtext der sehr konservativen katholische Diözese New York lautete in den neunzehnhundertachtziger Jahren, sterbende schwule Männer hätten um Vergebung zu bitten, damit sie und ihre Verwandten, Freunde und selbst noch Geliebten zueinanderfinden konnten. Vergebung der Sünden war jedoch genau das, was Charles nicht wollte — und ich denke, das galt auch für die anderen. Er hielt seine Homosexualität nicht für eine Sünde und seine Krankheit nicht für ein Strafe Gottes. Der großzügigere und weitsinnigere Katholizismus kann die Sterbesakramente als Erleichterung der Leiden des Lebens auslegen. Die Darsteller in der Drag-Fassung von Wie es euch gefällt suchten nach einem letzten Vergnügen: Sie spielten.
Ich sollte anmerken, dass Charles durchaus nicht gelassen war. Genau wie die Freunde und Verwandten, die sich Wie es euch gefällt ansahen, einen stützenden Rahmen für das Lebensende benötigten, hatte auch Charles dieses Bedürfnis, als er dem Tod immer näher kam. Seine Einstellung gegenüber den Priestern schien bei deren täglichen Besuchen milder zu werden. Er bedachte sie nicht mehr mit einem sardonischen Lächeln, er begrüßte sie nun, winkte aber immer noch ab, wenn sie für ihn zu beten begannen. Anstelle des trotzigen Akts der Theateraufführung zeigte er am Ende Mut — den Mut, allein und ohne Tröstung zu sterben.
Rituale sind Darbietungen Anthropologen und andere haben endlos über die Bedeutung des Rituals debattiert. Der Anthropologe Victor Turner gab einmal eine Definition, die trocken, aber ebenso gut wie jede andere ist:
Ein Ritual ist eine stereotype Abfolge von Aktivitäten, zu denen Gesten, Worte und Objekte gehören, ausgeführt an einem abgesonderten Ort und dazu bestimmt, außernatürliche Entitäten oder Kräfte zugunsten der Ziele und Interessen des Akteurs zu beeinflussen … Rituale werden häufig zyklisch ausgeführt (jährlich, alle zwei Jahre, alle fünf Jahre usw.) … Trostrituale bringen Emotion in diese leblose »stereotype Abfolge von Aktivitäten«.1
Menschen vollziehen Rituale schon seit Anbeginn organisierten sozialen Lebens mehrere tausend Jahre vor dem Erscheinen geschriebener Sprache. Ursprünglich war das Ritual eine wortlose Darbietung. Heute wie damals besteht der physische Ritus aus kollektivem Handeln statt individuellem Ausdruck. Damit Rituale als kollektiver Ausdruck fungieren können, benötigen sie strenge Regeln, die alle Beteiligten aufeinander ausrichten und von einer Generation an die nächste weitergegeben werden können. Diese Regeln geben an, wie Körper sich im Verhältnis zu anderen bewegen und welche Gebärden die Teilnehmer vollführen sollen; sie bestimmen, wann gesprochen wird und wann zu schweigen ist. Wie jede Aufführung legt das Ritual auch Maßstäbe für eine gute Ausführung fest. Die Strenge des Rituals ist weniger nachsichtig als profanere Aktivitäten wie der Guss eines Topfes. Auch in einem leidlich guten, wenngleich nicht perfekt geformten Topf kann man eine gute Mahlzeit zubereiten. Macht man jedoch bei einem Gebet auch nur den kleinsten Fehler in der Bewegung, der Sprache oder dem Setting, kann es sein, dass die Götter einer Plage kein Ende setzen oder keinen Regen schicken.