Der Desinformant - Horst Kopp - E-Book

Der Desinformant E-Book

Horst Kopp

4,9

Beschreibung

»Die Abteilung X war ein Instrument des Psychokrieges. Und deshalb noch geheimer als geheim.« Horst Kopp war Offizier in der für Aktive Maßnahmen und Desinformation zuständigen Abteilung X der Hauptverwaltung Aufklärung. Seine Mitarbeiter sorgten unter anderem dafür, dass bestimmte Meldungen in westdeutsche Zeitungen und Zeitschriften lanciert wurden. Sie kooperierten mit Journalisten, und manche der Angeworbenen glaubten, für die CIA zu arbeiten. Kopp wirft einen erhellenden Blick auf ein von Legenden und Geheimnissen umranktes Kapitel nachrichtendienstlicher Tätigkeit in der Zeit des Kalten Krieges. Und Kopp verrät, wer Bundeskanzler Willy Brandt 1972 die Mehrheit sicherte und im Amt hielt, als die CDU/CSU ihn stürzen und durch ein konstruktives Misstrauensvotum ihren Fraktionschef Barzel an die Macht bringen wollte. Horst Kopp schildert hier erstmals die Details.

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ISBN eBook 978-3-360-50138-7

ISBN Print 978-3-360-01315-6

© 2016 Verlag Das Neue Berlin, Berlin

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin, unter Verwendung eines Motivs von ullstein bild – Thielker

Die Bücher des Verlags Das Neue Berlin erscheinen in der Eulenspiegel Verlagsgruppe.

www.eulenspiegel.com

Das Buch

Das ist die Geschichte des Mannes, der die zweite Stimme kaufte, welche Willy Brandt rettete. Die Union wollte 1972 den Bundeskanzler mit einem konstruktiven Misstrauensvotum aus dem Amt jagen und war sich ihrer Mehrheit ziemlich sicher. Sie hatte die Rechnung ohne das MfS gemacht: Die Auslandsaufklärung der DDR sorgte dafür, dass Brandt Kanzler blieb. Das und was die Abteilung X der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) sonst noch besorgte, erzählt hier Horst Kopp, der ihr seit deren Gründung 1966 angehörte.

Der Autor

Horst Kopp, geboren 1933 in Soldin in der Neumark, aufgewachsen nach dem Krieg in einem Dorf nördlich von Berlin, Schriftsetzerlehre, hauptamtlicher FDJ-Funktionär, seit 1960 beim MfS. Nach dem Besuch der Schule der Hauptverwaltung Aufklärung in Belzig in der Abteilung X tätig, zuständig für Desinformation, aktive Maßnahmen und Werbung/Führung von inoffiziellen Mitarbeitern. In seinen besten Zeiten steuerte er 27 inoffizielle Mitarbeiter (IM). 1985 geriet er in Verdacht, für die Gegenseite zu arbeiten. Nach Untersuchung und Haft Versetzung als Offizier im besonderen Einsatz (OibE) in die Abteilung Inneres nach Pankow, später des Magistrats zur Bearbeitung von Ausreiseanträgen.

Inhalt

»Schönes Wetter«

Wie wird einer »Desinformant«?

Angeworben

»Gott mit uns«

Die Abteilung X

Meine Lieblings-IM

Von Deckadressen, inoffiziellen Mitarbeitern und konspirativen Wohnungen

Klassische Spionage und aktive Maßnahmen

Die HVA in Helsinki im christlichen Hospiz

Zum Tanz mit Tereschkowa

Walraff, Rowohlt und andere

Madrid und andere Baustellen

Als OibE in den Magistrat

Niederlagen

Epilog

»Schönes Wetter«

»Horst, zum Chef. Sofort!« Ich lege den Hörer auf. Wenn Rabe derart kurz angebunden ist, droht meist Ärger. Was kann da wieder schiefgelaufen sein? Der Abteilungsleiter befiehlt in der Regel nur zu sich, wenn etwas in die Hose gegangen ist. Ich verspüre keine Lust, darüber nachzudenken, was geschehen sein könnte, welche Quelle möglicherweise gefährdet oder gar aufgeflogen oder welche Nachricht, die wir in einem Westmedium platzieren wollten, nicht gedruckt worden ist. Alles denkbar. In der Vergangenheit lag ich mit meinen Vermutungen oft falsch, der Schuss kam stets aus einer Ecke, an die ich nicht gedacht hatte. Warum also sich unnötig das Hirn zermartern.

Bin ich verunsichert? Bekomme ich nach einem solchen Anruf weiche Knie? Nein, dazu arbeite ich schon zu lange bei der Aufklärung, hier im Referat III der X. Unsere Abteilung ist eine der wenigen der etwa zwanzig, die dem Chef der Hauptverwaltung Aufklärung direkt unterstellt sind. Das unterstreicht unsere Bedeutung. Wir sind zuständig für politisch-aktive Maßnahmen im Operationsgebiet, also in Westberlin und in der Bundesrepublik. Wir bearbeiten zum Beispiel Journalisten, um mit ihrer Hilfe bestimmte Nachrichten in die Öffentlichkeit zu bringen. Auf diese Weise erzeugt man Stimmung gegen oder für eine Sache oder Person oder setzt ein Thema in den Medien, das wir in der DDR aus politischen Erwägungen im Westen behandelt wissen wollen. Wir führen unter den Journalisten nicht wenige Quellen als inoffizielle Mitarbeiter, wobei nicht jeder von ihnen weiß, für wen er arbeitet. Viele glauben für eine westeuropäische oder US-amerikanische Institution tätig zu sein, von der sie Geld dafür beziehen, dass sie bestimmte Nachrichten lancieren oder uns informieren, was in ihrer Redaktion geplant wird, welcher Kollege an welchem Projekt sitzt und dergleichen.

Nicht wenige dieser inoffiziellen Mitarbeiter sind unter »fremder Flagge« geworben worden – übrigens eine Spezialität von mir. Ich habe einige IM auf diese Weise gewonnen und nutze sie, um Informationen für die Aufklärung zu gewinnen und um spezielle Informationen aus unserem Hause in ihrer Zeitung oder Zeitschrift, in Rundfunk- und Fernsehsendern unterzubringen. Oder ich bin den »Kollegen« bei ihren Recherchen behilflich. Wenn sie etwa irgendwelche Persönlichkeiten, Einrichtungen oder Institutionen in der Bundesrepublik bloßstellen oder attackieren wollen, liefern wir gern, so vorhanden, gewisse Unterlagen. Solches »Enthüllungsmaterial« ist besonders gefragt, weshalb einige, die durchaus wissen, aus welchen Arsenalen ihre Munition stammt, regelmäßig bei uns anklopfen.

So beeinflussen wir innenpolitische Diskussionen in der BRD, die wiederum Konsequenzen für die Politik der Bundesrepublik nach innen wie außen zeitigen. Die Hauptverwaltung Aufklärung des MfS der DDR nimmt also intelligent Einfluss auf die Politik im Westen. Indirekt, aber durchaus spürbar. Wir betrachten das keineswegs als Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines fremden Staates. Trotz Betonung der Eigenständigkeit der DDR gehen wir unverändert davon aus, dass die deutsche Zweistaatlichkeit nur ein historischer Übergang ist. Die deutsche Nation besteht fort, auch wenn die westdeutschen Separatisten, im Bunde mit den Westalliierten nach dem Kriege das Land geteilt und den Kapitalismus restauriert haben. Die Gründung der DDR war lediglich ein Reflex auf die Spaltung, bei uns entsteht die gesellschaftliche Alternative zu jenem System, aus dem der Faschismus kroch und in modifizierter Form jederzeit wieder entstehen kann. Deshalb verstehen wir uns als eine Art Brückenkopf des Fortschritts in Deutschland, als Zentrum der Revolution auf deutschem Boden. Wir sind der bessere, der progressive Teil, von dem aus das Land eines Tages wieder vereint und der Kapitalismus überwunden werden wird. Alles, was diesem strategischen Ziel nützt, ist darum gerechtfertigt. Vordringlich dabei bleibt natürlich die Sicherung des Friedens. Durch Deutschland läuft schließlich die Front des Kalten Krieges, NATO und Warschauer Vertrag schauen sich hier gegenseitig in die Gewehrläufe. Die beiden deutschen Staaten gelten als militärische und nachrichtendienstliche Bollwerke der beiden Pakte und werden von der jeweiligen Führungsmacht auch so behandelt …

Ich lege den Notizblock wieder zurück in meinen Schreibtisch. Es hinterlässt keinen guten Eindruck, wenn man sich bei einer Dienstbesprechung Aufzeichnungen macht. Wir sind ein Geheimdienst, auch wenn wir uns nicht so bezeichnen, offiziell sind wir »Schild und Schwert der Partei«. Wir wirken konspirativ, die Öffentlichkeitsarbeit ist so gut wie abgeschafft. Außerdem bin ich erst Ende dreißig, da arbeitet der Kopf noch exzellent. Mein Gedächtnis gleicht ohnehin dem eines Elefanten. Noch einmal ein kontrollierender Blick auf die Schreibtischplatte. Es liegt nichts mehr dort, was ich wegschließen müsste. Die Schubfächer sind versperrt, der Stahlschrank mit den Unterlagen auch. Alles o.B.

Bei Rolf Wagenbreth, Abteilungsleiter seit Gründung der X, sitzt bereits Rolf Rabe. Er ist Wagenbreths Stellvertreter und mein Referatsleiter. Der aus Frankfurt/Oder in die Berliner Zentrale gerufene Wagenbreth hat das zu Beginn der 60er Jahre initiierte Sonderreferat VII/F »Auswertung und Information« aufgebaut und geleitet. Daraus entstand vor einiger Zeit die Abteilung X. Hier arbeiten drei, vier Dutzend Leute von der Abwehr, Journalisten, Historiker und andere Fachleute, die aus der ganzen Republik zusammengeholt worden sind. Im Referat 1 beschäftigen sie sich mit der NATO und der »Dritten Welt«, im Referat 2 mit dem Innenleben der Bundesrepublik. Die Referate 3 und 4 sind im Westen operativ tätig. Referat 5 hat die Zentralen der gegnerischen Geheimdienste im Visier, und das Referat 6 sorgt für den personellen Nachwuchs.

Unsere Abteilung X ist ein Instrument der psychologischen Kriegsführung. Und deshalb noch geheimer als geheim. Nur im neunten Stock des HVA-Blocks – der Chefetage der Aufklärung – hat man von unserer Existenz Kenntnis. Im ganzen Haus und für alle Mitarbeiter des MfS gilt: Jeder darf nur so viel wissen, wie er zur Durchführung seiner Aufgabe wissen muss. Oder wie der Volksmund sagt: Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. Selbst wenn zwei in einem Zimmer arbeiten, weiß der eine vom anderen nicht, womit er sich beschäftigt. Die Informationen verlaufen vertikal, nicht horizontal. Und irgendwo oben fließen sie zusammen, um dann – entsprechend gefiltert und dosiert – wieder nach unten gegeben zu werden. Das geschieht auch aus Gründen des Selbstschutzes: Sollte mal doch einer zum Verräter werden, kann er nicht viel mitteilen. Zumindest wenn er lediglich im unteren oder mittleren Teil der Hierarchie eingebunden war …

Die beiden nicken nur, als ich mich wie befohlen zur Stelle melde. Wagenbreth, nur wenig älter als ich, neigt seinen Kopf stumm in Richtung eines leeren Stuhls, was als Aufforderung zu verstehen ist, mich dorthin zu setzen. Ihre Gesichter blicken ernst drein. Das überrascht mich nicht: Im Dienst habe ich die beiden noch nie heiter erlebt. Selbst ihre Gesichter sind Verschlusssachen. Vom Wesen her aber ist Wagenbreth ein Bruder Leichtfuß, bierernst nimmt er die Sachen selten, mit denen er sich beschäftigt.

»Die Kacke ist mal wieder am Dampfen«, beginnt Wagenbreth und fragt, ob wir schon Nachrichten gehört hätten.

»Welche?«, erkundigt sich Rabe und erntet einen missbilligenden Blick seines Vorgesetzten.

»Natürlich die vom Klassenfeind«, sagt Wagenbreth. Die Unionsfraktion plane, Brandt wegzuputschen. Mit einem sogenannten konstruktiven Misstrauensvotum. Der Bundeskanzler müsse sich zur Wahl im Bundestag stellen, und falls er nicht die Mehrheit bekommen sollte, wäre er sein Amt los und der Oppositionsführer Barzel würde Kanzler werden.

»Das wäre in der Tat Scheiße«, sagt Rolf Rabe. Auch er hat inzwischen begriffen, dass ein sozialdemokratischer Kanzler für die DDR besser ist als einer von den Konservativen mit Nazi-Vergangenheit. Das war selbst im Politbüro anfänglich nicht klar, als Willy Brandt 1969 mit Hilfe der FDP Bundeskanzler geworden war. Am Wesen des westdeutschen Staates – man sprach unverändert bewusst von Westdeutschland und nicht von der Bundesrepublik Deutschland, selbst in den Schulatlanten stand auf der Deutschlandkarte: Deutsche Demokratische Republik und Westdeutschland – würde sich dadurch nichts ändern. Westdeutschland bliebe auch nach dem Regierungswechsel ein imperialistischer Staat und ein wichtiger Partner der USA, die in Vietnam Krieg führten, kurzum: eine der wichtigsten Stützen der aggressiven NATO in Europa. Aber, so hatte Staats- und Parteichef Walter Ulbricht deutlich gemacht: Zum ersten Mal stünde ein ehemaliger aktiver Antifaschist an der Spitze der Bonner Regierung, kein Alt-Nazi wie sein Vorgänger Kurt Georg Kiesinger.

Als jener von Beate Klarsfeld wegen seiner braunen Vergangenheit demonstrativ geohrfeigt worden war, hatte man in der Abteilung X Beifall geklatscht. Seit Jahren halten wir über Dr. Ludwig Nestler, einem Historiker, der als Offizier im besonderen Einsatz für uns arbeitet, Verbindung zu der französischen Nazi-Jägerin und ihrem Mann Serge. Wir liefern ihnen Unterlagen und Informationen über belastetes Personal in der westdeutschen Führung. Dass sie allerdings dem einstigen NSDAP-Mitglied und nunmehrigen CDU-Vorsitzenden öffentlich ins Gesicht geschlagen hatte, war nicht von uns ausgedacht und beschlossen worden: Das war ausschließlich Beates Idee. Dies beteuerte jedenfalls Nestlers Führungsoffizier Wolfgang Mutz, der andere Stellvertreter Wagenbreths. Die Klarsfeld sei halt ein wenig exzentrisch. Mutz schien Sorge zu haben, dass ihm deshalb selbst Eigenmächtigkeit vorgehalten werden könnte, wenn er vorab von der Aktion auf dem CDU-Parteitag in Westberlin nicht nur gewusst, sondern Klarsfeld zu dieser Tat auch noch inspiriert hätte. Aber da war nichts, Mutz verfügte diesbezüglich über eine saubere Weste. Die 29-jährige Beate Klarsfeld hatte im Mai 1968 die Kanzlerattacke vor Studenten der Technischen Universität in Westberlin nachweislich angekündigt. Die Studenten nahmen das jedoch so wenig ernst wie Nestler oder Mutz. »Tu’s doch, wenn du dich traust«, hatten die Kommilitonen im vollbesetzten Audimax gehöhnt. Ein halbes Jahr später landete ihre Hand tatsächlich im Gesicht des Nazi-Propagandisten des »Dritten Reiches«, schließlich arbeitete Kiesinger damals in der Rundfunkabteilung des Auswärtigen Amtes und war mehr als nur ein Mitläufer.

Das MfS hatte auch keine Ahnung von Klarsfelds Absicht, den in Köln unbehelligt lebenden Gestapo-Chef von Paris zu kidnappen und nach Frankreich vor ein Gericht zu bringen. Kurt Lischka wurde als Nazi-Verbrecher international gesucht, doch erstens lieferte die Bundesrepublik nicht aus (Lischka war in Frankreich 1950 in Abwesenheit verurteilt worden) und zweitens ließ die deutsche Justiz den ehemaligen SS-Obersturmbannführer in Ruhe, obgleich er für die Deportation von 40.000 Juden (und damit an deren Tod) verantwortlich war. Klarsfeld machte Lischka ausfindig, seine Entführung scheiterte 1971 allerdings, Friedrich Karl Kaul übernahm ihre Verteidigung vor dem Landgericht in Köln. Mehr konnte die DDR für sie nicht tun. Rechtsanwalt Kaul legte später jedoch entnervt sein Mandat nieder, Beate Klarsfeld war einfach nicht berechenbar …

Walter Ulbricht also schwor 1969 die Führung der DDR darauf ein, dass Willy Brandt ein engagierter Antifaschist gewesen war, weshalb in Nuancen eine andere Politik von Bonn zu erwarten sei. Deshalb wurden »Brandtschutzwochen« ausgerufen. Das Wortspiel ging darauf zurück, dass vor Beginn der Heizperiode in der DDR die Feuerwehr durch alle Wohnhäuser und Betriebe zog und Ausschau nach gefährlichen Stellen hielt. Mit dieser prophylaktischen Maßnahme sollten potenzielle Gefahrenstellen beseitigt werden. Das geschah in der »Brandschutzwoche«, die stets propagandistisch von den DDR-Medien begleitet wurde.

Anders die Schutzwochen für den Bundeskanzler. Keine Pro-Brandt-Propaganda, wohl aber Zurückhaltung bei der Polemik gegen den neuen Bonner Regierungschef. Mit seiner veränderten Ostpolitik, die ihm sein Stratege Egon Bahr konzipiert hatte, begann die von ihm geführte sozialliberale Koalition, die alten Dämme einzureißen. Mit seiner Politik der Stärke und der Hallstein-Doktrin hatte Bonn die DDR international isoliert, ausgegrenzt und boykottiert. Die BRD reklamierte einen Alleinvertretungsanspruch für alle Deutschen. Das sollte nun Geschichte sein. Am Rhein nahm man endlich die Realität zur Kenntnis und begann, mit dem Osten zu verhandeln. 1970 hatte die Bundesrepublik entsprechende Verträge mit der Sowjetunion und der Volksrepublik Polen geschlossen, was bei den konservativen Ostlandrittern und Berufsrevanchisten am Rhein helle Empörung auslöste, die unverändert andauert. Brandt habe die deutschen Ostgebiete aufgegeben, lautet der Vorwurf. Dabei hatten doch bereits die deutschen Nazis mit ihrem Krieg Ost- und Westpreußen, die Neumark, Schlesien und Pommern verspielt, nicht erst die aktuelle Bundesregierung.

Und nun sitzen die deutschen Unterhändler Egon Bahr und Michael Kohl und deren Gefolge beieinander und besprechen einen Grundlagenvertrag. Endlich soll auch das Verhältnis zwischen der BRD und der DDR ordentlich geregelt werden. Brandt sucht den Dialog anstelle der bislang vorherrschenden Konfrontation. Deshalb hat er sich mit dem Regierungschef der DDR, Willi Stoph, in Erfurt und in Kassel 1970 getroffen. Die Führungsmächte der Bündnisse, in die die beiden deutschen Staaten eingebunden sind, die USA und die Sowjetunion, sahen diesen Alleingang nicht gern, weshalb sich Bonn und Berlin selbstkritisch eine »Denkpause« verordnen mussten, und Moskau schickte Ulbricht aufs Altenteil. Erst nachdem der Moskauer Vertrag geschlossen und die Siegermächte im Jahr darauf, 1971, das Vier-Mächte-Abkommen über Westberlin unterzeichnet haben, dürfen endlich auch die BRD und die DDR bilateral miteinander verhandeln.

Diese Gespräche und damit die Zukunft der beiden deutschen Staaten stehen zur Disposition, wenn der Sturz des Kanzlers erfolgreich sein würde …

»Wie ist die Lage, Genossen«, beginnt Wagenbreth förmlich. »Im Bonner Parlament sitzen 496 Abgeordnete. Brandt braucht also mindestens 249 Stimmen, um im Amt zu bleiben. Die Fraktionen der Regierungsparteien SPD und FDP hatten mal 254 Sitze. Inzwischen sind einige Liberale zu den Konservativen übergelaufen: der Ritterkreuzträger Erich Mende, das ehemalige NSDAP-Mitglied Heinz Starke, der frühere SS-Obersturmführer Siegfried Zoglmann. Die Sozis haben Klaus-Peter Schulz an die CDU verloren, ebenso Herbert Hupka und Franz Seume. Wenn wir die alle abziehen, bleiben für Brandt 247 Stimmen.«

»Immer vorausgesetzt, dass alle Parlamentarier bei der Abstimmung auch im Hause sind und der Fraktionsdisziplin folgen«, wirft Rabe ein.

»Die werden alle da sein, das ist sicher«, sagt Wagenbreth. »Notfalls karren sie den Letzten im Leichenwagen ins Plenum. Bei dieser Abstimmung geht es nicht nur um die Zukunft des Landes.«

Ich verfolge den Disput der beiden schweigend. Ich habe gelernt, so lange stumm zu bleiben, bis ich gefragt werde. Also sitze ich auf meinem Stühlchen und höre nur zu.

»247«, wiederholt Wagenbreth. »Das heißt, wir brauchen zwei Stimmen, um den Kanzler zu halten.«

Wieso »wir«, denke ich, Willy Brandt ist doch nicht »unser« Kanzler. Einverstanden, er ist mir wesentlich sympathischer als dieser Barzel von der CDU, der eifrig an Brandts Stuhl sägt. Dieser schneidige Wehrmachtsleutnant mit der Goldenen Frontflugspanne, die er sich in Sewastopol verdient hatte, erscheint nicht nur mir als schlechte Alternative zu Brandt.

Doch auch der amtierende Kanzler ist nicht unbedingt ein Freund der DDR. Als Westberliner Regierungschef war er ein schlimmer Kalter Krieger. Doch zugegeben: Menschen können sich ändern. Warum nicht auch Willy Brandt?

»Zwei Stimmen«, sagt nun auch Rabe. »Das dürfte doch zu machen sein.«

»Und wie?«, fragt Wagenbreth. »Hast du eine Idee?«

Sein Stellvertreter kontert: »Wenn du nicht schon eine hättest, säßen wir nicht hier.«

Damit dürfte er recht haben. Denn aus welchem Grunde bin ich hierher befohlen, wenn nicht bereits in Wagenbreths Kopf ein Schlachtplan existierte? Er ist bekannt als schlauer Fuchs, der unorthodox denkt, der Figuren auf dem Brett hin und her bewegt, ohne sie tatsächlich zu verrücken, ein virtueller Schachspieler eben. Und dabei denkt er die möglichen Züge des Gegenübers mit, wenn er denn zöge.

Rabes Einwurf schmeichelt Wagenbreth, denn frei von Eitelkeit ist er keineswegs. Diese Eigenschaft teilt er mit seinem und unserem großen Chef. Vielleicht bleibt das nicht aus, wenn man vom Glück verwöhnt wird und von Erfolg zu Erfolg eilt. Ich weiß es nicht. Mich befriedigt bereits, wenn es mir gelingt, eine Quelle für uns zu gewinnen oder mit Hilfe eines IM eine Geschichte im Stern, im Spiegel oder bei der Zeit unterzubringen, die dann als Meldung durch alle westdeutschen Medien läuft und so Echo provoziert. Solche von uns losgetretenen Kampagnen erfüllen mich stets mit Genugtuung.

Rabe schaut erwartungsvoll zum Chef, ich bin nicht weniger neugierig. Mein Referatsleiter war in den 60er Jahren aus Schwerin geholt worden, er ist ein betulicher Fischkopp, dem es gewiss an Fantasie, nicht aber an Prinzipienfestigkeit mangelt. Ein verlässlicher Mann nach innen wie nach außen.

»Sagen Sie mal«, beginnt Wagenbreth und schaut mich an, »Sie arbeiten doch mit diesem Georg Fleissmann …«

»Den haben wir beide in Prag angeworben«, wirft Rabe eilig ein, womit er andeutet, dass er auch in diese Verbindung involviert ist. Wagenbreth winkt leicht genervt ab. »Kopp, erzählen Sie mal.«

Was soll ich da erzählen, wo beginnen? Und was ist da von Relevanz für den Brandt-Fall? Was weiß Wagenbreth, was darf er wissen?

»Fleissmann arbeitet seit 1966 für uns. Er besuchte seinerzeit in Berlin etliche Pressekonferenzen von Albert Norden. Dort fiel er wiederholt mit Fragen auf, das aber nur nebenbei. Er war damals Anfang vierzig und führte in Nürnberg als Chefredakteur und Eigentümer die Verbraucherzeitschrift Echo und den Wirtschafts-Informationsdienst News Bureau International. Das Verleger-Handwerk hat der aus Ungarn stammende Fleissmann als Vertriebschef der Verbraucher-Postille DM gelernt. Er verfügte nach unseren Recherchen über zwei Elemente, die ihn interessant für uns machten: Er kannte in Bayern Hinz und Kunz, war umtriebig und kontaktfreudig. Hingegen schienen zweitens seine publizistischen Aktivitäten nicht sonderlich ertragreich, d.h. er hatte immer finanzielle Probleme. Wir verabredeten uns nach längerer operativer Bearbeitung mit ihm in Prag, wie Genosse Rabe schon sagte, und warben ihn an. Ganz unproblematisch. Seither arbeitet er unter dem Decknamen ›Dürer‹ für uns.«

Wagenbreth grinst. Bei Fleissmanns Herkunft aus Nürnberg lag dieser Deckname wohl mehr als nahe. »Und, was hat er uns schon gebracht?«

Die Frage ist nur rhetorischer Natur. Natürlich weiß der Chef, dass IM »Dürer« für uns erfolgreich als Werber unterwegs ist. So warb er, neben anderen, den in München lebenden Fregattenkapitän Wilhelm Reichenburg an. Der CSU-Mann ist im Wehrbereichskommando VI in Bayerns Hauptstadt für Sicherheit und Abwehr zuständig und arbeitete zuvor als Verbindungsoffizier auch für den Bundesnachrichtendienst und das Referat Fü SII 3 im Bonner Verteidigungsministerium, das mit der sogenannten Wehrlage Ost befasst ist. Reichenburg glaubt, die US-Amerikaner zu informieren, wenn er geheimes Material weitergibt – Fleissmann hatte den eingefleischten Antikommunisten und Hardliner unter fremder Flagge angeworben, so wie ich ihn instruiert hatte. Die Idee, Reichenburg anzuwerben, stammte von mir. Seit 1969 hatte ich ihn unter der Vorgangsnummer XV 1736/69 auf dem Zettel. Ich bildete später Reichenburgs Instrukteur aus: Jürgen Hartmann, der als Chefredakteur bei der DEFA beschäftigt war, diesen Job nach seiner Verpflichtung aber aufgab und seither als hauptberuflicher IM den »Admiral«, also Reichenburg, betreut. Der HIM unter dem Decknamen »Schneider« bezieht bei uns 1600 Mark monatlich, das ist mehr, als er bei der DEFA bekam. Aber auch mehr, als ich bekomme. Ich kriege aktuell im Monat 750 Mark.

Mit Hartmann traf ich mich damals regelmäßig in konspirativen Wohnungen in Berlin und erarbeitete mit ihm eine Legende als Mitarbeiter einer US-Institution, die in London tätig und deren Aufgabe es ist, die Erfüllung der Bündnispflichten durch die Bundesrepublik zu beobachten. Aus diesem Grunde benötige die Einrichtung Informationen über die Bundeswehr, die innere Sicherheit und die deutsch-deutsche Politik. An den Treffs mit Hartmann nahm gelegentlich auch Rabe teil, der bereits als Referatsleiter meine Werbevorlage gegengezeichnet hatte, zu der 1970 Wagenbreth seine Zustimmung erteilte. In jenem Jahr war ich auch zum Hauptmann befördert worden. Die Informationen des »Admirals« werden auf Wagenbreths Anweisung mit einem monatlichen Salär von etwa 1000 D-Mark vergütet.

Ich war von Fleissmann auf Reichenburg aufmerksam gemacht worden. Reichenburg war 1967 als Fachmann für psychologische Kriegsführung vom Bundesministerium für Verteidigung übernommen worden und als Kapitänleutnant unter anderem für »Ballonaktionen« im Grenzabschnitt Bayern zuständig gewesen.

»Meinst du, dass Fleissmann auch Leo Wagner kaufen kann?«

Wagenbreth formuliert nun endlich sein Ansinnen direkt, das er offenkundig als Plan in seinem Kopf hin- und herbewegt.

Leo Wagner ist einer der fünf Parlamentarischen Geschäftsführer der Unionsfraktion im Bundestag, er leitet auch die CSU-Fraktion als Parlamentarischer Geschäftsführer. Und Wagner ist ein Spezi von Franz Josef Strauß, des starken Mannes in Bayern und in der Union. Jahrelang führten wir Wagner unter dem Operativvorgang »Löwe«, 1970 warben wir ihn unter fremder Flagge an. Er lieferte gegen Bares brauchbare Information über die internen Diskussionen zu den Ostverträgen, und wir infiltrierten die CSU mit uns wichtigen Informationen. Wagner hatte trotz seiner beachtlichen Diäten immer Schulden, die er mit Zuwendungen von uns kompensierte. Natürlich lässt sich mit Geld im Westen alles regeln. Am Ende sind sie alle käuflich. Es ist lediglich eine Frage des Preises, nicht der Moral. Aber wenn wir Wagner/»Löwe« bei der Wahl bestechen würden, macht er vielleicht diesmal einen Rückzieher. Letzten Endes würde ihm der schwarze Unionsrock doch näher stehen als eine finanzielle Zuwendung direkt vom MfS. Also der Umweg über Fleissmann wäre vielleicht ein geschickter Schachzug und der erfolgversprechendere Weg. Wenn denn Wagner nicht erführe, dass das Geld aus Berlin kam.

»50.000 DM sollten als erstes Angebot reichen. Triff dich mit Fleissmann in Budapest und handele mit ihm die Modalitäten aus. Danach machen wir eine Vorlage für den Chef, damit er die Mäuse bewilligt.«

Das also ist Wagenbreths Plan. Zwei Stimmen besorgen, eine soll Kopp kaufen.

Ich erhebe mich, das Gespräch scheint damit beendet. Ich hatte seinerzeit Bedenken angemeldet, Wagner zu werben. Obgleich es gelang, bin ich unverändert skeptisch. Die Quelle »Löwe« ist der zweite Mann hinter Strauß. Der Ex-Bundesminister ist aktuell in der Oppositionsfraktion lediglich wirtschafts- und finanzpolitischer Sprecher, er gilt aber als der heimliche Herrscher in der Union. Er ist ein vehementer Kritiker der Ostpolitik von Brandt, die Sozis würden vor den sowjetischen Hegemonialansprüchen nur zurückweichen, statt diese zu bekämpfen. Im Schattenkabinett von CDU-Chef Barzel sind alle Fundamentalkritiker Brandts versammelt, Strauß wird dort als künftiger Bundesfinanzminister gehandelt. Wenn’s Spitz auf Knopf steht, dürfte sich Wagner immer für Strauß entscheiden.

Ausgerechnet dieser Wagner soll für Brandt stimmen? Für lächerliche 50.000 D-Mark? Ja, ich weiß, wenn einem das Wasser bis zum Hals steht, greift man nach jedem Strohhalm, der vorübertreibt. Dennoch …

Ich schleiche im Vorzimmer an Gertraude Eckert, Wagenbreths Sekretärin, vorbei und reagiere nicht auf ihren fragenden Blick. Ich überlege.

Über die üblichen Nachrichtenkanäle bestelle ich IM »Dürer« zum Gespräch nach Budapest. Fleissmann ist flexibel, als Journalist braucht er keine Legende zu erfinden, wenn er ins Ausland reist. Andere Quellen von uns, die im Operationsgebiet arbeiten, haben es da mitunter schwerer, um zu einem Treff im Ausland oder gar nach Berlin zu kommen.

Ich begegne Fleissmann im vereinbarten Hotel. Er ist wie stets standesgemäß gekleidet, er gibt den Verleger. Der Anzug: feiner Zwirn, dunkel im Ton, dazu eine teure, sehr schicke Krawatte und das passende Einstecktuch. Seine Stirn ist bereits kahl bis zum Hinterkopf, nur über den Ohren finden sich noch Haare. Die aber sind kurz geschnitten und gepflegt wie der ganze Mann. Er begrüßt mich freundlich, fast freundschaftlich. Ich vertraue ihm nur in Maßen. Wir sind Geschäftsleute auf dem Nachrichtenmarkt, keine Freunde oder gar Genossen.

Er fragt, wie meine Reise war, und moniert die Erschwernisse der seinigen. Er ist mit dem Auto über Österreich gekommen und von den ungarischen Grenzern gefilzt worden. Gott sei Dank unterlässt er es, mich zu bitten, dass ich ihn beim nächsten Mal avisiere. Er ist klug genug zu wissen, dass nicht vorhersehbar ist, wann und wo es unseren nächsten Treff gibt.

Wir trinken Kaffee und Wasser. Der Smalltalk plätschert dahin wie die Donau, wir sitzen in einer ruhigen Ecke, können alles sehen, werden aber selbst kaum hinter den Grünpflanzen entdeckt. Fleissmann hat offenkundig Zeit, ich habe sie nicht. In drei Stunden geht mein Flugzeug zurück nach Berlin-Schönefeld.

»Sie wissen vom 27. April?«

Fleissmann nickt. »Das wird eng werden für Willy.«

Ich schüttele den Kopf. »Genau das soll es nicht.«

»Wollen Sie etwa Stimmen bei der Opposition kaufen?« Georg Fleissmann ist ein kluger Kopf, er weiß genau, wohin der Hase läuft. Das macht es mir leicht.

»Genau.«

Der Nürnberger mit den ungarischen Wurzeln lacht kurz auf. »Und an wen hätten Sie gedacht?«

»An Leo Wagner.«

Fleissmann wiegt den Kopf bedächtig hin und her. Er hält also den Gedanken keineswegs für abwegig. Er kennt Wagner recht gut und weiß, dass der ständig auf dem Schlauch steht. Er selbst hat dem CSU-Mann schon manchen Umschlag aus Berlin zugesteckt und dafür ein Kuvert entgegengenommen.

»Wie viel wollen Sie ausgeben?«

»50.000.«

Im Gesicht von Fleissmann bewegt sich kein Muskel. Die Summe ist so riesig nicht, dass man den Mund aufreißen müsste, aber wiederum auch nicht so gering, dass man sie beleidigt zurückweisen könnte.

»10.000 für mich als Provision.«

Jetzt schlucke ich. Daran hatte ich nicht gedacht, dass der Briefträger auch selbst die Hand aufhalten würde. Ich überspiele meinen Schreck und sage gelassen: »Okay.«

Nun will er wissen, wie wir uns die Sache gedacht haben. Ich entwickle einen Plan. Die Überweisung muss kontrolliert, aber intransparent stattfinden. Noch gilt das Bankgeheimnis in der Bundesrepublik. »Es kommt ein Kurier von uns nach Nürnberg und übergibt Ihnen 50.000 DM in bar. Die zahlen Sie in unterschiedlichen Tranchen nach und nach auf Ihr Geschäftskonto ein. Am Tag der Wahl überweisen Sie das Geld auf ein Ihnen von Wagner genanntes Konto.«

»Immer vorausgesetzt, der lässt sich auf den Deal ein.«

»Das wird er«, sage ich entgegen meiner eigenen Überzeugung, meine Stimme klingt fest und frei jeglichen Zweifels, »wenn Sie ihm klargemacht haben, dass er einen solchen Betrag von Ihnen erhält, wenn er – im Interesse der Amerikaner – für Brandt stimmt.«

»Es kann Abweichler in beiden Lagern geben.«

Fleissmann nährt meine Skepsis.

»Sie sagen es: in beiden Lagern. Ich denke, das gleicht sich am Ende aus. Wir müssen nur die Mehrheitsstimmen besorgen.«

»Und wie viele sollen das sein? Wie viel macht das MfS locker, dass Brandt Bundeskanzler bleibt?«

Ich hebe verschwörerisch beide Hände und tue so, als würde ich dieses Staatsgeheimnis wahren. Dabei kenne ich es nicht einmal. Wagenbreth hat mir nicht gesagt, wie vielen Unionspolitikern ein finanzielles Zubrot in Aussicht gestellt werden soll, um Barzel scheitern zu lassen. Er sprach von zweien, vielleicht sind es mehr? Und ich kenne nur diesen einen, der gekauft werden soll, Wagner.

»Sie überweisen das Geld am Tag der Abstimmung und deklarieren den Betrag als Honorar, Ihnen wird schon was einfallen. Danach rufen Sie Wagner an und nennen ein vereinbartes Codewort. Meinetwegen: Schönes Wetter heute. So in etwa. Bei 50.000 geht doch selbst in Bonn für Wagner die Sonne auf.« Ich lache ein wenig affektiert.

»Soll ich vor oder erst nach der Abstimmung überweisen und anrufen?«

»Davor selbstverständlich. Man muss Wagner motivieren.«

»Er kann das Geld kassieren und trotzdem gegen Brandt stimmen. Wer will das kontrollieren? Es ist ja keine offene Abstimmung mit Handzeichen.«

Ich kenne unser Risiko. Das wäre der worst case: Brandt verliert sein Amt und wir unser Geld. Noch dazu in Devisen. Nicht auszudenken. Ich mache eine abwehrende Bewegung mit der Hand, die so viel heißt wie: wird schon schiefgehen. »Sie können die Überweisung stornieren, wenn es für Brandt nicht gereicht hat.«

»Und wann bekomme ich meine Prämie?«

»Wenn wir Brandts Sieg feiern.«

»Wollen Sie damit sagen, dass ich in die Röhre schaue, wenn Barzel gewinnt?«

Ich lächle mein Gegenüber an. »Sie heißen doch Georg, nicht Thomas, der erst die Wundmale von Jesus sehen wollte, um zu glauben, dass der Herr wirklich und wahrhaftig von den Toten auferstanden ist.«

Fleissmann grinst. »Ihr Kommunisten überrascht mich immer wieder. Ihr kennt euch nicht nur bei Marx, sondern auch noch in der Religion aus …«

»Na eben. Machen Sie Ihrem Namen Ehre: Georg tötete den Drachen.«

»Ja, aber die Legende erzählt auch, dass er als Märtyrer endete: Er starb während der Christenverfolgung in der Türkei.«

Jetzt müssen wir beide lachen. »So schnell stirbt man nicht. Schon gar nicht in einem Rechtsstaat. Und wenn Sie mal wieder in Berlin sein sollten: Da reitet der Heilige Georg als Denkmal im Volkspark Friedrichshain. Sehr imposant.«

Ich greife nach dem Portemonnaie. Fleissmann sagt gönnerhaft: »Lassen Sie mal, ich mache das schon …«, und winkt nach dem Kellner.

Ich erhebe mich und gebe ihm die Hand. »Ich verlasse mich auf Sie.«

»Und ich verlasse mich auf Sie«, sagt IM »Dürer« mit dem gleichen Nachdruck.

Noch im Flugzeug formuliere ich den Entwurf der Vorlage für Wagenbreth, die er beim Chef der Aufklärung einreichen wird.

Das ist die eine Stimme. Und wer bringt die zweite?

Am 27. April 1972, einem Donnerstag, überträgt das Westfernsehen die Bundestagssitzung. Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik will die Opposition gemäß Artikel 67 des Grundgesetzes die amtierende Regierung aus dem Amt treiben. Die Unionsfraktion hat den Antrag gestellt: »Der Bundestag spricht Bundeskanzler Willy Brandt das Misstrauen aus und wählt als seinen Nachfolger den Abgeordneten Dr. Rainer Barzel zum Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Der Bundespräsident wird ersucht, Bundeskanzler Willy Brandt zu entlassen.«

Während draußen Tausende für Brandt und seine Ostpolitik demonstrieren, drängen sich drinnen Abgeordnete und Journalisten. Auch die Besuchertribünen im Plenarsaal sind bis auf den letzten Platz besetzt. Jeder weiß: Heute wird Geschichte geschrieben – so oder so.

Um zehn Uhr tritt als erster Redner Brandts Vorgänger Kiesinger ans Pult und begründet den Antrag. Der Altkanzler nutzt seine Rede zu einer grundsätzlichen Abrechnung mit der sozialliberalen Koalition: Sie habe in nur zweieinhalb Jahren die »gesunden Staatsfinanzen zerrüttet«, das Volk in »Inflation verstrickt« und die »soziale Marktwirtschaft in ernste Gefahr« gebracht. Hauptgrund für den Misstrauensantrag aber seien die Ostverträge. Sie gefährdeten das »große Anliegen der Wiederherstellung der Einheit des deutschen Volkes«, in der jetzigen Form würden sie daher keine Mehrheit im Bundestag finden.

Es folgt eine dreistündige mitunter hitzige Auseinandersetzung, an deren Ende Willy Brandt seine Politik souverän verteidigt. Der Bundestagspräsident schließt 12.59 Uhr die Debatte, ruft zur Abstimmung und verkündet 13.22 Uhr das Ergebnis: 247 Abgeordnete haben für den Antrag gestimmt, 249 wären nötig gewesen. »Ich stelle fest, dass der von der Fraktion CDU/CSU vorgeschlagene Abgeordnete Barzel die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder nicht erreicht hat«, sagt er.

Barzels Gesicht versteinert, die beiden Regierungsfraktionen jubeln. Brandt blickt erleichtert.

Auch wir in Berlin sitzen vor den Fernsehgeräten und verfolgen das Schauspiel. Als das Ergebnis über den Bildschirm geht, wird nicht gejubelt, aber wir klopfen uns auf die Schulter. Wagenbreth sagt anerkennend: Kampfauftrag erfüllt, Genossen! Weiter so!

Ich frage ihn im Moment höchster Zufriedenheit nach der zweiten Stimme.

»Habe ich das nicht gesagt?«, erkundigt sich Wagenbreth scheinheilig. »Julius Steiner aus Baden-Württemberg. Er hängt bei uns schon seit zwei Jahren am Tropf. Ist eher eine mittelmäßige Quelle, aber diesmal hat er es gepackt.«

»Und, wie viel?«, frage ich nach.

»Gleicher Tarif. Ohne Provision.«

Das musste natürlich sein. Wagenbreth ist auch ein Meister im Nachtreten. Dafür ist er Abteilungsleiter.

Mit der Rettung von Bundeskanzler Willy Brandt – woran viele offizielle und inoffizielle Mitarbeiter der DDR-Auslandsaufklärung beteiligt waren – konnten die Bundesrepublik Deutschland und der Friedensnobelpreisträger von 1971 ihre vernünftige, auf Ausgleich und Versöhnung gerichtete Entspannungspolitik in Europa fortsetzen. Das wurde im östlichen wie im westlichen Ausland mit großer Genugtuung zur Kenntnis genommen.

Hat Willy Brandt von unseren Aktivitäten etwas mitbekommen?

In seinen Erinnerungen von 1989 schreibt er sibyllinisch: »Der damalige Schatzmeister meiner Partei, Alfred Nau, der mutige Antinazi, der mein uneingeschränktes Vertrauen besaß, […] hatte mir beiläufig gesagt, er glaube, dass alles gutgehen werde. Ich hatte und habe keinen Grund, dem eine geheimnisvolle Bedeutung zuzumessen.«

Woher aber nahm Nau, der Antinazi, seine Gewissheit?

Wie wird einer »Desinformant«?