Der Despot - Isolde Kurz - E-Book

Der Despot E-Book

Isolde Kurz

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Beschreibung

Neue Deutsche Rechtschreibung Isolde Kurz ist auch heute noch eine ambivalente Schriftstellerin. Schon in jungen Jahren selbstständig als Autorin und Übersetzerin, war sie eine Seltenheit im wilhelminischen Deutschland. Später jedoch geriet sie wegen ihres Schweigens im Dritten Reich und ihrer altmodischen Sprache in Kritik. Hervorzuheben sind ihre Werke "Vanadis" und "Florentiner Novellen". Isolde Kurz wuchs in einem liberalen und an Kunst und Literatur interessierten Haushalt auf. Anfang der 1890er Jahre errang sie erste literarische Erfolge mit Gedicht- und Erzählbänden. Null Papier Verlag

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Isolde Kurz

Der Despot

Roman

Isolde Kurz

Der Despot

Roman

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected] 2. Auflage, ISBN 978-3-962812-06-5

null-papier.de/katalog

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Ihr Jür­gen Schul­ze

Klas­si­ker bei Null Pa­pier

Ali­ce im Wun­der­land

Anna Ka­re­ni­na

Der Graf von Mon­te Chri­sto

Die Schat­zin­sel

Ivan­hoe

Oli­ver Twist oder Der Weg ei­nes Für­sor­ge­zög­lings

Ro­bin­son Cru­soe

Das Got­tes­le­hen

Meis­ter­no­vel­len

Eine Weih­nachts­ge­schich­te

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Der Despot

Erin­nern Sie sich, lie­be Freun­din, wie Sie vor Zei­ten ein­mal mit dem Schrei­ber die­ser Blät­ter das klei­ne Fried­höf­chen von La Tour de Peilz am Gen­fer See be­such­ten? – Die ers­ten Vo­gel­stim­men wa­ren in der Luft, und die Bäu­me zeich­ne­ten ihr zar­tes Ge­äs­tel noch laub­los, aber schon mit ver­dick­ten, drän­gen­den Knöt­chen wie mit aber­tau­send Per­len in den tief­blau­en Äther. Sie spra­chen nur die zwei Wor­te: Hei­li­ges Le­ben! Dann aber blick­ten Sie mich fra­gend an, weil ich vor ei­nem na­men­lo­sen Grab­stein mit be­frem­den­der In­schrift ste­hen blieb. Und Ihr al­ter Freund ver­sprach, Ih­nen von dem Schlä­fer zu er­zäh­len, des­sen Ruhe die­se Grab­schrift hü­tet. Ein Men­schen­al­ter ver­ging, be­vor er dazu die Muße fand. Jetzt, da er sich sel­ber an­schickt, in den dunklen Na­chen zu stei­gen, sen­det er Ih­nen die­se Blät­ter. Ver­fah­ren Sie da­mit nach Ihrem Er­mes­sen: strei­chen Sie, kür­zen Sie nach Be­darf, las­sen Sie Jah­re, Jahr­zehn­te ver­ge­hen, las­sen Sie die gan­ze Welt sich wan­deln; je­ner Tote hat Zeit zu war­ten. Nur ein­mal noch soll er im Glanz der Ju­gend­ta­ge wie­der auf­ste­hen, ehe die einst so ver­hei­ßungs­vol­len Züge für im­mer ver­lö­schen.

Kann sein, es lebt noch da und dort ei­ner, der ihn ge­kannt und ge­liebt und dann ver­ur­teilt hat. Kann sein, es sind noch ir­gend­wo Spu­ren sei­nes Wer­kes er­hal­ten. Dann fin­det er viel­leicht spät noch das Ver­ste­hen und die Los­spre­chung, die dem Le­ben­den ver­sagt wa­ren.

Sein Freund und der Ihre Ewers.

*

Was wa­ren das für gol­de­ne Tage, mei­ne Tü­bin­ger Stu­den­ten­ta­ge. Den­ke ich dar­an zu­rück, so höre ich tau­send Ler­chen zwit­schern!

Als Sohn deut­scher El­tern in Ame­ri­ka ge­bo­ren, hat­te ich schon ein Men­schen­le­ben hin­ter mir, als ich mit we­nig mehr als zwan­zig die klei­ne Uni­ver­si­tät am Neckar be­zog. Denn ich war seit frü­he­s­ter Ju­gend auf ei­ge­nen Fü­ßen ge­stan­den, hat­te als halb­wüch­si­ger Jun­ge in den Pam­pas klei­ne­re Jun­gen un­ter­rich­tet, war drei­zehn­jäh­rig in den Se­zes­si­ons­krieg ent­lau­fen, hat­te mit den In­dia­nern ge­lebt, war Zei­tungs­be­richt­er­stat­ter ge­wor­den, al­les ohne noch je­mals einen re­gel­rech­ten Un­ter­richt ge­nos­sen zu ha­ben. Da war dann plötz­lich in­mit­ten des tä­ti­gen Le­bens mein deut­sches Blut in mir er­wacht, das nach gründ­li­che­ren Kennt­nis­sen und ei­ner wis­sen­schaft­li­chen Aus­bil­dung dürs­te­te, und ich fuhr nach Eu­ro­pa, um mit ei­ner klei­nen Erb­schaft, die mir zu­ge­fal­len war, auf ei­ner deut­schen Hoch­schu­le durch Ge­schich­te, Li­te­ra­tur und ver­wand­te Fä­cher die Lücken mei­ner Weis­heit zu stop­fen.

In Tü­bin­gen fehl­te es mir aber zu­nächst an ei­nem pas­sen­den Um­gang. Zwi­schen ei­nem Men­schen von mei­ner bunt­sche­cki­gen Ver­gan­gen­heit und den Fa­mi­li­ensöh­nen, die ganz warm aus dem en­gen häus­li­chen Nest auf die Hoch­schu­le ka­men, war die Kluft zu groß. Ich ließ mir zu­wei­len einen der hart­tra­ben­den »Phi­lis­ters­gäu­le« sat­teln und ritt in den son­ni­gen Spät­herbst­ta­gen al­lein in die reiz­vol­le Ge­gend hin­aus. Im üb­ri­gen leb­te ich still über mei­nen Bü­chern und fand mich in­mit­ten des lau­ten Stu­den­ten­trei­bens ein­sam wie im Ur­wald.

Man spricht so­viel vom Blitz­strahl der Lie­be. Dass es auch einen Blitz­strahl der Freund­schaft gibt, wer­den we­ni­ge ver­ste­hen, ich aber soll­te es in je­ner Zeit er­fah­ren.

Ei­nes Mor­gens, als ich in ei­ner der lan­gen Al­leen spa­zie­ren­ging, die in drei­fa­cher Rei­he dem Städt­chen vor­ge­la­gert sind, be­geg­ne­te ich ei­nem jun­gen Mann von un­ge­wöhn­lich an­zie­hen­der Er­schei­nung, der in Gang und Hal­tung et­was Sol­da­ti­sches an sich hat­te, wo­mit ein selt­sam ab­we­sen­des, ver­träum­tes Auge im Wi­der­spruch stand. Er war mir durch sein ed­les Äu­ße­re schon frü­her in den Stra­ßen auf­ge­fal­len; auch zu Pfer­de hat­te ich ihn mehr­mals ge­se­hen und be­merkt, dass er kein Sonn­tags­rei­ter war, son­dern mit be­que­mer Selbst­ver­ständ­lich­keit im Sat­tel saß. Aber als er jetzt in dem ra­scheln­den Kas­ta­ni­en­laub nahe an mir vor­über­ging und mich mit ei­nem schnel­len Blick streif­te, da durch­fuhr mich’s: die­sen oder kei­nen suchst du dir zum Freund. Ich nahm es für eine gute Vor­be­deu­tung, dass ich ihn noch am sel­ben Vor­mit­tag in ei­nem Kol­leg über äl­te­re deut­sche Li­te­ra­tur wie­der­fand. Er saß nur we­nig von mir ent­fernt, und ich war die gan­ze Zeit über mehr mit ihm als mit dem Vor­trag be­schäf­tigt. Ich hät­te es kaum in Wor­te fas­sen kön­nen, was mich so ganz ei­gen zu ihm hin­zog. Aber al­les an ihm fes­sel­te mich: die Stirn, die un­ter dem dich­ten Haar mit ed­ler Wöl­bung in den Schä­del über­ging, die dunklen, über der Nase lei­se zu­sam­men­tref­fen­den Au­gen­brau­en, die Art, wie er den Kopf trug, lau­ter Äu­ßer­lich­kei­ten, die mir der Aus­druck für et­was wa­ren, wo­für ich noch kei­nen Na­men hat­te. Wäh­rend die an­de­ren mit vor­ge­neig­ten Köp­fen em­sig krit­zel­ten, hielt er die Au­gen ru­hig auf den Vor­tra­gen­den ge­hef­tet und mach­te nur dann und wann eine ra­sche Auf­zeich­nung. Von da ab sa­ßen wir fast einen Win­ter lang zwei­mal wö­chent­lich im glei­chen Hör­saal bei­sam­men, ohne je ein Wort zu tau­schen. Mein Herz brann­te da­nach, ihn an­zu­re­den, aber sein ab­ge­schlos­se­nes We­sen be­nahm mir den Mut. Und doch war ich si­cher, dass auch er mich be­merkt hat­te, denn bei je­dem be­son­de­ren An­lass be­geg­ne­ten sich un­se­re Au­gen. Ich will ihn Gu­stav Borck nen­nen, es ist der Name, den er sich spä­ter ge­wählt hat; warum ich sei­nen wirk­li­chen Na­men, dem ein »von« vor­ge­setzt war, nicht nen­ne, wird sich aus sei­ner Ge­schich­te von selbst er­klä­ren. Au­ßer dem Na­men konn­te ich nichts von ihm er­kun­den, als dass er Nord­deut­scher war, als Ju­rist im­ma­tri­ku­liert, und dass er ein Türm­chen hart am Neckar be­wohn­te, worin ein Uns­terb­li­cher in vier­zig­jäh­ri­ger geis­ti­ger Um­nach­tung ge­lebt hat­te. Dort konn­te man vom jen­sei­ti­gen Flus­sufer aus zu­wei­len sei­nen dunklen Kopf am Fens­ter er­ken­nen.

Was sich an­zieht, muss sich end­lich fin­den. Bei ei­nem Fest­kom­mers zu Ehren ei­nes schei­den­den Leh­rers er­gab es sich, dass wir bei­de ne­ben­ein­an­der zu sit­zen ka­men. Ich stell­te mich vor, wie ich’s die an­dern tun sah:

Ge­stat­ten Sie – – mein Name ist Ewers.

Er er­hob sich: Mein Name ist Borck.

Eine Ver­beu­gung, dann setz­ten wir uns, aber durch die dür­re For­mel hin­durch grüß­ten sich un­se­re See­len.

Sie sind Ame­ri­ka­ner, ich weiß von Ih­nen, sag­te er ver­bind­lich. Sie sind so glück­lich, ei­nem großen Ge­mein­we­sen an­zu­ge­hö­ren und schon viel ge­se­hen zu ha­ben. Ich be­nei­de Sie.

Die lei­se Bit­ter­keit die­ser Wor­te war die Fol­ge der un­säg­lich be­en­gen­den Ver­hält­nis­se des da­mals noch un­ge­ein­ten Deutsch­land. Ich aber fühl­te mich da­durch ge­ho­ben, als ob man mir ein Adels­di­plom auf den Tisch ge­legt hät­te.

Jene Nacht wur­de die Ge­burts­nacht ei­ner Freund­schaft, die durch eine Rei­he von Jah­ren den stärks­ten In­halt mei­nes Le­bens ge­bil­det hat. Wir schlos­sen uns zu­sam­men, wie wenn je­der dem an­dern bis­her zu sei­nem Da­sein ge­fehlt hät­te. Ich be­wun­der­te ihn als Vor­bild alt­ver­erb­ter, ver­edel­ter Kul­tur, er sah in mir, wo­nach sein hef­ti­ges Ver­lan­gen stand: Frei­heit und Welt­wei­te.

Sie ha­ben noch gar nichts ge­dacht, aber Sie ha­ben ge­lebt, pfleg­te er mir un­ter den ver­schie­dens­ten For­men im­mer wie­der zu sa­gen. Ich, der nicht le­ben darf, wan­de­re mit dem Geist durch Raum und Zeit; so ge­ben wir zwei zur Not einen gan­zen Men­schen.

Gu­stav Borck stamm­te aus alt­preu­ßi­schem Mi­li­tära­del, für den es sich von selbst ver­stand, dass der ein­zi­ge Sohn ei­ner töch­ter­rei­chen Of­fi­ziers­fa­mi­lie, de­ren Vor­fah­ren die Schlach­ten Fried­richs mit­ge­schla­gen hat­ten, in der Kriegs­schu­le er­zo­gen wur­de. Al­lein die­ser feu­ri­ge und selbst­herr­li­che Mensch war wie durch ein Ver­se­hen der Na­tur in sei­ne steif­lei­ne­ne Um­welt hin­ein­ge­bo­ren; statt wie die Ka­me­ra­den mit vol­len Lun­gen den Kas­ten­geist ein­zuat­men, be­hielt er auch in der An­stalt sei­nen ei­ge­nen Geist, mit dem er bei Vor­ge­setz­ten und Mit­schü­lern an­s­tieß. Zu Hau­se in den Fe­ri­en war es fast noch schlim­mer, denn da herrsch­te die­sel­be strengs­ol­da­ti­sche Le­bens­auf­fas­sung, und er konn­te sich we­der mit den El­tern noch mit den Schwes­tern ver­ste­hen, die die Dienst­ord­nung aus­wen­dig wuss­ten und von nichts re­de­ten als von Übungs­platz und Trup­pen­schau. Sein Va­ter, ein Ve­teran aus den Schles­wig-Hol­stein­schen Kämp­fen, der mit ei­ner Ku­gel im Bein, die er sich vor den Düpp­ler Schan­zen ge­holt hat­te, und dem Obers­ten­rang ver­ab­schie­det war, er­war­te­te im stil­len Gro­ßes von die­sem Soh­ne, be­han­del­te ihn aber mit Stren­ge, um sein Frei­heits­ge­fühl und die Nei­gung zu au­ßer­mi­li­tä­ri­schen Din­gen in ihm nie­der­zu­hal­ten. Es half nichts, dass die­ser in der An­stalt nicht bloß als be­gab­tes­ter Kopf, son­dern auch als bes­ter Rei­ter und Fech­ter galt; was sein Va­ter an ihm ver­miss­te, konn­te und woll­te er sich nicht ge­ben. Nur an sei­ne frü­he­s­ten Ju­gend­jah­re, die er bei ei­nem müt­ter­li­chen Oheim in Pa­der­born zu­brach­te, dach­te er mit Freu­de als an die ein­zig glück­li­che Zeit sei­nes Le­bens zu­rück. Der alte Herr war Jus­tiz­be­am­ter, hat­te aber so et­was wie ein Poe­ten­ge­müt und wid­me­te sei­ne gan­ze freie Zeit der Er­kun­dung und Samm­lung va­ter­län­di­scher Al­ter­tü­mer. Sei­ne um­fang­rei­che Biblio­thek, worin der früh­rei­fe Kna­be un­ge­hin­dert wühl­te, und die Stil­le der nord­deut­schen Ebe­ne ga­ben sei­ner Fan­ta­sie eine über­schweng­li­che Nah­rung und för­der­ten den Hang zum Gren­zen­lo­sen, der von Na­tur in ihm lag. So konn­te er sich in ei­nem Be­ruf, wo je­der Schritt von oben ge­lenkt und nir­gends Raum für das Per­sön­li­che war, nicht an­ders als tod­un­glück­lich füh­len.

Da kam das Jahr Sechs­und­sech­zig. Mit Ju­bel zog er von der Kriegs­schu­le weg ins Feld, denn der Krieg be­deu­te­te ihm Frei­heit und Le­ben. Er fand bei der schwe­ren Ver­wun­dung sei­nes un­mit­tel­ba­ren Vor­ge­setz­ten die Ge­le­gen­heit, sich aus­zu­zeich­nen und kehr­te mit den Ach­sel­stücken und der Aus­sicht auf eine ra­sche Lauf­bahn im Ge­ne­ral­stab nach Hau­se. Jetzt war das Ent­zücken der Fa­mi­lie groß, aber nach zwei Jah­ren voll Zwie­spalt und Pein mach­te er al­lem Wün­schen und Hof­fen ein jä­hes Ende, in­dem er den bun­ten Rock aus­zog, um zu stu­die­ren. Je­ner Mut­ter­bru­der, dem er die schö­nen Jah­re sei­ner Kind­heit ver­dank­te, hat­te bei dem Ent­schluss mit­ge­wirkt. Da­mit wur­de die Kluft zwi­schen ihm und sei­nem El­tern­hau­se un­aus­füll­bar; die Mut­ter zog sich schein­bar noch wei­ter von ihm zu­rück als der Va­ter, sie schäm­te sich, dem Mann, den sie lieb­te, kei­nen Sohn nach sei­nem Her­zen ge­bo­ren zu ha­ben. Mit sol­chem Riss im Le­ben lief Gu­stav Borck in den er­sehn­ten Ha­fen der Hoch­schu­le ein. Nach Rat und Bei­spiel des Oheims wähl­te er die Ju­rispru­denz, der er denn auch mit Pf­licht­ge­fühl ob­lag, aber nur um jetzt am Ziel sei­ner Wün­sche zu er­ken­nen, dass ihn das Rechts­we­sen ge­nau so öde an­blick­te wie das Sol­da­ten­spiel im Frie­den. Nur an den brot­lo­sen Ne­ben­fä­chern, die er um so feu­ri­ger trieb, er­lab­te sich sei­ne lech­zen­de See­le. In die klei­ne Uni­ver­si­täts­stadt am Neckar hat­te ihn, wie so man­chen Nord­deut­schen, der Ruf ge­zo­gen, dass dort wohl­feil zu le­ben sei, auch war ei­ner der ju­ris­ti­schen Lehr­stüh­le glän­zend be­setzt; den Aus­schlag moch­te je­doch der Wunsch ge­ge­ben ha­ben, so weit wie mög­lich von sei­ner Fa­mi­lie ent­fernt zu sein.

So kam es, dass Gu­stav Borcks Le­bens­weg sich auf die­sem Kreu­zungs­punkt mit dem mei­nen tref­fen muss­te, und von all den viel­ge­stal­ten Be­geg­nun­gen mei­nes Le­bens ist kei­ne in­ner­lich be­deu­tungs­vol­ler für mich ge­wor­den als die­se. Auf al­len Ge­bie­ten des Geis­tes, die ich als tas­ten­der Neu­ling be­trat, ge­hab­te er sich wie ein Kö­nig im an­ge­stamm­ten Rei­che. Gin­gen wir nach der Vor­le­sung noch eine Stre­cke zu­sam­men, so ver­nahm ich aus sei­nem Mun­de man­ches Wort über den glei­chen Ge­gen­stand, das mir hun­dert­mal mehr zu den­ken gab, als die Wor­te des Leh­rers, und vie­les hat sich da­mals mei­nem Ge­dächt­nis ein­ge­prägt, was ich erst in rei­fe­ren Ta­gen rich­tig ver­ste­hen konn­te. Es schi­en mir dann im­mer, als hät­te er einen Ge­heim­schlüs­sel zu all den Din­gen, vor de­ren Tür die an­dern im Dun­kel tapp­ten.

Ei­nes Ta­ges nach ei­nem tro­ckenen Sha­ke­s­pea­re-Kol­leg, das ich je­doch pflicht­schul­dig nach­ge­schrie­ben hat­te, soll­te ich plötz­lich inne wer­den, was für ein Schlüs­sel das war.

O die Metho­de! die Metho­de! sag­te er. Die Erb­sün­de der Deut­schen! Mit was für He­beln und Schrau­ben ge­hen sie dem ar­men Ge­ni­us zu Lei­be. Der aber macht sich schlank und schlüpft ih­nen aus den Hän­den und lässt die gan­ze stau­nens­wer­te Ge­lehr­sam­keit im Dun­keln su­chen und ra­ten, wie er zu Wer­ke geht.

Wie geht er nach Ih­rer An­sicht zu Wer­ke? frag­te ich, nach je­dem sei­ner Wor­te be­gie­rig wie nach ei­nem Gold­korn ha­schend.

Er lach­te lei­se vor sich hin.

So ist’s recht. Sie fra­gen wie ein Mo­hi­ka­ner, ohne alle Ge­lehr­sam­keit, aber zum Zweck. Wie geht er zu Wer­ke? Gar nicht geht er zu Wer­ke. Er sucht nicht die Poe­sie, sie kommt zu ihm, er at­met sie ein und aus, er fin­det nur sie im Le­ben, weil er al­les an­de­re als lee­re Scha­le lie­gen lässt.

Aber auf wel­chem Wege kommt sie zu ihm?

Durchs Ohr.

Durchs Ohr?

Ja­wohl, durch das of­fe­ne Ohr, in das al­les Le­ben­de sei­ne Beich­te flüs­tert. Wa­rum sind Goe­the, Sha­ke­s­pea­re, Dan­te so groß, als weil sie die größ­ten Beicht­vä­ter des Men­schen­ge­schlech­tes wa­ren? Und kei­ner ist be­rech­tigt, sich einen Dich­ter zu nen­nen, dem es nichts von sei­nen ge­heims­ten Heim­lich­kei­ten an­ver­trau­en mag. Es sind aus­ge­plau­der­te Beicht­ge­heim­nis­se, wo­mit uns Sha­ke­s­pea­re oft so jäh­lings bis ins Mark er­schüt­tert.

Mein­te nicht der tro­ckene Herr auf dem Ka­the­der et­was ähn­li­ches, als er von des Dich­ters Le­bens­kennt­nis und Beo­b­ach­tung sprach?

Le­bens­kennt­nis! Beo­b­ach­tung! rief er em­pört, als wäre er per­sön­lich be­lei­digt. Ist denn der Dich­ter ein De­tek­tiv? Was soll­te er mit der Beo­b­ach­tung? Nichts, was das Le­ben lie­fert, kann die Dich­tung, so wie es ist, ge­brau­chen, und doch sind alle ihre Ge­bil­de schon ir­gend­wo auf Men­schen­bei­nen ge­gan­gen. Ver­ste­hen Sie, lie­ber Un­kas, wie ich es mei­ne?

»Un­kas« nann­te er mich nach dem »Letz­ten Mo­hi­ka­ner« aus dem »Le­der­strumpf«, wenn er mir be­son­ders wohl­woll­te.

Ich muss­te be­ken­nen, dass ich ihn ganz und gar nicht ver­stand, es schi­en mir viel­mehr, als ob er sich ge­ra­de­zu wi­der­spre­che.

Der Stoff, den der Dich­ter zu kne­ten be­kom­men hat, sag­te er mit Nach­druck, mehr und mehr in Feu­er ge­ra­tend, ist im­mer nur er selbst. Wohl fin­det er auch in sei­ner Um­welt die le­ben­di­gen An­sät­ze zu sei­nen Cha­rak­ter­ge­bil­den, und wo ihm ein sol­cher be­geg­net, da schie­ßen ihm gleich die ver­wand­ten Züge von al­len Sei­ten zu. Aber den zeu­gen­den Ur­stoff, in dem sie sich zur un­lös­li­chen, na­tur­ge­woll­ten Ein­heit zu­sam­men­fin­den, den Le­bens­fun­ken, der sie erst ste­hen und ge­hen macht, holt er aus dem ei­ge­nen In­nern. Denn in sich hat er das Zeug zu al­len Cha­rak­teren und Lei­den­schaf­ten, er um­spannt mit sei­ner Na­tur die gan­ze Stu­fen­lei­ter der Mensch­heit und reicht von der einen Sei­te bis an den Hei­li­gen, mit der an­dern an den Ver­bre­cher. Die­se Fä­hig­kei­ten aber, die ihm nicht des Han­delns we­gen ge­ge­ben sind, ru­hen zu­nächst un­be­wusst und un­tä­tig in ihm; sie wol­len erst auf­ge­regt und be­fruch­tet sein. Da­für ist nun das Le­ben da. Es be­rührt ihn mit ir­gend­ei­ner Er­fah­rung, ei­nem in­ne­ren Er­leb­nis, das viel­leicht für einen an­de­ren gar kei­nes wäre, denn was ein rech­ter Poet ist, der er­leb­t fort und fort, von au­ßen und von in­nen. Solch ein Er­leb­nis, sei es ein Vor­gang oder viel­leicht nur ein Wort, eine er­hasch­te Ge­bär­de, ir­gend­ein Laut aus den Tie­fen der Men­schen­brust, ein Blick, der stär­ker ge­trof­fen hat, springt wie ein Keim in sei­ne See­le. Da bleibt er un­be­wusst lie­gen, aber er ruht nicht, er ver­wan­delt sich ganz lei­se und un­be­merkt, er ist in Bäl­de nicht mehr, was er ur­sprüng­lich ge­we­sen. Er wächst im­mer wei­ter, in­dem er ver­wand­te Stof­fe des In­nern an sich zieht. Von die­sen form­lo­sen, aber in­ner­lich be­fruch­te­ten Zel­len­ge­bil­den ist des Dich­ters See­le ganz voll, sie tau­chen be­stän­dig in ihm auf und nie­der, er greift hin­ein, wenn er ih­rer be­darf. Sie sind gleich­sam der Ur­ne­bel, aus dem er sei­ne Ge­stal­ten formt. So mein­te ich das. Habe ich mich jetzt ver­ständ­lich ge­macht?

Ich nick­te, um ihm nur nicht ganz als Bö­otier zu er­schei­nen. Aber tat­säch­lich schwank­te mir das Hirn. Ich raff­te alle mei­ne Geis­tes­kräf­te zu­sam­men, um zu der na­he­lie­gen­den Fra­ge zu kom­men: Wo­her wis­sen Sie denn, wie dem Dich­ter zu­mu­te ist?

Weil ich auch ei­ner bin.

Ich sah ihn mit scheu­em Stau­nen von der Sei­te an. Alle Ar­ten von Men­schen hat­te ich schon ge­se­hen, Kauf­leu­te und Sol­da­ten, Rich­ter, Geist­li­che und Zei­tungs­schrei­ber, einen Dich­ter nie­mals. Aber au­gen­blick­lich stand es in mir fest: Ja, er ist ei­ner, so muss ein Dich­ter aus­se­hen.

Gu­stav aber lach­te plötz­lich laut und bit­ter auf und schlug sich mit der Faust auf den Mund.

Ich ein Dich­ter? – Ein Bru­der Lang­ohr bin ich, der sei­nen Sack zur Müh­le trägt wie die an­de­ren auch. Ver­ges­sen Sie, was ich Ih­nen da vor­ge­schwatzt habe. Wer darf über­haupt von sol­chen höchs­ten Din­gen re­den? Es geht al­les irre, ist al­les nur Ge­stam­mel und Wi­der­spruch.

Wenn ich mei­nem neu­en Freund auch nicht im­mer auf sei­nen Denk­we­gen fol­gen konn­te, so dan­ke ich es doch ihm, dass ich nicht wie tau­send an­de­re mit ei­nem Ran­zen voll fer­ti­ger Be­grif­fe, wor­an sich her­nach nichts mehr än­dern lässt, von der Hoch­schu­le ge­kom­men bin. Denn nie ließ er mich un­ge­stört die be­que­me Stra­ße ein­schla­gen, auf der die Mehr­zahl der stu­die­ren­den Ju­gend hin­ter den Wor­ten des Meis­ters her­wan­del­te, im­mer wies er auf ir­gend­ei­nen ab­sei­ti­gen Fuß­pfad, der nach ei­nem ein­sa­men Aus­sichts­punkt führ­te.

All­mäh­lich fand sich ein klei­ner Kreis von jun­gen Leu­ten zu­sam­men, die alle in der glei­chen Ge­dan­ken­welt leb­ten. Wir tra­fen uns des Abends in dem be­lieb­ten Stu­den­ten­kaf­fee­haus Mol­fetta. Ein klei­nes Sei­ten­ge­lass, nicht grö­ßer als ein Al­ko­ven, hart ne­ben der An­rich­te, wo die Schwes­ter des Wirts, eine schö­ne blas­se Süd­ti­ro­le­rin, den Kaf­fee brau­te, das köst­lich duf­ten­de Ge­tränk von Mok­ka, Por­to­ri­ko und ge­brann­tem Zu­cker, für das sie eben so be­rühmt war wie für ihre dunklen, schwer­mü­ti­gen Au­gen, war der Schau­platz un­se­rer Zu­sam­men­künf­te. Die­ser be­schei­de­ne Raum hör­te da­mals man­chen an­re­gen­den Ge­dan­ken, man­ches un­ge­wöhn­li­che Wort, das man gern in sein spä­te­res Le­ben hin­über­ge­nom­men hät­te, zum Ge­nuss des Au­gen­blicks ver­rau­schen. Denn dort sa­ßen wir die hal­be Nacht hin­durch, fünf, sechs jun­ge Ge­sel­len mit Gu­stav Borck als un­se­rem Kö­nig.

Wenn ich an die Ta­fel­run­de bei Mol­fetta zu­rück­den­ke, so drän­gen sich vor al­lem drei blon­de, echt ger­ma­ni­sche Häup­ter in mei­ne Erin­ne­rung. Da war ein großer, ha­ge­rer Rhein­län­der mit blei­chem Ge­sicht und star­ken Ba­cken­kno­chen, der einen ver­kürz­ten Arm hat­te, Kuno Schüt­te, der nach­ma­li­ge be­kann­te Theo­soph. Er war schon da­mals ein Son­der­ling, der es lieb­te, nie ge­nau wis­sen zu las­sen, was er tat, und sich einen An­schein von All­ge­gen­wart zu ge­ben, in­dem er im­mer auf­tauch­te, wo man ihn nicht er­war­te­te. Er hat­te den­sel­ben un­wi­der­steh­li­chen Zug zu Gu­stavs We­sen wie ich, leg­te ihn aber auf sei­ne ei­ge­ne mys­ti­sche Wei­se aus, in­dem er sich ein­bil­de­te, ihm ir­gend­wann in ab­ge­leb­ten Zei­ten na­he­ge­stan­den zu ha­ben. Da war der stäm­mi­ge, blat­ter­nar­bi­ge Hein­rich Som­mer, Preu­ße von Ge­burt und ehe­ma­li­ger Theo­lo­ge, der sich lan­ge mit re­li­gi­ösen Zwei­feln ge­quält hat­te und noch in ho­hen Se­mes­tern zur Me­di­zin über­ge­gan­gen war, um spä­ter ein nam­haf­ter Chir­urg zu wer­den. Da war end­lich un­ser Ben­ja­min, der rüh­rend ju­gend­li­che und schö­ne Olaf Han­sen, ein Lan­des­kind, aber von schwe­di­schen Ur­el­tern stam­mend. Die üb­ri­gen wa­ren mehr oder we­ni­ger Stroh­män­ner, stum­me Per­so­nen, und ge­hör­ten nicht zum fes­ten Be­stand un­se­res Krei­ses. Wir Fün­fe aber hin­gen fest zu­sam­men, durch Gu­stavs Über­le­gen­heit wie mit ei­nem ge­mein­sa­men Stem­pel ge­prägt. Nach Stu­den­ten­brauch stan­den wir alle bald auf Du; nur Gu­stav Borck blieb au­ßer der Ver­trau­lich­keit und im­mer von ei­nem letz­ten Rät­sel wie von ei­ner ge­heim­nis­vol­len Wol­ke um­ge­ben. Er be­herrsch­te das Ge­spräch, auch wenn er schwieg, was oft hal­be Aben­de lang der Fall war; er wirk­te dann durch sei­ne blo­ße Ge­gen­wart geis­tig ein. Kam es zu Re­de­kämp­fen, so gab sein Wort den Aus­schlag, und da­bei fiel mir auf, dass er sel­ten et­was ganz Au­ßer­or­dent­li­ches, son­dern meist nur das schein­bar Na­he­lie­gen­de sag­te, das wir an­de­ren über­se­hen hat­ten. War es aus­ge­spro­chen, so ver­stand es sich von selbst. Ein­zig Olaf Han­sen traf zu­wei­len den Na­gel noch bes­ser auf den Kopf, aber bei ihm klang es, wie wenn ein Kind et­was Tief­sin­ni­ges sagt, des­sen Trag­wei­te ihm sel­ber ver­bor­gen ist.

Am glück­lichs­ten war ich, wenn Borck ein Buch aus der Ta­sche zog und aus Sha­ke­s­pea­re oder Kleist vor­las. Er be­saß zwar nicht die Gabe, von ei­ner Rol­le in die an­de­re zu schlüp­fen und dem Dich­ter­wort mit der Stim­me Kör­per und Far­be zu ge­ben, da­für war sein nor­di­sches We­sen zu sprö­de, aber er leb­te dann so ganz in der Dich­tung, dass kei­ne Schön­heit un­ge­fühlt vor­über­ging, und der Raum füll­te sich mit über­mensch­li­chen Ge­stal­ten. Mit­un­ter las er auch Ge­dich­te vor, in der­sel­ben gleich­mä­ßig ge­ho­be­nen Ton­art, und ver­lang­te un­ser Ur­teil zu hö­ren. Wir ahn­ten, dass es die sei­ni­gen wa­ren, und da wir alle un­ter sei­nem Ban­ne stan­den, so fan­den wir die Ge­dich­te wun­der­voll und lob­ten sie über die Ma­ßen. Nur Olaf sag­te ge­le­gent­lich in sei­ner ein­fa­chen Art, dass ihn dies oder je­nes nicht be­frie­di­ge, doch ohne sein Ur­teil be­grün­den zu kön­nen. Dann zer­riss Borck das Blatt auf der Stel­le. Ich glaub­te, es ge­sch­ehe aus Är­ger, und mach­te ihm ein­mal Vor­wür­fe dar­über, wo­bei mir die Be­mer­kung ent­fuhr, dass Olaf doch zu jung sei, um mit sei­ner Mei­nung ernst ge­nom­men zu wer­den.

Die Jah­re tun nichts zur Sa­che, ant­wor­te­te Gu­stav ab­wei­send.

Auch Olaf mach­te Ver­se, die er uns dann und wann vor­trug. Er sag­te sie mit lei­ser, et­was zit­tern­der Stim­me ganz kunst­los her, wo­bei er die Au­gen schloss und sehr bleich wur­de. Es klang nur, wie wenn ein Bäch­lein über Kie­sel mur­melt. Ich wun­der­te mich, dass Gu­stav Borck mit wah­rer An­dacht zu­hör­te, denn für uns an­de­re war es nur ein Ge­stam­mel.

Die Ver­se des gu­ten Jun­gen sind aber doch gar zu kind­lich, äu­ßer­te ich ein­mal ge­gen ihn, da sah er mich selt­sam an und er­wi­der­te: Gott ist mehr im Säu­seln der Blät­ter als im Heu­len des Stur­mes. Las­sen Sie mir Olafs Ver­se un­ge­rupft.

Wenn wir an­de­ren auch mit Olafs Ge­dich­ten nicht viel an­zu­fan­gen wuss­ten, für die le­ben­di­ge Poe­sie sei­ner Ge­gen­wart hat­ten wir alle eine Emp­fin­dung. Wenn er her­ein­trat, so war’s, als wür­de ein Veil­chen­strauß auf den Tisch ge­stellt. Jun­ge Mäd­chen, auch die lieb­lichs­ten und un­schul­digs­ten, schie­nen im Ver­gleich zu ihm ir­di­scher und min­der rein. Von der Welt wuss­te er so gut wie nichts und miss­trau­te nie­mand. Er sah aus, als ob er die Spra­che der Tie­re ver­stün­de und mit den Na­tur­kräf­ten auf du und du sei. Er hat­te kein ei­gent­li­ches Fach­stu­di­um, son­dern hör­te nur we­ni­ge Kol­le­gi­en, die ihn be­son­ders an­zo­gen, aber er las viel, um die Män­gel sei­ner Vor­bil­dung aus­zu­glei­chen, weil er durch Kränk­lich­keit am re­gel­rech­ten Schul­be­such ver­hin­dert wor­den war. Zu­kunfts­plä­ne mach­te er auch kei­ne, und er glich ei­ner Pflan­ze, die nur zum Blü­hen, nicht zum Früch­te­tra­gen be­stimmt ist. Es war ein of­fe­nes Ge­heim­nis, dass er mit schwär­me­ri­scher Ver­eh­rung an der blas­sen Ade­le hing, die ih­rer­seits nur Au­gen hat­te für Gu­stav Borck. Wenn sie mit der Be­die­nung der Korps­stu­den­ten, die im großen Saa­le über uns ih­ren Stamm­sitz hat­ten, fer­tig war, kam sie her­un­ter und setz­te sich zu uns an den Tisch, um Gu­stav vor­le­sen zu hö­ren.

Er nahm aber ihr Wohl­ge­fal­len kalt auf, und als ich ihn ein­mal da­mit neck­te, sag­te er oben­hin:

Es gilt ja doch al­les bloß der Mon­tur (wo­mit er sei­ne stol­ze männ­li­che Er­schei­nung mein­te), für das Bes­te in uns ha­ben die Mäd­chen kei­ne Fühl­hör­ner.

Über­haupt ge­fiel er mir in Frau­en­ge­sell­schaft am we­nigs­ten. Ohne ir­gend frech zu sein, lag doch in sei­ner Stel­lung zum weib­li­chen Ge­schlecht so et­was wie eine lei­se Missach­tung.

Olaf Han­sen sah dies auch, und es kränk­te ihn für die mit An­dacht Ge­lieb­te, wes­halb er Gu­stav lan­ge Zeit mit Zu­rück­hal­tung be­geg­ne­te. Auch moch­te das straf­fe­re, ziel­be­wuss­te, nord­deut­sche We­sen den harm­los vor sich Hin­le­ben­den be­frem­den. Er war der ein­zi­ge, der sich, frei­lich in der sanf­tes­ten Wei­se, sei­ner Herr­schaft ent­zog. Da­ge­gen beug­te sich je­ner stol­ze Geist vor Olafs Kin­der­see­le, und selt­sam war es, dass, wäh­rend wir an­de­ren Olaf lieb­ten und heg­ten, Gu­stav aber be­wun­der­ten, die­ser der zar­ten, ver­letz­li­chen Men­schen­blu­me eine Art von Ehr­furcht ent­ge­gen­brach­te. Die miss­ver­stan­de­nen Grie­chen, sag­te er ein­mal, wuss­ten wohl, warum sie im Jüng­ling, nicht in der Jung­frau, die auf­ge­bro­che­ne Blü­te der Mensch­heit ver­ehr­ten. Das Mäd­chen ist das un­fer­ti­ge, der Jüng­ling das vollen­de­te Ge­bild. Sei­ne Un­schuld ist nicht Na­tur­zu­stand wie die ihre, dumpf und pflan­zen­haft, sie ist ein Zu­stand der Gna­de, se­hend, all­um­fas­send wie das Son­nen­licht; in ihr spie­geln sich die ewi­gen Din­ge.

Und spä­ter, setz­te er weg­wer­fend hin­zu, glaubt der Mann fort­zu­schrei­ten, weil er die ver­gäng­li­chen bes­ser sieht.

Ei­nes Abends ge­sell­te sich ein Durch­rei­sen­der zu uns, der durch einen von der Ge­sell­schaft ein­ge­führt war. Er ge­hör­te nicht zu den aka­de­mi­schen Krei­sen, hat­te aber da­für ein Stück Welt ge­se­hen und be­trug sich vor­laut und takt­los. Als es ge­gen Mit­ter­nacht ging und er schon meh­re­re Glä­ser Li­kör ge­leert hat­te, be­gann er sich in Zwei­deu­tig­kei­ten zu ge­fal­len, die Fräu­lein Ade­le ver­an­lass­ten, sich un­auf­fäl­lig in ih­ren An­richt­win­kel zu­rück­zu­zie­hen. Trotz der kal­ten Auf­nah­me, die er fand, und trotz der ab­len­ken­den Zwi­schen­re­den des Ver­wand­ten, der ihn mit­ge­bracht hat­te, blieb der Ein­dring­ling in der an­ge­schla­ge­nen Ton­art und be­gann ge­wis­se Hi­stör­chen zu er­zäh­len, die er für wit­zig hielt, die aber nur ge­mein wa­ren.

Sei’s, dass uns der Kopf schon schwer war vom ge­nos­se­nen Punsch, sei’s, dass die Ödig­keit sei­nes Spre­chens sich läh­mend auf uns leg­te, wir sa­ßen an­ge­wi­dert aber stumm und fan­den nicht den rich­ti­gen Au­gen­blick, ihm das Wort zu ent­zie­hen; er brach­te auch nichts ge­ra­de­zu Gro­bu­n­an­stän­di­ges vor, es war nur wie lei­ses Ein­si­ckern von schmut­zi­gem Was­ser und dazu noch ganz un­säg­lich al­bern. Olaf leg­te den Kopf ge­gen die Stuhl­leh­ne und schloss die Au­gen, als ob ihm kör­per­lich übel wür­de.

Da er­hob sich Borck, der bis­her mit ver­ächt­lich zu­cken­den Mund­win­keln ge­ses­sen hat­te, und be­weg­te sich nach dem un­te­ren Ti­schen­de. Ich glaub­te, er wol­le sei­nen Hut vom Na­gel neh­men, um fort­zu­ge­hen, aber er pack­te den Ein­dring­ling am Kra­gen, schüt­tel­te ihn mit ei­ner Kraft, die nie­mand hin­ter sei­ner schlan­ken Ge­stalt ge­sucht hät­te, und stieß ihm den Kopf auf die Tisch­plat­te, riss ihn dann wie­der in die Höhe, drück­te ihn aber­mals auf den Tisch, und so sechs- bis sie­ben­mal in re­gel­mä­ßi­gen Ab­sät­zen, dass es dröhn­te und dem Ge­maß­re­gel­ten Hö­ren und Se­hen ver­ging. Dann kehr­te er ge­las­sen an sei­nen Platz zu­rück, als wäre nichts ge­sche­hen. Nie­mand sag­te ein Wort zu dem selt­sa­men Auf­tritt, auch nicht der Ge­züch­tig­te selbst, der eine Zeit lang ganz be­nom­men saß, mit blö­den Au­gen vor sich hin­glotz­te und sich dann tau­melnd ent­fern­te.

Wir wa­ren noch alle stumm nach die­sem un­er­war­te­ten Straf­ge­richt, als Olaf sein Kelch­glas er­hob und fei­er­lich sag­te:

Auf Ihr Wohl, Borck!

Da spran­gen alle auf die Füße und stie­ßen mit an, auch je­ner Mit­gast, der den Un­hold ein­ge­führt hat­te und sich jetzt sei­nes Schütz­lings schäm­te.

Als wir auf­bra­chen, glitt Ade­le wie eine La­zer­te her­bei und sag­te, in­dem sie dem Hel­den des Abends den Hut reich­te:

Das ha­ben Sie groß­ar­tig ge­macht, Herr von Borck. Ich wer­de es nie ver­ges­sen, wie Sie den gars­ti­gen Men­schen pack­ten. Und ich muss Ih­nen sehr, sehr dan­ken.

Zum Dan­ken liegt kein Grund vor, ant­wor­te­te er kühl. Glau­ben Sie denn, ich möch­te sel­ber im Schmutz­was­ser ba­den? Ganz zer­knickt schlich die Ärms­te an ih­ren An­richt­tisch zu­rück und hob die Au­gen nicht mehr auf, aus de­nen lang­sam zwei große Trä­nen her­ab­roll­ten.

*

Stu­den­ten­ta­ge! Fül­le des Da­seins, wie ich sie nir­gends wie­der­ge­fun­den habe. Äu­ßer­lich fast un­be­wegt, aber mit ge­heim­nis­vol­len Schät­zen in der Tie­fe, wie ein glat­ter See­spie­gel über kris­tal­le­nen Wun­der­pa­läs­ten. Al­les war un­ser im Dies­seits und Jen­seits, wo­hin wir mit un­se­ren Ge­dan­ken rei­chen konn­ten; Ho­mer und Goe­the, Pla­ton und Scho­pen­hau­er, Kunst, Lie­be, Uns­terb­lich­keit. Durch Gu­stavs Nähe be­sa­ßen wir das al­les. Mit sei­ner über­mäch­ti­gen Fan­ta­sie zog er wie die thes­sa­li­schen Zau­be­rer Mond und Ster­ne zu sich her­un­ter und häng­te sie als Ta­fel­be­leuch­tung auf, dass wir oft nicht mehr wuss­ten, in wel­cher Welt wir wa­ren.

Vom Ge­ni­us der Völ­ker sprach er gern, und wie das eine sich vom an­de­ren un­ter­schei­de. Wenn ich mich wun­der­te, wo­her er all die­se Kennt­nis ei­nes Weit­ge­reis­ten brach­te, so lach­te er mich aus:

Im kleins­ten Teil ist das Gan­ze ent­hal­ten. Zeigt ei­nem Künst­ler eine Hand, einen Fuß, er er­kennt dar­aus die gan­ze Ge­stalt. Gebt mir ein ein­zi­ges Dich­ter­werk ei­nes Vol­kes, so weiß ich die­ses Vol­kes We­sen und Wol­len.

Frank­reich lob­te er, aber er lieb­te es nicht. Es war ihm das Land der großen Schrift­stel­ler und der klei­nen Dich­ter. Sein Schrift­tum ver­glich er ei­nem brei­ten, künst­lich an­ge­leg­ten Be­rie­se­lungs­feld, wo bei äu­ßers­ter Aus­nüt­zung mä­ßi­ger Na­tur­mit­tel eine rei­che Ern­te er­zielt wird. Das war die Ein­lei­tung zu An­kla­gen feu­ri­ger Lie­be ge­gen das ei­ge­ne Volk.

Deutsch­land, du ewig mor­gi­ges, sag­te er, du Wi­der­spruch der Na­tur, Kind des Über­flus­ses und der Not, das sei­ne Fül­le nicht be­herr­schen kann, die ihm im­mer über­strömt, zer­rinnt, dass es mit lee­ren Hän­den steht, und o Schmach! bei den är­me­ren Nach­barn bor­gen geht.