Der Deutsch-Französische Krieg 1870/1871 - Michael Epkenhans - E-Book

Der Deutsch-Französische Krieg 1870/1871 E-Book

Michael Epkenhans

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Beschreibung

Überall in Deutschland erinnern Denkmäler an die Gefallenen des Deutsch-Französischen Krieges. Dieser Konflikt war die Geburtsstunde des Deutschen Reiches, das 1871 symbolträchtig im Spiegelsaal von Versailles proklamiert wurde. Mit der Reichsgründung erfüllte sich für viele der alte Traum eines einheitlichen Nationalstaates; sie veränderte die Machtverhältnisse auf dem europäischen Kontinent nachhaltig. Michael Epkenhans zeichnet Vorgeschichte, Verlauf und Folgen dieses Krieges aus deutscher und französischer Perspektive nach. Zudem veranschaulicht er, wie nachhaltig der Konflikt das Verhältnis zwischen den beiden Nachbarländern beeinträchtigte – und wie es nach dem Zweiten Weltkrieg zur Versöhnung kam. Die Reihe "Kriege der Moderne", herausgegeben vom Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, stellt die wichtigsten militärischen Konflikte des 19. und 20. Jahrhunderts nach modernsten wissenschaftlichen Erkenntnissen vor und erläutert ihre geschichtlichen Ursachen und politischen Folgen. E-Book mit Seitenzählung der gedruckten AUsgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden.

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Michael Epkenhans

Der Deutsch-Französische Krieg 1870/1871

Kriege der Moderne

Reclam

Kriege der Moderne

 

Herausgegeben vom Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr

 

Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Fachbereich Publikationen (0878)

 

 

2020 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Umschlagabbildung: Kürassier-Angriff (Bredow’sche Kavalleriebrigade) bei Vionville-Mars-la-Tour, am 16. August 1870. Farblithografie nach Aquarell von Franz Amling, 1890, akg-images / Liszt Collection

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2020

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-961730-5

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011271-7

www.reclam.de

Inhalt

1 Ein Kaiser übergibt seinen Degen2 Der Weg in den KriegFrankreich und Preußen 1859–1870Frankreich unter Napoleon III.: Hegemonie statt GleichgewichtEin Hohenzollernprinz auf dem spanischen Thron?Der Deutsch-Französische Krieg und Europa3 KriegsbeginnArmeenAusrüstung und BewaffnungAufmarschOperationsplanungen4 Grenzschlachten: Von Saarbrücken nach Sedan5 Sieg – aber kein Ende des KriegesAuf nach Paris: Belagerungen und GefechteDie Belagerung von Paris und der VolkskriegDer Kampf um den Primat der Politik6 KriegsendeDie Reichsgründung im KriegDer Weg aus dem Krieg: Sieg – und FriedenTriumphTragödie7 KriegsfolgenNach außen stark, im Innern zerrissenIsoliert und auf der Suche nach innerer StabilitätMythos 1870/71: Gespaltene Erinnerung8 FazitAnhangZeittafel18701871LiteraturhinweiseAbbildungsnachweisSachregister

[7]1 Ein Kaiser übergibt seinen Degen

Der französische Kaiser Napoleon III.Napoleon III. (Kaiser der Franzosen) (1808–1873) übergibt am 2. September 1870 dem preußischen König Wilhelm I.Wilhelm I. (preuß. König und dt. Kaiser) (1797–1888) seinen Degen. Diese historisch nicht verbürgte Szene bei Sedan wurde zum Symbol der militärischen Niederlage Frankreichs.

Am Abend des 1. September 1870 hissten französische Soldaten auf einem Turm der Festung von Sedan eine weiße Fahne. Sie wollten den Kampf beenden. Alle anderen Versuche, dem mörderischen Feuer der preußischen Artillerie von den umliegenden Höhen durch einen Ausbruch aus dem Kessel zu entkommen, waren gescheitert. Zur gleichen Zeit übergab ein französischer General auf einer Anhöhe oberhalb der Stadt dem preußischen König Wilhelm I.Wilhelm I. (preuß. König und dt. Kaiser) einen Brief von Kaiser Napoleon III.Napoleon III. (Kaiser der Franzosen): »Nachdem es mir nicht vergönnt war, in der Mitte meiner Truppen zu sterben, bleibt mir nichts übrig, als meinen Degen in die Hände Eurer Majestät zu legen.«

Wilhelm I.Wilhelm I. (preuß. König und dt. Kaiser) reagierte darauf so höflich wie alle »Heerkönige« in den Jahrhunderten zuvor: »Indem ich die Umstände, unter denen wir uns begegnen, bedauere, nehme ich den Degen Ew. [Eurer] Majestät an, und bitte Sie, einen Offizier zu bevollmächtigen, um über die Kapitula[8]tion der Armee zu verhandeln, welche sich so brav unter Ihrem Befehle geschlagen hat.«

Noch am selben Abend trafen sich der preußische Generalstabschef, General Helmuth von MoltkeMoltke, Helmuth Graf von, und der französische General Freiherr Emanuel Félix de WimpffenWimpffen, Emanuel Félix de. Nach der Verwundung des französischen Oberbefehlshabers Marschall Patrice de Mac-MahonMac-Mahon, Patrice Maurice de hatte WimpffenWimpffen, Emanuel Félix de das Kommando über die in Sedan eingeschlossenen Truppen übernommen. Angesichts des Sieges verlangte MoltkeMoltke, Helmuth Graf von die Abgabe aller Waffen. Anschließend sollten alle Soldaten in Gefangenschaft gehen. WimpffenWimpffen, Emanuel Félix de lehnte diese Forderungen jedoch ab, da sie die Ehre des französischen Volkes verletzen würden. Mehr als das Versprechen, dass die geschlagenen Soldaten nach Hause gehen und in diesem Kriege nicht mehr gegen Preußen kämpfen würden, wollte er nicht geben.

Dieses Angebot entsprach durchaus den Regeln früherer Kriege. MoltkeMoltke, Helmuth Graf von, der sich zuvor mit Otto von BismarckBismarck, Otto Fürst von, dem preußischen Ministerpräsidenten und Kanzler des Norddeutschen Bundes, beraten hatte, lehnte es jedoch ab. So sehr MoltkeMoltke, Helmuth Graf von und BismarckBismarck, Otto Fürst von bemüht waren, »den nach tapferem Widerstande überwundenen Gegner zu schonen« und »ohne Schädigung der deutschen Interessen dem militärischen Ehrgefühl einer Armee, die sich gut geschlagen hatte«, Rechnung zu tragen, so wenig waren sie im heraufziehenden Zeitalter der Nationalkriege geneigt, irgendwelche Risiken einzugehen. Noch war der Krieg ja nicht zu Ende: In der Festung Metz, in Paris und in anderen Teilen des Landes standen noch Tausende Soldaten, die bereit waren, gegen Preußen zu kämpfen.

Neben nüchternen militärischen Überlegungen spielte aber auch das Misstrauen gegenüber dem Gegner eine große Rolle bei der Ablehnung von WimpffensWimpffen, Emanuel Félix de Forderung: BismarckBismarck, Otto Fürst von und MoltkeMoltke, Helmuth Graf von waren überzeugt, dass die französische Seite, »welche sogar von Anderen gegen Andre errungene Erfolge zum Gegenstand einer Anklage gemacht hatte, eine selbst erlittene Niederlage nicht verschmerzen [würde], noch weniger eine gegen sie geübte Großmut«.

Die Verhandlungen zwischen MoltkeMoltke, Helmuth Graf von und WimpffenWimpffen, Emanuel Félix de blieben daher ohne Ergebnis, obwohl preußische Offiziere dem französischen Oberbefehlshaber sogar die eigenen Artilleriestellungen oberhalb der Stadt zeigten, um ihm die Aussichtslosigkeit weiteren Widerstandes vor Augen zu führen.

Aushandlung der Kapitulationsbedingungen in einer Villa in Donchery am Abend des 1. September 1870. Das Gemälde von Anton von WernerWerner, Anton von aus dem Jahr 1885 zeigt u.a. den siegreichen preußischen General Helmuth Graf von MoltkeMoltke, Helmuth Graf von (1800–1891), stehend rechts neben dem preußischen Ministerpräsidenten Otto von BismarckBismarck, Otto Fürst von (1815–1898), und den französischen General Emmanuel Félix de WimpffenWimpffen, Emanuel Félix de (1811–1884), der auf der linken Tischseite sitzt. 

[9]Auch der für BismarckBismarck, Otto Fürst von überraschende Besuch Napoleons IIINapoleon III. (Kaiser der Franzosen). am Folgetag und die Gespräche in einer ärmlichen Weberhütte in dem kleinen Ort Donchery am Rande Sedans änderten an der Haltung der Preußen wenig. BismarckBismarck, Otto Fürst von verwies den geschlagenen Kaiser vielmehr an die verantwortlichen Generale. WimpffenWimpffen, Emanuel Félix de und MoltkeMoltke, Helmuth Graf von nahmen ihre Verhandlungen daraufhin wieder auf. Erst als MoltkeMoltke, Helmuth Graf von mit der erneuten Beschießung der französischen Stellungen drohte, unterzeichnete WimpffenWimpffen, Emanuel Félix de die Kapitulationsurkunde. Mehr als die Entlassung der Offiziere auf Ehrenwort, nicht mehr gegen Preußen zu kämpfen, hatte er nicht aushandeln können; alle anderen französischen Soldaten sollten in Gefangenschaft gehen. Erst jetzt war Wilhelm I.Wilhelm I. (preuß. König und dt. Kaiser) bereit, den geschlagenen französischen Kaiser zu empfangen. Ob Napoleon III.Napoleon III. (Kaiser der Franzosen) ihm dabei tatsächlich seinen Degen symbolisch übergab, wie manche zeitgenössischen Bilder glauben machen wollen, ist unklar. Wie dem auch sei: Allein die Tatsache, dass Napoleon III.Napoleon III. (Kaiser der Franzosen) den Sieger persönlich aufsuchte, um sich ihm zu ergeben, war ein unübersehbares Zeichen dafür, dass er die Niederlage eingestand.

Vor dem Weberhäuschen. Druck um 1900, nach einem Gemälde von Wilhelm CamphausenCamphausen, Wilhelm, 1878. An den preußischen Kapitulationsbedingungen änderte auch ein Besuch Napoleons III.Napoleon III. (Kaiser der Franzosen) bei BismarckBismarck, Otto Fürst von nichts. Seine Gefangennahme zuvor hatte eine Staatskrise ausgelöst, die zum Sturz der Monarchie führte. Nach Ausrufung der Dritten Republik am 4. September 1870 ging der Krieg weiter.

[10]Zur gleichen Zeit trat die französische Armee nach einem festgelegten Plan den Weg in die Gefangenschaft an – insgesamt 104 000 Mann, darunter 4000 bis 5000 Offiziere. Nur 500, darunter der zeitweilige französische Oberbefehlshaber während der Schlacht, General Auguste-Alexandre DucrotDucrot, Auguste-Alexandre, gaben ihr Ehrenwort, nicht mehr zu kämpfen. Diese Offiziere galten nicht als Kriegsgefangene, sondern durften ihre Waffen und ihr Privateigentum behalten, um sich an einen Ort ihrer Wahl im eigenen Land zu begeben. Nicht alle, darunter auch DucrotDucrot, Auguste-Alexandre, sollten sich später an ihr Ehrenwort halten.

Der Auszug der Besiegten aus der Festung Sedan und das Strecken der Waffen machten noch einmal deutlich, wie wichtig den Geschlagenen im Zeichen der Niederlage ihre »Ehre« war:

[11]Die Gemeinen schleudern dieselben [die Waffen] überall in den Straßen zur Erde, ziehen also unbewaffnet zum Tor hinaus, nur die Offiziere tragen noch ihren Degen. Auf der Brücke ziehen einige dieser Herren plötzlich blank, zerbrechen, die Augen gen Himmel rollend, genau wie im letzten Akte einer tragischen Oper, ihre Waffen und schleudern sie über das Brückengeländer ins Wasser. Und bravo! Bravo! Schallt es von den Wällen am Thor – hier spielen auch die Zuschauer Komödie!,

schrieb der preußische Schlachtenmaler Georg BleibtreuBleibtreu, Georg in sein Tagebuch. Und der französische Kaiser? Während seine Truppen in Gefangenschaft gingen, war er, begleitet von preußischen Reitern, bereits auf dem Weg nach Wilhelmshöhe bei Kassel. Dort sollte er den Friedensschluss abwarten. Seinen eigenen Soldaten hatte er nicht mehr gegenübertreten wollen. Zu groß waren die Schmach der Niederlage und die Angst.

Eigentlich hätte der Krieg, der am 19. Juli 1870 mit der französischen Kriegserklärung an Preußen begonnen hatte, damit bereits nach sechs Wochen zu Ende sein können. Schneller als erwartet stellte sich aber heraus, dass noch nicht alles vorbei war. In Paris stürzten die Massen, angeführt von radikalen Republikanern, die Monarchie. Zugleich riefen sie wie ihre Vorväter 1792 angesichts der Bedrohung des Landes zur Levée en masse auf, zur allgemeinen Volksbewaffnung. Aus dem Kabinettskrieg wurde somit innerhalb weniger Tage ein Volkskrieg, der sich noch Monate hinziehen und viele Opfer auf beiden Seiten fordern sollte.

Die Schlacht von Sedan hatte nicht allein für Frankreich erhebliche Folgen. In Deutschland war sie Ausgangspunkt für Verhandlungen unter den verbündeten Königen und Fürsten über die Bildung jenes einheitlichen Nationalstaats, den sich viele Deutsche seit dem Ende der Kriege gegen Napoleon I.Napoleon I. (Kaiser der Franzosen), den Onkel des geschlagenen Kaisers Napoleon III.Napoleon III. (Kaiser der Franzosen), ersehnt hatten.

Die Gewichte im Spiel der Mächte hatten sich verschoben. Die Folgen dieser Veränderungen waren für beide Staaten, aber auch für Europa von kaum zu überschätzender Bedeutung. Fortan war Deutschland die größte Nation auf dem Kontinent. Damit untrennbar verknüpft war die Frage: Konnte es gelingen, das Gefühl der Schmach und den verletzten Stolz der Verlierer auf der einen sowie die überschäumende Freude [12]der Sieger nach Jahrhunderten vermeintlicher Demütigung durch den Nachbarn auf der anderen Seite so zu kanalisieren, dass ungeachtet aller Emotionen der Friede in Europa erhalten blieb?

Umso mehr gilt es, das Augenmerk darauf zu richten, warum dieser so folgenreiche Krieg zwischen zwei Großmächten – Preußen und Frankreich – überhaupt ausgebrochen war. Wie war der Krieg verlaufen? Warum waren die verbündeten deutschen Armeen, die erstmals seit vielen Jahrzehnten wieder mit- und nicht gegeneinander in den Krieg gezogen waren, fast überall siegreich aus den Kämpfen hervorgegangen? Und welche Folgen sollte ihr Sieg langfristig haben?

[13]2 Der Weg in den Krieg

Germania auf der Wacht am Rhein. Historiengemälde von Lorenz ClasenClasen, Lorenz, 1860. Die Personifikation der deutschen Nation, Germania, blickt nach Frankreich. Der außenpolitische Kurs des Zweiten Kaiserreichs rief Misstrauen und Missfallen bei der deutschen Bevölkerung hervor. Der Titel des Bildes verweist auf das damals populäre Lied »Wacht am Rhein«. Rechts sind die Insignien des Heiligen Römischen Reichs zu sehen.

Frankreich und Preußen 1859–1870

Die Rivalität um Macht und Einfluss in Europa hatte das Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich von jeher bestimmt. Wechselseitige Ansprüche auf Italien, Burgund, Flandern und vor allem die Rhein[14]grenze hatten immer wieder Kriege in unterschiedlichen Konstellationen und mit wechselnden Ergebnissen zur Folge gehabt. Im kollektiven Gedächtnis der Franzosen war die Einkreisung des Landes durch die Habsburgermonarchie haften geblieben, die im 16. Jahrhundert nicht nur den deutschen, sondern auch den spanischen Thron innehatte. Ebenso hatten viele Deutsche die Raubzüge Ludwigs XIV.Ludwig XIV. (König von Frankreich) (1638–1715), das demütigende Ende des alten Reiches unter dem Druck Napoleons I.Napoleon I. (Kaiser der Franzosen) 1806 sowie die jahrelange Besetzung und Ausplünderung des Landes durch dessen Truppen nicht vergessen.

Damit nicht genug: Während Frankreich ungeachtet der Niederlagen 1814/15 seinen Platz im Konzert der Mächte bald wieder einnehmen konnte, erstand das Heilige Römische Reich (deutscher Nation) nicht wieder. Der preußisch-österreichische Dualismus, der trotz des gemeinsamen Sieges über Napoleon I.Napoleon I. (Kaiser der Franzosen) weiter bestand, und der Vorsatz, das europäische Gleichgewicht nicht durch eine zu starke europäische Mitte zu gefährden, führten dazu, dass in den Verhandlungen auf dem Wiener Kongress 1814/15 nur die Gründung eines lockeren Staatenbundes, des Deutschen Bundes, nicht aber die Bildung eines einheitlichen Nationalstaats unter einem Kaiser beschlossen wurde.

Auch wenn Umfang und Bedeutung der frühliberalen Nationalbewegung zu Beginn des 19. Jahrhunderts umstritten sind, sollte das Streben nach einem einheitlichen und freiheitlichen deutschen Nationalstaat nicht mehr nachlassen. Im Gegenteil: Es entbehrt nicht einer gewissen historischen Ironie, dass die von Frankreich ausgehenden Revolutionen 1830 und 1848 diesem Vorhaben neuen Schwung gaben. Diese Revolutionen trieben zwar die Einführung von Verfassungen in den Staaten des Deutschen Bundes – ausgenommen Preußen und Österreich – voran; die Hoffnung, zugleich auch einen einheitlichen Nationalstaat unter schließlich preußischer Führung zu bilden, erfüllte sich nicht. Der Widerwille König Friedrich Wilhelms IV.Friedrich Wilhelm IV. (preuß. König), die ihm 1849 angebotene Krone aus den Händen des Volkes anzunehmen, war zu groß. Der bereits aufgelöste Deutsche Bund erstand neu; auf den kurzen Frühling der revolutionären Monate des Jahres 1848/49 folgte der lange Winter der Repression und der Reaktion.

1859 übernahm Prinz WilhelmWilhelm I. (preuß. König und dt. Kaiser) für seinen kranken Bruder König Friedrich Wilhelm IV.Friedrich Wilhelm IV. (preuß. König) die Regierung in Preußen. 1849 hatte der Prinz im Auftrag des Königs die Revolutionsbewegung blutig niedergeschla[15]gen. Nun versprach WilhelmWilhelm I. (preuß. König und dt. Kaiser) zum Erstaunen vieler Zeitgenossen Reformen sowie eine Unterstützung jener, die einen nationalen Einheitsstaat anstrebten. Die Folge des Machtwechsels in Preußen war eine allgemeine Aufbruchsstimmung, die bald alle Staaten des Deutschen Bundes einschließlich Österreichs erfasste. Der 1859 ausgebrochene Krieg zwischen Österreich auf der einen, Frankreich und Piemont-Sardinien auf der anderen Seite, der die nationale Einigung Italiens vorantrieb, verstärkte die allgemeine Euphorie der Nationalbewegung, die sich im »Deutschen Nationalverein« zusammengeschlossen hatte.

Schillerfestzug in Hamburg am 13. November 1859. Zeitgenössische Lithografie von Joseph PuschkinPuschkin, Joseph. Solche Feiern zu Ehren Friedrich SchillersSchiller, Friedrich als Dichter der Freiheit, die in rund 440 deutschen Städten stattfanden, waren Ausdruck der Euphorie der liberalen Nationalbewegung am Ende der Reaktionsära.

Die Hoffnungen der Nationalbewegung auf eine Einigung unter preußischer Führung wurden enttäuscht. Infolge der Auseinandersetzungen über die Reorganisation des Heeres brach in Preußen 1862 ein schwerwiegender Verfassungskonflikt aus. Aus Sicht von König Wilhelm I.Wilhelm I. (preuß. König und dt. Kaiser) war die Berufung BismarcksBismarck, Otto Fürst von zum Ministerpräsidenten die letzte Möglichkeit, um eine einschneidende Verschiebung der Gewichte zwischen Krone und Abgeordnetenhaus zu verhindern. BismarcksBismarck, Otto Fürst von Versuche, die Liberalen durch gemeinsames Vorgehen in der nationalen Frage [16]für sich zu gewinnen, blieben allerdings vorerst erfolglos. Denn sie waren nicht bereit, zugunsten der Einheit auf die Freiheit zu verzichten. BismarcksBismarck, Otto Fürst von berühmte Rede vom September 1862 schien dann die schlimmsten Befürchtungen der Liberalen über die wahren Ziele des preußischen Ministerpräsidenten zu bestätigen: »Nicht durch Reden oder Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden, das ist der große Fehler von 1848 und 1849 [des Paulskirchenparlaments] gewesen, sondern durch Eisen und Blut.«

So wie BismarckBismarck, Otto Fürst von im Innern die Stellung des Monarchen zu stärken versuchte, wollte er nach außen die Rolle Preußens in Deutschland – insbesondere gegenüber Österreich – wie auch im Rahmen des europäischen Konzerts der Mächte entscheidend verbessern. Viel klarer als seine Vorgänger oder die meisten Zeitgenossen hatte er erkannt, dass [17]die durch den Krimkrieg (1853–1856) veränderten Verhältnisse auf dem Kontinent eine offensivere Machtpolitik Preußens, der kleinsten der fünf Mächte, durchaus zuließen. Die alten Allianzen zwischen den Mächten im Osten und Westen Europas waren seitdem endgültig zerbrochen. Diese Politik, in der Macht vor Recht ging, hatte ihre Risiken; insgesamt gelang es BismarckBismarck, Otto Fürst von aber, die Großmächte bis 1870 aus der »deutschen Frage« herauszuhalten: Russland verhielt sich seit der indirekten preußischen Unterstützung bei der Niederschlagung des polnischen Aufstands 1863 trotz mancher Differenzen wohlwollend; Großbritannien hatte sich von Europa abgewandt und war bereit, einen Machtzuwachs Preußens hinzunehmen, solange dieser das europäische Gleichgewicht nicht grundlegend veränderte.

Obwohl sich die Fronten im Innern seit 1862 verhärteten, kam allmählich Bewegung in die nationale Frage. Verantwortlich dafür war die Krise um Schleswig und Holstein 1863/1864. Der Versuch der dänischen Regierung, durch eine Änderung der Verfassung das überwiegend von Dänen bewohnte Herzogtum Schleswig in den dänischen Gesamtstaat einzugliedern und damit trotz bestehender Verträge zugleich die historische Einheit mit dem von Deutschen bewohnten und zum Deutschen Bund gehörenden Herzogtum Holstein aufzulösen, löste eine Welle der Empörung in Deutschland aus. Als alle Versuche, auf diplomatischem Wege den alten Rechtszustand wiederherzustellen, gescheitert waren, erklärten Preußen und Österreich Dänemark im Frühjahr 1864 den Krieg. Nach mehreren Niederlagen musste Dänemark, das von seinen bisherigen Schutzmächten Großbritannien und Russland nicht unterstützt wurde, beide Herzogtümer im Frieden von Wien abtreten.

Die Frage nach der Zukunft der von Preußen und Österreich gemeinsam verwalteten Herzogtümer beschleunigte letztlich die Lösung der »deutschen Frage«. Nachdem sich beide Mächte nicht hatten einigen können, kam es im Sommer 1866 zum Krieg Preußens und der Kleinstaaten Norddeutschlands einerseits gegen Österreich und die wichtigsten Staaten innerhalb des Deutschen Bundes (Bayern, Württemberg, Sachsen, Hannover, Baden, Hessen-Darmstadt und Kurhessen) andererseits. Kriegsentscheidend war der Sieg Preußens über Österreich bei Königgrätz am 3. Juli 1866.

Schlacht bei Königgrätz am 3. Juli 1866. Farbdruck, 1894, nach einem Aquarell von Carl RöchlingRöchling, Carl. Die lang andauernde Rivalität zwischen den deutschsprachigen Großmächten Österreich und Preußen entlud sich 1866 im sogenannten Bruderkrieg. Nach der österreichischen Niederlage schien eine nationale deutsche Einigung unter preußischer Führung in nicht allzu ferner Zukunft möglich.

Infolge der Niederlage schied Österreich aus dem Deutschen Bund aus, der sich zugleich auflöste. Preußen annektierte die bisher selbst[20]ständigen Staaten Hannover, Kurhessen, Hessen-Nassau und die Freie Stadt Frankfurt. Auch die Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg wurden nun ein Teil Preußens. Alle deutschen Staaten nördlich des Mains vereinigte Preußen darüber hinaus im Norddeutschen Bund. Die süddeutschen Staaten, die an der Seite Österreichs gekämpft hatten, band Preußen durch geheime Schutz- und Trutzverträge an sich. Über den Zollverein und das Zollparlament rückten sie zugleich näher an den Norddeutschen Bund heran. Ein Überschreiten der Mainlinie hielt BismarckBismarck, Otto Fürst von zu diesem Zeitpunkt aus innenpolitischen Gründen wie auch aus Rücksicht auf Frankreich, das die machtpolitischen Verschiebungen in der Mitte Europas misstrauisch beobachtete, für zu riskant.

Bismarck, Otto Fürst vonBismarck, Otto Fürst von

Wie lange es dauern würde, die endgültige Einheit herzustellen, war auch nach 1866 unklar. Diese Einheit schien nur möglich, wenn es gelang, den absehbaren französischen Widerstand gegen einen erneuten Machtzuwachs Preußens zu beseitigen und zugleich die süddeutschen Staaten, in denen es starke partikularistische Strömungen gab, für Preußen zu gewinnen.

Frankreich unter Napoleon III.Napoleon III. (Kaiser der Franzosen): Hegemonie statt Gleichgewicht

Gegen eine nationale Einigung Deutschlands arbeitete vor allem Napoleon III.Napoleon III. (Kaiser der Franzosen) Nach zwei gescheiterten Putschversuchen – 1836 und 1840 – hatte am Ende blutiger revolutionärer Kämpfe der Neffe Napoleons I.Napoleon I. (Kaiser der Franzosen) im Dezember 1848 die Regierung in Frankreich übernommen. Wie sein Onkel hatte er sich nach einem erfolgreichen Putsch und einem anschließenden erfolgreichen Plebiszit 1852 zum Kaiser krönen lassen.

Hauptstützen seines Regimes waren Armee, Bürokratie und katholische Kirche. Aber auch die konservative Bevölkerung auf dem Lande und die städtische Bourgeoisie unterstützten seine Politik – sei es, weil sie die Auswirkungen des Übergangs in die Moderne auf die ländliche Gesellschaft fürchteten; sei es, weil sie Angst vor der revolutionären Arbeiterschaft in den Städten und deren Forderungen nach sozialer Gleichheit hatten. NapoleonNapoleon III. (Kaiser der Franzosen)