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Dieses E-Book ist Teil einer zwölfbändigen Reihe, die die Geschichte des deutschen Films anhand der Sammlungsbestände der Deutschen Kinemathek von den Anfängen im Jahr 1895 bis zur Gegenwart dokumentiert. Jeder Band im ePUB-Format konzentriert sich auf eine Dekade und bietet einen prägnanten Überblick über die filmischen Meisterwerke und Meilensteine dieser Epoche, beleuchtet berühmte und wiederzuentdeckende Filme und würdigt das Kino, sein Publikum und die kreativen Köpfe hinter der Vielfalt des deutschen Films. Das Gesamtwerk, das über 2.700 Objekte aus allen Sammlungsbereichen umfasst und sich über 130 Jahre erstreckt, ist zudem als gedrucktes Buch und als PDF in deutscher und englischer Sprache erhältlich. DIE DEUTSCHE KINEMATHEK zählt zu den führenden Institutionen für die Sammlung, Bewahrung und Präsentation des audiovisuellen Erbes. In ihren Archiven werden dauerhaft Hunderttausende von Objekten erhalten und für die film- und fernsehgeschichtliche Forschung zur Verfügung gestellt. Die Bestände umfassen neben Drehbüchern, Fotos, Plakaten, Kostümen und Entwürfen unter anderem auch filmtechnische Geräte. Die Kinemathek kuratiert Filmreihen und Ausstellungen, sie restauriert und digitalisiert Filme. Ihre vielfältigen Angebote, darunter Installationen, Publikationen, Vermittlungsformate und Konferenzen, laden zur Entdeckung der Welt bewegter Bilder ein.
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Seitenzahl: 195
Einleitung
Erste Tonfilme
Der blaue Engel: Marlene Dietrichs Weg zum Star
Sport und Körperkult
Filmrestaurierung (III/IV): Frühe Tonfilme
Serienmörderfilm: Fritz Langs M
Innovationen im Studio Babelsberg
Berliner Neue Sachlichkeit
Frankreichbilder
Der Kampf des Kinos gegen eine repressive Sexualmoral
Weibliches Filmschaffen in den 1930er-Jahren – das Ende einer Entwicklung
Kurztonfilme der 1930er-Jahre
Die Tonfilmoperette
Brigitte Helm: Ein Schauspielstar und seine Fans
Die Dreigroschenoper von Brecht/Weill als Film
Kollektivfilme
Standfotografie in den 1930er-Jahren
Frühe Tonfilme der Ufa bis 1933
Umkämpfte Erinnerung: Der Erste Weltkrieg im Film
Gemeinsamkeiten zweier Stars: Hans Albers und Heinz Rühmann
Preußenfilme mit nationalistischer Perspektive
Varianten des Bergfilms
Starpostkarten aus den 1930er-Jahren
Kulturbruch: Auf dem Weg zum NS-Film
Filmpublizistik unter dem Einfluss des Nationalsozialismus
Spuren des Weimarer Kinos
Der Werbegrafiker und Filmregisseur Peter Pewas
Zukunftsentwürfe und Zeitgeist
Das Testament des Dr. Mabuse von Fritz Lang und Thea von Harbou
Filmschaffende im Exil (I/IV)
Filmschaffende im Exil (II/IV)
Filmschaffende im Exil (III/IV)
Filmschaffende im Exil (IV/IV)
Glorifizierung der nationalsozialistischen „Kampfzeit“
Antisemitismus im NS-Film bis 1939
Der European Film Fund
Berlin und Babelsberg als Zentren der Filmarchivierung und -vermittlung
Insert: Deutsche Filmakademie
Der Schauspieler Heinrich George
Leni Riefenstahl und die NSDAP-Parteitage 1933 bis 1935
Der Filmkomponist Herbert Windt
Sehnsuchtsorte: Fünf Komödien
Insert: Film als Zeitdokument
Das Internationale an der NS-Filmpolitik
Insert: Weltausstellung und Venedig
Schauspielerinnen im Nationalsozialismus: Karrieren zwischen Anpassung und Widerstand
NS-Varianten der preußischen Geschichte
Königinnen des US-Kinos
„Exotische“ Stars im NS-Kino
Kameraausrüstung: Die fünf Koffer des Franz Weihmayr
Frank Wysbars Fährmann Maria
Filmästhetik und Industrie in der NS-Zeit
Die Geyer-Werke in den 1930er-Jahren
Früher Höhepunkt des Heimkinos
Linientreu: Veit Harlans Der Herrscher
Insert: Kostüm- und Architekturskizzen
Ein Vorzeigeprodukt: Urlaub auf Ehrenwort
Insert: Zeitfilme
Frauen-WG und Männer-WG
Koloniale Melodramen
Der Autor Jochen Huth
Das Beiprogramm im Kino
Soldatenkinos im Zweiten Weltkrieg
Die vom New Yorker Börsencrash ausgelöste Weltwirtschaftskrise traf Deutschland 1930 mit voller Wucht. Banken wurden zahlungsunfähig, Sparer versuchten panisch ihre Einlagen abzuheben, die Industrieproduktion sank, die Arbeitslosigkeit betrug Ende 1929 schon fast 10 Prozent und stieg auf über 30 Prozent im Jahr 1932 an. Die Sparpolitik der Regierung Brüning besserte die Lage nicht, sondern trug mit Kürzungen der Gehälter im öffentlichen Dienst sowie bei der Sozial- und Arbeitslosenhilfe zur Verarmung großer Teile der Bevölkerung bei. Die deutsche Filmindustrie wurde von der Krise mitten in der Umstellung auf die neue Tonfilmtechnik getroffen, die für die Produktion wie für die Kinos erhebliche Neuinvestitionen erforderte. Zugleich schrumpften die Besucherzahlen, von 290 Millionen im Jahrgang 1930/31 auf 238 Millionen im Zeitraum 1932/33. Etliche Firmen stellten ihre Tätigkeit ein, 1932 auch die Münchner Lichtspielkunst AG (Emelka) mit ihren Studios in Geiselgasteig. Wenig später entstand aus der Konkursmasse die Bavaria Film AG. Die zwingend notwendige Tonfilmtechnik verteuerte durch anfallende Patentlizenzen die Produktion merklich. In dieser bedrohlichen Lage versuchten Kinos mit „Zweischlagerprogrammen“ – zwei Filmen pro Vorstellung – und herabgesetzten Eintrittspreisen, das Publikum zu halten. Dennoch fielen die Bruttoeinnahmen zwischen 1930/31 und 1933/34 von 243,9 Millionen auf 176,3 Millionen Reichsmark. Erst in der Saison 1936/37 konnte das Vorkrisenniveau wieder übertroffen werden.
1 Ich bei Tag und Du bei Nacht
D 1932, Regie: Ludwig Berger
Grete (Käthe von Nagy), Szenenfoto
Der von der Filmkritik zunächst sehr skeptisch aufgenommene Tonfilm setzte sich beim Publikum schnell als Standard durch. Befürchtungen, mit der neuen Technik seien ästhetische Verluste verbunden, zum Beispiel durch die nun eingeschränkte Beweglichkeit der Kamera, die Dominanz des Dialogs, die obligatorischen Musik- und Gesangsdarbietungen, kennzeichneten die Anfangszeit. Wie abgefilmtes Theater wirkten tatsächlich etliche der frühen Tonfilme, bis das Verständnis für das neue Medium wuchs. Berühmt wurde Hans Albers’ saloppe Aussprache, die dem Tonfilm besser entsprach als das Deklamieren in der Bühnentradition. So entstanden schon bald Filme, die auf die neuen Möglichkeiten sensibel und einfallsreich reagierten. Mit der Tonfilmoperette bildete sich das dominierende Genre der ersten Jahre. Vor allem die Ufa konnte mit Produktionen wie Die Drei von der Tankstelle (D 1930, Regie: Wilhelm Thiele) oder Der Kongreẞ tanzt (D 1931, Regie: Erik Charell) Kassenerfolge verbuchen. Die von Seymour Nebenzahl geleitete Nero-Film setzte dagegen auf realistische Filme und renommierte Regisseure. Werke wie M (D 1931) von Fritz Lang oder Westfront 1918 (D 1930) von G. W. Pabst setzten Maßstäbe und wurden zu Klassikern. Mit Kuhle Wampe oder Wem gehört die Welt? (D 1932) nutzte Slatan Dudow die neue Technik auch für den sozialkritischen Film, mit Kompositionen von Hanns Eisler. Die scharfen politischen Auseinandersetzungen in den letzten Jahren der Weimarer Republik betrafen auch das Kino. Der Leiter des Berliner Gaus der NSDAP, Joseph Goebbels, inszenierte gegen die US-amerikanische Verfilmung von Erich Maria Remarques Bestseller Im Westen nichts Neues (1928) eine brutale Kampagne. Vorstellungen von All Quiet on the Western Front (USA 1930, Regie: Lewis Milestone) wurden gesprengt, der Film zeitweilig verboten. Auch Kuhle Wampe wurde zum Zensurfall. Dagegen kritisierten liberal gesinnte Filmkritiker nationalistische Filme wie Das Flötenkonzert von Sanssouci (D 1930, Regie: Gustav Ucicky) als Angriff auf die Demokratie.
Am 30. Januar 1933 endete die erste deutsche Demokratie. Die nationalsozialistisch geführte Reichsregierung unter Adolf Hitler installierte die NS-Diktatur. Der Terror der SA, die Verfolgung politisch Andersdenkender, die Ausgrenzung der deutschen Juden, das Verbot zunächst von KPD und SPD, schließlich von allen Parteien demonstrierten den totalitären Anspruch. Joseph Goebbels übernahm das neugeschaffene Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda (13.3.1933). Es begann die rapide Umwandlung der gesamten Filmproduktion hin zu einem möglichst einheitlichen nationalsozialistischen Film. Mit der Filmkreditbank, gegründet am 1. Juni 1933, sollte die Finanzierung verbessert werden. Zugleich ermöglichte diese Maßnahme, die den Wünschen der Industrie zunächst entgegenkam, die Kontrolle aller eingereichten Projekte. Die Mitgliedschaft in der Reichsfilmkammer (14.7.1933) wurde zur Voraussetzung jeglicher Tätigkeit im deutschen Film – jüdische Deutsche blieben ausgeschlossen. Die Neufassung des Lichtspielgesetzes nahm nun die Verletzung „nationalsozialistischen Empfindens“ als Verbotsgrund auf und installierte einen Reichsfilmdramaturgen, der einzureichende Drehbücher kontrollierte. Diese Maßnahmen liefen auf Gleichschaltung und Kontrolle möglichst des gesamten Filmwesens hinaus. Eine verstärkte Konzentration der Industrie folgte.
2 Kuhle Wampe oder Wem gehört die Welt?
D 1932, Regie: Slatan Dudow
Fritz (Ernst Busch) und Anni Bönike (Hertha Thiele)
Szenenfoto
Trotz allmählich steigender Besucherzahlen blieb die wirtschaftliche Lage der Filmindustrie prekär. So machte die Produktionsabteilung der Ufa hohe Verluste, ebenso die der Tobis. Aufgefangen werden konnten sie nur durch andere wirtschaftliche Aktivitäten, bei der Ufa unter anderem durch die konzerneigenen Kinos und Ateliers, bei der Tobis über die Patentlizenzen. Die von Max Winkler geführte und im Auftrag des Propagandaministeriums agierende Cautio Treuhand GmbH fädelte ab Mitte der 1930er-Jahre die verdeckte Verstaatlichung der Filmindustrie ein. 1937 wurden Ufa, Tobis, Bavaria und Terra, also die vier größten Firmen, verstaatlicht. Der Öffentlichkeit blieb dies jedoch verborgen. Eine Konzentration auf wenige Akteure fand auch bei den Verleihern statt. Kleinere unabhängige Produktionsfirmen arbeiteten jedoch weiter, allerdings häufig im Auftrag der großen Konzerne. Noch bis in die 1940er-Jahre blieben einige dieser Firmen aktiv. Die Dominanz der großen vier allerdings war unübersehbar.
3 Morgenrot
D 1933, Regie: Gustav Ucicky
Berliner Premiere des Films im Ufa-Palast am Zoo am 2. Februar 1933, v. l. n. r.: Alfred Hugenberg, Adolf Hitler, Franz von Papen
Die Arbeitsverbote für die jüdischen Beschäftigten in der Filmindustrie griffen bereits unmittelbar nach Goebbels’ erster Rede vor Filmschaffenden. Am Tag danach, dem 29. März 1933, beschloss der Ufa-Vorstand die Auflösung zahlreicher Verträge mit prominenten jüdischen Künstlerinnen und Künstlern. Zu ihnen zählten der Produzent Erich Pommer, die Regisseure Erik Charell und Ludwig Berger, der Autor Robert Liebmann und der Komponist Werner Richard Heymann – die kreativen Kräfte also, die wesentlich für den großen Erfolg der Ufa-Tonfilmoperetten verantwortlich waren. Das Genre verschwand nach 1933 aus dem Kinoangebot. Die Ufa stand mit den Kündigungen nicht allein da, für die Entlassenen blieb oft nur das Exil als Ausweg. Über 2000 zuvor maßgeblich im deutschen Film tätige Personen mussten Deutschland verlassen. Denjenigen, die zunächst nach Österreich geflohen waren, wurde die Arbeitsgrundlage nach der Annexion durch das Deutsche Reich erneut genommen. Die beruflichen Chancen im aufgezwungenen Exil waren sehr unterschiedlich. Manche Künstler:innen konnten ihre Karriere erfolgreich fortsetzen. Viele andere aber konnten an frühere Erfolge nicht anknüpfen und mussten sich unter schwierigsten Bedingungen behaupten.
Während des Nationalsozialismus erblühte der Revuefilm mit Stars wie Marika Rökk, La Jana, Johannes Heesters oder Viktor Staal. Zahlreiche vermeintlich unpolitische Filme faszinierten das Publikum, darunter Melodramen mit Zarah Leander oder Kristina Söderbaum, Abenteuerfilme mit Hans Albers, Komödien mit Heinz Rühmann oder Hans Moser. Rar aber blieben ästhetisch über die Norm herausragende Titel von Regisseuren wie Helmut Käutner, Peter Pewas, Frank Wysbar, Werner Hochbaum. Die gleichgeschalteten Wochenschauen präsentierten geschönte Bilder und wurden mit Kriegsbeginn zu einem wirksamen propagandistischen Mittel. Abendfüllende dokumentarische Filme präsentierten ein ideologisch gefärbtes Bild, darunter die Parteitagsfilme Leni Riefenstahls, aber auch ihre Olympiafilme. Der im Beiprogramm präsente Kulturfilm, auch der Werbefilm galten zwar als vergleichsweise experimentierfreudig, beide leisteten aber auch ihren Beitrag zur Verbreitung politisch genehmer Bildwelten. Im Ganzen erwies sich die Kontrolle des Films als effektiv, nur sehr wenige Werke wurden verboten: Die Vorzensur sorgte dafür, dass Subversives kaum je entstand – oder nur in sehr geschickter Inszenierung aufschien. Außenseiter wie Willy Zielke oder – vor ihrem Weg in die Emigration – Reinhold Schünzel, Detlef Sierck und Oskar Fischinger brachten formal und erzählerisch ungewöhnliche Perspektiven ein. Der Film im Nationalsozialismus, der durch verschiedenste Maßnahmen gleichgeschaltet werden sollte, konnte Ambivalenzen in den Storys oder den Figurencharakterisierungen nicht gänzlich verhindern, wohl aber minimieren. Zudem blieb der Erfolg beim Publikum stetige Forderung auch der NS-Politik, sodass widersprüchliche Strömungen koexistierten.
4 Komedie om geld/Komödie ums Geld
NL 1936, Regie: Max Ophüls
Das Filmteam
Werkfoto
Nach den Pogromen am 9. November 1938 wurden jüdische deutsche Bürger:innen vom Kinobesuch ausgeschlossen: ein weiterer Schritt der Entrechtung und Verfolgung, der sie schon vor Kriegsbeginn und Vernichtungspolitik ausgeliefert waren. Jenseits des scheinbar so dominanten Unterhaltungsfilms waren bereits Hetzfilme gegen alle, die ausgegrenzt und denunziert werden sollten, im Beiprogramm präsent: Filme gegen Juden, Menschen mit Behinderung, das feindliche Ausland, angebliche Umsturzpläne, vermeintliche amerikanische oder sowjetische Bedrohungen, gegen „entartete Kunst“ und „fremdländische“ Einflüsse. rr
5 Amphitryon
D 1935, Regie: Reinhold Schünzel
Foto: Horst von Harbou
Szenenfoto
6 Morgen beginnt das Leben
D 1933, Regie: Werner Hochbaum
Robert (Erich Haußmann)
Szenenfoto
7 Kapriolen
D 1937, Regie: Gustaf Gründgens
Mabel Atkinson (Marianne Hoppe)
Szenenfoto
Die heute selbstverständliche Bezeichnung „Stummfilm“ kam erst mit dem Tonfilm auf und signalisiert fälschlicherweise, Filme seien vor der Einführung des „Tonfilms“ stumm vorgeführt worden. Tatsächlich wurden Filmvorführungen schon seit den Anfängen der Kinematografie von Musik, oft auch von sogenannten Filmerklärern begleitet und bildeten stets ein audiovisuelles Gesamtkunstwerk. In den Jahren vor 1910 hatten „Tonbilder“ Konjunktur, in denen die Schlager aus Oper, Operette und Revue mit einer Apparatur gezeigt wurden, die Grammofon und Filmprojektor verkoppelte: gleichsam die Musikclips der Kaiserzeit. Der Tonfilm im heutigen Sinne, der sich in der Saison 1929/30 in den deutschen Kinos rasch durchsetzte, brachte bald auch Anfänge eines Sound-Designs hervor, wie es heute selbstverständlich ist: Die Darsteller sprachen oder sangen, ihre Stimmen waren dabei in eine Mischung aus Geräuschen und Musik eingebettet, die nicht notwendigerweise stets mit dem Bild kongruent war, sondern auch im Kontrast oder Widerspruch dazu stehen konnte. Aus den Kinokapellmeistern wurden Filmkomponisten, deren Begleitmusik fortan bei jeder Vorführung unveränderlich erklang, weil sie auf dem Filmstreifen festgelegt war.
1 Die Drei von der Tankstelle
D 1930, Regie: Wilhelm Thiele
Während der Dreharbeiten: Wilhelm Thiele (Mitte), Werkfoto, Carl-Winston-Archiv
Die Einführung des Tonfilms war einerseits eine Sensation („Garbo talks!“), andererseits umstritten, denn sie bedeutete eine Existenzkrise für die Musiker, die bisher die Filme „illustrierten“ – als Klavierspieler in den kleinen Kinos der Vorstädte oder als hochprofessionelle Ensemblemitglieder der großen Orchester in den Filmpalästen, wo glanzvolle Uraufführungen gesellschaftliche Ereignisse vom Rang eines Opernabends waren. Filmtheoretiker bedauerten die Abschaffung des durch Montage und ausdrucksvolles Spiel argumentierenden Stummfilms und befürchteten stattdessen monotone Sprechfilme. Tatsächlich bildete sich jedoch in Deutschland mit der Tonfilmoperette alsbald ein Genre heraus, das enorme Publikumswirksamkeit mühelos mit formaler und musikalischer Innovation verband. Geradezu modellhaft verkörpert der Film Die Drei von der Tankstelle (D 1930) die Fähigkeit der neuen Filmform, komödiantisches Spiel der Darsteller mit intimen Gesangsszenen und großen Revuenummern zu verbinden, ohne dass man sich je fragt, „wo die Musik herkommt, wenn zwei Menschen in einem Auto plötzlich zu einer ausgezeichneten Orchestermusik zu singen beginnen“, wie Regisseur Wilhelm Thiele 1930 im Film-Kurier schrieb. Auf ganz andere Weise zeigt Robert Siodmaks erster Tonfilm Abschied – So sind die Menschen (D 1930) die Möglichkeiten, die die Verbindung von Bild- und Tonaufnahme bot, um auch in einer kammerspielartigen Inszenierung ebenso poetische wie wahrhaftige Wirkungen zu erzielen, die ohne Tonspur nicht denkbar wären. Der Film führt in eine typische Berliner Pensionsetage, wie sie Christopher Isherwood beschrieben hat: Ein Korridor verbindet die schlecht gedämmten Zimmer, hier wacht die Wirtin mit Argusaugen über den Anstand, und hier gibt es ein ständig besetztes Telefon, das sich alle teilen müssen. Zu den Mieterinnen und Mietern zählen mittellose russische Emigranten, amerikanische Revuetänzerinnen und ein Pianist, dessen Üben die Tonspur mal lauter, mal leise ständig bestimmt. Und mittendrin ein Liebespaar, das aufgrund eines unglücklichen Missverständnisses seine Trennung erlebt. In der turbulenten Handlung erlaubt sich der Film einen wunderbaren Ruhepunkt mit einer unsichtbaren Liebesszene: Im abgedunkelten Zimmer sehen wir eine Zigarette in Realzeit verglimmen, im Ton genügen einige geflüsterte Worte und ein paar Klavierakkorde aus dem Nebenzimmer, und alles ist gesagt. Damit war bewiesen, dass der Tonfilm alles konnte, was der Stummfilm schon lange konnte – dass er aber um mindestens eine Dimension reicher war.
2 Abschied (So sind die Menschen)
D 1930, Regie: Robert Siodmak
Bogdanoff (Konstantin Mic, r.), Szenenfoto
Beide Filme waren Produktionen der Universum Film-A.G. (Ufa), die auf die in den USA schon seit 1927 erfolgte Einführung des Tonfilms mit dem Bau des „Tonkreuz“ genannten modernsten Aufnahmeateliers Europas reagiert hatte. Es ging 1929 in Betrieb, umfasste vier Hallen und wird bis heute genutzt. mko
3 Ich küsse Ihre Hand, Madame, D 1929, Regie: Robert Land
Schallplatte mit Musik zum Film („Tango-Lied“), Musik: Ralph Erwin, Text: Fritz Rotter, Gesang: Richard Tauber
4 Lilian Harvey und Willy Fritsch bei einer Rundfunkaustrahlung ihrer Schlager unter dem Titel Die zwei von der Tankstelle, 1932
Heute ist Der blaue Engel (D 1930, Regie: Josef von Sternberg) vor allem bekannt als der Film, der den Grundstein für die Karriere des aus Berlin stammenden Weltstars Marlene Dietrich legte. Der Babelsberger Ufa-Konzern sah in der Produktion ein Prestigeprojekt, um die neue Tonfilmtechnologie zu vermarkten. Man zielte auf ein internationales Publikum und engagierte den Hollywood-Regisseur Josef von Sternberg. Als Star des Films konnte der Produzent Erich Pommer Emil Jannings unter Vertrag nehmen, der im Mai 1929 in Los Angeles den ersten jemals an einen Schauspieler verliehenen Oscar erhalten hatte. Da eine nachträgliche Filmsynchronisation bis Mitte der 1930er-Jahre technisch noch nicht möglich war, wurde Der blaue Engel im gleichen Set jeweils in einer deutschen und in einer englischsprachigen Fassung gedreht.
1 Marlene Dietrich, 1933
Porträtfoto: Eugene Robert Richee
Marlene Dietrich Collection Berlin
Für die Rolle der Barsängerin Lola Lola, die mit Herrenzylinder und Strumpfhaltern den von Jannings gespielten Studiendirektor Rath um den Verstand bringt, lud Sternberg die junge, noch unbekannte Marlene Dietrich zu Probeaufnahmen ein. Sie war ihm auf der Bühne des Deutschen Theaters Berlin aufgefallen und hatte bereits in Stummfilmen und einer Tonfilmoperette mitgespielt.
2 Morocco
USA 1930, Regie: Josef von Sternberg
Die Sängerin Amy Jolly (Marlene Dietrich) und Monsieur Le Bessiere (Adolphe Menjou)
Szenenfoto
Marlene Dietrich Collection Berlin
Bis heute ist das von Friedrich Hollaender für Der blaue Engel geschriebene Stück Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt mit Marlene Dietrich verbunden. Es erschien auch in englischer Sprache als Schallplatte und wurde fester Bestandteil aller späteren Konzertauftritte der Schauspielerin und Sängerin.
3–7 Der Blaue Engel
D 1930, Regie: Josef von Sternberg
Probeaufnahmen, die lange Zeit als verschollen galten und erst nach Marlene Dietrichs Tod im Jahr 1992 wieder aufgefunden wurden.
Screenshots aus den Beständen der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung, Wiesbaden
Kurz nach der Uraufführung des Films war Marlene Dietrich schon unterwegs nach Hollywood. In weiteren sechs Filmen Josef von Sternbergs perfektionierte sie gemeinsam mit dem Regisseur jedes Detail ihres Erscheinungsbilds. Die Kostümauswahl, die Schuhe, das charakteristische Make-up mit den nachgezogenen Augenbrauen, die ausgeklügelte Lichtsetzung auf ihr Gesicht – alles war bewusst geplant. Durch ihre Filmrollen und öffentlichen Auftritte wurde Marlene Dietrich zu einer Modeikone. Sie machte Kleidung salonfähig, die bislang Männern vorbehalten war, und die gerne von ihr getragenen Hosen mit weitem Bein erhielten später sogar ihren Namen.
In von Sternbergs Morocco (USA 1930) gipfelt das in Der blaue Engel begonnene Spiel mit Nonkonformität und Geschlechtergrenzen im ersten lesbischen Kuss der Filmgeschichte. Als Sängerin Amy Jolly küsst Marlene Dietrich im eleganten Frackanzug eine Frau und wurde so zu einem frühen queeren Idol. vt
In den 1920er-Jahren wurde Sport zum Massenphänomen. Das schlug sich auch medial nieder. Besonders der dokumentarische Film zeigte und forcierte sportliche Betätigungen und Körperkult: Wochenschauen berichteten von Wettkämpfen, Kulturfilme propagierten Volksgesundheit und Gymnastik für alle. Slatan Dudows Kuhle Wampe oder Wem gehört die Welt? (D 1932) integrierte Massenaufnahmen von einem Arbeitersportfest mit 4000 Teilnehmenden in die Spielhandlung. Gerade der noch junge Boxkampf –in Deutschland seit 1919 zugelassen – war klassenübergreifend populär. Bertolt Brecht meinte Ähnlichkeiten zwischen dem Kampfsport und der Schauspielkunst zu erkennen.
1 Liebe im Ring
D 1930, Regie: Reinhold Schünzel
Plakat: Josef Fenneker
Josef-Fenneker-Archiv
Max Schmeling wurde spätestens mit seinem Weltmeistertitel 1930 zum Medienstar. Im selben Jahr spielte er seine erste Hauptrolle in Liebe im Ring (D 1930) von Reinhold Schünzel, in dem er als Boxer auch singen musste. Sein Kampf wurde dynamisch gefilmt, die Kamera bewegt sich mit den Athleten und fragmentiert deren Körper, indem sie beispielsweise nur die Füße zeigt, wie man es auch aus späteren Kultfilmen wie Rocky (USA 1976, Regie: John G. Avildsen) oder Raging Bull von Martin Scorsese (USA 1980) kennt. 1933 heiratete Schmeling die Schauspielerin Anny Ondra, mit der er in der Sportlerkomödie Knock-out. Ein junges Mädchen – ein junger Mann (D 1935, Regie: Hans H. Zerlett, Carl Lamač) zusammen auftrat. Für die Boulevardpresse waren die beiden ein Traumpaar. Die Komödie Das Abenteuer einer schönen Frau (D 1932) von Hermann Kosterlitz mit Lil Dagover erzählt die Geschichte einer mondänen Bildhauerin, die ausdrucksstarke Modelle sucht und sich dabei ebenfalls in einen aufstrebenden jungen Boxer verliebt. Höhepunkt dieser Filme ist jeweils ein zentraler Kampf, der über die weitere Karriere und das Liebesglück des Protagonisten entscheidet.
2 Capriccio
D 1938, Regie: Karl Ritter
Madelone alias Don Juan de Casanova (Lilian Harvey, r.), Szenenfoto
Der Sport ist im Film der 1930er-Jahre jedoch keinesfalls den Männern vorbehalten. In Géza von Bolvárys Tonfilmoperette Das Lied ist aus (D 1930) ertüchtigt sich Liane Haid in ihrem privaten Fitnessstudio auf einem Heimtrainer namens Velotrab. Und in Karl Ritters Capriccio (D 1938) sieht man Lilian Harvey in einer „Hosenrolle“ als Mann gekleidet gekonnt reiten und fechten. Zu den bekanntesten athletischen Darstellerinnen gehörte Leni Riefenstahl, die bereits in Wilhelm Pragers und Nicholas Kaufmanns Ertüchtigungsfilm Wege zu Kraft und Schönheit (D 1925) mitgewirkt hatte. In mehreren Bergfilmen Arnold Fancks führte sie skifahrend und bergsteigend ihre eigenen Stunts aus. Als Regisseurin des propagandistischen Dokumentarfilms Olympia (1. Teil: Fest der Völker, 2. Teil: Fest der Schönheit, D 1938) stilisierte sie die Wettkämpfe im Dienste des Nationalsozialismus und verkehrte damit die Ideale aus den 1920er-Jahren von der Befreiung des Körpers zu einem rassistisch motivierten Körperkult. kj
3 Max Schmelings Boxhandschuhe, 1935
Geschenk an Heinz Rühmann
Heinz-Rühmann-Archiv
4 Olympia. 1. Teil: Fest der Völker
D 1938, Regie: Leni Riefenstahl
Während der Dreharbeiten: Leni Riefenstahl
Werkfoto (Ausschnitt)
Wer den Begriff Filmrestaurierung hört, denkt in erster Linie an das Bild im Film. Zurecht, denn das Bild steht bei den meisten Filmen im Vordergrund, entsprechend wird ihm bei der Restaurierung viel Aufmerksamkeit gewidmet. Ton war dagegen lange Zeit ein Nebenschauplatz, der Fokus lag hauptsächlich darauf, ihn inhaltlich vollständig und ohne merklichen Signalverlust zu übertragen. Mit der Digitalisierung eröffneten sich neue Möglichkeiten: Heute kann man das originale Tonsignal mittels spezieller Technik von Spuren physischer Belastung oder mangelhafter Kopierprozesse befreien und seinen ursprünglichen Charakter freilegen, sodass inzwischen auch dem Ton als essenziellem Bestandteil des Filmwerks die notwendige Aufmerksamkeit zukommt.
1 Ariane
D 1931, Regie: Paul Czinner
Rohscan der 35mm-Nitrokopie mit Sprossentonspur, Kratzern in der Tonspur und sogenannter Tonfliege zur Abmilderung des Schnitts in der Tonspur
Eine besondere restauratorische Herausforderung stellen frühe Tonfilme dar, beispielsweise Ariane (D 1931) von Paul Czinner oder Kameradschaft (D/F 1931) von Georg Wilhelm Pabst. Beide Filme entstanden mit einem frühen Lichttonverfahren, das auf der Abbildung des Tons als Streifen unterschiedlich intensiver Schwärzung oder Dichte beruht. So entsteht auf dem Film eine Tonspur, die optisch an eine Sprossenleiter erinnert – daher der Name Sprossenton. Die Qualität eines Sprossentons hängt maßgeblich von der Qualität der Überspielung des Tons ab; dabei muss jeder einzelne Streifen der Sprosse in der richtigen Intensität abgebildet werden. Entscheidend ist auch der Erhaltungszustand des überlieferten Filmmaterials. Je besser diese beiden Faktoren, desto besser die Tonqualität.
2 Kameradschaft
D/F 1931, Regie: G. W. Pabst
Rohscan des 35mm-Nitro-Duplikatpositivs,
Sprossentonspur mit einkopierten Oberflächenschäden
Bei der Digitalisierung von Sprossentönen kommen spezielle Systeme zum Einsatz. Richtig bedient, können sie einerseits das Tonsignal bestmöglich abtasten, andererseits verhindern sie auch die Entstehung von neuen Störgeräuschen – etwa die Übertragung von Frequenzen, die bei den zeitgenössischen Wiedergabesystemen nicht hörbar waren, durch eine mangelhafte Digitalisierung aber hörbar gemacht werden können.
3 Kameradschaft
D/F 1931, Regie: G. W. Pabst
Rohscan des 35mm-Nitro-Duplikatpositivs,
Sprossentonspur mit einkopierten Kratzern
Am Beispiel der Restaurierungen von Kameradschaft und Ariane, zwei Projekten der Deutschen Kinemathek aus den Jahren 2014 und 2019, lassen sich typische Aspekte der Restaurierung von frühen Tonfilmen erzählen. Ariane, Czinners erster Tonfilm, wurde auf der Basis von zwei Nitrokopien mit Sprossenton aus dem Bestand der Praesens-Film AG in der Cinémathèque Suisse restauriert. Wie für das Bild wurden auch für den Ton die beiden Kopien miteinander kombiniert; je nach Szene diente die Kopie mit der besseren Tonqualität und der größeren inhaltlichen Vollständigkeit als Ausgangsmaterial. Die Restaurierung von Kameradschaft basierte hauptsächlich auf einem Nitro-Duplikatpositiv mit Sprossenton aus dem British Film Institute National Archive.
Der Ton zeigt in beiden Fällen Eigenheiten, mit denen man beim Digitalisieren von Sprossentönen häufig konfrontiert ist. Schwankungen im Lautstärkepegel, mangelnde Sprachverständlichkeit, starkes Rauschen und Knistern, Brummen, verzerrte Töne, kurze Ausfälle des Tonsignals sowie punktuelle Störgeräusche prägen das Klangbild. Die zeitgenössischen Methoden von Aufnahme und Tonschnitt führen auch zum häufigen Wechsel von Rauschen und raumvermittelndem Hintergrundgeräusch, der sogenannten Atmo. Dadurch ist der Tonschnitt sehr auffällig nachvollziehbar.
Die Tonrestaurierung muss bei der Bearbeitung behutsam vorgehen. Störgeräusche wie Knackser kommen meistens von Schmutz und Schäden auf der Tonspur und dürfen entfernt oder reduziert werden. Rumpler oder Plopper müssen differenziert betrachtet werden: Liegt ihr Ursprung im Tonschnitt, sollten sie nicht entfernt, sondern höchstens abgemildert werden. Ist ihr Ursprung aber auf mangelhaften Umgang mit dem Material oder der zum Einsatz gekommenen Technik zurückzuführen, kann man sie durchaus entfernen. Montagebedingte Atmo-Wechsel sollen erhalten bleiben, da sie eine Eigenheit der Produktion sind. Besonders herausfordernd bei der Restaurierung von Ariane war zudem die Anpassung der unterschiedlichen Tonquellen, die sich im Klangbild stark voneinander unterschieden.
Einige Grenzen der Bearbeitung setzt der Ton selbst. Ein zu starker Eingriff wie etwa das intensive Reduzieren von Rauschen oder Knistern führt zur Beeinträchtigung von Sprache und Musik sowie zur Bildung von digitalen Artefakten, also neu generierten Schäden im Tonsignal, die unbedingt vermieden werden müssen. Letztlich soll bei der Tonrestaurierung der ursprüngliche Charakter des Tons nicht verfälscht, sondern mit all seinen produktionsbedingten auditiven Eigenschaften wieder erfahrbar gemacht werden. Wie auch bei der Restaurierung des Bildes gilt: Ein Filmton von 1931 muss nicht wie neu klingen, man darf ihm sein Alter anhören. jw