Der Dorfschulmeister - Gerd Friederich - E-Book

Der Dorfschulmeister E-Book

Gerd Friederich

4,7

Beschreibung

Der junge Hansjörg Rössner wollte den Hof des Vaters übernehmen, Bauer werden und in seiner Heimat, in Oberschwaben, bleiben. Doch kurz vor seiner Schulentlassung im März 1842 erfährt der 14-Jährige: Seine Eltern verfügen, dass er eine Lehre zum Schulmeister absolviert. Zunächst widerwillig, dann immer interessierter schlägt Hansjörg diesen Berufsweg ein, der ihn in ein Lehrerseminar am Fuße der Schwäbischen Alb führt. Mit viel Phantasie und Engagement setzt der Junglehrer die neuen, ganzheitlichen Erziehungsmethoden Pestalozzis in der dortigen Armenschule und auf seiner ersten Lehrerstelle auf den Fildern um. Doch den konservativen Kirchenoberen sind seine Ideen zu liberal und so versetzen sie ihn in den Wirren der Revolution 1848/49 ins Hohenlohische. Ein regelrechter Krimi setzt ein, als der junge Lehrer in Kirchenarchiven alte Dokumente entdeckt und er feststellen muss, dass sich um die Umstände seiner eigenen Herkunft ein düsteres Geheimnis rankt … Ein farbiger, kenntnisreich geschriebener Roman, der den Leser in das württembergische Leben vor 150 Jahren und in die Anfänge des heutigen Schulwesens entführt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 562

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,7 (18 Bewertungen)
13
5
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Gerd FriederichDer Dorfschulmeister

Gerd Friederich

Der Dorfschulmeister

Roman

Dr. Gerd Friederich, Jahrgang 1944, studierte in Würzburg (Lehramt), Tübingen (Pädagogik, Philosophie, Tiefenpsychologie, Landeskunde) und Nürnberg (Malerei). Er arbeitete in Schulen, Schulverwaltung und Institutionen zur Lehrerbildung. Jetzt lebt er im Taubertal, schreibt Romane und malt Porträts und Landschaften.

Im Folgeband »Fräulein Lehrerin« beschreibt Gerd Friederich die Geschichte von Sophie, der Tochter des Dorfschulmeisters. Sie gehörte zu den ersten Lehrerinnen in Württemberg.

1. Auflage der

Taschenbuchausgabe 2016

© 2016 by Silberburg-Verlag GmbH,

Schönbuchstraße 48, D-72074 Tübingen.

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Anette Wenzel, Tübingen,

unter Verwendung einer Reproduktion des Gemäldes

»Dorfschule von 1848« aus den Jahren 1895/96 von Albert Anker.

Lektorat: Margot Adrion, Bietigheim-Bissingen.

E-Book im EPUB-Format: ISBN 978-3-8425-1732-5

E-Book im PDF-Format: ISBN 978-3-8425-1733-2

Gedrucktes Buch: ISBN 978-3-8425-1466-9

Besuchen Sie uns im Internet und entdecken Sie

die Vielfalt unseres Verlagsprogramms:

www.silberburg.de

Inhalt

Über den Autor

Königreich Württemberg 1842

Sommerfelden 1842

Ringelfingen 1842

Wieder in Sommerfelden

Junglehrer in Neustadt 1847

Wieder in der alten Heimat

Besuch in Bietigheim

Unruhige Zeiten

Unterlehrer in Winterhausen 1851

Aufklärungszeit

Die neue Heimat

Personen

Erläuterungen

Weitere Bücher und E-Books aus dem Silberburg-Verlag

Für Jutta und Maximiliane

Königreich Württemberg 1842

Er tobte. Bauer wollte er werden. Er war keine Person der Geschichte, aber alles um ihn herum im Königreich Württemberg war genau so, wie es in diesem Roman steht. Den Hof seines Vaters wollte er übernehmen und in Oberschwaben bleiben. Das harte Bauernleben, die Feste im Kirchenjahr, die weiten Felder und die sanften Hügel liebte er, denn er kannte nichts anderes. Nur einmal war er mit seinem Vater in Ravensburg gewesen, eine beschwerliche Tagesreise mit dem Pferdefuhrwerk. Die kleinen Dörfer lagen nicht auf der Route der Postkutschen, und Eisenbahnen gab es in Württemberg noch nicht.

Hansjörg Rössner, vierzehn Jahre alt, stand im März 1842 kurz vor der Schulentlassung. Acht Jahre lang hatte er die einklassige Dorfschule besucht und besser als die meisten seiner Mitschüler lesen, schreiben und rechnen gelernt. Er freute sich, wenn ihm die Pfarrfrau ab und zu ein Buch lieh. Gern las er den Oberschwäbischen Anzeiger, über dem sein Vater täglich brütete, und den Schwäbischen Merkur, den der Pfarrer von der ersten bis zur letzten Zeile verschlang und dann Hansjörgs Vater schenkte. Spielte fahrendes Volk mit Fiedel, Dudelsack und Pfeife im Gasthaus zum Tanz auf, dann lauschte er mit offenem Mund. Seit er auf dem Jahrmarkt im Nachbardorf eine Waldkircher Drehorgel gehört hatte, träumte er davon, selber Musik zu machen.

In der Schule hatte Hansjörg auswendig gelernt, wie sein Heimatland entstanden war: Sonderfrieden von 1802, den Herzog Friedrich von Württemberg mit Napoleon geschlossen hatte und der sich für den Württemberger mit einem neuen Titel und mit ansehnlichem Landgewinn auszahlte; Bevölkerungszuwachs von 650 000 Einwohnern auf 1 400 000; feierliche Proklamation des Königreichs am 1. Januar 1806. Freie Reichsstädte, Bistümer, Klöster, Stifte, Ordensgebiete, Reichsrittergüter, Grafschaften, Fürstentümer und vorderösterreichische Landbezirke in Oberschwaben, zusammenfassend als Neuwürttemberg bezeichnet und überwiegend katholisch, hatte Napoleon dem protestantischen Altwürttemberg zugeschanzt.

Anfangs war das Königreich Württemberg ein reiner Agrarstaat, das wusste der Junge von den Alten im Dorf. Achtzig von hundert Einwohnern lebten damals von der Landwirtschaft und vom Weinbau, zwanzig vom Handwerk und von Dienstleistungen, vor allem beim Militär, aber auch als Dienstboten und Tagelöhner. Die wenigen Straßen waren in einem erbärmlichen Zustand. Zudem behinderten Binnenzölle, Brücken- und Wegegelder den Warenverkehr. Der Viehbestand im Land war niedrig und die Anbaumethoden veraltet. In Altwürttemberg herrschte Realteilungsrecht: Das bäuerliche Hab und Gut wurde auf alle Kinder verteilt, und die Höfe schrumpften von Generation zu Generation. Dagegen galt im neuwürttembergischen Oberschwaben das Anerbenrecht: Die Höfe durften beim Erbgang nicht geteilt werden; deshalb gab es dort auch große und reiche Bauern. Zur Armut in der Gründungszeit des Königreichs kam noch das Kriegselend hinzu; Soldaten zogen durchs Land und nahmen sich, was sie in Häusern, Ställen und Scheunen fanden.

Das in evangelische und katholische Landstriche, altwürttembergische und neuwürttembergische Gebiete, viele arme Dörfer und wenige reiche Städte zerrissene Königreich musste nach seiner Gründung zunächst regierbar gemacht werden. Darauf hatte Hansjörgs Schulmeister mehrfach hingewiesen, wenn die Alten in Sommerfelden über den »dicken Friedrich« schimpften, Württembergs ersten König. Natürlich sei der ein selbstherrlicher Zar gewesen, aber gerade deshalb der richtige Mann für den Anfang. Mit Gewalt habe König Friedrich in seiner zehnjährigen Regierungszeit von 1806 bis 1816 einheitliche Rechts-, Verwaltungs- und Infrastrukturen durchgesetzt. Sein Nachfolger, dessen 25-jähriges Thronjubiläum man kürzlich auch in Oberschwaben gefeiert hatte, galt dagegen als umsichtiger Reformer. Seit seinem Regierungsantritt herrschte Frieden nach außen und Fortschritt im Inneren des Königreichs. Manches hatte sich schon zum Besseren gewendet: die Straßen, die ersten Fabriken, die modernen Acker- und Weinbaumethoden und die stabilere Währung.

Die Württemberger lebten nach dem eingewurzelten Grundsatz: Alles beim Alten lassen! Mit Hartnäckigkeit und Schlitzohrigkeit versuchte König Wilhelm, diese Mentalität zu brechen. Vorschriften und Traditionen, die den freien Warenverkehr im Land behinderten, beseitigte er nach und nach. Mit freiem Binnenverkehr allein konnte er die wirtschaftlichen Probleme Württembergs nicht lösen. Also suchte er sich Verbündete unter den Nachbarstaaten und trat dem Zollverein, der süddeutschen Währungsunion, verschiedenen Eisenbahn- und Postabkommen und dem Telegraphenverein bei. So kam auch der Export allmählich wieder in Schwung. Das wichtigste Mittel zur wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Modernisierung war für König Wilhelm jedoch die Bildung, vor allem die Gewerbe- und Volksbildung.

1842 war Württemberg immer noch ein Agrarland mit dörflicher Kulturlandschaft. Es gab nur 6 Städte mit mehr als 10 000 Einwohnern und 130 Kleinstädte, aber 1700 Dörfer und 8000 Weiler. Entsprechend war die Schulstruktur: 12 Lateinschulen, 3 Lyzeen, 7 Gymnasien und 9 Realschulen, aber 2125 Volksschulen. König Wilhelm hatte in Hohenheim die erste landwirtschaftliche Hochschule mit angeschlossener Pflugfabrik und Gewerbeschulen für Acker-, Wein- und Gartenbau gegründet und in Tübingen den ersten Lehrstuhl für Staatswirtschaft errichtet. Jetzt förderte er Winterabendschulen, Sonntagsgewerbeschulen und höhere gewerbliche Lehranstalten.

Königreich Württemberg um 1850

1 Sommerfelden in Oberschwaben

2 Ringelfingen am Albtrauf

3 Neustadt auf den Fildern

4 Winterhausen in Hohenlohe

Die Hauptlast der Volksbildung trugen die Pfarrer und die Schulmeister. Hansjörgs Vater hatte die berühmte Ackerbauschule in Hohenheim besucht und war Mitglied im Kirchenkonvent. Er unterstützte seinen Pfarrer nach besten Kräften. Als Verehrer des Königs und Verfechter der königlichen Reformpolitik war der Rössnerbauer selbst zum Erneuerer in Sommerfelden geworden. Hansjörgs Mutter, eine belesene Frau, half dem Dorfschulmeister, wo immer sie konnte. Sie wusste, dass der Lehrer als Kirchendiener über das Schulehalten und das obligatorische Mesneramt hinaus sonntags und an den Winterabenden die schulentlassene Jugend im Baumveredeln und in den neuen Saatzuchten, in der Buchführung und im Grund- und Aufrisszeichnen unterrichten musste und für die Unterweisung der armen Dorfjugend in allerlei nützlichen Handfertigkeiten zuständig war.

Sommerfelden war eine ganz junge Gemeinde. Die Reichsstädte Isny und Leutkirch waren zwar seit der Reformation ganz und Ravensburg zur Hälfte evangelisch, aber ansonsten war Oberschwaben bis 1806 streng katholisch. 1811 hatte der evangelische König Friedrich die Reichsstadt Buchhorn und das Klosterdorf Hofen zwangsweise zur Stadt Friedrichshafen vereint und einen Freihafen am Bodensee gegründet. So kamen viele evangelische Beamte aus Stuttgart und Umgebung nach Oberschwaben. Ihrem Beispiel folgten evangelische Bauern aus dem Neckartal, die nach wiederholten Missernten nicht donauabwärts oder über den Atlantik auswandern wollten, sondern einen Neuanfang im eigenen Land suchten. Sie erwarben ehemalige Kirchengüter in Bodenseenähe, die im Zuge der Säkularisation verlassen worden waren, gründeten evangelische Weiler wie Sommerfelden und übernahmen das dort geltende Anerbenrecht.

Die Konfession spielte 1842 immer noch eine große Rolle. Handwerker, Gewerbetreibende, Ärzte, Apotheker und Verwaltungsbeamte waren die Ersten, die sich in Städten und Dörfern der anderen Konfession niederließen. Im Gegensatz zu den höheren Schulen waren die Volksschulen streng konfessionell; die Lehrerausbildung, den Lehrplan, die Schulbücher und die Unterrichtsmethode bestimmten immer noch die Kirchen. Ein evangelischer oder katholischer Volksschüler, der Lehrer werden wollte, musste seine Heimat in der Diaspora verlassen. Mädchen durften in Württemberg erst ab 1860 Lehrerin werden.

Auch wenn die Personen und Handlungen dieses Romans frei erfunden sind, so lassen sich die gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Angaben ebenso geschichtlich nachprüfen wie die pädagogischen und schulpolitischen Aussagen. Die wichtigsten Fachbegriffe sowie die Lehrerausbildung werden am Schluss des Buches erläutert.

Sommerfelden 1842

»Hau ab! Das meinst du doch!« Der Junge schäumte vor Zorn. Seine Augen blitzten. Die Lippen bebten, und die Muskeln zuckten im Gesicht.

»Überleg dir gut, was du sagst«, zischte sein Vater.

»Fort mit dem Kerl, sag’s doch!«

»Das verbitt ich mir!«

»Weg soll ich!« Er schnappte nach Luft. »Verschwinde! Sag’s doch!«

»Halt’s Maul!«

Ich schlag ihn tot, fuhr es dem Jungen durch den Kopf. Die Galle schoss ihm ins Blut. Sein Hass kochte über. Er spie Gift. Er sah rot und verkrampfte. Seine Arme und Beine wurden starr.

Er sprang auf, steif und wild. Den Stuhl stieß er um. Das Glas in seiner Hand fiel zu Boden. Es zerklirrte in tausend Scherben.

Und er schrie, schrill und weiß vor Wut.

»Ich soll fort?«, höhnte er und stampfte auf. »Aus dem Weg haben willst du mich! Gib’s zu! Fort! Fort mit dem Kerl!«

Seine Stimme überschlug sich. Mit letzter Kraft stieß er hervor: »Nicht mit mir!«

Mit drei Sätzen war er an der Tür, riss sie auf, schlug sie mit voller Wucht hinter sich zu.

Die eisernen Töpfe und Pfannen klapperten auf dem Herd. Die Schüsseln und Teller schepperten in den Regalen. Fensterscheiben zitterten. Der Schäferhund, der neben der Küchentür lag, bellte kurz auf.

Ein paar lange Sekunden blieb alles ruhig.

»Das duld ich nicht!« Der Bauer schlug mit der Faust auf den Tisch. »Nicht in meinem Haus!« Er schluckte heftig und riss Mund und Augen auf. »So nicht!« Dann presste er die Lippen zusammen. Alle Muskeln in seinem Gesicht traten hart hervor. Krebsrot wurde sein Hals. Die Halsschlagader pochte.

Stille.

»Geht hinauf in eure Kammern, Kinder. Ich komm nachher zu euch«, flüsterte die Bäuerin.

Die drei Mädchen und der Zehnjährige, der erschrocken am Tisch saß und ratlos seine Mutter anstarrte, erhoben sich leise und verließen die Küche. Der Hund trottete mit hängendem Schwanz hinterdrein.

»Und wenn du ihn totschlägst, ändern wirst du ihn nicht. Lass ihm Zeit.« Ruhig schaute die Bäuerin ihren Mann an. »Lass ihm Zeit. Das muss er erst schlucken und verdauen.« Sie sah ihn bittend an.

Er schwieg. Sie stand auf, sammelte die Scherben vom Boden auf und legte sie in die Pfanne auf dem Herd. »Unser Hansjörg ist ein guter Junge, das weißt du.«

Sie setzte sich wieder zu ihrem Mann an den Tisch. »Ich geh gleich zum Schulmeister. Ocker ist ein kluger Mann. Unser Hansjörg versteht sich gut mit ihm. Der Schulmeister sagt dem Buben, dass wir’s gut meinen.«

Schweigen.

»Eine solche Widerred duld ich nicht in meinem Haus«, polterte der Bauer. »Dem zeig ich, wer Herr im Haus ist.« Zornig strich er mit seiner rechten Hand wieder und wieder über die schwere Tischplatte, als müsse er Krümel wegwischen.

»Denk dran, was wir uns geschworen haben, als du den Buben zum ersten Mal im Arm hattest. Es soll unser Kind sein, Hans, so haben wir’s ausgemacht. Ich bitt dich, reg dich nicht auf. Der Bub ist durcheinander, und du auch.«

Schweigen.

»Versündig dich nicht an unserem Buben, Hans. Tu ihm nichts. Lass – ihm – Zeit«, wiederholte die Bäuerin langsam und flehend. »Der Schulmeister und ich werden’s richten.«

Die Bäuerin wartete nicht auf Antwort. Sie band sich den Schurz im Gehen ab und verließ die Küche. Der Hund kam im Hausflur auf sie zu. Sinnend blieb sie stehen und kraulte ihn hinter den Ohren. Sie sah nicht auf und tastete mit der linken Hand nach dem Kleiderrechen, hängte den Schurz auf und nahm ihre Sonntagsjoppe vom Haken. Sie sah vor sich hin und dachte nach. Sie stand vornüber gebeugt, dachte nach und schlüpfte in die Jacke. Dann hob sie den Kopf, tat mit einem Ruck den ersten Schritt und wandte sich zur Stiege.

Sie zögerte. »Ach, hätt ich beinahe vergessen«, sagte sie vor sich hin und kehrte um. Sie nahm ein Kopftuch von der Ablage, setzte es auf und verknotete es stramm im Nacken.

Energisch stieg sie in den oberen Stock, wo sich ihre beiden Buben eine Kammer teilten. Sie trat hart auf. Ihre Tritte hallten im ganzen Haus wider.

Hörbar sog sie die Luft ein, als sie ohne anzuklopfen in die Kammer trat. Hansjörg war nicht da. Sein kleiner Bruder stand am Fenster und sah auf den Hof hinab. Weinte er? »Geh, Wilhelm, sperr das Fenster auf. Das Wachs auf den Dielen riecht streng.«

Das Fenster klemmte, wie häufig in diesen feuchten Tagen. Deshalb stemmte sich der Junge mit der einen Hand am linken Fensterflügel ab, während er mit der anderen am Fenstergriff riss. Ein dumpfer Ton wie ein Schuss, und kalte Luft strömte ins Zimmer.

»Ich will nicht, dass der Hansjörg wegen mir den Hof verlassen muss, Mutter.« Der Junge war dem Weinen nahe und schmiegte sich an sie.

Die Bäuerin nahm ihn in die Arme und sagte ernst: »Was sein muss, soll man nicht aufhalten, Bub.«

Sie packte ihren Jungen an den Schultern, schob ihn auf Armlänge von sich und sah ihm in die Augen. »Geh zur oberen Tagweide, Wilhelm, und sag dem Knecht, er soll heimkommen. In der Küche steht sein Vesper. Dann soll er dem Vater beim Holzrücken helfen.«

Sie ließ den Jungen los. »Zieh deinen Kittel an; draußen ist’s kalt.«

Sie schob ihn zur Tür. »Bis es zum Sonntag läutet, musst du auf das Vieh aufpassen. Dann treibst du die Kühe in den Stall.«

»Ich will aber nicht, dass der Vater den Hansjörg haut«, sagte Wilhelm und nahm schniefend Mütze und Wolljacke vom Türhaken.

»Geh jetzt. Hunde, die bellen, beißen nicht.« Die Bäuerin schubste den Jungen aus dem Zimmer und stieg hinter ihm die Treppe hinab.

Mit großen Schritten eilte die Bäuerin über ihren Hof und auf der Dorfgasse zur Kirche. Sie sah nicht nach links und rechts und achtete, entgegen ihrer Gewohnheit, nicht auf das nasskalte Wetter, bei dem sie meist kurzatmig wurde.

Hart trat sie die Schottersteine in den weichen Grund und zog ihre Ellbogen an die Hüften, als ob sie gleich losrennen wollte. Wie ein Fuhrwerk beanspruchte sie die Straßenmitte und überrollte alles, was vor ihr lag. Sie sah nicht, dass ihr der Häfnerbauer fragend nachsah. Sie hörte nicht, dass der Schmied seinen Ambosstakt unterbrach, und beachtete nicht, dass ihr die Nachbarin etwas zurief.

An der Treppe vor dem Kirchplatz nahm sie zwei Stufen auf einmal. Mit beiden Händen riss sie die große Kirchentür auf, die mit einem dumpfen Schlag an die Außenwand knallte.

Sie erschrak, als ihre ersten Schritte durch die Kirche hallten. Sie hielt den Atem an, zögerte kurz, trat dann leise auf und zügelte ihren Gang. Sie faltete die Hände, als sie zum Kruzifix über dem Altar aufsah und sich ihm langsam näherte. Ihre Lippen sprachen ein stummes Gebet. Vor dem Absatz zum Altar blieb sie stehen und schaute Schulmeister Ocker zu, der wie jeden Samstagnachmittag sein Mesneramt in der Kirche versah.

Ocker hatte sie kommen hören, beachtete sie zunächst nicht und steckte neue weiße Kerzen auf die Kerzenständer vor dem Flügelaltar. Dann richtete er sich auf und drehte sich erwartungsvoll zu ihr um.

»Immer fleißig, Herr Lehrer.«

Weil die Bäuerin vor den Altarstufen verharrte, kam er zu ihr herunter. Er war jünger als sie und einen Kopf größer.

»Wie Sie wohl wissen, Rössnerbäuerin, will der Herr Pfarrer am Sonntag eine schöne Kirche«, sagte er und gab ihr die Hand. »Seit alters her ist’s in Sommerfelden üblich, wie anderswo auch, dass der Dorfschullehrer am Samstag nach der Schule die Kirche herrichtet.«

»Ihr Vorgänger«, wandte die Bäuerin ein, »hat’s net gar so wichtig g’habt.«

Der Schulmeister ging darauf nicht ein. »Um sechs Uhr muss ich fertig sein mit Putzen, Kerzen aufrichten, Blumen aufstecken, Kirchhof kehren und noch vielem mehr. Dann muss ich den Sonntag einläuten.«

»Haben Sie heut viel zu tun?«

Ocker sah sie fragend an.

»Könnten Sie Hilfe brauchen?«

Er seufzte und blickte sie versonnen an.

»Soll Ihnen mein Hansjörg helfen?«

Er stutzte und sperrte die Augen auf.

»Wegen dem Buben bin ich da, Herr Lehrer. Der Hansjörg ist heut beim Mittagessen auf und davon.«

Der Schulmeister sah ihr in die Augen. Sie wich seinem Blick aus, rückte ihr Kopftuch zurecht und schwieg.

»Wenn man einen Hund schlägt, dann läuft er weg. Trotzdem ist er unser treuester Begleiter.«

Sie runzelte die Stirn und sah Ocker ungehalten an. Sie wollte etwas sagen, beherrschte sich aber. Er wich ihrem Blick nicht aus, bis sie langsam zu sprechen begann: »Hiebe verträgt unser Hansjörg, aber bei Kummer und Schande leidet er wie ein Hund. Und heute haben wir ihm eine bittere Pille gegeben. Wir haben ihm gesagt, dass er nicht Rössnerbauer wird. Da hat er Gift und Galle gespuckt.«

Der Schulmeister zuckte zusammen: »Den ganzen Hof wollt ihr am Hansjörg vorbei dem Jüngsten vermachen? Alles für euren Wilhelm? Alles Hab und Gut? Und nichts für den Hansjörg?«

»Oh, Herr Lehrer, Sie leben noch nicht so lange in Oberschwaben wie ich. In unserer gemeinsamen Heimat am Neckar bekommt jedes Kind seinen Teil am Erbe. Aber hier gelten andere Gesetze, auch wenn Sommerfelden ein evangelisches Dorf ist. Hier erbt einer alles, wie es im katholischen Oberschwaben schon seit langer Zeit Brauch ist.«

»Das weiß ich wohl. Aber ist es nicht so, dass der Älteste erbt? Euer Hansjörg ist doch der Ältere und Wilhelm vier Jahre jünger?«

»Geschrieben steht’s anders. Einer erbt alles, so steht’s im Gesetz, nur ein Erbe gilt. Die Reihenfolge, wer zuerst ans Erben kommt, steht nicht im Gesetz. Den Hof aufteilen, das ist gegen das Gesetz.«

Der Schulmeister warf den Kopf zurück, als wolle er widersprechen.

»Meistens erbt der Älteste«, sagte die Bäuerin, »das ist wahr. Aber hin und wieder kann man sich nicht an die Regel halten.«

»Und warum, Rössnerbäuerin, ist dann euer Hansjörg davongelaufen? Hat er das alles nicht gewusst?«

Sie schüttelte den Kopf: »Unser Hansjörg hat bis heute geglaubt, er wird einmal Rössnerbauer und Wilhelm muss in einen anderen Hof einheiraten oder ein Handwerk lernen.«

Der junge Mann riss die Augen auf und traute seinen Ohren nicht: »Was? Ihr habt den Hansjörg ohne sein Wissen aufs Glatteis geführt? Jetzt bricht er ein, und ihr wundert euch, dass er mit Händen und Füßen strampelt und um sich schlägt?«

Sie sah ihn unwillig an.

Er ließ sich nicht beirren: »Wie sonst soll er wieder festen Boden unter die Füße bekommen? Er muss sich wehren. Oder habt Ihr erwartet, dass er Euch um den Hals fällt und sich bedankt?«

»Es ist, wie’s ist, Herr Lehrer«, gab sie ihm mit einem zornigen Blick und einer hilflosen Geste zurück. »Der Wilhelm wird Bauer, und unser Hansjörg muss in die Lehr. Wir haben ehrliche Gründe, warum wir’s so anpacken müssen. Glauben Sie mir, Herr Lehrer.«

Ocker wandte sich zum Altar, zögerte einen Augenblick, drehte sich dann wieder um und trat dicht an die Bäuerin heran: »Und warum kommen Sie damit zu mir?«

»Weil er bei einem Schulmeister in die Lehr soll«, sagte sie ihm ins Gesicht. Als sie darin Staunen und Fragen las, wurde sie ruhiger und fügte hinzu: »Unser Hansjörg ist ein Büchernarr wie unsere Sophie – und wie Sie, Herr Lehrer. Bevor er zum verstorbenen Schulmeister Möhrle in die Schul gekommen ist, hat er alle Buchstaben gekannt. Wo was zu lesen ist, da kann er nicht vorbei.«

Ocker beugte den Kopf und rieb sich das Genick: »So, so, ein Schulmeister soll er werden.« Mit der Hand strich er über den Holzknauf an der vordersten Kirchenbank, blickte hinauf zur Kanzel, als habe er von dort etwas gehört und wiegte den Kopf hin und her. »Ja, Schulmeister könnt er werden, aber«, er zögerte, trat zwei Schritte zurück und sah die Frau streng an, »aber spät fällt Ihnen das ein, Bäuerin. In zwei Monaten kommt der Hansjörg aus der Schule.«

»Ich bitt Sie, Herr Lehrer, reden Sie dem Buben zu. Es soll Ihr Schaden nicht sein. Ich schick den Hansjörg zum Sonntagsläuten her. Er hat viel Zeit, mit Ihnen zu reden.«

Die Rössnerin fühlte den Stolz auf ihren Besitz, als sie in ihren Hof einbog und ihr Hab und Gut vor sich liegen sah: das große Wohnhaus, davor den Gemüse- und Blumengarten, die Stallungen und die Scheune.

Freundlich grüßte sie zur Nachbarin hinüber, als die neugierig zu ihr herübersah.

Das Kopftuch band sie fester, denn der Wind fegte über den Hof und wirbelte Staub auf. Sie blickte zum wolkenverhangenen Himmel auf. Ein trüber Spätwintertag, wie er im Alpenvorland im März häufig vorkam, ließ der Sonne keine Sicht und kündigte den nahen Frühling an. Sie erspähte einen weißen Flaum, der über den Hof segelte, folgte ihm mit aufgerissenen Augen und lächelte. Sie erinnerte sich, dass sie als Kind ihrer Großmutter gerne half, frische Daunen in die Überzüge aus Leinen zu stopfen. Als der Flaum in Kopfhöhe an ihr vorüberflog, fing sie ihn im Flug. Es war eine winzige Gänsefeder. Und sie dachte bei sich, dass das ein gutes Zeichen sei.

Sie steuerte auf das mittlere Gebäude zu, als die Haustür aufging und Sophie heraustrat.

»Hast den Hansjörg gesehen?« Ihre Älteste antwortete nicht sofort, also schob sie eine Vermutung nach: »Ist er bei seinen Lieblingen im Stall?«

Das Mädchen zuckte mit den Achseln.

Die Bäuerin eilte an den Schweine- und Kuhställen vorbei, hörte das Vieh wiederkäuen und öffnete das Tor zum Pferdestall.

Sie blieb stehen. Als sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, zog sie das Tor von innen zu. Am anderen Ende des Stalles erspähte sie ihren Ältesten bei den Fohlen.

Das erste Pferd, das ihr den Kopf entgegenstreckte, kraulte sie am Hals. Sie sah sich um und bemerkte, dass von den sechs Pferden zwei fehlten. Sie ging auf ihren Sohn zu und legte ihm von hinten die Hand auf die Schulter. Der streichelte mit beiden Händen über das niedere Holzgatter hinweg ein Fohlen und schien seine Mutter nicht zu beachten.

»Der Vater und der Rossknecht sind mit den zwei Braunen zum Holzrücken fort?«

Hansjörg schloss die Augen und beschäftigte sich weiter mit dem Jungtier.

»Hast mit dem Vater g’redt?«

Er schüttelte den Kopf.

»Hast dich im Heuboden versteckt?«

Er nickte unmerklich.

Sie spürte die Angst und die Trauer des Jungen, strich ihm über den Rücken, ließ die Hand auf seiner linken Schulter liegen und schwieg.

Endlich zog sie die Hand von dem schmächtigen Jungen und stellte sich neben ihn an die hüfthohe Lattentüre zum Fohlenstand.

»Ich hab mir gedacht, dass ich dich bei deinen Lieblingen find, Hansjörg«, sprach sie ihn von der Seite an. »Ich war beim Schulmeister und hab ihm gesagt, dass du auch Lehrer werden sollst. Er wird uns helfen.«

Weil der Junge nicht antwortete, trat sie dichter an ihn heran, fasste ihn am Oberarm und sagte: »Nur einer kann den Hof erben, Hansjörg, so ist’s Gesetz, und das weißt du.«

Er rührte sich nicht.

»Wir haben unsere Gründe, dem Wilhelm den Hof zu überschreiben. Ich kann sie dir nicht verraten. Ich kann’s nicht, und ich darf es nicht. Hansjörg, frag mich bitte nicht, warum.«

Er kraulte das Fohlen am Hals.

»Es ist zu deinem Besten, glaub mir bitte, Bub. Der Vater und ich, wir haben ehrenwerte Gründe.«

Er schwieg beharrlich und blies dem Fohlen in die Nüstern.

»Wenn du hier in Sommerfelden oder drinnen in der Stadt in die Lehr gehst, dann bleibst bei uns auf dem Hof. Da kannst du mit den Pferden ausreiten. Als Lehrling vom Schulmeister darfst lesen, immerzu lesen. So schön hättest du’s als Bauer net.«

Hansjörg warf ihr einen kurzen Blick zu. Er sah die Daunenfeder in ihrer Hand. Die Vorliebe seiner Mutter für Federn kannte er.

»Nachher gehst zum Schulmeister in die Kirch. Er bittet schön, dass du ihm beim Sonntagsläuten hilfst.«

Er sah sie fragend an.

»In der Küche steht ein Korb; den nimmst deinem Lehrer mit. Und nach dem Läuten bleibst bei ihm. Er will mit dir reden. Wenn du heimkommst, findest dein Abendvesper in der Küche. Dann siehst den Vater heut nimmer, und bis morgen ist sein Ärger verraucht.«

Die Bäuerin klopfte ihrem Buben auf die Schulter, bat ihn nochmals, den Korb mit den Gaben für den Schulmeister nicht zu vergessen und eilte aus dem Stall.

Um halb sechs schleppte Hansjörg einen Henkelkorb zur Kirche. Wiederholt setzte er ihn ab, schüttelte den Arm aus und nahm ihn mit der anderen Hand wieder auf.

Schulmeister Ocker kehrte gerade den Kirchplatz. Als er den Jungen hinter sich keuchen hörte, drehte er sich um und fragte: »Wo willst du mit deinem schweren Korb hin, Hansjörg?«

»Einen schönen Gruß von meiner Mutter soll ich sagen, und sie dankt für Ihre Hilfe.« Er streckte seinem Lehrer mit Mühe den Korb entgegen. Der nahm ihn, setzte ihn ab und schlug das Tuch zurück, das den Inhalt zudeckte.

»Das sind großherzige Gaben.« Ocker würdigte die Eier, den Speck, die Würste, das eingelegte Fleisch, das Obst und die Nüsse, die den Korb bis an den Rand füllten. »Ich danke dir, Hansjörg. Sag deiner Frau Mutter meinen besten Dank.«

Er nahm den Korb auf und sagte: »Kehre bitte den Kirchhof zu Ende. Ich bringe den Korb meiner Frau und bin gleich wieder da.«

Beim letzten Wort eilte der junge Mann zum nahen Schulhaus, in dem seine Wohnung im ersten Stock lag.

Der Junge schwang den Reisigbesen, bis ihn eine Staubwolke einhüllte. Bevor er die Arbeit beenden konnte, war Ocker wieder da, nahm ihm den Besen aus der Hand und sagte: »Meine Frau freut sich über die guten Sachen und lässt deiner Frau Mutter herzlich danken. Vergiss das nicht, Hansjörg.«

Nach ein paar Besenstrichen lag der Platz vor der Kirche sauber im Abendlicht.

»Jetzt wollen wir den Sonntag einläuten.« Ocker lächelte den Jungen an und steuerte ihn, die rechte Hand auf dessen Schulter und in der linken den Besen fest umklammert, durchs Seitenschiff der Kirche zu einer weiß getünchten Tür hinter dem Aufgang zur Empore. Dort ließ er den Jungen los und zog einen großen Schlüssel aus der Hosentasche.

Mit beiden Händen öffnete er Schloss und Türe. Vor der Wendeltreppe, die zum Glockenstuhl und zur Kirchturmuhr im Kreis hinaufdrehte, lag rechter Hand eine Kammer. Da hinein stellte er den Besen, wandte sich zur Treppe und bat seinen Schüler: »Geh langsam, Hansjörg. Wir müssen noch genug Luft fürs Uhrenaufziehen und zum Glockenläuten haben.«

Der Junge stürmte los.

»Langsam«, bremste der Lehrer, »es ist noch lange nicht sechs Uhr. Wir haben noch genug Zeit, Schulmeister Hansjörg.« Er lachte den Jungen schelmisch an, der verlegen grinste.

Sie stiegen auf den ausgetretenen Stufen, die zunächst aus Stein und dann aus Holz waren, nach oben, der Junge voraus und sein Lehrer hinterdrein.

»Das ist ein Teil der Lehrerarbeit, das Fegen, Uhrenaufziehen und Glockenläuten.«

Mehrmals torkelten sie gegen die Turmmauer, als zöge sie eine unsichtbare Kraft von der Turmmitte weg zu den kleinen Turmfenstern. Sie mussten sich an der kalten Außenwand abstützen.

Als sie halb oben waren, bat der Schulmeister um eine kleine Verschnaufpause. Hansjörg sah durch ein Fenster auf das Dorf hinab. In einer Senke umstanden Wohnhäuser, Ställe und Scheunen die Kirche. Direkt unter ihnen war das Pfarrhaus, daneben das Schulhaus. An der Dorfstraße stach das große Haus des Schultheißen ins Auge, in dem auch das Wirtshaus war und die Feuerspritze stand. Daneben lag das größte Anwesen im Dorf, der Rössnerhof. Angst kroch in dem Jungen hoch: Dort soll ich weg? Warum? Ihn fröstelte, er schüttelte sich.

»Was siehst du da?«, fragte Ocker, als spüre er die Not des Jungen.

Er zwängte seinen Kopf neben Hansjörg in die Fensteröffnung und wollte ergründen, was den Jungen ängstigen könnte. Er ahnte den Grund.

»Jeden Samstag, wenn ich zur Turmuhr hinauf muss, schau ich auf Sommerfelden herab.«

Er blickte den Jungen prüfend von der Seite an. »Ich bin dann hin und her gerissen. Die schöne Aussicht lockt.«

Er machte eine kleine Pause. »Manchmal möchte ich dann meinen Koffer packen und etwas Neues ausprobieren.«

Hansjörg sah ihn verwundert an und begann, die Häuser unter sich zu zählen.

»Manchmal denke ich, dass ich mit dem hier zufrieden sein sollte.« Ocker beobachtete den Jungen. »Dann packt mich die Angst vor dem Neuen.«

Ocker hielt den Atem an. Sie lauschten dem Uhrwerk über ihnen. »Dann zähl ich Häuser wie du.«

Hansjörg erschrak.

»Wie viele sind’s?«

»57, ohne Kirche.«

»Als ich so alt war wie du, Hansjörg, da musste ich mein Dorf verlassen und weit weg zu einem Schulmeister in die Lehre. Das war hart und schön zugleich.«

Hansjörg drehte sich zu seinem Lehrer um und lehnte sich an die Mauer.

»Nach der Lehre habe ich als junger Lehrer in Heilbronn gelebt. Das ist eine große Stadt am Neckar. Da hat es mir gefallen.«

»Und warum sind Sie dann nicht geblieben?«

»Weil ich heiraten wollte. Nur Schulmeister verdienen genug, um eine Familie zu ernähren. Und in Heilbronn hätte ich noch viele Jahre warten müssen, bis man mich zum Schulmeister gewählt hätte.«

Hansjörg schüttelte unmerklich den Kopf.

»Deshalb hab ich mich in Sommerfelden beworben. In den kleinen Gemeinden verdient man zwar lange nicht so viel wie in den Städten, aber dafür kann man schon in jungen Jahren Schulmeister werden.«

»Und wie gefällt Ihnen Sommerfelden?«

»Wenn mich die Sehnsucht packt, ziehe ich mit Sack und Pack ins Neckartal zurück. Sommerfelden ist schön, Hansjörg. Anderswo«, er zögerte eine Sekunde, »ist es vielleicht schöner.«

Der Junge sah seinen Lehrer mit großen Augen an. »Ich war noch nie fort. Nicht einmal dahinten.« Er schaute wieder zum Fenster hinaus und zeigte mit dem Finger in die Ferne. »Dort, wo die großen Berge sind, da war ich noch nie. Manche Leute sagen, es sei das ganze Jahr lang Schnee auf den Bergen. Stimmt das?«

»Viel Schnee und Eis. So hoch wie unsere Berge ist dort das Eis. Gletscher sagt man dazu.«

Der Lehrer deutete auf die Tagweide hin, die gleich oberhalb des Ortes war: »Schau! Ist das nicht dein Bruder Wilhelm?«

Auf der Allmende, am Südhang über der Gaststube beim Ochsenwirt, erahnte Hansjörg seinen Bruder, der mit einem Stecken zwei Kühe vor sich her trieb. Der Gedanke, sein kleiner Bruder müsse das Vieh von den Kleefeldern fernhalten, belustigte ihn. Sein Gesicht hellte sich auf, und er wandte sich wieder zur Treppe.

Sie stiegen bis zur Kirchturmuhr hinauf, zogen das Räderwerk auf und ölten es. Im Glockenstuhl prüften sie, ob die Seile noch fest saßen. Dann stiegen sie wieder hinunter. »Weißt du, Hansjörg«, sagte der Lehrer und holte tief Luft, »der Lehrer hat ein schönes Handwerk. Wenn wir den Sonntag eingeläutet haben, dann gehen wir in die Schule. Dort sag ich dir«, er blieb stehen und atmete tief durch, »wie man Lehrer wird und was man als Lehrer tun muss.«

Hansjörg blieb stehen und drehte sich zu dem Mann hinter ihm um. »Lieber wär ich Rössnerbauer.«

Bald darauf verkündeten die Glocken von Sommerfelden den nahenden Sonntag und riefen alle ins Dorf zurück, die noch auf den Feldern und im Wald arbeiteten.

»Setz dich ans Lehrerpult, Hansjörg«, bat der Schulmeister, als der Junge auf seinen vertrauten Platz in der ersten Schülerbank zusteuerte.

Hansjörg grinste; zögernd und unsicher ging er nach vorn. Vor dem Podest, auf dem das Pult stand, blieb er stehen und sah seinen Lehrer fragend an. Der forderte ihn mit einer ausladenden Handbewegung auf, das Podest zu besteigen. Hansjörg machte einen großen Schritt hinauf und setzte sich, verlegen lächelnd, auf den Platz, der seinem Lehrer gehörte.

»Passt wie angegossen«, lachte ihn Ocker an.

Der Junge kratzte sich verlegen am Hinterkopf und fragte: »Und wo setzen Sie sich hin, Herr Lehrer?«

»Aufs Pult, wie ich’s oft mache.« Ocker stemmte sich, den Rücken zum Pult, mit beiden Händen auf der Tischplatte ab und setzte sich so darauf, dass er halb saß und halb mit der linken Fußspitze gerade noch den Fußboden berührte.

Dann blickte er seinen Schüler von der Seite an und sagte freundlich: »Lehrer werden, das kannst du dir nicht vorstellen, Hansjörg?«

»Daran hab ich bis heute nicht gedacht, Herr Lehrer. Sie wissen, ich mag Tiere: Pferde sind mir am liebsten.«

»Es gibt reiche und arme Lehrer, wie bei den Bauern.«

Hansjörg schwieg, das wusste er aus eigener Anschauung.

»Manche Lehrer betreiben nebenher noch eine Landwirtschaft und haben ein paar Tiere im Stall. Andere leben vom Schulgeld, das die Eltern zahlen, vom Getreide und vom Holz, das die Gemeinde liefert, und vom Geld und von den Gaben, die der Lehrer von der Kirche für seine Mesnerdienste bekommt.«

»Dann geht’s den Schulmeistern gut?«, fragte der Junge.

»Gebratene Tauben fliegen uns nicht in den Mund, und im Schlaraffenland leben wir nicht. Aber Hunger leiden müssen wir nicht mehr.«

Hansjörg lachte und tat so, als fange er Vögel im Flug.

»Spotte nur. Vor bald vierzig Jahren«, der Junge hörte seinem Lehrer aufmerksam zu, »als unser Königreich Württemberg entstanden ist, da waren die Dorfschullehrer große Hungerleider. Jetzt sind viele Bauern ärmer dran als wir.«

Hansjörg horchte auf. Viele Bauern ärmer als ein Schulmeister? Er kannte die Spottlieder über die armen Dorfschulmeisterlein.

»Vergiss nicht, dass wir einen Hungerwinter hinter uns haben. Im letzten Jahr hat es schon im September geschneit. Die Bauern konnten die Ernte nicht einbringen.«

Von der Not vieler Bauern hatte Hansjörg gehört. Hier in Sommerfelden waren die Höfe groß, überlegte er, und konnten ein paar magere Ernten verkraften.

Er schaute sich im Schulsaal um, als sähe er ihn zum ersten Mal. Er betrachtete die grob gezimmerten Schulbänke, den Schulschrank und die weiß getünchten Wände, den eisernen Ofen neben der Zimmertür und das aufgeschichtete Brennholz daneben. Über der Tafel hing ein Kruzifix. Wie die Wohnstube daheim, dachte er, nur viel größer.

Ocker folgte dem Blick. »Hundert Kinder brauchen viel Platz.«

»Wo ist Platz?«, fragte der Junge und ließ seine Augen nochmals durch den Saal schweifen, in dem die Bänke dicht an dicht standen.

»Die Kinder sitzen in Sommerfelden wie die Hühner auf der Stange, weil wir keine modernen Schulmöbel haben. Die alten, die unser Dorfschreiner vor dreißig Jahren mehr schlecht als recht zusammengezimmert hat, sind klobig. Außerdem sind sie unpraktisch und nehmen zu viel Platz weg.«

Hansjörg warf Ocker einen fragenden Blick zu.

»Bei den Subsellien, wie man die neuen Schulmöbel nennt, sind Tische und Bänke verschraubt. Da sitzen vier Kinder bequem in einer Bank und haben es beim Schreiben und Lesen leichter. Und im Schulsaal ist mehr Platz.«

»Und warum ist das so, Herr Lehrer?«

»Die Tischplatte der Subsellien ist schräg; die Kinder sitzen so beim Schreiben, Lesen und Rechnen von allein richtig.«

Hansjörg lachte. »Schreiben die Schüler dann den Berg hinauf?«

»Kindskopf. Weil jede Subsellie eine Vertiefung für das Tintenglas hat, kann es nicht mehr auf den Boden fallen, wie das bei uns öfters vorkommt.«

Hansjörg grinste. »Letzte Woche, zum Beispiel.«

»Und weil die Kinder die Tische und Bänke nicht mehr verrücken können, müssen sie still sitzen. So ist es einfacher, hundert Kinder in einem Saal ruhig zu halten und zu beaufsichtigen.«

»Sonst ist unser Schulsaal wie anderswo?«

»Ja und nein. Selbst wenn wir Subsellien hätten, wäre dieser Schulsaal nicht modern genug.«

»Was fehlt noch?«

»Die guten Schulen haben Bilder an den Wänden.« Ocker betrachtete sinnend die kahlen Mauern. »Bilder für den Anschauungsunterricht.«

»Und was lernt man im – Anschauungsunterricht?«

»Wie unsere Welt aussieht, das Königreich Württemberg und die anderen Länder auf der Erde. Und was in der Erde ist. Und welche Tiere und Pflanzen es in den fremden Ländern gibt.«

»Hört man da Geschichten über Tiger und Elefanten? Und über die Menschenfresser in Afrika?«

Der Schulmeister nickte und lachte.

»Und warum haben wir den Unterricht nicht?«

»Der Herr Dekan will ihn nicht. Die Schüler sollen die Schöpfungsgeschichte aus der Bibel lernen, meint er, und sich das Hirn nicht mit dummem Zeug vollstopfen.«

»Sind auf den Wandbildern in den modernen Schulen so schlimme Sachen drauf, Herr Lehrer?«

Ocker lachte. »Das Erdinnere, unbekannte Länder, fremde Menschen und wilde Tiere. Giraffen, Eisbären, Eskimos, Indianer und so. Die allerneuesten Bilder sind sogar farbig.«

»Und warum sollten wir das nicht haben?« Hansjörg kratzte sich am Hinterkopf. »Leben wir in Sommerfelden vielleicht noch wie die Leute vor zweihundert Jahren?«

Der Schulmeister biss sich auf die Unterlippe und schwieg.

»Ich hab gemeint, dass wir ein reiches Dorf sind und besser leben als anderswo.« Hansjörg war sichtlich enttäuscht.

»Sommerfelden ist kein armes Dorf. Und viel ist hier geschehen, seit dein Großvater und dein Vater auf der Ackerbauschule waren und den Bauern in unserer Gegend Neues beigebracht haben.«

»Meinen Sie?«

»Sie haben die neumodische Futterpflanze, den Klee, ins Dorf geholt und bessere Kartoffelsorten eingeführt. Den Wendepflug hat dein Großvater als Erster angeschafft. Den Bauern in Sommerfelden geht’s gut.«

Hansjörg kannte zwar jede Einzelheit, aber so hatte er das Ganze noch nicht betrachtet.

»Die Rössnerbauern, lieber Hansjörg, haben auf dem Ödland und an den Wegrändern Apfel- und Birnbäume gepflanzt. Die anderen Bauern haben es nachgemacht. Jetzt hat jede Familie im Dorf Obst das ganze Jahr.«

»Das begreif ich nicht. Mit neuen Obstsorten und dem neumodischen Wendepflug können sie in Sommerfelden umgehen. Und vor ein paar Bildern über Afrika haben sie Angst?«

»Alle Menschen haben Angst vor dem Neuen.«

»Ich hab keine Angst, Herr Lehrer.«

Ocker sah dem Jungen lange und forschend ins Gesicht. Hansjörg errötete.

»Manche Eltern haben Angst davor, dass ihre eigenen Kinder klüger werden als sie selbst. Und noch mehr fürchten sich viele Menschen davor, die Kinder anderer Eltern könnten klüger werden als ihre eigenen Kinder«, sagte der Lehrer.

Hansjörg sah sich nachdenklich im Schulsaal um. Ocker schwieg und ließ ihm Zeit. Er fror in dem unbeheizten Saal und sah gedankenverloren durchs Fenster. Mit dem Finger malte er Zeichen aufs Pult, bis er bemerkte, dass der Junge versuchte, sie zu entziffern.

»Du wirst es als Schulmeister gut haben und dir als Lehrer Tiere und auch ein Pferd halten können.«

Hansjörg sah seinen Lehrer fragend an.

»Du kannst Lehrer in einer reichen Gemeinde werden, Hansjörg, weil die sich den besten Kandidaten zum Schulmeister aussuchen kann. Und du wirst in ein paar Jahren zu den Klügsten unserer Zunft gehören.«

Der Junge warf ihm einen ungläubigen Blick zu.

Ocker lachte auf: »Oder du heiratest eine reiche Bauerntochter, wirst Schulmeister und spielst nebenbei den Bauern.«

Hansjörg grinste schelmisch und schwieg.

Der Lehrer fuhr fort: »Du musst aber nicht einheiraten. Deine Eltern sind reich und werden dich gut ausstatten.«

Hansjörg blickte verwirrt auf.

»Sie haben ein schlechtes Gewissen, weil du nicht den Rössnerhof kriegst. Da werden die Gulden nur so aus der Geldkatz springen. Wart’s ab.«

»Hat Ihnen meine Mutter gesagt, warum sie den Wilhelm mir vorzieht, Herr Lehrer?«

Der Schulmeister sah, dass dem Jungen Wasser in die Augen schoss. Er legte ihm seine Hand auf den Arm, blickte zu Boden und sprach mehr zu sich als zu ihm: »Sie könne und dürfe darüber nicht sprechen, meinte sie, habe aber ehrenwerte und wichtige Gründe. Hat sie mir gesagt, und ich glaub’s ihr.«

Der Junge schüttelte den Kopf.

»Dein Vater und deine Mutter haben erst heute mit dir darüber gesprochen. Bis auf den letzten Tag haben sie gewartet, die Sache zu entscheiden. Sie haben bis zuletzt einen Ausweg gesucht, glaub mir.«

Hansjörg schluckte mehrmals. »Ich bin sehr enttäuscht. Mein Vater hätte mir früher sagen können, was werden soll.«

Der Lehrer wollte einhaken, aber der Junge setzte unbeirrt hinzu: »Und wenn er ehrliche Gründe hat, mir den Rössnerhof nicht zu überschreiben, dann hätt er mit mir darüber reden können.«

»Lass gut sein, Hansjörg. Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, über die man besser schweigt.«

»Bin ich vielleicht taub oder blind oder lahm? Bin ich ein Idiot, den man verstecken muss?« Hansjörg brauste auf und redete sich in Zorn. »Wenn ich gut genug bin, Lehrer zu werden, dann bin ich wohl gut genug, Bauer zu werden.« Er lief rot an und schlug mit der flachen Hand auf das Pult.

Beide schwiegen. Während der Junge steif dasaß, starr vor Schreck über den zweiten Zorn an diesem Tag, malte Ocker wieder Figuren aufs Pult.

Schließlich blickte der Lehrer seinem Schüler ins Gesicht und sagte leise: »Ich verstehe dich, Hansjörg. Bedenke, dass deine Eltern sich das lange überlegt haben und wichtige Gründe haben müssen.«

Hansjörg warf seinem Lehrer einen kurzen Blick aus feuchten Augen zu.

»Dein Vater ist ein kluger Mann.«

Hansjörg zuckte die Achseln, als bestreite er das.

»Wenn’s was Neues gibt, ist dein Vater dabei. Er hat als Erster im Dorf einen Blitzableiter auf seinen Hof setzen lassen. Er ist zum reichsten Bauern in Sommerfelden aufgestiegen. Er ist unser Dorfrichter, obwohl er erst vierzig ist. Alle im Dorf hören auf seinen Rat.«

»Wenn er so klug ist«, beharrte der Junge, »dann hätt er erst recht mit mir reden können.«

»So siehst es du. Auch deine Mutter scheint die Entscheidung gut zu heißen.«

Hansjörgs Zorn loderte erneut auf, wie der Lehrer im Gesicht seines Schülers las, deshalb wies er ihn mit einer raschen Handbewegung zurecht. »Deine Mutter ist eine energische Frau, arbeitsam wie dein Vater und entschlossen wie er. Da haben sich zwei in der Ackerbauschule gefunden, die gut zusammenpassen.«

Ocker sah Hansjörg direkt in die Augen. »Glaubst du, dass deine Eltern etwas zu deinem Nachteil entscheiden würden? Zwei so kluge Leute, glaubst du das wirklich?«

»Ich begreif ’s nicht, was sie mit mir vorhaben. Sie wollen mich aus dem Haus haben, so seh ich das. Ich tät meinem Vater …«

»Halt!« Der Lehrer unterbrach ihn hart und sprang auf die Füße. »Du versteigst dich da in eine Richtung, die mir nicht gefällt, Hansjörg. Deine Eltern meinen es gut, schreib dir das hinter die Ohren. Und sie haben wichtige Gründe, die Sache anders als üblich anzupacken.«

Er stellte sich dem Jungen gegenüber und richtete den Zeigefinger auf ihn. »Seit dein Vater nach Sommerfelden zurückgekehrt und Rössnerbauer geworden ist, hat er vieles anders gemacht. Am Anfang haben die Leute im Dorf über ihn gelacht. Später ist ihnen das Lachen vergangen, und sie haben ihn beneidet und bewundert. So wird’s auch diesmal sein.«

Der Lehrer eilte aus dem Schulsaal und ließ den Jungen verstört zurück. Hansjörg rührte sich nicht von der Stelle.

Nach kurzer Zeit kam Ocker wieder und hielt ein Heft in der Hand. »Mein Zirkularbuch. Da schreibe ich alle Anweisungen und Reskripte hinein, die im Dekanatbezirk von Pfarrer zu Pfarrer umlaufen.«

Er streckte das Heft dem Jungen entgegen und schlug es auf. »Ich lese dir jetzt mal vor, was du machen musst, damit du als Schulamtszögling – oder als Inzipient, wie die Pfarrer sagen – zugelassen wirst.« Er sah aus den Augenwinkeln, dass der Junge verträumt zu Boden blickte. »Hörst du mir überhaupt zu?«

Hansjörg nickte gedankenverloren, schaute auf und sagte: »Ja, ja.«

»Hier steht wörtlich: Im März jedes Jahres müssen die Pfarrer jeden, der sich dem Schulstande widmen will, auf seine Fähigkeiten und Schulkenntnisse hin prüfen. Bei auffallender Untauglichkeit für den Schulstand ist die weitere Verfolgung des Plans abzuraten. Finden sie ihn aber fähig, so müssen sie mit dem Schullehrer beraten, wie dem Knaben der notwendige Unterricht zu seiner Vorbildung zu erteilen sei.«

»Wir haben schon März, Herr Lehrer, da kann ich nicht mehr Schulamtszögling werden.«

»Gleich morgen red ich mit dem Herrn Pfarrer, dann werden wir dich prüfen, ob du zum Schulmeisterberuf taugst.«

»Eine Prüfung? Auch das noch!«, jammerte der Junge. »Da fürcht ich mich. Oh Schreck lass nach!«

»Dummes Zeug, hier steht in meinem Zirkularbuch, was geprüft werden muss: Biblische Geschichte, Schreiben, Lesen und etwas Rechnen, lauter Sachen, die du in der Schule gelernt hast.«

»Ich will mich nicht blamieren, Herr Lehrer«, stöhnte der Junge, »geht’s nicht ohne Prüfung?«

»Nächste Woche kannst du dem Herrn Pfarrer und mir aufsagen, was du gelernt hast. Wie die Prüfung ausgehen wird, das weißt du schon jetzt.«

»Und dann komm ich nach Ostern zu Ihnen in die Lehr, Herr Lehrer?«

Der Schulmeister zögerte: »Das entscheidet der Herr Dekan.« Er machte eine Pause. »Einen Lehrling könnte ich gut brauchen.«

Hansjörg lauerte auf Zustimmung. Der Lehrer erkannte es mit einem raschen, prüfenden Blick und fügte an: »Hundert Kindern die Biblische Geschichte, die Religionslehre, das Lesen in der Bibel und im Lesebuch, das Schreiben und das Rechnen beibringen, das zerrt an den Nerven. Oft muss ich alle acht Jahrgänge zusammen unterrichten. Du wärst mir eine große Hilfe. Du achtest auf die Kleinen beim Vorlesen, und ich bring den Großen das Rechnen bei. Du passt auf, dass die Großen beim Abschreiben aus der Bibel nicht schwätzen und keine Dummheiten machen, und ich übe mit den Kleinen das Schreiben.«

»Da wird mein Bruder Wilhelm keine Freud haben, wenn ich ihm als Lehrer komme und mit dem Tatzenstecken das Einmaleins einbläue.«

Der Schulmeister lachte und schloss das Gespräch mit dem Hinweis, dass er jetzt gleich den Pfarrer informieren werde. »Es eilt, Hansjörg, es ist schon März.«

Nach dem Gottesdienst bat der Pfarrer die Rössnerbäuerin und ihren ältesten Sohn, sie sollten in ein paar Minuten zu ihm in die Amtsstube kommen.

Als sie das Pfarrhaus betraten, wartete der Pfarrer im Hausflur auf sie. Den Talar und den weißen Amtskragen hatte er abgelegt. Er führte die beiden in die Pfarrstube im Erdgeschoss.

»Kommen wir gleich zur Sache«, sagte er, setzte sich auf seinen Lehnstuhl hinterm Schreibtisch und bat Mutter und Sohn, auf der gedrechselten Holzbank Platz zu nehmen.

Hansjörg blieb an der Türe wie angewurzelt stehen und schaute sich mit offenem Mund um. Einen derartigen Raum hatte er noch nie gesehen. Er hatte nicht einmal gewusst, dass es so etwas wie ein Dienstzimmer überhaupt gab. Der Zimmertür genau gegenüber stand eine große Uhr zwischen zwei Sprossenfenstern, keine holzgeschnitzte Schwarzwalduhr wie zu Hause, sondern eine mit großem Zifferblatt und blank polierten Messinggewichten, die durch eine Glastüre blitzten und über die ein langes Perpendikel gemächlich hinwegschwang, das die Zeit hörbar in regelmäßige Portionen teilte. Zur Linken war die Wand hinter dem Schreibtisch, bis auf die beiden vorhanglosen Fenster, vom Dielenboden bis zur Zimmerdecke mit Büchern ausgefüllt, die in den Regalen standen oder lagen und an vielen Stellen in zwei Reihen hintereinander gestapelt waren. Zwischen Tür und Uhr verstellte die hölzerne Sitzbank den Besuchern den Weg und zwang sie, sich beim Niedersetzen dem am Schreibtisch Sitzenden zuzuwenden. Im Rücken der Besucher beherrschten zwei mächtige Schränke die Wand auf der rechten Seite, beide mit Leimfarben in erdigen Tönen bemalt.

Der Pfarrer sah schmunzelnd das Staunen des Jungen und die Neugierde in seinen Augen. »Warst noch nie in meiner Amtsstube, Hansjörg?«, fragte er ihn.

Als der Junge den Kopf schüttelte, holte er tief Luft und meinte: »Ich weiß, dass dich alles interessiert, was mit Büchern und Schreiben zu tun hat. Möchtest dich erst ein bisschen umschauen?«

Hansjörg nickte, seine Mutter schwieg.

»Viele Leute meinen, dem Pfarrer geht die Arbeit aus, wenn er in der Kirche und auf dem Friedhof nichts zu tun hat.« Der Pfarrer stand auf, öffnete eines der beiden Fenster hinter sich und setzte sich wieder. »Weit gefehlt. Ich muss Gottesdienste abhalten und Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen gestalten. In der Schule, das weißt du, Hansjörg, unterrichte ich Religion. Ich bin für die ganze Schule verantwortlich.«

Er erhob sich, ging zu den beiden Schränken und sagte, zu Hansjörg gewandt: »Und ich muss für die Gemeinde viele Schreibarbeiten machen.« Er öffnete den rechten Schrank. »Hier sind meine Bücher. Die benütze ich, um eine gute Predigt zu schreiben.« Er schloss den linken Schrank auf und rief den Jungen zu sich: »Siehst du, das ist die Registratur, die alten und die neuen Schriftstücke über die Gemeinde und die Schule. Oben liegen die Akten, die ich immer wieder einsehen muss; unten sind die alten Papiere.«

»Was machen Sie mit den alten Sachen?«, wollte der Junge wissen.

»Die benütze ich selten. Das alte Kirchenbuch zum Beispiel«, der Pfarrer entnahm es dem untersten Fach, blies den Staub weg und schlug es auf, »hat viele Spalten, siehst du?«

Er legte dem Jungen das schwere Buch aufgeschlagen auf die Hände.

»Wer vor hundert oder zweihundert Jahren in der Gemeinde geboren und getauft worden ist, das steht da Jahr für Jahr drin. Und im vorderen Buchdeckel«, er schlug es vorne auf, »da sind alle Pfarrer von Sommerfelden bis auf den heutigen Tag verzeichnet.«

»Und wozu braucht man das?«

»Ab und zu muss ich nachschlagen, wer mit wem verwandt ist, damit ich einen Erbstreit schlichten kann.«

Hansjörg legte das Buch in den Schrank zurück.

Der Pfarrer nahm ein unhandliches Bündel heraus. Zwischen zwei dicken Pappdeckeln waren viele Papierbogen verschnürt. Er öffnete die Schnur und hielt ausgefranste Blätter in der Hand, die der Länge nach in der Mitte gefaltet waren. Die linken Blatthälften waren leer, die rechten eng beschrieben.

»Das ist ein Pfarrbericht. Siehst du die Überschrift hier? Lies mal vor, Hansjörg.« Er stellte sich neben den Jungen.

»Das in Großbuchstaben?«

Der Pfarrer deutete mit dem Zeigefinger auf das Papier. »Lies das vor.«

Der Junge buchstabierte laut: »PA-RO-CHI-A SOMMERFELDEN auf das Jahr 1832«.

»Gut, Hansjörg. Das ist ein Parochialbericht.«

Der Junge sah den Pfarrer ratlos an.

»Parochia ist lateinisch und heißt Pfarrei. Das ist der Bericht über unsere Pfarrgemeinde von 1832. Den hat einer meiner Vorgänger gefertigt und dem Dekan, seinem Vorgesetzten, vorlegen müssen. Auch ich muss alle zwei Jahre ausführlich über unsere Pfarrgemeinde berichten. Du siehst, so ein Bericht hat sechzig bis hundert Seiten.«

»Was steht in so einem – Parochialbericht, Herr Pfarrer?«, fragte der Junge. Neugier hatte ihn gepackt.

»Auf der ersten Seite ist das Inhaltsverzeichnis, auf Lateinisch. Sieh hier, da steht zuerst Ad Statum Parochiae.«

Der Pfarrer fuhr mit dem Zeigefinger die Zeile entlang und sah den Jungen von der Seite an. »Im ersten Kapitel ist beschrieben, wie groß die Gemeinde ist und wie viele Menschen hier wohnen, Kinder und Erwachsene, Arme und Reiche, Getaufte und Ungetaufte.«

»Ungetaufte?«

»Juden und ungetauft verstorbene Säuglinge.«

Der Pfarrer erklärte dem Jungen Kapitel für Kapitel, was im Pfarramt über Sommerfelden bekannt war: Wovon die Leute leben; ob sie gute Christen oder Spitzbuben sind; wie viele Kinder nicht in die Schule gehen; was die Schule kostet; was der Schulmeister leistet; ob der Schultheiß die Gemeinde klug führt, wo der Heiligenpfleger helfen muss, und was in den letzten Jahren passiert ist.«

»Und woher weiß das alles der Pfarrer?«

»Seit zweihundert Jahren sitzen in den evangelischen Pfarreien der Pfarrer, der Schultheiß, der Heiligenpfleger und zwei oder drei ehrbare Bürger jeden zweiten Sonntagnachmittag zusammen. Das nennt man den Kirchenkonvent.«

»Mein Vater ist auch dabei.«

Der Pfarrer nickte. »Im Konvent tragen wir alles zusammen, was wir in den letzten Tagen gehört und gesehen haben. Und ich schreibe alles in dieses große Buch hinein.«

Er deutete auf einen dicken Folianten im Schrank. »Wer in den letzten Wochen geboren und gestorben ist. Wer heiraten möchte. Wer bestraft werden muss, weil er geflucht oder falsch Zeugnis abgelegt hat. Wer nicht in den Gottesdienst gekommen ist, und wer im Wirtshaus betrunken war.« Er sah den Jungen von der Seite an, der jedes Wort aufsog. »Das Buch heißt Kirchenkonventsprotokoll.«

Ein Wetterleuchten zog über das Gesicht des Jungen. Jetzt konnte er sich einen Reim darauf machen, warum montags so viele Schulstrafen verhängt wurden.

»Wenn Sie dann alles aufgeschrieben und überlegt haben, wer bestraft werden muss, dann geben Sie am Sonntagabend dem Lehrer den Auftrag, den Tatzenstecken und die Weidenrute herzurichten. Ist’s nicht so, Herr Pfarrer?«

Der Pfarrer lachte schallend. »Du bist ein kluger Junge, Hansjörg.« Er lachte noch. »Nach jeder Sitzung des Kirchenkonvents kommt der Schulmeister zu mir in diese Amtsstube. Hier erfährt er von mir, wen er anderntags bestrafen muss. Am letzten Montag – weiß du’s noch? – hat der Sohn vom Ochsenwirt fünf Streiche auf den Allerwertesten und der Jakob zwei Ohrfeigen gekriegt. Das haben wir am letzten Sonntag im Kirchenkonvent beschlossen. Und der Lehrer muss das in unserem Auftrag ausführen.«

Hansjörg wurde nachdenklich. »Woher haben Sie gewusst, dass der Johannes und der Jakob etwas angestellt haben? Und warum hat der Johannes fünf Hiebe gekriegt und der Jakob bloß zwei Maulschellen?«

»Das ist das große Geheimnis. Du weißt, wir haben in der Gemeinde unsere Angeber, wie wir dazu sagen. Die beobachten alles im Dorf und teilen es mir oder den anderen Mitgliedern des Kirchenkonvents mit.« Der Pfarrer kratzte sich verlegen am Hinterkopf und machte eine kleine Pause. »Der Johannes und der Jakob, die waren letzte Woche auf dem Eis am Löschteich und haben heimlich ihre Schlittschuhe ausprobiert. Ich habe Euch im Religionsunterricht gesagt, dass ich das neumodische Zeug nicht dulde in meiner Pfarrei. Obendrein ist das Schlittschuhlaufen auf dem Teich gefährlich. Der Johannes hat den Jakob zu diesem Unfug angestiftet. Und der Jakob ist in seiner Gutmütigkeit dem Johannes gefolgt. Deshalb hat der Johannes eine härtere Strafe verdient als der Jakob.«

Jetzt lachte der Junge. Das hatte er nicht gedacht, dass es in der Gemeinde Heimlichtuer gab, die alles ausspähten und dann brühwarm dem Pfarrer hinterbrachten. »Gibt’s auch bei uns in der Schule solche Angeber?«, wollte er wissen.

»Na, alles muss ich dir heute nicht verraten. Ich denke, du sollst Lehrer werden, da wirst du bald in alle Geheimnisse eingeweiht.«

Er wurde ernst, schloss zuerst den linken Schrank mit den vielen alten und neuen Schriftstücken, dann den rechten, wobei er auf die Bücher mit dem vergoldeten Rücken hinwies, auf die er besonders stolz war.

»Ich halte es für eine gute Sache, Hansjörg zum Lehrer auszubilden«, kam er auf den Zweck des Besuchs von Mutter und Sohn zurück und wandte sich an die Rössnerbäuerin. »Ich kenne Ihren Hansjörg vom Religionsunterricht und weiß, dass er ein kluger Junge ist.«

Er blickte den Jungen an, der errötete und verlegen auf seinem Stuhl hin und her rutschte. »Wenn ich rechtzeitig gewusst hätte, dass er nicht Rössnerbauer werden soll, dann hätte ich ihm Privatstunden gegeben, damit er das Landexamen bestehen kann.«

Die Bäuerin sah den Pfarrer fragend an.

»Das ist die Aufnahmeprüfung für eine Klosterschule. Und wenn man eine der vier Klosterschulen, die es für die evangelischen Schüler in unserem Königreich gibt, erfolgreich besucht hat, dann kommt man nach Tübingen ins Stift und studiert Theologie.«

Ungläubig sah die Rössnerbäuerin den Pfarrer an: »Unser Hansjörg, ein Studierter? Nein, Herr Pfarrer, das hätt ich nicht für möglich gehalten.«

»In den früheren Klöstern in Denkendorf bei Stuttgart, in Blaubeuren bei Ulm, in Bebenhausen nahe Tübingen und in der ehemaligen Zisterzienserabtei Maulbronn, an der Landesgrenze zum Großherzogtum Baden gelegen, gibt es solche Spezialschulen. Wenn Ihr mich früher in Eure Pläne eingeweiht hättet, Rössnerbäuerin, dann wäre euer Hansjörg ein guter Pfarrer geworden.«

Er blickte sie vorwurfsvoll an. Die Bäuerin zuckte unter ihrem Kopftuch zusammen und war sprachlos.

»Vielleicht«, fuhr der Pfarrer versöhnlich fort, »ist es nicht zu spät, und unser Musterschüler kann nach seiner Ausbildung zum Lehrer doch noch aufs Tübinger Stift. Freuen tät’s mich.«

»Ich fürcht mich vor der Prüfung«, jammerte der Junge. »Der Lehrer hat mir gesagt, dass ich geprüft werden muss, bevor ich in die Schulmeisterlehre kann.«

Der Pfarrer fuhr ihn zwar hart an, aber seine Augen lachten: »Red keinen Unsinn, Hansjörg. Du weißt genau, dass wir dich prüfen müssen, obwohl wir das Ergebnis kennen. Du bist ein guter Schüler. Glaubst du im Ernst, dass du die Prüfung nicht bestehen wirst? Wenn du sie nicht bestehst, wer dann?« Die Rössnerbäuerin, die sich absichtlich zurückgehalten hatte, fragte besorgt, was nach der Prüfung zu tun sei. Der Pfarrer spürte die Sorgen der Mutter um ihren Sohn und antwortete ausweichend: »Wenn der Schulmeister und ich Ihren Hansjörg geprüft haben, dann melden wir ihn dem Dekan als Lehreraspiranten. Der Dekan entscheidet dann, ob der junge Mann die Schulmeisterlehre beginnen darf.«

Hansjörg sah seine Mutter verzagt an. Die verstand sofort, was ihn bewegte und warf ihm einen aufmunternden Blick zu. »Darf ich«, fragte der Junge ängstlich, »beim Schulmeister Ocker hier in Sommerfelden in die Lehre?«

Ringelfingen 1842

Seite an Seite kehrten Schulmeister Futter und sein Lehrling den Kirchplatz, der ungepflastert und löchrig war, nach dem Regen voller Pfützen stand oder jetzt, bei schönem Wetter, nach jedem Besenstrich aufstaubte und die beiden Reinemacher einpuderte. Der Staub biss Hansjörg in den Augen; immer wieder setzte er den Besen ab und wischte sich mit dem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht. Dennoch hörte er aufmerksam seinem Meister zu, der ihm die Mesnerarbeiten erklärte, die zum Schuldienst in Ringelfingen gehörten.

»Das Wichtigste schreibst du dir für alle Zeiten hinter die Ohren.« Futter hielt inne und blickte an dem barocken Kirchturm hinauf. »Der Lehrer ist ein Kirchendiener. Die Volksschule gehört der Kirche, der Lehrer arbeitet für die Kirche und samstags und sonntags vor und in der Kirche.« Er stützte sich auf seinen Reisigbesen, hustete, spuckte Staub und setzte außer Atem hinzu: »Der Pfarrer ist der Schulvorstand und der Dekan unser oberster Vorgesetzter. Alles, was die geistlichen Herren wünschen, ist uns Befehl. Kapiert?«

»Mir scheint«, entgegnete Hansjörg, »den Lehrern an der Lateinschule und am Gymnasium hat der Pfarrer nichts zu sagen.« Er wischte sich den Staub aus den tränenden Augen. »Die lachen, wenn sie hören, dass wir den Mesnerdienst versehen müssen.«

»Stimmt, wer hat dir das geflüstert?« Futter sah seinen Lehrling erstaunt an. »Hierher nach Ringelfingen verirrt sich doch keiner von den gelehrten Schulherren.«

Hansjörg legte beide Hände auf das Ende seines Besenstiels und lehnte sich darauf. »Am letzten Samstag bin ich mit meinem Freund Eugen am Bach gesessen und habe einem Mann zugeschaut, der barfuß im Wasser herumgewatet ist wie die Fischreiher.«

Beim Gedanken an jenen Augenblick musste Hansjörg unwillkürlich laut lachen. »So fangt Ihr keinen Fisch, habe ich ihm zugerufen. Darauf er: Will ich nicht, ich suche nach Schnecken. Der Eugen hat sich gebogen vor Lachen: Dann kommt heraus aus dem Wasser und geht in den Garten von unserem Pfarrer. Da könnt Ihr Schnecken holen, so viel Ihr wollt. Da kam der Mann zu uns herüber, zeigte uns versteinerte Schnecken aus dem Bach und fragte uns, ob der Pfarrer unser Vater sei. Als er hörte, dass wir zum Lehrerinstitut des Pfarrers gehören, hat er geseufzt und uns bedauert: So, so, arme Dorfschulmeisterlein wollt Ihr werden und billige Knechte für die Pfarrer.«

»Die hohen Herren von den Bürger- und Lateinschulen und vom Gymnasium sehen auf uns Kirchendiener herab«, bestätigte der Schulmeister und wiegte den Kopf. »Die lassen uns überall spüren, dass sie was Besseres sind. Staatsdiener nennen sie sich.«

»Schulmeister Futter, das versteh ich nicht.«

»Die Herren Oberlehrer gehen nicht bei einem Schulmeister in die Lehre oder in ein Lehrerinstitut wie du.« Futter zog ein großes Tuch aus seiner Hosentasche, wischte sich die Augenwinkel aus und schnäuzte in den grünen Stoff. »Nein, sie studieren wie die Pfarrer an der Universität in Tübingen. Das sind lauter feine Leut, die mit uns nichts zu tun haben wollen.« Er faltete bedächtig das Tuch zusammen und steckte es wieder in die Hose. »Sie bekommen ihren Lohn aus dem Staatssäckel, und ihr Dienstherr ist nicht der Dekan, sondern die Regierung unseres Königs.«

Hansjörg lachte so laut, dass er sich verschluckte und mit Mühe am Besenstiel festhalten konnte.

»Warum lachst du, hab ich was Lächerliches gesagt?« Der Lehrer schlug mit seinem Besen in die Richtung des Jungen.

Als Hansjörg wieder Luft holen konnte, sagte er: »Ich hab mir vorgestellt, dass unser König mit ausgebeulten Hosen herumlaufen muss, weil er so viel Geld in seinem Hosensack kaum schleppen kann.«

»Du Kindskopf, glaubst du, unser König geht wie der Nikolaus mit einem Sack über der Schulter im Land herum und zählt seinen Staatsdienern persönlich die Gulden in die Hand?« Futter warf einen Blick auf die Kirchturmuhr, die nur einen Stundenzeiger hatte; für eine neue Uhr wie in Sommerfelden, die auch die Minuten anzeigen kann, hatte man hier in Ringelfingen kein Geld. Dann mahnte er Hansjörg, die Arbeit rasch zu beenden: »Auf geht’s, junger Mann, schau mal auf die Uhr. Bald schlägt’s vier. Es pressiert. Heut ist Mittwoch, und da hast du Pädagogikunterricht beim Herrn Pfarrer.«

Im Pfarrhaus saßen neun Fünfzehnjährige um einen langen Tisch, den Bauch an die Tischkante gepresst und beide Hände in schöner Disziplin flach auf den Tisch gelegt, wie es in den Lehrerseminaren üblich war. Mit den Füßen scharren und sich im Gesicht oder an den Armen und Beinen kratzen, war ihnen verboten, sogar wenn das grobe Leinenhemd auf der nackten Haut juckte und die gestrickten Strümpfe unter der knielangen Lederhose scheuerten. Pfarrer Steinhilber saß seitlich zum Tisch, die Beine übereinandergeschlagen, den linken Ellbogen auf die Tischkante gestützt und den Kopf in die Handfläche geschmiegt. Er blätterte nachdenklich in einem dicken Buch, das vor ihm auf dem Tisch lag. Sein schwarzer Kittel verdeckte zur Hälfte die große, blank geputzte Schultafel; links davon hing eine Landkarte des Königreichs Württemberg, und rechts neben der Tafel war eine Holzleiste in geringem Abstand zur Zimmerdecke an die Wand geschraubt; darauf war mit Stecknadeln eine Darstellung des Heiligen Landes geheftet. Sie zeigte eine Karte Palästinas zur Zeit des Neuen Testaments und etliche kleine Kupferstiche mit biblischen Motiven.