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Der äußere Rahmen der Handlung beginnt im Berliner Untergrund, in einem Wagon der U-Bahn und sie endet wieder dort in einem rappelvollen Zug. Erst am Ende erfährt der Leser, dass alles was sich dazwischen oben im Berliner Fernsehturm ereignet, einem Zugunglück geschuldet ist und in der Phantasie des Verunglückten stattfindet. Sechs Meter pro Sekunde ist die Geschwindigkeit des Aufzugs bis zur Aussichtsplattform des Turms. Zuerst überrascht ihn, Hubert, den Held der Geschichte, seine Stadt Berlin, denn als er aus 207 Metern Höhe nach unten schaut, grillt niemand im Tiergarten und selbst das Kraftwerk Reuter präsentiert sich als Nichtraucher. Was ist los dort oben? Alles scheint verweist und verlassen zu sein. Er hatte doch eine Verabredung! Er sucht - alles ab. Wo könnte der Typ, mit dem er verabredet ist, sein? Hubert ist dem Himmel doch ein kleines Stückchen näher und da sitzt ihm der Kerl plötzlich gegenüber. Er, der einem Unhold gleicht, will, dass Hubert sein Leben Revue passieren lässt. " Mich interessiert Ihre Gefühlsebene ", sagt der. " Wissen Sie noch wodurch Sie das erste Mal so richtig erregt wurden? " Darum geht es dem Typ also, um Huberts erotische Welten. Mit verschiedenen Techniken schafft der Kerl es, Hubert zu den weiblichen Stationen seines Lebens zurück zu führen.Doch warum? Welchen Sinn mag das Wiedererleben amouröser Abenteuer haben? Auf diesen Zeitreisen vermitteln ihm einige Frauen mittels orgiastischer Gefühlsebenen, Zugang zu seinem zweiten Ich, dem inneren Rahmen der Handlung. Immer dann, wenn Tagetesduft die Luft erfüllt, schwingt er sich auf, auf einen wilden Deltadrachen, der ihn in seine Idealwelt fliegt. Dort ist Hubert ein anerkannter Rockstar und lebt mit Liane und der Königsgepardin Lara abwechselnd an zwei Orten, in zwei Luxusvillen, in deren eigenen Tonstudios er seine Musikgeschichte komponiert.
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Seitenzahl: 705
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Wir fliegen zum Mond und bald
zum Mars.
Nichts ist so unerreichbar wie
der vergangene Tag.
Der Duft der indischen Nelke
La senteur des œillets d‘Inde
Roman
NICOLÀ TÖLCKE
Lektorat: Wolfgang Holtz
Lektorat und Korrektorat: Sandra Schmidt; www.text-theke.com
FÜR * POUR * FOR * ДЛЯ * 用于 * জন্য *إلى
UNTUK * のために* ສໍາລັບ* NAM * สำหรับ * کے لئے
DANIELLE
Grußwort
Es gibt viele Romane auf der Welt, auch gute Romane, die in Vergessenheit geraten, weil die Personen die falschen Namen tragen. In »Der Duft der indischen Nelke« tragen die Heldinnen und Helden wunderbare und einprägsame Namen. Ich tauchte ein, lebte im Licht dieser Geschichte, die mir fingerdick unter die Haut geht. Berlin, wie ich es auch kennenlernte. Die Straßen, die Peep-Shows und der Fernsehturm mit dem Sonnenkreuz, das blendet, aber nicht erblinden lässt, während in seinem Innenleben die Szenen und Fotografien von einer gewaltigen Lust berichten.
São Paulo, Juni 2014, Ignácio de Loyola Brandão
Wer sein Glück nur in der Ferne findet
Der muss einfach durch durch viele Frau‘n
Getextet von Werner Karma
Gesungen von Anna Loos
Ein Frühlingstag und meine Mutter hat Lust auf einen Spaziergang entlang des Teltowkanals. Vor der Brücke der Krahmerstraße befindet sich ein Wildgehege mit Hirschen und Rehen. So stiefeln wir los und haben als Proviant für die Vierbeiner ein paar alte Stücke hartes Brot im Gepäck.
Ein verführerischer Blütenduft liegt in der Luft, als wir an dem waldartigen Gelände ankommen. Links schnattern die Enten im Kanalwasser und rechts hinter dem mannshohen Jägerzaun mümmeln der stolze weiße Hirsch und sein Harem.
Mutter will weiterlaufen. Es soll bis zur Bäkebrücke gehen. Dort müssen wir links abbiegen, um auf der Metallkonstruktion hinüber auf die andere Kanalseite zu gelangen.
Schon einige Male habe ich ihn gesehen; eher von weitem, diesen Flügelmann, der oben auf einem Sockel steht und seine Arme wie ein flugbereiter Adler ausstreckt. Mutter ist unerbittlich. Ganz nah vor seinem klobigen Podest kommen wir zum Stehen. Ich habe Angst! Ob der sich gleich auf mich stürzen wird?
„Komm, Hubertlein! Bück dich mal nach unten und riech mal, wie die Blumen duften.“
Schnell noch mal ein kurzer Blick nach oben. Er steht ganz ruhig da. Ich gehe auf die Knie und schon in der Bewegung fängt mich der Duft ein. Als hätten diese gelben, kleinen Sonnen eine Anziehungskraft krieche ich mit meiner Nase in sie hinein. Wie benommen ist mir plötzlich, als schwebte ich nach oben. Mich überströmt ein Glücksempfinden, das sich mit einer Gänsehaut über meinen ganzen Körper verteilt. Doch auch diese dunkle Kreatur da oben hoch über mir will, dass ich sie beachte. Im Glücksgefühl des Duftes erzittere ich vor dem Flügelmann. Ich starre ihn an, paralysiert bin ich wie ein Reh vor nächtlichen Autoscheinwerfern.
„Bald werde ich dich mitnehmen auf eine Reise, von der es kein Wiederkommen gibt!“, flüstert er mir zu.
„Hubert, komm!“, unterbricht ihn meine Mutter, „das sind Studentenblumen. Aber wir wollten doch noch ins Café dort und ein Eis essen.“
Von dem Moment an ist mir klar, dass ich diesen Mann mit seinen todbringenden Schwingen nie wieder anschauen werde, mich die Magie des Duftes der Tagetes aber oft begleiten wird.
Es ist ein besonderer Kick wenn der Aufzug diese zweihundert Meter in sechs Meter pro Sekunde bis zur Aussichtsetage
hochschießt. Es ist beruhigend, so eingeschlossen in diesem engen, mobilen Raum ohne Weitblick zu sein. Sehr beruhigend, wenn man unter Höhenangst leidet. In der Seilbahn, die von Fräkmüntegg die 647 Meter, auch in sechs Meter pro Sekunde, fast senkrecht in fünf Minuten zum Pilatus hochraste, war das damals anders. Die ganze Fahrt lang wagte ich keinen Blick auf das immer winziger werdende Luzern zu werfen.Ich hielt meinen Blick am Seilbahnfahrer fest und sagte mir nur, dass dieser ältere, keinesfalls draufgängerisch wirkende Herr in seiner blauen Uniform nur den ganzen Tag nichts weiter machte, als an ein paar Stahlseilen hängend durch die Schweizer Landschaft zu schweben.
Die Fahrt durch den Berliner Untergrund ist heute sehr unangenehm. Die U-Bahn muss zwischen zwei Bahnhöfen eine Zwangspause einlegen. Fast eine Stunde dauert der unfreiwillige Halt dieser Linie schon, die als Ziel an ihrem Triebwagen Pankow zu stehen hat. Erfreulicherweise verlangt das Verspeisen mitgebrachter Döner nicht annähernd so lange. Wir hängen zwischen Hausvogteiplatz und Spittelmarkt fest.
Ich schlage das Taschenbuch auf, das ich mir gestern in der Bibliothek ausgeliehen habe. Nesnesitelná Lehkost Bytí, so der Titel des Originals aus dem Jahr 1984. Ich blättere willkürlich, um mir einen Eindruck zu verschaffen, und lande auf der Seite 61.
Unter der Bezifferung 19. fange ich an zu lesen. Dank des unfreiwilligen Zwischenstopps habe ich ja Zeit:
« Ich möchte Dich in meinem Atelier lieben wie auf einer Bühne. Ringsherum stehen Leute, die keinen Schritt näher kommen dürfen. Aber sie können die Augen nicht von uns losreißen… »
Im Laufe der Zeit verlor dieses Bild seine ursprüngliche Grausamkeit und begann, sie zu erregen. Manchmal, während der Liebe, rief sie Tomas diese Situation flüsternd in Erinnerung.
Sie sagte sich, dass es einen Ausweg gab, um der Verdammung zu entrinnen, die sie in Tomas‘ Untreue sah: er sollte sie mitnehmen! Mitnehmen zu seinen Freundinnen! Vielleicht war das der Weg, ihren Körper wieder zum ersten und einzigen zu machen. Ihr Körper würde zu einem Alter Ego, zu seinem Adjutanten und Assistenten.
« Ich werde sie für dich ausziehen, ich werde sie für dich in der Wanne baden und sie zu dir bringen… », flüsterte sie ihm zu, wenn sie aneinandergeschmiegt dalagen.
Ein Typ mit Klampfe reißt mich aus dem Text. Beziehungsweise eine blonde Polin, die keine Lust auf das 31. Mal The Times They Are A-Changin hat. Der hat fast so unmelodisch gekreischt, wie jener Straßensänger vor C&A in der Schloßstraße in Steglitz, der auf seinem Klappstuhl sitzend bei jedem Wetter Kinder- und Volkslieder so bar jeder Musikalität vorträgt, dass ich ihn schon als Attraktion mit der Videokamera aufnehmen wollte.
Die Polin gibt dem Musikanten schließlich einen 5-Euro-Schein in die Hand und bittet ihn, endlich still zu sein. Er tut ihr den Gefallen.
Ich kann weiter lesen:
Sie wollte mit ihm zu einem hermaphroditischen Wesen verschmelzen, und die Körper der anderen Frauen sollten zu ihrem gemeinsamen Spielzeug werden…
Zum Abschluss der Nachrichten noch ein Verkehrshinweis: Auf Grund eines schwerwiegenden Zwischfalls auf der U-Bahn-Linie 2 ist der Betrieb dieser Linie zur Zeit eingestellt. Es wurde ein Schienenersatzverkehr eingerichtet. Es gab mehrere Schwerverletzte.
Im Westen hängen dunkelgraue Wolken über der Stadt. Die Sonne zieht Wasser. Die Siegessäule ist nur zu erahnen. Keine Grillschwaden wabern aus dem Tiergarten. Die Aussichtskugel des Turms dreht sich nicht. Keine Supermarktmusik verklebt die Ohren. Gestresste, verschwitze Kellnerinnen, die es den nach Kaffee und Suppe begehrenden Touristen recht machen müssen? Fehlanzeige! Selbst die Beleuchtung schläft.
Auch vom Heizkraftwerk Reuter, drüben in Siemensstadt, auch von diesem gewaltigen, weißen Kegelschornstein steigt heute rein gar nichts in den Himmel.
Die Stimme, denke ich, die lässt mich nicht los. Die Stimme der blonden, jungen Polin in der U-Bahn. Dieses spezielle Timbre? Wo habe ich das schon mal gehört? Hätte mich der Text Ich werde sie für dich ausziehen, ich werde sie für dich in der Wanne baden und sie zu dir bringen…, hätten mich diese Worte nicht so beschäftigt, ich hätte sie vielleicht erkannt. Möglicherweise hat mich auch das kleine Mädchen an ihrer Seite irritiert. Wer weiß?
Auch waren meine Gedanken schon hier oben. Sie waren mit vielen Fragezeichen versehen. Was würde mich erwarten? Hatte ich nicht im Traum diese seltsame Einladung erhalten? War das überhaupt im Traum? Auf jeden Fall war da diese düstere Stimme, die so erklang, als breitete sie sich vom Mittelpunkt meines Kopfes an die Peripherie meines Schädels hin aus: Kommen Sie in den Fernsehturm. Ich erwarte Sie. Es ist sehr wichtig. Dieses Erleben lässt mich immer noch erschaudern. Dieser gespenstische Tonfall, jemand wie Darth Vader in meinem Gehirn, das hatte mich elektrisiert und paralysiert zugleich.
Es rauscht ein wenig in der Klimaanlage. Ich beschließe noch einmal einen Rundgang im wahrsten Sinne des Wortes. Kein Hinweis, dass hier oben irgendjemand ist. An „Tisch 11“ zeigt sich in der Ferne das Olympiastadion. Ich setze mich, nehme einen Zahnstocher und versuche, mir damit den Dreck unter den Fingernägeln zu entfernen.
Und plötzlich ist er da! Er sitzt mir gegenüber und sieht mich hemmungslos, völlig ungeniert an. Sein Gesicht wirkt zombiehaft, aschfahl, ein wenig wie aus dem Wachsfigurenkabinett. Mir ist, als ob seine Augen mich durchleuchten.
Ein kurzes Beben lässt die Maiglöckchen in der Vase zittern.
„Haben Sie keinen Hunger? Die Gulaschsuppe hier oben ist gar nicht so übel.“ Darth Vaders Stimmbänder haben sich mit denen von Elisabeth Flickenschild gepaart!
„Hier ist doch niemand. Wer sollte mir denn eine Gulaschsuppe servieren?“ Ich stecke den Zahnstocher mit der etwas grauen Spitze in meine Jackentasche.
„Vielen Dank, dass Sie meiner Einladung folgen konnten. Ich schlage vor, wir fangen gleich an.“ Er nimmt ein Diktiergerät und legt es aufnahmebereit auf den Tisch.
Die Wolken haben sich westwärts zu einem fast schwarzen Gebirge formiert.
Ich versuche mich zu konzentrieren. Was will er von mir? Seine Fragen scheinen wortlos in mein Bewusstsein zu drängen.
„Wie alles anfing, wollen Sie wissen? Meine Eltern kamen beide aus dürftigen Verhältnissen. Der Vater meiner Mutter starb, als sie drei Jahre alt war. Ihre Mutter war Schneiderin und dann kam Hitler und dann der Krieg. Die Eltern meines Vaters hatten sich scheiden lassen. Seine Mutter war viermal verheiratet. Davon zweimal mit demselben Mann. Sie war Arbeiterin beim Heinrich-Bauer-Verlag, wo sie auch ihren zweimaligen Mann kennengelernt hatte. Mein Großvater war Vertreter bei der Barmer Ersatzkasse und verstarb schon mit 59 Jahren an Lungenkrebs. – Mein Mund ist etwas trocken. Ich geh‘ einfach mal und sehe nach, ob ich was zu trinken finde.“
Er drückt auf das Diktiergerät.
Die Küche ist nicht sonderlich aufgeräumt. Hinten schließt sich eine Art Getränkeraum an. Glücklicherweise habe ich meine kleine Taschenlampe dabei, sonst könnte ich hier so leicht nichts finden. Ich schnappe mir zwei kleine Cola und überlege, ob er auch etwas möchte.
„Habe ich das mit den kleinen Verhältnissen zufriedenstellend erklärt? Ich meine, mein Vater hat sich nach seiner Kriegsgefangenschaft in Virginia zum Dentisten hochgearbeitet und profitierte dann für sich und seine Familie am deutschen Nachkriegswirtschaftswunder. Er hat ordentlich malocht in seiner Zahnarztpraxis, die er in der Schöneberger Arbeitergegend von einem Dr. Gutmann abgekauft hatte.
Mit Füllungen und Prothetik, die damals noch von den Krankenkassen erstattet wurden, brachte er es zum vierstöckigen Eigenheim.“
„Mich interessiert Ihre Gefühlsebene.“ Er schaut mich an, aber tut er das wirklich?
„Wo soll ich da anfangen? Meine kleinen Fluchten in den Schulferien zu den Großeltern in die Lüneburger Heide?“
Aus den Lautsprechern ertönt plötzlich der blonde Hans Albers mit seiner Reeperbahn nachts um halb eins.
„Die Mutter meines Vaters hatte sich zusammen mit ihrem dritten, beziehungsweise vierten Mann ein kleines Wochenendhäuschen im Wald bei Buchholz in der Nordheide zusammengespart. Dort lebten die beiden und verbrachten ihren Lebensabend eine Eisenbahnstunde entfernt von ihrer Heimat auf Sankt Pauli.“
„Und Ihr Gefühl dabei? Wie war das so weit weg von Berlin, auf dem norddeutschen Land, in der Lüneburger Heide?“
„Meine eindringlichste Erinnerung findet morgens in jenem kalten Schlafzimmer statt. Die Sonnenstrahlen kamen wie am Lineal gezogen durchs verschwitzte Fenster. Davor schwebten hunderte kleiner, winziger Staubteilchen. Oft wachte ich mit diesem Eindruck auf und lag in der Besucherritze, im großen Doppelbett meiner Großeltern. Wo sie bloß herkamen, diese vielen kleinen Partikelchen?
Einige davon waren sogar ganz schön stabil. Und so entdeckte ich von Zeit zu Zeit ein ganz spezielles, das quer vor dem Fenster entlangsegelte. Eine meiner Mitschülerinnen lag dann darauf. Ich konnte sie immer genau erkennen. Ihre Staubpartikelchen segelten mit ihnen direkt in ihre Zimmer, die sie bei mir in einem speziellen Häuschen mit vier Räumen hatten. In jedem Raum wohnte ein Mädchen aus meiner Klasse. Bärbel war oft die Letzte, die eintraf. Sie war die Blonde mit dem Charleston-Haarschnitt und den braunen Augen. Außerdem wohnten darin noch die schwarzhaarige Rita, die strohblonde Elisabeth und der Rotschopf Karin. Die Mädels waren in dem Gebäude eingesperrt. Manchmal hörte ich sie zetern, dass sie nach Hause wollten. Doch das ging nicht, sie gehörten ja mir.
Ich konnte mir immer abwechselnd eine holen. Das war ganz einfach. Ich griff nur von oben in eines der Zimmer und schwupp war diejenige still und ließ alles mit sich geschehen. An jenem Morgen, an den ich gerade denke, hatte ich Lust auf Bärbel. Als sie auf meiner Hand saß, entspannte sie sich und kuschelte sich an meinen Daumen. Langsam setzte ich sie neben mich ab, damit sie ihre normale Körpergröße erreichen konnte. Ihr grünschwarzes Kleid war verlockend kurz und so schob ich es weiter nach oben, damit das Spannendste von ihr zum Vorschein kommen konnte. Sie hatte eine weiße Unterhose mit kleinen gelben Blümchen an. Wenn ich damals gewusst hätte, dass das Studentenblumen waren, die man vornehm auch Tagetes nennen darf, und dass deren Duft mein Leben verzaubern würde! Der kleine Venushügel unter dem Höschen roch ein bisschen nach ..., ja, wonach wohl?
Dann streichelte ich sie und sie schloss die Augen. Doch ich hatte es nicht bemerkt. Die Schlafzimmertür stand sperrangelweit offen und meine Oma lud mich zum Frühstück ein.
Aus dem Radio kam die Stimme eines Nachrichtensprechers vom NDR:
Das Konklave der Kardinäle wählte im fünften Wahlgang den italienischen Bischof Giovanni Battista Enrico Antonio Maria Montini zum neuen Papst. Er gibt sich den Namen Papst Paul VI. Die Namen der Mainzelmännchen, der Maskottchen des Zweiten Deutschen Fernsehens, sind Anton, Berti, Conni, Det, Edi und Fritzchen.
Mein Gegenüber muss husten. Ein trockener, sicher chronischer Husten.
„Haben Sie diese Art Allmachtsfantasien öfter gehabt?“
„Ich glaube ja. Früher waren das einfach Wunschvorstellungen. Später eher Fluchtpunkte, wenn der Alltag zu sehr nervte.“
Die Lautsprecher säuseln The Beat Goes On von Sunny and Cher.
„Wenn Sie zurückblicken. Womit fing es eigentlich an?“
Er präzisiert es nicht, aber mir ist klar, worauf er hinauswill.
„Nach der zweiten Phimose-Operation. Es war meine erste Taxifahrt, an die ich mich erinnern kann. Die Praxis des Chirurgen Bethke war am Tempelhofer Damm. Ich hatte auf dem OP-Tisch gelegen. Und mir war eine Maske übers Gesicht gestülpt worden. Eine Maske aus einem Metallgittergeflecht. Und gleich hatte es angefangen. Es hatte auf den Stoff, der die Maske umhüllte, getropft und diese Tropfen hatten gestunken wie die Pest. Dieser ekelhafte Geruch war sofort auf den Weg durch meine Nase in mein Inneres gekrochen. Ich hatte zählen sollen, laut vor mich hinzählen. Bis kurz vor 10 war ich wohl gekommen. Dann hatte ich mich in Wohlgefallen aufgelöst. Weit weg war alles verschwunden. Meine eigene Stimme hatte wie in einer riesigen Kathedrale geklungen.
Ekel löste dann dieses traumlose Abhandensein ab. Kotzübel war mir. Und mein armer Vater besaß in jenem Taxi auf der Rückfahrt von der Chirurgenpraxis nach Steglitz einen ununterbrochen reihernden Sohn.
Lulu-Machen, so hieß bei meiner Mutter das kindliche Wasserlassen. Das war verdammt schmerzhaft nach dieser OP. Es brannte wie Feuer. Erst nach ein paar Tagen konnte ich fast schmerzfrei meinen Schniepel befühlen. Eigentlich ist das ein umgangssprachlicher Ausdruck für einen Frack. Meine Mutter hatte also meinen Penis zu einem eleganten Kleidungsstück verbalisiert. Doch dieses etwas schmerzhafte Betasten begann mir nun immer mehr Freude zu bereiten. Und dieser Schniepel konnte auch wachsen, und wenn ich mich genug anstrengte, wurde es so schön, dass er vor lauter Wonne auch noch anfing zu sabbern.“
Die ersten Tropfen treffen auf die Aussichtsfenster. Sie perlen herunter. Der Wind nimmt zu und treibt sie quer über die Scheiben.
„Wissen Sie noch, wodurch Sie das erste Mal so richtig erregt wurden?“
Draußen spielt das Wetter Weltuntergang und ich soll mich auf meine erste Geilheit konzentrieren!
„Ich war so dreizehn oder vierzehn. Der Blick durch das Fenster meines Zimmers zeigte auf den Birkbuschgarten. Wir wohnten in der obersten Etage. Im rechten Winkel neben meinem Zimmer war das Fenster einer Nachbarwohnung, die von einem jungen Ehepaar bewohnt worden war. Abends, wenn Ein Platz für Tiere von und mit Bernhard Grzimek vorbei war oder wenn die Flucht des Richard Kimble begann, musste ich ins Bett. Zufällig hatte ich wohl aus Langeweile und weil ich noch nicht müde war, aus meinem Fenster geguckt. Bei mir war es schon dunkel, aber im Zimmer über Eck brannte plötzlich Licht und eine ungeahnte Bühne wurde für mich hergerichtet. Eine hübsche junge Frau mit schwarzen Haaren, die zur Bubikopffrisur geschnitten waren, betrat diese Bühne und stand dann mit dem Rücken zum Fenster. Zuerst zog sie sich ihre gelbe Bluse aus. Dann drehte sie sich ein wenig und ich konnte ihren üppigen Busen, der von einem schwarzen BH eingefangen war, bewundern. Mir wurde heiß und kalt zugleich. Ich kauerte mich am unteren Rand meines Fensters hin und hoffte irgendwie, dass ich unsichtbar sei, und merkte dann, wie mein von Phimose bereinigtes Teil an der kochenden Heizung enorm hart wurde. Sie bewegte ihren Kopf und sah genau zu mir herüber. Im Nu tauchte ich ab. Nach ein paar Sekunden vielleicht lugte ich wieder hinüber. Ich war unentdeckt geblieben und bei ihr rutschte gerade der Rock wie in Zeitlupe abwärts. Nun stand sie da in BH und beigefarbenem Slip und bei mir stand auch etwas zwischen den Heizungsrippen eingekeilt und begann sich am Metall zu reiben. Mir lief es wohlig den Rücken hinunter. Es war wie ein ausgewachsener Schüttelfrost. Ich zitterte am ganzen Körper. Die Frau ließ mich glühen, fast wie meine Heizung.
Doch urplötzlich war die Vorstellung zu Ende. Der Vorhang fiel, das hieß, sie zog völlig unsensibel eine saublöde Gardine vors Fenster. Die war zwar ein wenig durchsichtig, sodass ich meine Nachbarin in einem weißen Nachthemd erahnen konnte, aber erstens ging dann auch noch das Licht aus und zweitens musste ich mir an der Heizung nun unbedingt Erleichterung verschaffen.“
„Ich nehme an, Sie hatten dieses Schauspiel nicht nur einmal?“
„Leider kam die Lady auch viel zu oft auf die Idee, vor ihrem Striptease diesen überflüssigen Gardinenstoff zu bemühen. Und so wartete ich viele Abende zitternd umsonst. Aber immerhin ließ sie mich zweimal ihre schwarz bewaldete Venus bewundern. Die Vorstellung, ihre beiden birnenförmigen Brüste zu streicheln, ließ mich die arme unschuldige Heizung befeuchten. Manchmal dachte ich schon vormittags während des Unterrichts an meine schöne Nachbarin, die nie erfahren hat, welche Freude, aber auch welchen Frust sie ihrem halbwüchsigen Nachbarn bereitet hatte. Wenngleich ich allerdings wirklich der Meinung war, dass ihre Aufführungen ausführlicher und damit länger und vor allem öfter auf den nachbarschaftlichen Spielplan gehört hätten!“
Draußen ist alles nur noch tiefschwarz. Der Regen wird über die Fenster gepeitscht und die Lautsprecher verkünden wie sinnig: Riders on the Storm. Wer ist hier eigentlich für den Ton zuständig?
Er schaut mich an, besser, sein Blick scheint mich zu durchdringen.
„Los, erzählen Sie weiter!“
Kurz hintereinander jagen zwei Blitze über die Stadt.
„Vera trug Strümpfe, die von Strapsen gehalten wurden. In der neunten Klasse, die ich auf dem Hermann-Ehlers-Gymnasium das zweite Mal absolvieren durfte, saß ich wie sie in der letzten Reihe. Nur der Gang trennte uns, und so durfte ich von Zeit zu Zeit, wenn es ihr nach einem kurzen Rock zumute war und sie sich gelangweilt zum Beispiel in einer Lateinstunde etwas gemächlicher auf dem Stuhl lümmelte, die Ränder ihrer Strümpfe bewundern. Sie hatte eine freche Stupsnase, jede Menge Sommersprossen und ihre schwarzen Haare waren zu einer Frisur der 20er-Jahre geschnitten. Sie neckte mich gerne, wobei ihre blauen Augen stets Blitze verschossen. Sie hatte sich einen überaus blöden Spitznamen für mich ausgedacht: Schnulli!
An jenem Mittwochmorgen trug sie einen wippenden, schwarzen Faltenrock mit kleinen, weißen Pünktchen. Schon in der ersten Stunde, Deutsch bei meinem Intimfeind Dr. Knobelsdorf, von mir nur respektlos von hinten nach vorne Frodslebonk benannt, sah ich, dass sie weiße Strümpfe trug. Den Plan, ihr die Strümpfe zu klauen, hatte ich schon seit ein paar Wochen.
Oft hatte ich nachts wach gelegen, mich dabei sehr angenehm berührt und war alles genau durchgegangen. Es ging nur während des Sportunterrichts. Ich konnte ihr die Sachen ja schlecht vom Leib reißen. An diesem Mittwoch also sollte es sein. Ich selber war für diesen Tag vom Sportunterricht, der in der schuleigenen Turnhalle stattfand, befreit. Die Umkleidekabinen waren im Kellerbereich. Jungs und Mädels hatten gemeinsamen Unterricht und durften sich beim Basketballspiel vergnügen. Vorsichtig betrat ich den Raum der Mädchen. Niemand war mehr dort. Verweist hingen und lagen die Klamotten meiner Mitschülerinnen an Haken und auf Bänken. Vieles war unordentlich einfach nur so dahingeworfen worden. Wo waren Veras Sachen? Mir war kalt, obwohl gerade im Kellerbereich gut geheizt worden war. Es roch nach Bohnerwachs. Da, hinten links, fast an der Eingangstür zu Halle, sah ich sie liegen. Vera war ordentlich. Ihre Strümpfe, der Hüftgürtel und der blütenweiße Slip waren fein säuberlich auf der Bank platziert.
Jetzt musste alles sehr schnell gehen! Ich ergriff all die Kostbarkeiten und schob sie mir unter den Pulli. Wie von einer Tarantel gestochen, jagte ich durch die Gänge, zum Ausgang und dann auf die Straße. Ich hatte ja frei. Der kleine Kramladen an der Ecke Steinstraße war mein Ziel. Rasch ´ne Cola und vor allem beruhigen. Als ich pünktlich zu Beginn der nächsten Stunde auf meinem Platz saß, merkte niemand, dass ich ein kleines bisschen mehr Bauch hatte. Rechts neben mir war der Platz leer. Auch Frodslebonk, der uns eigentlich Christliches im Religionsunterricht nahebringen sollte, verspätete sich. Nach sage und schreibe fünfzehn Minuten öffnete sich die Tür und Frodslebonk stellte sich mit hochrotem Kopf vor die Klasse. Er schrie etwas von Herrschaften, es sei die liebe Mitschülerin Vera bestohlen worden. Er hätte sie nach Hause schicken müssen, da ihr entscheidende Anziehsachen gefehlt hätten. Plötzlich bekam ich jede Menge Angst vor Leibesvisitationen oder Ähnlichem.
Also entwickelte ich furchtbare Kopfschmerzen und ließ mich von Reinhardt, meinem Klassennachbarn zur Linken, nach Hause begleiten. In meinem Zimmer genoss ich ausgiebig den Duft der an Strümpfen, Hüftgürtel und weißer Unterhose haftete. Leider hielt dieses wunderbare Parfum nicht lange. Erstens, weil es sowieso nicht besonders intensiv war und vor allem zweitens, weil ich mich überhaupt nicht zurückhalten konnte und so oft ich es vermochte, meine Nase in den kuscheligen Stoffen vergrub.
Eine Woche später hatte Klassenlehrer Frodslebonk einen außerordentlichen Elternabend einberufen. Ausnahmsweise waren meine Eltern hingegangen. Die paar Stunden, bis sie wieder nach Hause kamen, wollten überhaupt nicht vergehen. Doch niemand hatte mich verdächtigt. Meine Aufregung war umsonst gewesen. In Steglitz war an einem Gymnasium die Unterwäsche einer Sechzehnjährigen gestohlen worden. Man war der Meinung, dass das unerhört sei, doch ich als Täter hatte ein anderes Problem: Ich musste meine Beute doch mal waschen! Wo sollte ich sie denn trocknen?“
„Wissen Sie, wann das mit der Unterwäsche und mit den Strümpfen anfing?“ Er lehnt sich zurück. Hinter ihm, in den gewaltigen Panoramafenstern, erscheint die Nacht wie ein gigantisches, schwarzes Nichts. Kein Licht weit und breit.
„Mutter hat mich oft in den kleinen Laden an der Ecke Presselstraße mitgenommen. Dort saß in jenem winzigen Geschäft eine Frau hinter einem Tisch, der von einer Art Nachttischlampe beleuchtet wurde. Im Licht dieser ziemlich erbärmlichen Funzel reparierte diese Maschenkünstlerin alle Nylons aus der Umgebung. Mit einem Zwischending aus Nadel und Häkelmetall jonglierte sie die widerspenstigen Fäden zurück in Reih und Glied. Gerne hätte ich das auch mal ausprobiert, aber Mutter meinte, das sei nichts für einen Jungen. Die Strumpfdompteuse lächelte mich stets an und das Geräusch, welches ihre Beine unter dem Tisch machten, dieses sanfte Schrapen, das ihre Nylons vollführten, das gefiel mir sehr.
Als ich in der achten Klasse des Gymnasiums war, kam der Umbruch. Die ersten Vorboten der Strumpfhose kündigten sich an. Meine Mitschülerinnen, allen voran Elisabeth, waren schon von ihnen überzeugt. Ebenso überzeugt war sie wohl auch, dass sie mit ihrer Freundin alleine im Klassenzimmer sei. Auf jeden Fall sah ich, als ich verfrüht von der Pause zurückstürmte, wie Elisabeth ihren Rock hochgehoben hatte und diese neumodischen Strümpfe vorführte, die keine Strapse mehr benötigten, denn oben am Bund waren sie zu einer Art breitem Gürtel verlängert. Sozusagen Strumpfgürtel mit Strümpfen in einem.
Die strohblonde Elisabeth lief natürlich richtig rot an, als sie merkte, dass ich ihr strumpfiges Geheimnis miterleben durfte.
Den Tag danach schwänzte ich die Schule. Ich fuhr stundenlang mit der S-Bahn durch die verregnete Stadt. Am Kaiserdamm machte ich mich lächerlich, denn ich verlangte in einem Plattenladen das Lied Judy In The Sky. Der Verkäufer kannte das Problem und belehrte mich, dass der Song von John Fred and his Playboyband Judy In Disguise With Glasses hieß. Mit dieser Single, sagte man damals für eine kleine Schallplatte, in der Schultasche fuhr ich weiter bis nach Zehlendorf. Am Teltower Damm gab es einen großen Supermarkt, ich glaube, der hieß Kaiser‘s, und der verfügte über eine Strumpfabteilung. Und tatsächlich. Dort entdeckte ich diese neuartigen Kostbarkeiten. Es gab sie in Beige und in einem fast tomatigen Rot. Wie weich sie sich anfühlten. Das entsetzliche Problem war nur, ich hatte weder das Geld noch den Mut, sie zu kaufen. Also schlich ich wohl um die zwanzigmal immer wieder den Regalgang auf und ab. Oben an der Stirnseite des Ladens war ein großes Fenster, hinter dem sich sicher ein Supermarktleiter verschanzt hatte. So dachte ich still vor mich hin, als plötzlich, nach der zweiundzwanzigsten Runde meines unfreiwilligen Parcours, jemand von hinten an mich herantrat!
Ich drehte mich um und starrte in das Gesicht eines Hornbrillenträgers. Er hätte mich seit einigen Minuten beobachtet und es sei wohl besser für mich, hier umgehend zu verschwinden. Meine Gedanken wirbelten mir im Kopf umher, wie ein lästiger Wind, der das Laub in den Straßen unkontrolliert tanzen lässt. Was für eine Schmach! Natürlich verließ ich den Laden wie einer jener berühmten Pudel unter der unfreiwilligen Dusche.“
Erneut jagt der Wind jede Menge Tropfen gegen die Scheiben. Es erinnert an die künstlichen Regenmaschinen à la Hollywood in den schwarzweißen Klassikern der 40er-Jahre. Seine Gesichtsfarbe ist blutleer und aschfahl. Wenn er seinen Mund öffnet, wäre es nicht verwunderlich, das Gebiss eines Vampirs zu entdecken.
„Hier wird es ungemütlich! Lassen Sie uns hoch in die Koje wechseln.“
In der Tat scheint es so, als würde die Temperatur sinken. Ein gewisses Vibrieren und Schaukeln ist zu spüren. Der Turm scheint in Bewegung zu kommen.
Ich folge ihm in Richtung Ausschank. Hinter dem Tresen, wo eine verlassene Kasse neben einem Zeitungsartikel steht, öffnet er seitlich eine Tür, die in die Holzverkleidung eingebaut ist. Eine enge Wendeltreppe führt nach oben. Ein kräftiger Ruck! Ich halte mich am Geländer fest.
Er ist schon nach oben verschwunden. Die Tür hat er offen gelassen.
Ich komme in einen Raum, der tatsächlich an die Kajüte eines Schiffes erinnert. Unterhalb eines enormen Fensters, welches einen pechschwarzen Himmel zeigt, steht der Länge nach ein geräumiges Bett. Er ist an der Kopfseite und bedeutet mir mit einer Handbewegung, dass ich mich dort hinlegen solle. Ich strecke mich aus. Eine Nachtbeleuchtung glimmt neben mir. Sein linker Mittelfinger berührt meine Stirn.
„Konzentrieren Sie sich nur auf die Berührung. Sie haben das Gefühl, dass mein Finger nun ein Teil von Ihnen ist. Sie werden jetzt zurückreisen und einen Aspekt von früher erleben.“
Mir wird seltsam warm. Mein Bewusstsein scheint sich aufzulösen.
Ein wunderbar lauwarmer Wind weht mir ins Gesicht. Es ist Twilight Zone. Die Laternen des großen Schulhofes des Lycée Aragon mischen sich mit dem Licht der sterbenden Sonne, die dem Tag ordentlich eingeheizt hatte. Ich sitze auf einer einfachen Holzbank ohne Lehne. Vor mir stehen zwei Mädchen. Die Blonde mit den beiden kurzen geflochtenen Zöpfen blinzelt mich unverschämt offen an.
„So a Berliner bischt!“
„Von Geburt an“, höre ich mich sagen, „du scheinst mir aus Schwaben zu sein? Was machst du denn hier in Perpignan?“
Ihr kurzer, rotkarierter Rock nimmt mit ihr auf meinem Schoß Platz. Erst danach fragt sie:
„Darf isch wohl? Isch so g’mütlischer! Schö‘ blau Aug’n hasch! Nö, isch komm aus Heidelberg.“ Sie beginnt mir vorsichtig über die Haare zu streicheln.
Mir wird warm und kalt in einem, wie bei einer erfolgreich vollbrachten sportlichen Höchstleistung. Der Duft von Tagetes streichelt mich in der Nase. Ein Kranich erhebt sich über einer nebelverhangenen Moorlandschaft. Ich öffne meine Augen und direkt vor meinem Gesicht sehe ich das hellblaue Paar von Dorle. Sie grinst mich an und ihre vielen Sommersprossen, die eine Revolution gegen alles Eintönige neben ihren Nasenflügeln zu planen scheinen, unterstreichen das vehement. Ich versuche, meine Freude über sie zu verbergen aber das gelingt nur mangelhaft.
„Was grinscht? Willsch‘ mich net auf deine Schoß habe?“
Dieser unverschämte Widerspruch in sich macht mich macht- und fassungslos.
„Ich habe ein nettes Zimmer nicht weit von hier. Hast du Lust, mit mir `n paar Platten zu hören?“
Ich spüre ihre Lippen auf meinen. Sie springt auf, nimmt meine Hand in ihre und wir sind auf dem Weg am Fluss entlang zu meinem Domizil bei meiner Gastfamilie.
Die nächste Laterne ist Bühnenscheinwerfer für tausende Motten, denen wir das Spektakel eines sich knutschenden Teenagerpaares bieten. Unsere Zungen leisten Rekordverdächtiges. Meine zumindest ist Ewigkeiten später beim Eintreffen in meinem Souterrainzimmer reichlich krampfgefährdet.
Ich habe hier in Frankreich die Gruppe Moody Blues im Fernsehen kennengelernt und mir sofort Nights in White Satin gekauft. Diese Scheibe dreht sich nun im Akkord auf dem kleinen tragbaren Plattenspieler. Der Ton kommt aus dem Lautsprecher, den dieses Gerät im Deckel versteckt hat. Wir drehen uns dazu in vorgeschriebenem Schneckenrhythmus, wobei kein Blatt Seidenpapier unzerknittert zwischen uns passen würde.
Ich trenne mich ungern aus ihren Armen, aber die Rückseite der Schallplatte, Cities, ist auch nicht übel.
„Dein Bett isch sicher g’mütlich!“ Sie nimmt mich an die Hand und lässt sich rücklings auf die weiche Zudecke fallen, wobei ich nach dem Gesetz der Schwerkraft auf ihr zum Liegen komme.
„Bischt aba arg schtürmisch!“, kommentiert sie. Nun, neben ihr angekommen, nehme ich ihr Gesicht in beide Hände. Nach Küssen auf Wangen, Stirn und Nase übernimmt sie und schmiegt ihr badensisch schwatzendes Zünglein zu meiner.
Sie setzt sich auf und zieht ihre dunkelgraue Chiffonbluse langsam aus. Der kleine Plattenspieler schweigt und ich schließe mich der Stimmung an. Mon Dieu, was ist sie gut gebaut. Dass sie als Schwimmerin mit ihrem Verein hier in Perpignan ist, könnte niemand abstreiten.
„Du kannscht net mit mir bummse. Aba isch weiß was Schönes!“
Ihre Zunge schleckt mein Ohr. Ich streichele ihre samtig weichen Brüste und zwicke ihre Knospen leicht mit meinen Lippen.
Ich solle meinen Po hochheben, denn sie will mir die Hosen runter ziehen.
„Isch g’fall dir so!?“ Denn da ragt jemand kerzengerade in die Höhe.
Nachdem sie ihn ausgiebig geküsst hat, schmiegt sie ihre Bluse um ihn herum.
Ihre blauen Augen blitzen mich an und sie beginnt eine sanfte Massage.
„Was Warmes und Feuchtes muscht ma gebe. Isch trag‘ des denn auf meine Haut!“
Wieder habe ich Tagetes-Duft in der Nase und mir ist so leicht und so wohlig warm.
„Das war nicht schlecht!“ Er reißt mich unsanft aus diesem Erlebnis.
„Ich muss kurz etwas erledigen. Schlafen Sie ruhig.“
Als befände sich meine Ruhestätte auf den labilen Planken eines Bootes, so kommentiert dieser kleine Raum seinen Abgang hinunter, wohin auch immer.
Lautlose Blitze erleuchten stroboskopartig das Fenster. Sein Finger scheint immer noch auf meiner Stirn zu sein.
Die sechs Fahrspuren der Kaiser-Wilhelm-Straße in Lankwitz bilden sonntags eine komplett übertriebene Dimension für diese Verkehrsader.
Das Essen in den Zoo-Terrassen war bieder und geschmacklich ein Kantinenfraß. Die Champignonrahmsauce über dem Rehbraten brachte es fertig, den Fleischgeschmack komplett zu ersticken. Und mir ist zum Ersticken hier im elterlichen Mercedes, in dem wir von Lankwitz Kirche aus, um nach Hause zu gelangen, über die Kaiser-Wilhelm-Straße fahren müssen.
Vater sitzt am Lenkrad, Mutter residiert daneben und ich finde hinten neben Schwesterlein statt.
Mutter duldet keine geöffneten Fenster. Es könnte ja ziehen! Sie prägte diesbezüglich eine imaginäre Fischsuppe: die der Raubfische eines Teiches, die famose Hechtsuppe.
Eine rote Ampel gebietet Halt an der Kreuzung Seydlitzstraße.
Meine Schwester will im Radio ein Lied von Esther Ofarim hören.
Meine Mutter würde gerne die Brunsteins, unsere Nachbarn, nächste Woche nach Hause zum Tanzen einladen und Vater? Der will nur nach Hause, um im Souterrain an seiner elektronischen Orgel, der Marke Wersi, basteln zu können.
Vorne rechts ist ein großes Gartenbedarfsgeschäft. Ein Paar, Hand in Hand, überquert eben von dort kommend die Kaiser-Wilhelm-Straße.
Wir fahren weiter und nähern uns den beiden, die inzwischen in der Mitte des Fahrdammes auf den Gegenverkehr warten müssen.
Wind und vorbeifahrende Autos lassen das türkisgelbe Sommerkleid der jungen, blonden Frau auffällig im Gleichklang mit ihren schulterlangen Haaren wehen. Grazil, fast wie eine Elfe steht sie neben ihrem dunkelhaarigen Freund. Die Szene erscheint mir wie die Hochglanzwerbung eines Kosmetikprodukts, gedreht an einem Promi-Ort und das auch noch in Zeitlupe. Inmitten des Verkehrs schlingt sie ihre Arme um ihn und küsst ihn. Was würde ich gerne mit ihm tauschen und ihn hier hinten in diesen Wagen verbannen.
Seit Ostern diesen Jahres gehe ich in die zehnte Klasse des
Tannenberg-Gymnasiums. Doch ich brauchte bis jetzt, bis praktisch zum Ende dieses Sommers, bis ich hier kurz hinter der Kreuzung Kaiser-Wilhelm-Straße Ecke Seydlitzstraße bemerken kann, wie schön Evelyn, meine Klassenkameradin, ist!
„Was hast du denn die ganze Nacht so getrieben, dass ich dir am liebsten zwei Streichhölzer für die Augen spendieren würde?“
Ich sitze in der Reihe am Fenster, hinter Angela und Evelyn.
„Was für Streichhölzer?“
Es ist nicht zu leugnen, ich bin saumüde.
„Hast wohl die ganze Nacht nur an Angela gedacht, oder?“
Evelyn blitzt mich von schräg vorne unverschämt keck an. Doch nach dieser Bemerkung fängt sie sich einen sanften Hieb in ihre Taille ein. Angela mag keine öffentlichen Bekundungen, die an die Ereignisse der Klassenfahrt nach Kusel erinnern. Seit Langem geht sie mit Knut und auch die Zukunft plant sie mit ihm. Seitenlang haben wir nach besagter Klassenfahrt Briefchen ausgetauscht. Sie, indem sie mir detailliert alle alltäglichen Kümmernisse über ihre Beziehung mit Knut kundtat, und ich, immer noch nostalgisch schwärmend, denn die Zweisamkeit mit ihr auf der Klassenfahrt ging mir sehr nahe.
Wir wohnten in der Jugendherberge Thallichtenberg. Eine Burgruine, die auf einem Hügel in der Nähe von Kusel gelegen ist. Von dort aus unternahmen wir lange, bis sehr lange Busfahrten zum Beispiel nach Kaiserslautern, Straßburg, Idar-Oberstein und sogar bis nach Brüssel. Herr Schwarz, unser fast täglicher Busfahrer, ließ Radio Luxemburg an unsere Ohren und der Dauerbrenner dieser Tage, eine Vorveröffentlichung aus dem neuen Beatles-Album Abbey Road, mit dem schönen Titel Come Together, hatte uns auch tatsächlich sehr nahe zueinander kommen lassen. Speziell auf den Rückfahrten im dunklen Bus ließ es sich hervorragend knutschen. Angela besaß eine süße kusserprobte Schnute und gerade nach diversen Weinproben, die die Gegend entlang der Mosel für uns bereithielt, fiel sie mit ihren samtenen Lippen derart über mich her, dass wir beide dann spät abends auf der Burg ankommend, gewisse Überanstrengungen in unserer Gesichtsmuskulatur zu beklagen hatten, was wir natürlich niemals öffentlich taten.
Auf der Heimfahrt nach Berlin nahm mir Angela pünktlich an der Grenze zu West-Berlin unsere traute Zweisamkeit. Am Wochenende zuvor hatte die SPD die 69er Bundestagswahl gewonnen und die NPD war im Gebiet von Kaiserslautern über die Fünfprozenthürde gekommen.
Unsere Verliebtheit hatte mit dem Ende der Klassenreise zu enden, denn sie wollte bekanntlich ihre Beziehung zu Knut nicht gefährden. Schließlich hatte sie mir das auch während der Fahrt immer wieder eingebläut, dass das hier eine große Ausnahme und sie noch nie untreu gewesen sei.
Natürlich hatte Evelyn davon Wind bekommen, denn unsere Zettelkorrespondenz ließ sich schwerlich vor ihr verheimlichen.
Statt dem Unterricht zu folgen, bin ich gerade in das Ende eines Briefs von Angela vertieft.
Hubert, ich habe schon wieder eine Bitte an Dich: Könntest Du mir die Platte „Nights in White Satin“ noch einmal borgen. Sie gefällt mir so gut! Kannst Du mir diese Bitte erfüllen? Tja, lieber Hubert, die Bauchschreiberin, die übrigens heute nicht auf dem Bauch schreibt, verabschiedet sich jetzt. In der Hoffnung, dass mon Copain nicht sooft traurig ist, grüße ich Dich freundschaftlich, Deine Angela.
Ich schaue auf und überlege nicht lange. Streichhölzer möchte ich eigentlich nicht von Evelyn.
„Und wenn ich nun von dir geträumt hätte?“, entfährt es mir, in Anspielung auf ihre Behauptung, dass ich mir die vergangene Nacht mit Träumereien über ihre Platznachbarin um die Ohren geschlagen hätte.
Wie in Zeitlupe dreht sie sich um. Evelyns Augenpaar scheint für eine Ewigkeit auf mir zu haften.
„Fräulein Barz! Warum hat Strapinski die Grafenrolle weiter gespielt?“ Fräulein Hirche schaut sehr tadelnd in unsere Richtung.
Gottfried Keller und seine Leute, die Kleider machen, sind nicht unbedingt unser literarischer Kick, aber geistesgegenwärtig antwortet Evelyn:
„Wenzel träumt jede Nacht von ihr!“
„Was meinen Sie damit, Fräulein Barz?“
Evelyn merkt, dass sie da etwas durcheinander gebracht hat.
„‘Tschuldigung! Wenzel liebt Nettchen und wollte darum der Graf bleiben, um Eindruck zu schinden.“
Fräulein Hirche, längst äußerlich im Pensionsalter, scheint beruhigt. Nicht nur auf der Klassenfahrt war sie oft Ziel pubertären Schabernacks. So ließ ich mich mit Draculagebiss in Drohgebärde hinter ihr fotografieren.
„Hast du?!“, zischt sie mich an.
„Ach Evchen, was soll ich denn haben?“
Ich weiß, dass sie es hasst, Evchen genannt zu werden.
Die Pausenklingel reißt uns aus unserer kleinen Fragestunde und rettet mich vor einer handgreiflichen Revanche.
Auf dem Schulhof ist die Raucherecke hinten links. Die letzte Packung Gitanes ist nun angebrochen. In Straßburg hatte ich eine ganze Stange von dem schwarzen Kraut erworben. Weder Angela noch Evelyn sind zu sehen. Die Gitanes schmeckt nicht so recht.
Die beiden letzten Stunden heute finden im Biologieraum statt. Da ist eine andere Sitzordnung. Vor Pausenende stürme ich in den Klassenraum. Da kann ich noch schnell ungestört schreiben:
Du hast mich gefragt, ob ich von Dir geträumt hätte. Bist Du sicher, dass Dich das interessiert? Es ist nicht einfach, jeden Tag hinter Dir zu sitzen! Dein Lächeln so aus nächster Nähe verwirrt mich komplett. Tut mir leid, wenn ich Dich vorhin Evchen genannt habe! Mal sehen, wer mich nächste Nacht im Traum wieder verzaubert …
Ich reiße die Seite aus dem französischen Vokabelheft und falte sie zweimal.
Ende der letzten Stunde warte ich an der Tür vom Bioraum.
Evelyn kommt fast als Letzte. Vor ihr Angela mit fragendem Blick. In Taillenhöhe halte ich Evelyn den weißen Zettel entgegen. Sie zögert kurz. Dann nimmt sie ihn.
„Bis morgen“, flüstere ich ihr hinterher. Warum flüstere ich eigentlich?
Ende November hat Jörg Pfeiffer Geburtstag. Bisher hätte mich das eher kalt gelassen, denn er zählt nicht gerade zu meinen Favoriten. Doch hat er für seine Geburtstagsfete fast die ganze Klasse eingeladen. Schließlich waren alle durch die Klassenfahrt sehr viel enger aneinander gerückt. Evelyn war zwar aus unerfindlichen Gründen nicht mitgefahren, doch auf der Fete am Samstagabend sollte sie nicht fehlen. Das Briefchen schreiben mit Angela ist inzwischen fast gänzlich auf Evelyn übergegangen. Angela nimmt mir das übel. Sie spricht fast gar nicht mehr mit mir und ihr Lächeln wirkt arg gekünstelt. Dafür sind Evelyns Zeilen schon ziemlich teasing und voller kleiner Zweideutigkeiten. Einen Tag vor der bewussten Geburtstagsfeier hat sie mir eine beschriebene Seite aus ihrem Matheheft mit auf den Nachhauseweg gegeben.
Ich habe ja keine Ahnung, was so in dir vorgeht. Aber ich finde schon, dass du es schwer haben wirst, dem Musikunterricht zu folgen, wenn du nur auf meinen nicht vorhandenen Busen guckst! Hast du gemerkt, wie unsere Musiklehrerin dich dauernd angegiftet hat? Wenn Blicke töten könnten! Du hast mich gefragt, ob ich auf Jörgs Fête komme. Warum willst Du das wissen? Angela kommt doch auf jeden Fall - mit ihrem Knut. Das ist jetzt gemein, oder? Leidest du eigentlich noch? Ich weiß aber nicht genau, ob ich kommen werde. Sei bitte nicht traurig. Oder würdest du das überhaupt sein? Ich hab‘ mir übrigens `ne neue Platte gekauft. Kommt aus Frankreich und heißt ‚Je t’aime…moi non plus‘.
Der Samstagnachmittag will und will nicht vergehen. Anstatt Vater bei seiner Mercedes-Kosmetik unter die Arme zu greifen, gleicht mein Zimmer eher einem Raubtierkäfig, mit mir als Vorstadttiger. Space Oddity von David Bowie wechselt sich endlos mit White Room von Cream ab. Doch ist weder das eine noch das andere als beruhigende Circus-Dompteuruntermalung geeignet. Im Gegenteil. Als Folge schreit das unfreiwillige Publikum in Person meiner Mutter in immer kürzeren Abständen zu mir hoch, dass diese Dschungelmusik extrem zu laut sei.
Zwar ist das Einfamilienhaus in der Lichterfelder Kiesstraße gewissermaßen mit vier Etagen gesegnet, also auch dank massiver Steinmauern nicht sehr lärmempfindlich, aber trotz alledem erklingen scheinbar Can you hear me Major Tom? und I wait in this place, where the sun never shines, von mir, von unterm Dach juchhe, bis in die untersten Schubladen des Hauses doch zu tonintensiv. Also kapituliere ich vor der Lautstärke-Empfindlichkeit meiner Mitbewohner und verabschiede mich in die Winterluft, nicht zuletzt, um meiner Aufregung, ob Evelyn heute Abend kommen wird oder nicht, mit einem Marsch in Begleitung unseres Irish Setters etwas Beruhigendes mit kalter Hundeschnauze entgegenzusetzen.
„Tut mir leid, wenn ich Sie jetzt da rausholen muss!“
Er ist wieder da. Ich hab‘ ihn überhaupt nicht kommen hören. Er setzt sich auf das Bett, drückt auf das Diktiergerät und flüstert in einer Weise, wie ich sie von Elisabeth Flickenschildt aus alten schwarzweißen Kriminalfilmen kenne. Und seltsam, wenn ich die Augen schließe, könnte ich schwören, dass sie tatsächlich vor mir säße.
„Machen wir uns also nichts vor! Wir wissen nicht, wie lange wir das hier überleben werden. Nach einigen Informationen, die mir aus verlässlichen Quellen zu sein scheinen, gibt es genügend Hinweise, dass …“
Er unterbricht abrupt seinen Satz, springt auf und sieht aus dem Fenster.
„Fahren Sie fort! Wir sind schon mittendrin in der salzigen Suppe! Imaginieren Sie, erinnern Sie, erleben Sie wieder, wiederbeleben Sie!“
Vom Fenster her tönt seine Stimme eher wie die von Klaus Kinski selig oder auch unselig. Jedenfalls kurz vor einer Emotionsattacke. Er kommt zurück und seine Augen glühen mich an.
Ich schließe meine automatisch und bin an der Eingangstür von Jörgs Elternhaus, einem Reihenhaus gegenüber der
Coca-Cola-Filiale in Lichterfelde.
„Guten Abend! Komm rein. Die anderen sind schon fast alle da. Da rechts ist die Treppe. Brauchst nur da runtergehen und immer der Musik nach.“ Wie oft Jörgs Mutter das heute wohl schon gesagt haben mag?
Und in der Tat ist es einfach, ich folge den Klängen von No Milk Today. Der Flur im Keller ist nicht beleuchtet, doch buntes Licht kommt aus einem Raum gleich auf der linken Seite. Ich bleibe am Türrahmen stehen und wage einen Blick hinein. Ob sie schon da ist? Ich sehe Christina, die mit ihrem Norbert tanzt. Auch Klaus in weißem Oberhemd ist mit Annemarie trotz des Qualms gut zu erkennen. Jetzt merke ich, dass ein bisschen weiter rechts noch ein Raum eine blasse Beleuchtung auf den Flur schickt. Dort sitzt mein Freund Michael und versucht, im Stil eines erfahrenen Rauchers eine Zigarette zu inhalieren.
„Hey, Sloggi! Keine Lust, das Tanzbein zu schwingen?“ Micha hat sich diesen Spitznamen, dank seiner Angewohnheit Hosenträger zu tragen, redlich verdient.
Jetzt kommt Jörg in diesen Raum, der sowohl Küche als auch Bar sein könnte, und ich werde mein Geschenk los.
„Herzlichen Glückwunsch und bleib‘ sauber!“ Ich reiche ihm Oh Well von Fleetwood Mac. Petra, seit der Klassenfahrt seine feste Freundin, denkt stets ans Praktische:
„Deinen Mantel kannste da hinten in die Ecke tun.“
„Danke, danke, sind denn schon alle da?“
Jetzt hat Michael für einen Moment den Kampf mit dem Glimmstängel aufgegeben und meint sagen zu müssen:
„Falls du deine Angebetete meinst, die ist noch nicht da!“
„Lustig, sehr lustig, Sloggi! Ich meine, es dauert möglicherweise einhundert Jahre, nicht wahr, bis du begreifst, dass in den tiefsten Schächten unserer tiefsten Bergwerke Kurt seine Pantoffeln sucht!“
Seit geraumer Zeit sprechen einige aus unserer Klasse, ich natürlich auch, im sogenannten Doktor-Seltsam-Deutsch, das heißt, dass wir aus dem Film Doktor Seltsam oder wie ich lernte die Bombe zu lieben frei zitieren und zwar sinnlos oder sinnfrei integriert in irgendwelche Sätze, die wir uns um die Ohren hauen. Ein fester Bestandteil eines Wortspiels mit Michael ist die Tatsache, dass ich ihn mit seinem Vater Kurt auf den Arm zu nehmen pflege. Das rührt von einem Erlebnis her, welches ich in seiner elterlichen Wohnung hatte. Kurt war auf der Pirsch nach seinen Pantoffeln und seine angeheiratete Ehefrau Liselotte, kurz Lilo genannt, half ihm indirekt, indem sie aus der Küche in schriller Weise flötete: Ja, wo hat denn der Papi seine Pantoffeln?
Ein anderes Kümmernis für meinen lieben Freund Michael
stellt die eigenwillige Anatomie des Kopfes von Kurt dar. Sein relativ massiger Schädel, bar jeden Haares, weist im hinteren Drittel, so ziemlich mittig, einen taubeneigroßen Grützbeutel auf, weswegen ich eigentlich betont mitleidig, doch eher in Babysprache ab und an, wenn die Gelegenheit günstig scheint, erkundigend nachfrage, wie denn das werte Befinden von Kurts Horn sei. Darauf reagiert Michael meistens mimosenhaft und sogar in „beleidigter leberwurstweise“ eingeschnappt. Warum? Nun, seine Eltern kratzen nicht nur beide schon am Rentenalter, was per se ja nichts Verwerfliches zu sein bräuchte, doch die beiden Leutchen weisen zudem Charakteristika auf, die Michael im Ansehen bei seiner Mitschülerschaft auf einer Beliebtheitsskala eher am unteren Rand rangieren lassen. Sie sind ein Elternpaar, was man sich spießbürgerlicher kaum vorstellen könnte und zu allem Überfluss sind sie auch noch gläubige Mitglieder der neuapostolischen Kirche. Ein Club, der in unserer Gunst nicht gerade als coole Vereinigung verschrien ist. Klassenweit ist bekannt, dass einmal pro Woche, mittwochs, zwei sogenannte fromme Brüder Michaels Heim heimsuchen, um gemeinsam aus der Bibel zu lesen und zu beten, mit anderen Worten, zusammen den Herren zu preisen!
Bevor die Kippe gänzlich ungepafft am Aschenbecherrand verglimmt, steckt sie sich Michael zwischen die Lippen, die er dann so zusammenpresst, als hätte er gerade eine für ein Pferd bestimmte Injektion in seinen Allerwertesten gerammt bekommen. Die Glut an der Spitze entflammt sich, doch was sich hinten am Filter der Peter Stuyvesant entwickelt, entlädt sich in einem gewaltigen Hustenanfall, denn Sloggi versucht just im Moment des Rauch-Inhalierens auf meine Reflektion bezüglich Papi Kurts Pantoffeln zu antworten. Sein Gesicht verschwindet für einen Moment in einer Rauchwolke, die an Nebelschwaden eines verruchten Edgar-Wallace-Streifens mit Blacky Fuchsberger denken lässt. Nun ja, ein nicht unerheblicher Anteil an Stuyvesant-Asche findet ein Zwischenlager auf Michas weinroter Wollhose, die ihm Mami Lilo im letzten Ausverkauf bei C&A als Dernier Crie erworben hat.
„Gib mal Feuer Micha!“ Ich habe mir eine filterlose Gitanes aus meinem silbernen Zigarettenetui gezogen.
Die brennende Kippe zwischen Ring-, Mittel- und Zeigefinger auf der einen Seite und andererseits gegen den Daumen gepresst, die Glut in der Innenhand spürend und somit das Vorbild eines rauchenden Humphrey Bogart mittelprächtig imitierend, so schleiche ich wie auf rohen Eiern Richtung Partyraum. Jörg hat meine Scheibe auf den Plattenteller gelegt. Oh Well entwickelt seinen rüden Charme und die farbige Lichtorgel entflammt vornehmlich im roten Spektrum. Für so ein Spektakel in meinem Zimmer würde ich morden, denke ich in mich hinein. Der Song ist nicht unbedingt geeignet, ein Tanzhit zu sein, denn bei weitem nicht alle Mitschüler sind auf der Tanzfläche zu finden. Die meisten sitzen plaudernd, knutschend oder sich langweilend auf den Stühlen, die rundherum an den Wänden des Raumes aneinandergereiht sind.
Als ich die Ecke hinten links einmal quer durch den ganzen Raum ansteuere, wird es mir schwarz vor den Augen. Ich spüre urplötzlich eine kühle, weiche Handinnenfläche auf meinem Gesicht.
„Wer bin ich?“, flüstert es von hinten. Ich drehe mich um und lerne die Bedeutung des Ausspruchs Mein Herz möchte vor Freude einen Satz machen am eigenen Leib kennen.
Sie steht vor mir! Die blonden Haare fallen anmutig links und rechts an ihrem zarten, fein gezeichneten Gesicht entlang. Der Pony ist nach hinten gekämmt und wird von einer silbernen Spange gehalten. Der graue Rolli muss aus Mohair sein. Er endet auf der Taille über einem dunkelblauen Faltenrock. Ihre Schuhe oder Stiefel hat sie sicher drüben in der Küche gelassen, denn die bemalten Fußnägel blitzen durch die dunklen, transparenten Strümpfe.
„Woll’n wir ein Schlückchen nehmen?“ Der Blick, den sie mir bei dieser Frage schenkt, raubt mir den Atem, nachdem mein Herz wieder normal zu schlagen scheint.
„Ich hol‘ uns was, okay?“
Rechts neben dem Eingang ist die Bar mit allem, was es für einen kleineren oder größeren Schwips bedarf. Auch ein rundes, üppiges Bowlengefäß lädt mit Pfirsichstückchen in prickelndem Wein zum Süffeln ein.
Wir setzen uns auf zwei Stühle an der Längsseite.
„Eigentlich mag ich keine Bowle, aber die hier ist sehr lecker!“ Sie schenkt mir ein spitzbübisches Lächeln und nimmt sofort noch einen größeren Schluck.
„Was hast du ihm denn mitgebracht?“
„Was Schönes zum Tanzen!“
Offensichtlich hat Jörg auch die neue LP von den Beatles bekommen, denn der erste Titel von Seite eins beschallt den Raum. Come together, right now, over me ... Welche Chance wir doch haben, diese Zeit aktiv mitzuerleben, da solche musikalischen Meilensteine das Licht der Notenwelt erblicken.
Ich schaue zu Evelyn und sie schaut zu mir, das ist wie Magie!
„Komm!“, höre ich mich sagen und eile zur Tanzfläche.
Sie nimmt noch mal, für mich viel zu lange, eine gutes Schlückchen der süffigen Bowle. Ich weiß ja, nach Come Together kommt Something, ein langsamer Titel mit George Harrisons samtener Stimme.
Ob sie wohl bleibt, wenn der Rhythmus romantischer wird?
Something in the way she moves attracts me like no other lover!
Sofort spüre ich ihre Arme um meinen Hals, ihre Wange an meiner. Wo sind wir? Ist sonst noch jemand hier? Wie durch einen Schleier sehe ich, wie mich Christina verstohlen beobachtet. Diese Christina, die ich kenne, solange ich lebe, denn sie ist im gleichen Krankenhaus, in der gleichen Woche auf diese Welt geraten. Nach meinem Schulwechsel im zehnten Schuljahr von Frodslebonks Hermann-Ehlers- aufs Tannenberg-Gymnasium, wobei ich das neunte zweimal bestreiten musste, fand ich mich neben Sloggi und hinter Christina in der mittleren Reihe der
Klasse 10s2 wieder. Ich weiß nicht mehr, wie viele Jahre vergangen sind, in denen ich sie nicht mehr gesehen habe. Meine Mutter hatte immer lockeren Kontakt zu ihrer Mutter gehalten, aber das interessierte mich nur am Rande.
Doch das alles ist mir in diesem Augenblick so unendlich egal! Mir ist in diesem Moment, als würde ich gerade neu geboren werden.
Was das wohl für ein Parfum ist, das mir in alle Sinne zu steigen scheint und mir diese auch noch allesamt uneingeschränkt raubt?
„Was hast du ihm denn nun geschenkt?“, flüstere ich ihr ins Ohr.
„Je t’aime … moi non plus“, haucht sie zurück.
Irgendjemand wechselt die Schallplattenseite.
Here comes the sun, here comes the sun, and I say it’s all right … und wieder singt Mr. Harrison.
Sie presst sanft ihre Stirn an meine. Ihre Augen sind wie ein Universum und ich gehe auf die Suche nach ihren Galaxien. Warum soll ich mich eigentlich noch zurückhalten? Mein Blick kommt von der Unendlichkeit zurück in diese Welt, indem er zielgenau auf ihrem vorsichtig rot gefärbten Mund zur Ruhe kommt. Dieser signalisiert einfach nur unwiderstehliche Anziehungskraft und so lande ich behutsam mit meinen Lippen auf ihren. Ihre Reaktion ist unverzüglich. Sie drückt den unteren Bereich ihres zierlichen Körpers behutsam aber doch sehr bestimmt gegen mich.
„Wer hätte das gedacht?“ So laut, dass ich es hören muss, dringt Angelas Kommentar zu mir vor, aber eigentlich ist ihre Bemerkung für Christina gedacht. Sicher dürfte ihr klar sein, wie schnurz mir ihre Sicht der Dinge ist. Meine Realität schlägt gerade tausende nächtliche Fantasien um kosmische Längen!
Evelyn ist ja unten herum nicht gefühllos, denn sie flüstert mir ins Ohr:
„Böser Junge, was spüre ich denn da?“ Mit einem süffisanten Lächeln drückt sie geradezu sadistisch jenen Hügel, der nach einem weiblichen Planeten benannt ist, gegen meine pralle, nicht zu verbergende Lust auf sie. Das büßt du mir!, denke ich. Meine linke Hand gleitet von hinten unter ihren Rock, um sie in den kleinen Po zu zwicken.
„Evchen! Du trägst ja nur eine Strumpfhose!“
„Hubertchen, wenn du weiterhin Evchen zu mir sagst, deklariere ich meinen Po als Regiona non grata für dich!“ Ich kann nichts erwidern, denn ihre Lippen bedecken meine und ihre Zunge verlangt Einlass.
Es ist saukalt in den Straßen, die von Jörgs Elternhaus zur Kiesstraße führen. Ein fast voller Mond bescheint uns den Weg, der allerdings völlig freiwillig von unendlichen Knutschpausen gepflastert ist. Vermutlich hätte ein Blinder mit einem Dutzend Krückstöcken die Strecke locker in einem Drittel der Zeit geschafft. Evelyn ist aber auch so etwas von flauschig in ihrem weiß-grau meliertem Teddymantel, dass ein schnelleres Vorankommen eine Sünde wäre.
Kurz hinter der Mariannenstraße, dort wo die Kiesstraße einen Friedhof begleitet, bleiben wir erneut stehen. Sie drückt meine linke Hand, die trotz der Kälte ziemlich heiß scheint, und ihr Mund schenkt meinem Gesicht unzählige Küsse.
„Hast du dir das so vorgestellt mit mir? Wusstest du, dass ich mich so auf dich stürzen würde?“
„Du übertriffst all meine Träume und das waren wirklich viele!“
Ich spüre ihre Hand auf meiner Hose an einer Stelle, die sich so sehr nach ihr sehnt und sie ...
„Ich muss noch ein paar Vorkehrungen treffen!“ Seine Augen scheinen wie von innen mit einem weißen Licht beleuchtet.
Ich spüre seinen Mittelfinger an der Stelle meiner Stirn, wo die Hindus ihr drittes Auge wähnen. Ich schließe meine beiden und verliere alles Zeitliche.
Kurz vor der Kreuzung Lankwitz Kirche muss Sascha an einem Baum ein größeres Geschäft verrichten. Er sieht immer so traurig aus, wenn er das tut. Es gibt Hunderassen, die haben generell einen trübsinnigen Gesichtsausdruck. Irisch Setter gehören jedenfalls nicht dazu.
Dieser kalte Dezembernachmittag hat schon sein Tageslicht eingebüßt. Ziemlich windig ist es an der Kreuzung. Ein rotes Herzass taumelt vom Bordstein auf den Asphalt. Hat das etwas zu bedeuten? Mein schwarzer Wintermantel mit der albernen Pelerine, den mir Mutter gekauft hat, ist nicht sehr wärmend. Die Flügel dieser Pelerine schlackern mir um die Ohren. Das sieht sicher komplett albern aus. Vielleicht würde das zu einem Pferdekutscher auf seinem Bock, der auf den Namen Gustav hört, passen. Aber ich schreie hier weder Hüüü! noch ist mir nach Auspeitschen eines Hotte-Birr zumute.Ich bin hier in Erwartung von Evelyn und dabei so was von aufgeregt. Sie will doch mit mir spazieren gehen!
Da steht sie ja! Keine Fata Morgana eines Winterabends!
Meine süße Fee! Sie hatte sich hinter einer Litfaßsäule, auf der Reklame für einen Film mit dem seltsamen Titel Easy Rider gemacht wird, versteckt.
Wir küssen uns sofort ungeniert neben einer Traube von Menschen, die an der Bushaltestelle wartet, während uns Sascha mit seiner Leine die Beine wenig lustvoll, aber kunstvoll zusammenschnürt.
„Gehen wir zum Kanal?“ Ihre strohblonden Haare wehen ihr um die Stupsnase, während sie mir das Lächeln einer Elfe schenkt. Wäre ich Tolkien, wäre sie meine Elbe oder auf elbisch, meine Eledhes bain, meine wunderschöne Elbenfrau!
„Du meinst da hinten an der Sieversbrücke, also bei dir zu Hause vorbei?“ Ich greife nach ihrer Hand, die trotz der Kälte warm und samtweich ist.
„Ja, da sind wir ungestört. Ich habe extra einen Rock an und wieder nur Strumpfhosen darunter. Allerdings sind die heute aus flauschiger, dicker Baumwolle.“
Wir gehen die Kaiser-Wilhelm-Straße in Richtung Teltowkanal und kommen natürlich auch an der Nummer 99 vorbei.
„Komm‘, lass uns hier ein bisschen schneller gehen. Wenn mein Bruder uns zufällig aus dem Fenster beobachten sollte, kommen nur wieder blöde Bemerkungen!“
Doch danach kurz vor der Kreuzung Alt-Lankwitz ist es höchste Zeit für eine Knutschpause. Sascha gefällt das gar nicht, denn er zerrt mächtig an der Leine und will unbedingt weiter.
Nach der Kreuzung erreichen wir die Brücke.
„Schau mal da oben! Hast du den Mond schon mal so riesig gesehen? Er scheint doppelt so groß wie sonst.“ Ich richte meine Hand gen Erdtrabanten und sie folgt meinem Blick.
Wir verharren für einen Moment in Bewunderung des Mondes.
„Ehe die Menschen das Feuer, Werkzeuge und eine Sprache besaßen, war der Mond ihnen ein treuer Verbündeter. Er war sicher eine Art Himmelsleuchte und erhellte die finstere Welt und linderte Ängste.“
„Mein philosophischer Hubert. Das hast du schön gesagt.“ Ich freue mich über ihr Kompliment. Aber auch der Vierbeiner ist ja noch da. Und ihm ist der Mond schnurzpiepegal. Ich muss Sascha verstärkt halten, denn er ist ja kein Wolf, den la bella Luna zum Gesang inspirieren würde.
„Lass uns auf die andere Seite gehen. Da ist eine schmale Treppe. Unter der Brücke ist jetzt bestimmt niemand.“ Sie schenkt mir einen Kuss auf meine Nasenspitze.
Ich lasse Sascha von der Leine und er genießt die plötzliche Freiheit in Form von ungebremsten Sprints, die Treppen zum Kanal immer wieder hoch und runter, man könnte meinen, er sei einer Horde imaginärer Kaninchen auf der Spur.
Der dunkle Bereich unter der Brücke ist erfreulicherweise menschenleer.
Wir gehen Arm in Arm bis zur Mitte. Ich spüre ihre Lippen und ihre Zunge ergreift Besitz von mir. Ihre Hände schlüpfen unter ihren Teddymantel, unter ihren Rock und lassen ihre Strumpfhose bis zu den Knöcheln abwärts gleiten. Dann ergreift sie meine linke Hand und führt sie zu ihrer flauschigen Venus.
„Komm‘ und streichle mich. Ich habe den ganzen Tag an nichts anderes gedacht, als das du mich da ein wenig verwöhnst!“ Sanft drückt sie meine Hand auf alles, was heiß und feucht ist.
Langsam gleitet mein Mittelfinger hin und her und sie beginnt leise zu stöhnen.
„Ja, das ist wunderbar, so wunderbar. Ich wusste, das du so zärtlich mit mir sein würdest!“
Ihre rechte Hand bahnt sich den Weg unter meinen Mantel und öffnet Knopf für Knopf die Jeans, die ihren Namen dem Franken Levi Strauss verdankt.
„Da ist ja jemand schon sehr aufgeregt!“, stellt sie gut geschauspielert fest.
So wie ich sie vorsichtig streichele, so macht sie es in gleicher Weise mit mir. Ich fange an zu zittern, nicht vor Kälte, sondern vor Auf- und Erregung.
„Komm‘, ich möchte, dass er mich jetzt dort kennenlernt, wo er schließlich hingehört!“ Sie drückt ihren feuchten, heißen Körper zu meiner spürbaren Erregung und so gleite ich langsam dorthin, wo er, wie sie meint, hingehört. Sie macht eine geschickte Bewegung, verändert ihre Position ein wenig nach hinten und ohne dass ich eigentlich viel dazu beitrage, merke ich, wie ich nun sanft in sie hineintauche. Wir halten inne in dem Moment, da ich gänzlich in ihr bin. Ein Moment wie in Trance. Ein Augenblick der Glückseligkeit, wenn es denn so etwas wirklich gibt. Ich merke, wie es in mir in einer seltsamen Art und Weise anfängt zu vibrieren, denke ich jedenfalls, dabei sind wir beide in dieser vermeintlichen Minute wie Dornröschen an der Spindel weggeschlafen, regen uns nicht, wollen für immer und ewig so verbleiben, weil wir uns eins fühlen mit uns, weil es danach nie wieder so sein wird, wie dieses erste, wie dieses einmalige Mal des intimen Verschmolzenseins. Ein Moment für die Ewigkeit. Jedenfalls in einer kleinen Ewigkeit dieses Seins, dieses Lebens. Doch Evelyn weiß und spürt, dass die Biologie unserer Körper ihren Tribut zu zahlen hat. Zwar sind es keine einhundert Jahre, vielleicht gerade mal einhundert Sekunden und sie ist ja auch kein Königssohn, der Dornen in Blumen verwandelt, aber sie wandelt mein Empfinden. Sie spielt mit und ergibt sich uns in das Schicksal der Hormone, die uns dirigieren. Ganz langsam, aber sehr bestimmt, entlässt sie mich aus der warmen weichen Umhüllung. Doch gemach, es droht ihm keine langfristige, eisige Sievers-Brücken-Winter-Luft. Bevor er sich‘s versieht, ergreift sie ihn wieder und immer wieder. Sie schickt ihn immer nur ganz kurz nach draußen, um ihm zu zeigen, wie schön es bei ihr ist, und holt ihn stets sofort zurück. Manchmal gewährt sie ihm wieder für eine kleine Endlosigkeit Asyl. Auch unsere Kussschnuten sind verschmolzen und turnen miteinander eine Art Schlangentanz.
„Siehst du!“, stöhnt sie, „ich will dich ganz! Ich will dich!“
„Ja, ich dich auch!“ Ich bin in dieser Sekunde kein Wortakrobat!
„Ich glaube, ja, ich spüre, du bist so weit. Das pulsiert, wie ist das schön!“ Sie entlässt mich abrupt in die Dezemberluft unter ihrem Rock. Doch ihre Hand lässt mich nicht im Stich und ergreift mich sehr, sehr hilfreich!