Der Einsiedler - Thomas Rydahl - E-Book

Der Einsiedler E-Book

Thomas Rydahl

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  • Herausgeber: Heyne Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Am Strand von Fuerteventura wird die Leiche eines kleinen Jungen gefunden. Niemand scheint das Kind zu vermissen, und so versucht die Polizei, den Fall unter den Teppich zu kehren, um die anstehende Feriensaison nicht zu gefährden. Als der Taxifahrer Erhard Jorgenson, knapp 70 Jahre alt und ein Einzelgänger par excellence, davon Wind bekommt, macht er sich mit unerschütterlicher Hartnäckigkeit auf die Suche nach der Wahrheit. Aber kann ein alter Mann, der aus der Zeit gefallen scheint, ein Mordkomplott aufklären, das weit über die Küste Fuerteventuras hinausreicht?

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Seitenzahl: 769

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Das Buch

Am Strand von Fuerteventura wird die Leiche eines kleinen Jungen gefunden. Niemand scheint das Kind zu vermissen, und so versucht die Polizei, den Fall unter den Teppich zu kehren, um die anstehende Feriensaison nicht zu gefährden. Als der Taxifahrer Erhard Jorgenson, knapp 70 Jahre alt und ein Einzelgänger par excellence, davon Wind bekommt, macht er sich mit unerschütterlicher Hartnäckigkeit auf die Suche nach der Wahrheit. Aber kann ein alter Mann, der aus der Zeit gefallen scheint, ein Mordkomplott aufklären, das weit über die Küste Fuerteventuras hinausreicht?

Der Autor

Thomas Rydahl, 1974 in Aarhus geboren, lebt mit seiner Familie in Kopenhagen. Er studierte Philosophie und Psychologie und ist ausgebildeter Feuerwehrmann. Nach seinem Abschluss an der Dänischen Schriftstellerakademie veröffentlichte er 1999 eine erste Kurzgeschichtensammlung. Seit 2001 arbeitet er in der Kommunikationsbranche, wo er Geschichtenerzählen als Strategie vermittelt. »Der Einsiedler« ist sein erster Roman.

THOMAS RYDAHL

DER EINSIEDLER

KRIMINALROMAN

Aus dem Dänischen vonMaike Dörries und Günther Frauenlob

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

Eremitten

bei Bindslev, Fredensborg

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © 2014 by Thomas Rydahl & Forlaget Bindslev

First published by Forlaget Bindsley.

Published by agreement with Bush Agency/Nordin Agency, Denmark.

Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabeby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Leena Flegler

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel / punchdesign, München,unter Verwendung von Motiven von but beautiful / photocase.de und Arts Illustrated Studios / Shutterstock.com

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN: 978-3-641-18904-4V001

www.heyne-encore.de

LUISA

31. Dezember

1

Am letzten Abend des Jahres beschließt Erhard nach drei Lumumbas, sich eine neue Freundin zu suchen. Wobei neu vielleicht nicht das richtige Wort ist. Für ihn muss sie weder neu noch schön sein, weder charmant noch lustig. Nur warmherzig. Jemand, der im Haus rumkramt und alles in Ordnung hält, mit einem Lied auf den Lippen oder einem wütenden Fluch, wenn er, Erhard, wieder mal Kakao auf dem Boden verschüttet hat. Ist das viel verlangt? Nein. Hätte er einer Frau viel zu bieten? Nein. Aber leichter wird es nicht mehr. In ein paar Jahren muss sie womöglich auch noch seinen Nachttopf leeren, ihn rasieren und ihm nach einem langen Tag im Auto die Schuhe ausziehen, falls er dann überhaupt noch fahren kann.

Der Hang hinterm Haus ist in der Dunkelheit nicht mehr zu erkennen. Wenn er nur lang genug sitzen bleibt, sieht er irgendwann die Sterne und den dünnen Sternennebelschleier. Danach wird alles deutlicher und klarer. Auch die Stille nimmt dann immer mehr Raum ein, wenn man das so sagen kann. Breitet sich aus wie Töne, die aus dem Nichts kommen, und drängt die Wärme des Tages, die noch aus den Steinen sickert, in den Hintergrund, genau wie das konstante C-Dur des Windes, den Bass der sich der Küste nähernden Wellen und des pulsierenden Blutes in seinem Körper. Die Stille treibt ihm Tränen in die Augen, als wollte er sich ins nächste Jahr weinen.

Aber genau das liebt er, genau deshalb wohnt er hier draußen, abseits von allem. Hier ist er mit sich allein. Und mit Laurel und Hardy. Und den Sternen, die immer da sind, auch wenn das Licht ihn erst in diesem Augenblick erreicht. Erst sieht er nur einzelne helle Punkte, dann kann er die Sternzeichen erkennen, den Gürtel des Orion, die Galaxien, wie eine Lochkarte aus alten Zeiten mit Nachrichten vom Big Bang.

Siebzehn Jahre und neun Monate.

Er riecht Beatriz’ Parfüm, das noch im Stoff seines Hemdes steckt, wo sie ihn am Nachmittag zum Abschied leicht berührt hat. Sie hat ihm vorgeschlagen, sie am Abend zu begleiten, in seinen Ohren ein halbherziger, nein, viertelherziger Vorschlag.

»Ich hab schon was vor«, hat er – typisch alter Mann – mürrisch erwidert.

»Komm schon«, versuchte sie es erneut.

»Nein, wirklich danke, die Leute sind zu fein für mich.«

Ein berechtigter Einwand, dem sie nicht widersprach. Stattdessen sagte Raúl: »Aber du bist einer der feinsten Menschen, die ich kenne.«

Sie sprachen nicht weiter darüber, aber als sie dann die Sektgläser aus dem Schrank nahmen, gab Erhard Beatriz einen Kuss, wünschte ihr einen guten Rutsch und ging hinaus auf die Straße. Raúl begleitete ihn.

»Buen viaje«, sagte Erhard, als sie unten auf der Straße in der Menschenmenge standen. Silón, der Taschenhändler, wünschte ihnen von der anderen Straßenseite ein Gutes Neues, vermutlich meinte er aber nur Raúl. Erhard lief zu seinem Auto und spürte wie jedes Jahr an Silvester diesen Stich. Wieder ein Jahr, das wie die anderen vergangen war, und wieder eins, das auf sich warten ließ.

»Prost, mein Freund.« Er hebt das gut gefüllte Cognacglas. Das warme Brennen strömt hinunter bis in seinen Bauch. Sein Körper glüht. Weil er an Beatriz denkt? An die dunkle Stelle, den Spalt zwischen ihren Brüsten, der im Ausschnitt ihrer Bluse verschwindet und aus dem ihr Duft aufsteigt? Verdammt. Er versucht, nicht an sie zu denken. Darf seine Zeit nicht auf sie verschwenden. Stattdessen sollte er sich der Tochter der Friseurin zuwenden. Sie …

Da ist etwas.

Er hat sie nie persönlich getroffen, aber gesehen hat er sie ein paarmal, aus der Ferne. Und er kennt das Foto von ihr, das an der Wand im Salon hängt. Er denkt an sie, stellt sich alltägliche Szenen vor, wie sie den Salon betritt und die Glocke über der Tür läutet. Oder wie sie ihm gegenüber am Tisch sitzt, wenn er isst. Wie sie in der Küche steht – in seiner Küche – und kocht. Vor sich dampfende, brodelnde Töpfe. In Wirklichkeit ist sie viel zu jung für ihn, außerdem beschäftigt sie sich mit Dingen, die er nicht versteht. Sie ist nicht mal sein Typ. Und was sollte er schon sagen, um eine junge Frau zu beeindrucken? Wahrscheinlich kocht sie nicht mal gern. Bestimmt telefoniert sie lieber mit ihren Freundinnen, wie alle jungen Frauen. Oder sie isst Thai-Nudeln aus Pappschachteln, während sie am Computer sitzt. Auf dem Foto im Salon ist sie ein Teenager, die Unschuld in Person. Locken umrahmen ihr Gesicht. Sie ist nicht hübsch, aber ihr Gesicht ist unvergesslich. Sie dürfte mittlerweile dreißig sein und ist laut ihrer Mutter klug und liebenswert, aber deren Urteil traut er natürlich nicht. Auf der Straße hat er sie mal an ihren blonden Locken erkannt. Sie schlenderte mit geradem Rücken über die Straße, eine Tasche über der Schulter, wie eine richtige Dame. Als ein Auto kam, lief sie schneller, allerdings nicht elegant, eher unbeholfen. Er weiß nicht, warum er so oft an sie denken muss. Vielleicht macht die Insel ihn verrückt. Das Pfeifen des Windes über jedem Stein und an jeder Häuserecke. Wie der Ton der Einsamkeit, der aus dem Korpus eines Klaviers aufsteigt.

Das ist alles Petras Schuld. Mit ihrer ungesund lauten Stimme paralysiert sie die Kunden im Salon und macht jedes Gespräch und jede Widerrede unmöglich. Petra strahlt Härte aus, für sie ist Liebenswürdigkeit etwas, was man einander abringen muss. Sie redet in einem fort von ihrer Tochter und kratzt mit ihren langen Fingernägeln über Erhards Kopfhaut. Die Tochter habe eine eigene Wohnung bezogen und sich einen Roller gekauft. Sie habe einen neuen Kunden. Sie habe sich von ihrem Lebensgefährten getrennt, dabei wünsche sie – die Mutter – sich so sehr Enkel. Und vor ein paar Monaten sagte sie dann plötzlich: »Wenn meine Tochter doch jemanden wie Sie finden würde!« Das hat sie gesagt und ihn dabei auch noch im Spiegel angesehen. Und schließlich fügte sie hinzu: »Sie ist nicht wie die meisten anderen, aber das sind Sie ja auch nicht.« Über diesen Satz lachten sie beide, Petra mehr als er.

Die Anspielung hat Erhard vollkommen den Boden unter den Füßen weggezogen. Sie kann doch nicht einfach so mit ihrer Tochter vor seiner Nase rumwedeln? Erwartet sie, dass er sie jetzt ausführt? Weiß Petra denn nicht, wie sie ihn in der Stadt nennen oder dass ihm ein Finger fehlt? Außerdem ist da noch der Altersunterschied. Er ist gut dreißig Jahre älter als sie, könnte ihr Vater sein. Aber die Symmetrie hat auch was – wenn Generationen sich mit anderen vermischen. Wie Eschers Bilder von der Hand des Zeichners, die sich selbst zeichnet. Fünf Finger an der einen Hand und fünf an der anderen. Fünf plus fünf.

»Wenn meine Tochter doch jemanden wie Sie finden würde!«, hat sie gesagt. Jemanden wie ihn – nicht ihn, nur jemanden wie ihn.

Soll das etwa heißen, dass es da draußen noch mehr Menschen wie ihn gibt? Kopien seiner selbst, die über fast eine Generation hinweg immer das Gleiche machen, ohne Abweichungen, ohne Fragen zu stellen? Jemanden wie ihn, einen Furz aus dem Gedärm der Erde, heute hier, morgen weg, von dem nichts bleibt als flüchtiger Gestank?

Aus Richtung Stadt ist das Krachen von Feuerwerkskörpern zu hören.

Vielleicht sollte er wirklich bei ihr vorbeifahren und sie ausführen. Jetzt. Es hinter sich bringen. Er weiß ganz genau, dass da der Lumumba aus ihm spricht. So mutig wird er höchstens noch zwei Stunden lang sein, danach kommt wieder die Realität angekrochen. Es ist Viertel nach zehn, vielleicht ist sie essen mit irgendwelchen jungen Männern, die sich mit Computern auskennen. Aber wenn sie allein zu Hause sitzt wie er selbst und sich diese grässliche Fernsehshow ansieht, die sie jedes Jahr bringen? Wo ihre Wohnung ist, hat die Mutter ihm mehr als ein Mal gesagt. Unten im sanierten Haus an der Calle Palangre. Gegenüber vom Spielzeugladen. Was würde schon passieren, wenn er einfach mal vorbeischaute und überprüfte, ob hinter den Scheiben ein Fernseher flimmerte?

Er drückt sich von der Hauswand ab, nimmt die steife Hose von der Leine und schiebt seine Füße hinein. Draußen im Dunkeln stieben die Ziegen auseinander.

2

Er fährt Alejandros Weg hinunter in die Stadt.

Obwohl er mit dem Wagen eigentlich nicht über diesen Weg fahren sollte. Schon zwei Mal hat er die Achsen reparieren lassen müssen, und Anphil, der Mechaniker, hat ihn jedes Mal wieder gewarnt. »Jetzt fahren Sie aber nicht mehr über diesen Acker, über Alejandros Weg! Ihr Auto packt das nicht. Wenn Sie da runterwollen, brauchen Sie einen Montero oder einen neueren Mercedes, die schaffen das. Ihr Wagen nicht.« Aber Erhard will keinen Montero, und einen neuen Mercedes kann er sich nicht leisten, und selbst wenn, wäre er nicht bereit, seinen alten marokkanischen Mercedes mit den gelben Sitzen und der harten Beschleunigung gegen eine dieser neueren Maschinen einzutauschen. Über Alejandros Weg fährt er trotzdem. Vorbei an Olivias altem Haus, in das ein paar Surfer gezogen sind. Auf dem Dach liegen Surfbretter, und an der langen Fahnenstange, die über der Hütte emporragt, hängt ein Paar hellrote Shorts. Zwei junge Männer haben sich dort mit ihren Freunden eingerichtet. Manchmal sitzen sie schon morgens draußen, winken, rauchen Tabak aus großen Pfeifen und lachen sich schier tot. High wie kranke Ziegen, kommen kaum noch aus ihren Sesseln hoch. Jetzt gerade scheint die Hütte leer zu sein, das Licht ist aus, bestimmt sind sie am Strand oder unten in der Stadt.

Er nähert sich der Kurve über dem Meer – eine echte Wahnsinnskurve. Besonders nach drei Lumumbas, wenn man den Schnaps bis in die Fingerspitzen spürt. Der Weg ist voller Schlaglöcher und Steine. Die Karosserie zittert. Trotzdem gibt er Gas, bis der Wagen ausschert. Erhard spürt das Kribbeln und muss lachen – und furzen. Was ihn ärgert, weil er seinen Darm nicht mehr unter Kontrolle hat. Kaum spannt er die Bauchmuskeln auch nur ein bisschen an, geht ihm Luft ab, was gleichermaßen befreiend und unangenehm ist. Der Weg führt jetzt bergab und schlägt einen letzten Haken. Im Scheinwerferlicht sieht er eine Ziege mitten auf dem Weg stehen. Er fährt um sie herum und wirft ihr im Rückspiegel noch einen Blick zu. Sie sieht aus wie Hardy, aber Hardy kann es nicht sein, dafür sind sie viel zu weit vom Haus entfernt. Gleich darauf ist die Ziege auch schon wieder in der Dunkelheit verschwunden.

Er ist derart in Gedanken, dass er das entgegenkommende Auto erst bemerkt, als es auf dem viel zu schmalen Weg an ihm vorbeirauscht. Fast nur ein Geräusch, ein trockenes Whoom. Ein metallischer Schatten neben seinem Wagen. Der Seitenspiegel klappt knallend um.

»Forbandede amatør!«, schimpft er zu seiner eigenen Überraschung auf Dänisch. Das Fluchen in seiner Muttersprache vergisst man wohl nie. Er fährt weiter um die Kurve, der andere Wagen ist nicht mehr zu sehen, die roten Rücklichter sind in der Nacht verschwunden. Es lohnt sich nicht, anzuhalten und den Schaden zu begutachten. Er kurbelt die Scheibe runter und drückt den Spiegel wieder in die richtige Position. Das Glas ist gesplittert – wie ein Baum mit acht haarfeinen herabhängenden Zweigen.

Ein schwarzer Montero. Bestimmt Bill Haji, dieser Lebemann, der oben an der Straße in einer Art Ranch wohnt. Umgeben von Pferden. Es ist bekannt, dass Haji immer über Alejandros Weg rast, als würde das Meer hinter ihm brennen. Erhards Herz sollte eigentlich bis zum Hals schlagen, aber er ist vom Lumumba benebelt und nervös angesichts des bevorstehenden Treffens mit der Tochter der Friseurin.

Er biegt ab und fährt nach Corralejo. Wärme steigt vom Asphalt auf. Überall Autos mit singenden und schunkelnden jungen Leuten. Er rollt über die Avenida runter zum Hafen und parkt an der Calle Palangre.

Er will zu Fuß zur Tochter der Friseurin gehen. An ihre Tür klopfen. Der musternde Blick, mit dem sie ihm die Tür öffnen wird, lässt ihn schon jetzt erröten und betreten zu Boden schauen. Einen guten Abend und ein gutes neues Jahr will er ihr wünschen. Und erzählen, dass er sie gesehen hat – auf dem Foto im Salon. Er stellt sich vor, dass sie ein Sommerkleid trägt, dessen Träger immer von den Schultern rutschen. Ihre Brille stört ihn nicht, er ist nicht anspruchsvoll.

Als er zu dem Spielzeugladen kommt und nach oben schaut, kann er kein Licht sehen, in keinem der Stockwerke. Bestimmt sieht sie fern, trinkt Weißwein und hofft, dass jemand vorbeikommt. Er braucht ebenfalls etwas zu trinken, was Starkes, damit er sich traut, irgendwas zu ihr zu sagen. Es nützt ja nichts, einfach nur dazustehen und keinen Mucks zu machen. Er geht die Straße hoch, biegt in die Vía Ropia ein und betritt das Centro Atlántico, da ist immer jemand, Touristen, Leute, die er nicht kennt. Im Flicks tritt er an die Bar, bestellt sich einen Rusty Nail und gibt den beiden Männern in der Ecke eine Runde aus. Olivenbauern auf Brautschau, sie sind das Stadtleben nicht gewohnt, wirken betreten und verschüchtert und machen sich fast unsichtbar.

3

Noch achtzehn Minuten. An der Rückwand der Bar flimmern Bilder über den Fernseher: vom Times Square, vom Feuerwerk über dem Hafen von Sydney, von den langen Big-Ben-Zeigern, die langsam auf die Zwölf vorrücken. »Alle bereit für das neue Jahr?«, ruft der Barkeeper. Das klingt so vielversprechend, so einfach. Als könnte man alles Alte zurücklassen und ohne jeden Ballast noch mal von vorn anfangen. Mit etwas Neuem. Aber das Neue hat für ihn keine Bedeutung mehr. Das Neue betrifft ihn nicht. Er braucht nichts Neues, will nichts Neues. Es würde ihm schon reichen, wenn das Alte anständig weiterginge. Siebzehn Minuten. Noch würde er es schaffen, bei ihr zu klingeln und ihr ein frohes neues Jahr zu wünschen. Vielleicht trägt sie ein Negligé oder wie man diese Dinger nennt. Vielleicht hat sie darin eine Folge 7 Vidas geguckt und dabei ein Glas Weißwein getrunken. Mit nassen Haaren, weil sie zuvor ein kühles Bad genommen hat.

Die Menschen strömen raus auf die Straße und schubsen ihn im Vorbeigehen fast von seinem Stuhl. Er bezahlt mit einem Schein und weiß jetzt wieder, warum er so ungern in Touristenkneipen geht. Mehr als zwanzig Euro für einen Whisky und einen Drambuie. Er geht mit den anderen nach draußen und läuft erneut in Richtung Calle Palangre. Überquert die Straße und betritt den Hausflur. Das Gebäude stammt noch aus der Franco-Zeit, die Treppe ist schmucklos kobaltblau. Er überfliegt die Namen an den drei Türen im Erdgeschoss. Von irgendwoher ist laute Musik zu hören. Aber nirgends eine Luisa, nicht einmal ein L.

Er geht weiter. Im grellen Licht des Treppenhauses knutscht ein Paar. Sie halten beschämt inne, als sie ihn sehen, und verschwinden nach unten.

Erneut wirft er einen Blick auf die Namensschilder. Als er wieder zu Atem gekommen ist, geht er weiter. Drei Etagen mit je drei Türen macht neun Türen.

Im zweiten Stock wohnt ein Federico Javier Panôs und ein Sobrino. Und dazwischen Luisa Muelas. Ihr Türschild ist groß und goldbeschlagen, die Schrift verschnörkelt. Bestimmt ein Geschenk von Petra und ihrem Mann. Hier ist es üblich, seinen Kindern beim Auszug so etwas zu schenken, zumindest wenn man erst mit dreißig dass Haus der Eltern verlässt.

Hier oben ist es still. Er legt ein Ohr an Luisa Muelas’ Tür und wünscht sich fast, dass sie nicht zu Hause wäre. Doch dann hört er leise Geräusche, Klappern, Knarren, Gemurmel. Vielleicht nur der Fernseher.

Er richtet sich auf und klopft mit der unversehrten Hand – der rechten – auf das Holz über dem Türspion. Es ist vier Minuten vor zwölf. Vielleicht geht sein Klopfen ja im vormitternächtlichen Trubel unter.

Plötzlich sieht er ein Gesicht im Türschild.

Ein zerfallendes Gesicht – flehend, verwirrt, mit zwei runzligen Augen. Alte Haut, ein müder Bart. Ein verzweifeltes Gesicht. Er sieht Liebe und Trauer in dem Gesicht, unbeantwortete Fragen aus vielen Jahrzehnten, Alkohol. Er sieht den zynischen Beobachter, der urteilt und richtet. Ein zerrissenes Gesicht, schwer zu lesen, schwer zu ertragen, schwer zu lieben. Das Schlimmste aber ist, dass es sein Gesicht ist, das er sonst nur aus dem Rückspiegel im Wagen kennt, aus den Spiegeln über den kaputten Waschbecken öffentlicher Toiletten, aus Schaufensterscheiben. Eigentlich kann man diesem Gesicht nur eine einzige Frage stellen: Was hast du noch zu bieten?

Es gibt kaum etwas Beängstigenderes als so einen Moment. Diese Begegnung. Der Augenblick, in dem man sich nach vorn beugt und sagt: Ich will dich. Ein Augenblick, in dem der Zufall aufhört, man sich der Welt um sich herum ausliefert und einen anderen bittet, Stellung zu beziehen. Der Augenblick, in dem zwei Seifenblasen sich vereinen. Es ist nicht der Moment des ersten Kusses oder wenn man Sex hat, nicht mal, wenn man einander liebt. Es geschieht in der einen entscheidenden Sekunde, in der man sich von einem schier wahnhaften Glauben hinreißen lässt, einem anderen Menschen durch seine Anwesenheit irgendwas geben zu können.

Er hört Geräusche hinter der Tür. Füße in Strümpfen. »Ich komme«, sagt eine dünne Stimme. Zwei Minuten vor zwölf.

Er kann nicht, er kann einfach nicht. Er legt die Hand ans Treppengeländer und stürmt nach unten. Schnell, schneller. Oben geht die Tür auf. »Hallo?«, fragt eine Stimme. Vorbei an den Türen mit der lauten Musik und raus auf die Straße. Wie eine Ratte rennt er an der Mauer entlang, bevor er über die Straße zu seinem Auto eilt. Die Calle Palangre ist inzwischen voller Menschen, neben seinem Wagen steht eine Gruppe rauchender Männer, ein paar Frauen mit Champagnergläsern in den Händen sitzen rittlings auf ihren Rollern.

Aus einem Fenster über ihm ruft jemand etwas nach unten. Er schiebt sich auf den Sitz und fährt aus der Parklücke, folgt der Einbahnstraße durch die Menschenmenge. Eine Gruppe winkt, will mitfahren, aber er will nicht. Ihre Hände auf den Scheiben sind ihm ebenso egal wie ihre flehenden Blicke. »Frohes Neues, du Arsch«, schreit ein Mädchen mit einem silberverzierten Hut hinter ihm her.

Er lässt die Lichter der Stadt hinter sich und verschwindet in der Dunkelheit. Die graue Teerstraße geht in einen bleichen Schotterweg über. Er tritt das knirschende Gaspedal des alten Mercedes ganz hinunter, und Schotter spritzt gegen den Unterboden.

Plötzlich ist das Bild der Tochter der Friseurin wieder da, wie sie die Tür aufmacht, höhnisch, in Strümpfen, mit ungekämmten Haaren und einem Glas Whiskylikör in der Hand. Die Fantasie eines liederlichen Manns, eine der Begleiterscheinungen des Alters, die er verabscheut. Die Verwandlung jugendlicher Körperlichkeit ohne Geist zu reinem Geist ohne Körperlichkeit. Bis zu dem Punkt, da die besten Augenblicke nur noch aus Gedanken bestehen, aus Vorstellungen von der Zukunft, Erinnerungen an früher. Fast achtzehn Jahre lang versucht er jetzt schon, sich die Nähe einer Frau vorzustellen. Auch als er noch mit Annette zusammen war, hat er sich diese Nähe vorgestellt. Damals war sie etwas konkreter, die Nähe, die er sich zu anderen Frauen als ihr vorgestellt hat, bis er irgendwann nicht mehr in ihrer Nähe war.

Er geht vom Gas und tritt auf die Bremse. Vor ihm im Lichtkegel der Scheinwerfer liegt auf der schmalen Straße etwas Großes, Schwarzes.

DER KLEINE FINGER

1. Januar – 13. Januar

4

Im ersten Augenblick hält er den schwarzen Haufen mitten auf dem Weg für einen abgestürzten Satelliten, aber dann sieht er, dass es sich um ein auf dem Dach liegendes Auto handelt.

Ein Drecks-Montero, schwarz, wie der von Bill Haji.

Es ist Bill Hajis Montero.

Vielleicht vier-, fünfhundert Meter hinter der Stelle, an der sie aneinander vorbeigerast sind. Wie lange liegt das jetzt zurück? Eine Stunde? Er hat jedes Zeitgefühl verloren. Die Drinks sind ihm wohl doch stärker aufs Hirn geschlagen als gedacht.

Er will gerade seine Funkanlage einschalten und eine Meldung absetzen, als er Klopfgeräusche hört, die wie Morsezeichen klingen. Er steigt aus. Ruft Bill Hajis Namen, als wären sie alte Bekannte. Bill Haji. Dabei kennen sie einander kaum. Jeder kennt Bill Haji. Diese schillernde, unangenehme Persönlichkeit. Rastlos, immer auf dem Weg irgendwoher oder irgendwohin. Erhard hat ihn schon ein paarmal gefahren. Das erste Mal ins Krankenhaus. Danach zweimal vom Flughafen zu Hajis Ranch, die nur wenige Kilometer entfernt liegt. Haji war beide Male aus Madrid gekommen, mit vier, fünf Koffern und in Begleitung eines erschöpft wirkenden jungen Mannes. Die Koffer waren bei beiden Gelegenheiten dieselben, nicht so der junge Mann. Erhard waren die Gerüchte egal – oder wie Haji sein Leben lebte. In derlei Dinge mischt er sich nicht ein. Solange die Jungs volljährig und freiwillig da sind.

»Bill Haji«, ruft er noch einmal.

Das Auto hat auf allen Seiten Dellen. Vermutlich hat es sich mehrmals überschlagen. Drecks-Montero, japanische Pappe, nichts weiter. Eine lange Spur Glassplitter zeigt an, wie weit der Wagen über den Weg geschlittert ist. Er ruft noch einmal, während er um den Wagen herumgeht und durch das Loch schaut, das mal die Windschutzscheibe oder vielmehr die Seitenscheibe gewesen ist. Es ist niemand drinnen. Weder Bill noch einer seiner Jungs. Erhard atmet erleichtert auf. Obwohl Bill Haji ihm egal ist, hat er schon befürchtet, ihn zerquetscht wie eine vollgesaugte Zecke hinterm Lenkrad vorzufinden. Aber das Wageninnere ist leer, die Tür – oder eine der Türen – hängt in den Angeln. Vielleicht ist er losgelaufen, um Hilfe zu holen. Oder seine Schwester hat ihn abgeholt, die ist eigentlich immer in seiner Nähe, wenn man ihn in der Stadt oder im La Marquesina sieht. Er beugt sich vor und legt die Hand aufs Blech. Es ist noch warm.

Für einen kurzen Augenblick verschwindet die Dunkelheit, und Autowrack und Himmel erstrahlen in Grün, Zyan und Magenta.

5

Über ihm kracht es laut. Erhard blickt auf. Es folgt eine rasche Serie weiterer Donnerschläge, dann bunter Funkenregen. Im ersten Augenblick hält er es für Leuchtraketen eines Schiffes. Dann fällt ihm wieder ein, dass Silvester ist. Als seine Augen sich wieder an die Dunkelheit gewöhnt haben, nimmt er direkt vor sich eine Bewegung wahr.

Vor dem, was mal der Auspuff des Wagens gewesen ist, sitzt ein Hund.

Sitzen zwei Hunde.

Sie sehen ihn an wie zwei harmlose Kläffer, aber es sind Straßenhunde. Keiner weiß, woher sie kommen. Vielleicht aus dem elf Kilometer entfernten Corralejo. Im Mondlicht, im Widerschein des Feuerwerks, wirken sie richtiggehend hübsch. Bei Tageslicht aber sieht man, wie abgemagert und räudig sie sind. Eine echte Plage für die Schaf- und Ziegenbesitzer. Die jungen Männer machen sich inzwischen einen Spaß daraus, von den Ladeflächen ihrer Pick-ups auf sie zu schießen. Trotzdem vermehren sich die Köter wie Karnickel. Erhard schätzt, dass sich in der Dunkelheit um ihn herum noch mehr Tiere befinden, wahrscheinlich lauert dort ein gutes Dutzend. Vielleicht hat Bill Haji ja einen von ihnen erwischt und sich deshalb überschlagen. Einer der Hunde sabbert. Erhards Blick wandert an den Vorderbeinen entlang nach unten.

Der größte Teil des Gesichts ist weg, trotzdem erkennt er Bill Hajis Überreste. Da ist nichts mehr zu retten. Es ist nur zu hoffen, dass er bereits tot war, als die Hunde sich über ihn hergemacht haben. Seine markanten rötlichen Koteletten sehen aus wie abgezogenes Fuchsfell.

Und dann sieht er noch etwas.

6

Hinter dem linken Vorderrad leuchtet im Licht einer am Himmel explodierenden Rakete etwas auf. Warmer Bernsteinschimmer, zwischen Kupfer und Gold. Ein Brillenbügel oder ein abgerissenes Kabel. Dann erkennt er einen Fingernagel und den breiten, sich ins Fleisch schneidenden Ring.

Bill Hajis Verlobungsring an Bill Hajis Ringfinger. 10 minus 1.

Er will nicht noch mal um den Wagen herumgehen, also schiebt er seinen Arm darunter. Die zwei Hunde sehen von ihrer Mahlzeit auf, der eine fletscht die Zähne und zieht sprungbereit die Vorderläufe unter den Oberkörper. Vielleicht kann Erhard es noch schaffen, sich den Finger zu schnappen, ohne dass sich eins der Biester in seinen Arm verbeißt, vielleicht aber auch nicht.

Ganz langsam weicht er zurück und schaltet die Scheinwerfer seines Wagens ein. Er blendet ein paarmal auf und wieder ab, bis die Hunde aufstehen und ihn ins Visier nehmen. Dann legt er die Hand auf die Hupe und stemmt sich mit seinem ganzen Körpergewicht dagegen. Das Auto stößt ein paar heisere Töne aus, die eigentlich nicht zu einem Mercedes passen. Er hält die Hupe so lange gedrückt, bis die zwei Hunde sich wie zwei Junkies in die Dunkelheit verziehen.

Im Schein des Fernlichts rennt er zurück zu dem Montero. Sofern man es rennen nennen kann. Es ist Monate, wenn nicht Jahre her, seit er das letzte Mal gerannt ist, sodass ihm die wenigen Meter unendlich weit vorkommen. Vermutlich beobachten die Hunde ihn aus dem Dunkeln heraus und stürzen sich gleich auf ihn. Außerdem rechnet er jeden Augenblick damit, dass seine Beine ihm den Dienst verweigern und nicht weiter tragen wollen. Erhard beugt sich über die Front des umgekippten Montero, bis zum Ring fehlt aber noch ein guter halber Meter.

Er schiebt sich weiter und hängt schließlich genau über dem, was von Bill Hajis Kopf und Gesicht noch übrig ist, starrt in die bloßliegenden, aber verloschenen Augen inmitten des rotblauen Fleischklumpens.

Finde den Jungen.

Der Satz dringt so klar und deutlich durch den Lärm des Feuerwerks, dass Erhard einen Augenblick lang glaubt, das Radio im Wagen liefe noch. Oder einer der Hunde hätte zu ihm gesprochen – was weiß denn er. Er schaut in Bill Hajis Gesicht und könnte schwören, dass der Satz von dort gekommen ist, von dem schwarzen, sich langsam versteifenden Punkt im Auge. Die Stimme hat er schon einmal gehört, sie kommt ihm bekannt vor. Vielleicht war es die von Bill Haji. Oder er hat den Satz, aus welchen Gründen auch immer, selbst laut vor sich hin gesagt. Erhard erinnert sich schon nicht mehr an den Wortlaut, nur noch an den flehenden Unterton.

Dann fällt sein Blick wieder auf den Finger. Er zieht sich an einer vorstehenden Kante hoch. Das Blech ist immer noch warm, wie eine sonnenwarme Klippe. Das Feuerwerk verebbt, über der Küste wird noch ein letzter Salut abgeschossen und verglüht in einem grünsilbern glitzernden Netz. Dann wird es still. Bis auf das leise Knistern des Motors und das aggressive Kläffen der Hunde, das in supersonisches Gewinsel übergeht, ein Geräusch wie kurz vorm Angriff. Neben dem Auto raschelt und scharrt es. Erhard schiebt sich weiter vor, streckt die Hand aus und greift nach dem Finger. Er ist kalt. Rau. Ein Wunder.

9 plus 1, denkt er.

7

Er läuft zurück zu seinem Wagen, schiebt sich auf den Fahrersitz und knallt die Tür zu. Sowie er den Montero gesehen hatte, war er schlagartig nüchtern, wenn auch mit einem mächtigen Kater. Genauso schlagartig ist der Rausch jetzt wieder da. Nicht nur das Karussell in seinem Innern, sondern auch eine bizarre, aufgekratzte Freude.

Sein Gehirn betreibt eine Art Kurzschlussmathematik. Seine eigenen neun Finger plus Bill Hajis Finger machen zusammen zehn. Die Gleichung löst ein freudiges Kribbeln in seinem Bauch aus, das bis in seinen Schwanz reicht, als würde dieser neue zehnte Finger seine Libido befeuern. Er weiß, dass das Unsinn ist, Einbildung, trotzdem löst die Summe der Finger ein Gefühl in ihm aus, das er ewig nicht mehr verspürt hat. So wie die Trennung von seinem eigenen zehnten Finger vor fast achtzehn Jahren ein Akt des Abstoßens gewesen ist, eine bewusste Subtraktion, bringt dieser Finger das damals verlorene Gleichgewicht wieder zurück.

Er wirft die Socken in die Dunkelheit und legt sich mit schwirrendem Kopf ins Bett. Der Generator ist ausgegangen, weil Erhard vergessen hat, nach ihm zu sehen, bevor er gefahren ist. Morgen will er sich das Ganze anschauen. Es ist still, aber wenn der Wind die Richtung wechselt, glaubt er, das Knurren der Hunde zu hören.

Wenn sie ihn auffressen, ist nichts mehr da, was man begraben kann, und wenn es nichts zu begraben gibt, ist er nicht tot. Bill Hajis Schwester, ein hartleibiges Weib, fast ein Kerl, kann sich dann nur von einem leeren Sarg verabschieden.

Der Finger von Bill Hajis Hand, die Erhard einmal von der Hauptstraße gewinkt hat. Irgendeine Freundin war krank, und Bill Haji hat ihn während der Fahrt genervt. Am deutlichsten erinnert Erhard sich noch an den Duft von Wassermelone und an das aufgerollte Bündel aus Fünfhundert-Euro-Scheinen, mit denen Bill Haji bezahlen wollte. Erhard musste in einen Laden gehen und den Schein wechseln lassen. Der Finger. Bill Hajis Hand. Bill Hajis Koteletten. Das Irischste an dem Mann.

Er tastet im Dunkeln nach dem Telefon. »Da ist ein Unfall passiert. Beeilt euch«, fügt er noch hinzu. Als würde er eine Nachricht auf einem Anrufbeantworter hinterlassen. Er nennt ihnen die Adresse, verstellt die Stimme, versucht spanischer zu klingen. »Los perros se lo han comido.« Die Hunde haben ihn gefressen. Der Mann am anderen Ende der Verbindung versteht ihn nicht richtig.

»Ihr Name? Mit wem spreche ich überhaupt?«

Es ist lang still. Erhard will eigentlich auflegen, findet aber in der Dunkelheit die Gabel nicht. Er folgt dem geringelten Kabel bis zum Gerät.

»Hallo?«

Erhard legt auf. Schockierende Stille breitet sich aus. Nur der über die Steine fegende Wind ist wieder zu hören. Das neue Jahr hat auf den Inseln Einzug gehalten. Der Finger liegt unter seinem Kopfkissen wie ein Glücksbringer.

8

Am Dienstagmorgen steht er früh auf und fährt eine Runde, ehe er sich in der Zentrale meldet und die ersten Kunden annimmt. Seine erste Tour führt grundsätzlich runter in die Fischersiedlung Alapaqa, wo die Möwen kreischen und der beste Kaffee der Insel serviert wird. Aristide und seine Frau Miza rösten ihn selbst und mahlen ihn in einer alten arabischen Mühle, die einen ganzen Arbeitstisch belegt. Der Kaffee ist fast lila und süß, der beste der Insel, wenn Erhard auch nicht behaupten kann, alle auf der Insel gerösteten Kaffees schon mal probiert zu haben.

»Gut siehst du aus, Erhard«, sagt Miza. Erhard begrüßt ihre Cousine, die gerade barfuß das Café betritt. Sie wohnt vorübergehend bei Miza. Ein Biker-Girl mit Revolverschnauze. Was sie sagt, gefällt ihm weniger, dafür fasziniert ihn ihr Haar umso mehr, besonders wenn sie ihm den Rücken zukehrt. Das Haar ist dunkel und lang, bis zum Po. Während Erhard seinen Kaffee trinkt, erzählt die Cousine von einem Bodybuilder namens Stefano. Kein sehr sympathischer Typ, wenn sie Erhard nach seiner Meinung fragen würde, was sie natürlich nicht tut. Sie fragt grundsätzlich nicht. Sie spricht vom Erbsenhirn des Bodybuilders, der einen Fernseher zertrümmert und in einer Bar in Puerto zu viel Geld für ein paar blöde Tussis ausgegeben hat. Miza putzt das Café und wirft Erhard einen vielsagenden Blick zu.

Erhard darf Mizas Bad benutzen – ursprünglich ein kleiner Schuppen, den die Fischer zum Ausnehmen und Trocknen großer Fische genutzt haben, der inzwischen aber zur öffentlichen Dusche für Surfer, Fischer und einen Taxifahrer ohne eigenes Bad umgebaut worden ist. Erhard ist immer froh, wenn dort gerade kein Fisch zum Trocknen hängt. Heute baumelt dort ein großer Schwertfisch von einem riesigen Haken.

9

Er fährt knapp hundertzwanzig Euro ein. Kaum hat er den einen Kunden abgesetzt, kommt auch schon der nächste. Er traut sich nicht, den Finger rauszunehmen, der in seiner Tasche steckt. Er hat versucht, den Ring abzuziehen, der ihn nicht interessiert, aber der sitzt bombenfest. Bill Haji war nicht fett, aber entweder war sein Ringfinger geschwollen oder mit den Jahren so fleischig geworden, dass der Ring quasi eingewachsen ist. Wenn der Finger erst mal ein bisschen trockener ist und schrumpft, wird der Ring sich vielleicht lösen. Hauptsache, der Finger bricht nicht durch oder zerbröselt wie trockenes Leder.

Nach der Siesta fährt er runter nach Villaverde. Er parkt den Wagen in einer stillen Gasse hinter dem weißen Palast der Aritzas. Jedes Jahr kurz nach Silvester bekommen die Aritzas Besuch vom Festland. Dann muss die kleine Nichte Ainhoa Gershwin spielen, immer das Konzert in F.

Er kommt eine halbe Stunde früher, um noch den Flügel zu stimmen. Unterdessen trinken die Frauen auf der Veranda Champagner, und die Männer werfen kundige Blicke in den Steinway und fachsimpeln. Nicht mit Erhard, sondern miteinander. André Aritza ist ein freundlicher Mann Ende vierzig mit einer dicken Brille. Seit Erhard ihm gegenüber erwähnt hat, dass er von Computern keine Ahnung hat und sich auch nicht dafür interessiert, ist André Aritza merkwürdig distanziert. Vielleicht verständlich, immerhin hat Aritza ein Vermögen mit Schiffscomputern und Navigationsinstrumenten gemacht. Er ist einer der neureichen Inselbewohner, die wie Pilze aus dem Boden schießen. Verschrobene Männer ohne Rückgrat, mit Vorzeigefrauen, die sich um Haushalt und Kinder kümmern.

Heute stehen drei schielende Erfindertypen um den Flügel, kommentieren die hoch- und runterhüpfenden Hämmer und reden über Erhard, den Klavierstimmer, als säße er nicht direkt daneben. Der Schwager erzählt etwas von einer App, mithilfe derer man Klaviere stimmen kann. »Clever, clever«, sagt der Schwager. »Wie viel kostet dich der Klavierstimmer?«

»Viel zu viel für viel zu wenig.«

»Dann lad dir doch die App runter«, sagt der Schwager, »die kostet neunundsiebzig Cent.«

Die Männer lachen.

»Dann ist der arme Mann ja bald arbeitslos«, sagt der jüngste Erfinder.

Erhard steckt mit dem Kopf im Flügelkasten und werkelt mit dem Stimmschlüssel herum. So etwas erlebt er oft, auch beim Taxifahren.

Er spürt den Finger in der Tasche. Nein, er spürt ihn nicht, er ist sich nur bewusst, dass er dort steckt. Er hätte nicht übel Lust, die Saiten aus dem verfluchten Flügel rauszureißen. Oder mit André Aritzas zwischen die Saiten geklemmtem Kopf Etüden zu spielen. Zugleich macht der Finger ihn aber auch ruhig und entspannt. Wozu seine Möglichkeiten verspielen.

Reina Aritza versucht, die Gäste in das riesige Esszimmer hinter eine geschlossene Doppelschiebetür zu beordern. Im ganzen Haus riecht es nach verkochtem Hummer. Erhard lässt sich Zeit, während die Gesellschaft vor den Fenstern mit Blick über die Bucht zusammenkommt und Champagner trinkt. Er geht runter in die Küche und wäscht sich die schwarzen Finger, ehe er durch die Eingangshalle und den Haupteingang nach draußen geht. Als die Tür hinter ihm ins Schloss fallen will, denkt er gerade noch rechtzeitig an das Kuvert mit dem Honorar. Die hundert Euro liegen oben auf dem kleinen Sideboard. Er ist nicht darauf angewiesen; wenn er den Umschlag jetzt dort liegen ließe, könnte er André Aritza damit signalisieren, dass er den Flügel nicht wegen des Geldes stimmt und dass er sich für so ein Kleingeld keine blöden Kommentare anhören muss. Andererseits würde Aritza doch nur denken, dass Erhard sein sauer verdientes Geld vergessen hätte. Er hätte direkt den Mund aufmachen sollen, als sie über ihn gelästert haben. Er will ihnen nicht noch mehr Grund geben, sich über ihn lustig zu machen, das gönnt er ihnen nicht, verdammt noch mal.

Er geht wieder nach oben, vorbei an dem gigantischen Esszimmer, aus dem Reina Aritzas Stimme zu hören ist, die die Gäste an den Tisch dirigiert und Männer und Frauen platziert. Sie ruft nach André, bekommt aber keine Antwort. Erhard nimmt das Kuvert vom Sideboard und wirft einen kurzen Blick durch den Türspalt. Die Nichte lehnt am Flügel und schaut aus dem Fenster. André Aritza steht direkt hinter ihr, etwas zu sehr auf Tuchfühlung. Sein Mund ist zu dicht an ihrem Ohr, und seine Hand streicht über ihren Schenkel nach oben und bleibt auf der langen silberfarbenen Bluse liegen. Es scheint ihr nicht zu gefallen, aber sie wirkt auch nicht sonderlich überrascht und lässt es über sich ergehen. Der einzig mildernde Umstand ist, dass sie nicht seine leibliche Nichte ist, sondern die Tochter eines guten Freunds. Sie ist kein Kind mehr, eher eine junge Frau, siebzehn, vielleicht achtzehn Jahre alt. Für einen Mann wie Erhard, der sich weder mit Sex noch mit der Verführung von Frauen auskennt, sieht die Annäherung nicht gerade sexy oder verführerisch aus.

Hinter sich hört er Reina Aritza.

»Señor Jorgenson, danke schön und ein gutes neues Jahr«, sagt sie, als sie ihn mit dem Kuvert in der Hand sieht.

Erhard dreht sich hastig um und stößt die Tür zum Wohnzimmer auf, wo André Aritza eilig die Hand zurückzieht. Steif wie ein Kammerdiener steht er da und wirft Erhard einen vernichtenden Blick zu. Die Nichte wirkt noch immer gänzlich ungerührt. Vielleicht hat er sie ja mit Champagner abgefüllt oder ihr etwas gesagt, was sie noch immer beschäftigt.

»Ihre reizende Gattin sucht Sie«, sagt Erhard laut.

»Ja, danke«, sagt André Aritza und wendet verärgert den Blick ab.

»Der Hummer wird kalt«, ruft Reina in den Raum hinein. »Und denk an die Champagnergläser.«

»Ihnen und Ihrer Nichte ebenfalls ein gutes neues Jahr«, sagt Erhard zu André Aritza, dreht sich um und geht. Obwohl er solche Dinge immer wieder erlebt, fragt er sich jetzt, ob er gerade zum letzten Mal in diesem Haus war. Er wäre nicht überrascht, wenn André Aritza nach diesem Zwischenfall ihm gegenüber umso distanzierter wäre. Er hat nicht viele Stimmaufträge. Er sollte die wenigen Kunden, die er hat, nicht verprellen. Aber er muss sich ja noch nicht entscheiden. Diese Leute wird er im Zweifel erst in einem Jahr wiedersehen.

10

Ein Mann steht draußen vor der Tür. Erhard betrachtet ihn durch das kleine Fenster, zählt bis dreißig, vielleicht geht er ja wieder. Der Mann – ein gewisser Francisco Bernal – reibt sich die Lider unter der Sonnenbrille, als wäre er müde oder hätte etwas ins Auge bekommen. Einunddreißig, zweiunddreißig, dreiunddreißig. Doch der Mann bleibt und starrt bloß die Tür an, als könnte sie jeden Augenblick von allein aufspringen. Ein hübscher junger Mann Ende dreißig. Er hat Kinder und eine Frau, die in einem der Hotels arbeitet.

Erhard macht die Tür auf, und der Polizist sieht ihm direkt ins Gesicht.

»Ermitaño«, sagt er zur Begrüßung.

»Kommissar.«

»Ich bin kein Kommissar.«

»Und ich kein Eremit.«

Bernal lächelt. »Okay, Jorgenson. Wie geht es Ihnen?«

»Gut, und Ihnen? Den Kindern?«

»Der Jüngste hat gerade die Masern gehabt.«

Erhard nickt. Er kennt den Vizepolizeikommissar schon seit Jahren. »Ihr Kollege hat gestern Nachmittag angerufen.«

»Wir hätten es ja vorgezogen, Sie wären aufs Präsidium gekommen.«

»Ich war gestern verhindert.«

»Dann kommen Sie jetzt mit.«

»Nee, jetzt sind Sie ja hier. Außerdem verstehe ich nicht, was Sie noch wissen wollen. Ich hab Ihnen doch alles gesagt, mehr weiß ich nicht.«

Der Polizist nimmt die Sonnenbrille ab. Er sieht müde aus. »Ich kann Sie mitnehmen und wieder zurückbringen.«

»Klingt nett, trotzdem danke.«

Bernal wirft einen Blick auf den Wagen. »Was ist mit dem Seitenspiegel passiert?«

»So was passiert, wenn man Taxi fährt.«

»Jorgenson, ich soll Sie abholen. Machen Sie es mir nicht so schwer.«

»Nennen Sie mich Señor Gegendieregeln.«

Bernal lächelt. Ein ehrliches Lächeln. Genau deshalb mag Erhard ihn.

»Warum haben Sie am Telefon nicht Ihren Namen genannt?«

»Die Verbindung war schlecht«, sagt Erhard. »Sie wissen, wie das hier draußen sein kann.«

»Soweit ich weiß, ist es deutlich besser geworden, seit die neuen Kabel verlegt worden sind.«

»Ach ja?«

»Warum haben Sie nicht noch mal angerufen?«, fährt Bernal fort.

»Es war die Silvesternacht, und ich war müde.«

»Waren Sie auch müde, als Sie die Leiche gefunden haben?«

»Ja.« Erhard muss wieder an die Worte denken, die aus Bill Hajis Augen kamen, an die er sich aber nicht mehr erinnern kann. Solche Informationen fördern nicht eben die eigene Glaubwürdigkeit.

»Wann waren Sie zuletzt beim Arzt?«

»Ach, hören Sie auf«, sagt Erhard und holt seinen Führerschein heraus. Ein Taxifahrer muss ihn immer dabeihaben, er hat ihn aber noch nie jemand anderem als Bernal gezeigt, der ihn Mal ums Mal kontrolliert.

Er wirft einen Blick aufs Datum. Oktober 2011.

»Keine Probleme mit der Nachtsicht?«

»Natürlich nicht.«

»So was soll vorkommen. In Ihrem Alter.«

»Das ist doch Schikane. Es gibt hier zwei Taxifahrer, die noch älter sind als ich.«

»Das stimmt nicht ganz. Alberto Ramírez ist achtundsechzig, Luis Hernaldo Espósito sechsundsechzig.«

»Schau an, junge Männer also. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass ich ein guter Fahrer bin.«

»Das weiß ich, aber für Ihren Starrsinn sollte ich Sie eigentlich festnehmen.« Sein Blick wird schlagartig ernst. »Ermitaño, ich muss Sie etwas fragen.«

Er wird diesen Namen einfach nicht los. Vor ein paar Jahren hat ihn das noch so wütend gemacht, dass er alles Mögliche unternahm, damit die Leute ihn Jorgenson nannten. Genützt hat es nichts. Es gibt nichts Langlebigeres als einen missverstandenen Spitznamen.

»Schießen Sie los«, sagt er.

»Es gibt da was … über Bill Haji … was wir gern wissen würden.« Bernal sieht sich um.

»Keine Angst. Außer uns ist niemand hier. Außer uns und den Ziegen.«

»Ich hab Pérez-Lúñigo gebeten, im Auto zu warten.«

Erst jetzt bemerkt Erhard den dunklen Schatten im Streifenwagen. Lorenzo Pérez-Lúñigo ist Arzt, ein mittelmäßiger zwar, aber der einzige Rechtsmediziner auf der Insel. Kein bisschen engagiert, aber ein arroganter Teufel und geradezu verliebt in Leichen. Eine ätzende Persönlichkeit, Erhard wollte ihn vor ein paar Jahren wegen Leichenschändung anzeigen, aber Bernal konnte ihn überreden, von der Anzeige abzusehen.

»Was auf einer Taxifahrt passiert, bleibt für immer ein Geheimnis des Fahrers, heißt es.«

Bernal lächelt. »Können wir reingehen?«

Erhard führt ihn ins Wohnzimmer, das gleichzeitig auch die Küche ist. Er lehnt sich an den Küchentisch und gibt Bernal mit einer Geste zu verstehen, dass er das gern auch tun darf.

»Sie haben noch immer kein fließend Wasser?«, fragt der Polizist und mustert die leere Cognacflasche auf dem Tisch.

»Wasser ist für Schildkröten«, sagt Erhard.

»Na ja, Sie leben ja auch wie eine Schildkröte, ich mache mir Sorgen um Sie.«

»Lassen Sie’s. Ich hab schon Schlimmeres überlebt.«

Bernal zuckt mit den Schultern. »Sie haben am Telefon gesagt, die Hunde hätten ihm ins Gesicht gebissen?«

»Ich hab gesagt, sie würden sein Gesicht fressen.«

»Und dass sie oben auf dem Wagen gehockt und sich über ihn hergemacht hätten.«

»Ja, so sah es für mich aus.«

»Sind Sie sich wirklich sicher, dass es das Gesicht war?«

»Ich hab seine Koteletten gesehen, Haare. Und seine Augen.«

»Waren Sie vielleicht übermüdet?«

»Ich weiß, was ich gesehen habe.«

»War es vielleicht der Rücken?«

»Wenn er hinten Augen hatte …«

Der Kommissar lächelt erneut. »Wir können seinen Ring nicht finden. Der ist außergewöhnlich, wenn auch ohne großen materiellen Wert.«

»Wer weiß, was diese Tiere sonst noch gefressen haben.«

»Wir haben in der Gegend alles abgeschossen, was vier Beine hat. Sogar ein paar Hunde, die gar nicht wild waren. Lorenzo hatte die Arme bis zu den Ellenbogen in den Hundedärmen. Nichts. Kein Ring.«

»Dann war er ja in seinem Element. Vielleicht haben die Viecher den Ring ja nicht runtergekriegt. Möglicherweise liegt der jetzt irgendwo, wer weiß, wo die sich rumtreiben.«

»Wir hätten ihn gefunden. Haben die ganze Gegend abgesucht. Das Problem ist, dass alles, was in diesen Hunden war, nach drei bis vier Stunden so aufgelöst ist, dass man es nicht mehr erkennen kann. Den Ring hätten wir trotzdem finden müssen. Und wenn das Gesicht wirklich das Letzte war, was diese Hunde gefressen haben, hätten wir auch das finden müssen.«

»Wann waren Sie dort?«

»So schnell wie möglich.« Der Polizist blickt zu Boden. Das Laminat ist an manchen Stellen gerissen und mit Klebeband geflickt. »Wir gehen von einem Unfall ohne Fremdeinwirkung aus.« Ohne Fremdeinwirkung. Er murmelt es gleich mehrmals vor sich hin.

Erhard will nicht, dass der Polizist ihm die Erleichterung ansieht. Er dreht sich um und räumt willkürlich ein paar Gegenstände auf der Anrichte um.

»Wie lang hat es gedauert?«

»Der Mann war ja schon tot. Außerdem war es in der Silvesternacht, wie Sie ja schon gesagt haben.«

»Wo liegt dann das Problem?«

»Die Familie sitzt uns im Nacken. Liebe macht ungerecht. Sie wollen irgendetwas in den Sarg legen können. Nicht nur einen Stein von Alejandros Weg. Der Schwester geht es vor allem um den Ring.«

»Eleanor können Sie nichts vormachen. Das würde nicht gut gehen.« Er muss wieder an die Schwester denken. Hat sie in seinem Rückspiegel gesehen. Sie ist doppelt so maskulin wie Bill Haji.

»Deshalb suchen wir auch weiter. Dieser Ring ist so etwas, na, Sie wissen schon, so etwas wie seine Persönlichkeit. Ich würde der Schwester gern den Ring geben und ihr sagen, dass er jetzt in Hajis Sarg liegt. Nicht nur die Reste seiner Schuhe und die Leber, die diese Höllenviecher aus irgendeinem Grund nicht angerührt haben.«

Erhard wagt es nicht, zum Küchenregal hinüberzublicken, zur Kaffeedose mit der Aufschrift »Mokarabia 100 % Arábico«, in der der Finger liegt. »Ich kann Ihnen nicht helfen.«

Der Polizist sieht sich um, als wollte er noch etwas sagen. Sein Blick bleibt an einer Stelle hängen, wo sich die Tapete von der Wand gelöst hat. Man sieht das blanke Holz, die blasse Maserung mit Kritzeleien des Zimmermanns.

Erhard begleitet ihn noch raus zum Wagen. Pérez-Lúñigo blickt ungeduldig auf.

»Wenn Sie hören sollten, dass jemand den Ring gefunden hat, sagen Sie bitte Bescheid.«

»Natürlich«, sagt Erhard. »Wenn ich von jemandem hören sollte, der den Ring gefunden hat, ruf ich auf der Stelle an.«

»Hab ich schon erwähnt, dass ich mal ein Mädchen aus Dänemark kannte? Ich hab damals auf Lanzarote gewohnt. Ein wirklich teuflisches kleines Biest, nicht zu zähmen.« Er setzt sich in den Wagen, lässt die Tür aber noch offen. »Irgendwann ist sie einfach wieder nach Hause gefahren. Das ist das Problem mit diesen Inseln: Wer vernünftig ist, fährt irgendwann wieder.«

»Kenn ich nicht«, murmelt Erhard.

11

Er redet mit Aaz, dem Knaben im Körper eines Mannes.

Aaz ist vermutlich der Einzige, den er nicht einordnen kann und der auf seltsame Weise alle Typen in sich vereint und zugleich keiner von ihnen ist. Das gefällt Erhard. Sie fahren durch Tindaya.

Aaz meint, er sollte dem Ganzen eine Chance geben: Das hast du dir verdient, irgendwann muss das doch passieren.

Aber Erhard ist sich nicht sicher. »Das letzte Mal ist achtzehn Jahre her, Aaz. Und es kommen immer weniger Touristen – hauptsächlich diese primitiven Arsenal-Fans, die auf der Suche sind nach billigem Bier und einem schnellen Fick, um es mal so zu sagen. Oder Familien, deren fette Kinder, kaum dass sie gelandet sind, zum nächsten McDonald’s wollen. Zwischen den richtig guten Fahrten kann es Riesenabstände geben, auch für mich. Ganz zu schweigen von den Abständen zwischen netten Frauen.«

Darf ich dir Liane vorschlagen? Oder eine der anderen Schwestern?

»Nett von dir, Aaz. Aber diese Frauen sind nicht direkt mein Typ, und ich wohl auch nicht ihrer. Mit ein bisschen Glück find ich eine mürrische alte Witwe aus Gornjal. Davon soll es dort ja einige geben.«

Sie lachen.

»Wer will schon einen abgehalfterten alten Taxifahrer?«, fragt Erhard. »Einen behinderten Arbeiter mit schlechten Zähnen?«

Du stimmst doch auch Klaviere.

»Dafür bezahlen inzwischen fast nur noch Idioten. Weißt du, es gibt inzwischen modernere Techniken, die besser und billiger sind. Wer weiß, vielleicht gilt das in ein paar Jahren auch fürs Taxifahren. Dann werdet ihr alle von Robotern rumkutschiert.«

Und du, was ist mit dir? Wer soll mich dann nach Hause fahren?

»Bis es so weit ist, Aaz, bin ich längst tot, und du bist erwachsen und hast mich seit Jahren vergessen. Dann gibt es bestimmt auch einen Tunnel nach Afrika, sodass du in die Sahara fahren und auf elektrischen Kamelen reiten kannst.«

Aaz antwortete nicht, er starrt aufs Handschuhfach, das man per Daumendruck öffnet.

12

Erwachsene Männer mit Drachen.

Erhard schaltet das Taxischild aus, bleibt bei den Dünen stehen und sieht den Kitesurfern zu. Er kann selbst entscheiden, wann und wie viel er arbeiten will. Will er den ganzen Tag fahren, kann er das machen und den nächsten Tag freinehmen, wenn ihm danach ist. Er fährt einfach dorthin, wo Kunden sind, und macht seine Touren. So kommt es ihm jedenfalls vor. Es ist nicht schwer, fordert ihm nicht viel ab. Er weiß, wo Kunden warten. Es ist genau wie mit den Klavieren. Er braucht nur ein paar Töne zu hören, dann weiß er, was das Problem ist, ob sich etwas verklemmt hat, die Luftfeuchtigkeit zu hoch ist oder sich nur zu viel Staub und Dreck angesammelt haben. Auf dieselbe Weise liest er den Verkehr, hört die Flugzeuge und spürt regelrecht das Gedränge auf den Hauptstraßen. Er weiß einfach, wo eine Frau mit ihrer Teenagertochter nach dem Shoppen wartet und zurück ins Hotel will, wo eine Gruppe Geschäftsleute auf die Straße tritt, um in die nächste Stripbar gebracht zu werden, oder wo ein Surfer mit Sand zwischen den Zehen über die Dünen klettert. Viele Kollegen hassen ihn dafür, während andere ihm beinahe mit Ehrfurcht begegnen. Einige der Katholiken bekreuzigen sich sogar, wenn er in die Werkstatt kommt. Von der Zentrale kriegt er nur selten Fahrten, sie wissen, dass er auch ohne sie genug zu tun hat. Hin und wieder traut sich einer der jungen Fahrer zu ihm und fragt ihn nach seinem Geheimnis. In der Bar des Hotel Phenix, während die jungen Kollegen im Hintergrund dumme Bemerkungen machen. Wartet’s nur ab, der Mann ist eine Legende, er wird mir den Weg zum Ruhm zeigen. Aber Erhard kennt den Weg zum Ruhm nicht, er weiß ja selbst nicht, wie er das macht. Er kann nur sagen, beobachte den Verkehr, frag dich, ob du es mit einem Reisetag zu tun hast, und denk an die Menschen. Wo würdest du bei diesem oder jenem Wetter selbst hinwollen? Gute, im Grunde aber unbrauchbare Ratschläge. Es ist wie mit der Musik, versucht er, den Jungen zu erklären, die in der Regel keine Ahnung von Musik haben.

Die jungen Fahrer wollen was lernen, die im mittleren Alter sind verbittert. Sie werden in ihrem Leben kaum noch etwas anderes tun, als Taxi zu fahren, davon aber nie gut leben können. Sie sehen in Erhard einen Betrüger, einen Extranjero, der ihnen nicht nur die Fahrgäste nimmt, sondern sich auch noch aufführt, als wäre er was Besseres. Er wohnt allein dort draußen in Majanicho, er redet nicht mit den anderen, sitzt nur in seinem alten Mercedes und liest Bücher, wenn er ihnen nicht gerade Kunden vor der Nase wegschnappt. Manch einer spricht das auch laut aus. Sogar ihm gegenüber. Und sie haben recht. Auch was die Bücher angeht. Anfangs hat er gelesen, um sich abzulenken und den anderen Fahrern zu zeigen, dass er es nicht eilig hat, nicht händeringend Kunden braucht. Er ist sogar leere Touren gefahren und hat sich auf der Hauptstraße ganz hinten in die Schlange gestellt, um dort den ganzen Tag zu bleiben und Zeit für sein Buch zu haben.

Im Kofferraum hat er einen ganzen Karton mit Taschenbüchern, den er immer wieder durchwühlt, um das richtige Buch zu finden. Er liebt es, die Titelseiten zu betrachten und mit den Fingern über die leicht erhabenen Buchstaben zu streichen, mit denen die Cover bedruckt sind. Oder er blättert hin und her und zählt die Eselsohren. Hat ein Buch viele Eselsohren, ist es gut. Er kauft die Bücher – manchmal kistenweise – bei einer Freundin in Puerto, die einen Secondhandladen besitzt. Immer wenn er eine Fahrt zum Flughafen hat – in der Regel ein paarmal im Monat –, fährt er bei Solilla vorbei, holt sich ein paar Bücher und manchmal auch was zum Anziehen. Den Büchern fehlt nie was, während die Kleider immer ein bisschen müffeln. Er muss sie jedes Mal erst waschen und für eine Woche hinter dem Haus an die Leine hängen, bevor er sie anziehen kann. Dann steckt der würzige Geruch der Insel in dem Stoff. Erhard kann problemlos den ganzen Tag an einem Ort stehen und lesen. Damit die anderen auch was zu tun haben. Sie haben Frau und Kinder, die sie versorgen müssen, und können es sich nicht leisten, den ganzen Tag zu lesen. Er hat niemanden. Je mehr er verdient, umso mehr kann er Annette schicken. Jeden Monat überweist er ihr den Großteil seiner Einnahmen. Nicht mit freundlichen Grüßen. Sondern seelenlos und elektronisch. Er verdient nichts anderes und braucht eigentlich auch nichts. Er kann von Kaffee und den Konserven leben, die er schon vor Jahren gekauft hat. Er isst direkt aus der Dose. Ihn stört das nicht. Manchmal geht er in eins der besseren Restaurants der Insel, nimmt sich Zeit, um einen guten Wein und eine schöne Zigarre auszuwählen. Im Sommer sitzt er bei offenem Fenster im Wagen und liest, im Winter hat er einen Klappstuhl dabei. Dann setzt er sich neben den Wagen auf den Bürgersteig in die Sonne. Die anderen Fahrer schwitzen und verfluchen ihn.

Fährt man durch die Dünen und langsam vorbei an den stillen Hotels mit den Gärtnern und Bewässerungsanlagen, sieht man die Drachen über dem Wasser. Wie Vögel jagen sie hin und her. Er parkt den Wagen oben am Weg und geht hinunter an den Strand. Hier draußen ist die Sonne erbarmungslos. Auf jeden Fall fühlt es sich so an. Der Strand geht unendlich lang weiter, das Meer ist ein gigantisches Luftschloss, das sich am Fuß der Dünen erhebt. Heute sind keine Familien am Strand. Der Wind ist zu stark, der Sand prickelt und brennt.

Neben einem Container mit Surfutensilien steht eine Bude auf ein paar Europaletten. Dort kriegt man Eis, hört Musik, sucht Schutz vor Wind und Sonne. Erhard kauft sich ein San Miguel, während er die Marionetten beobachtet, die an Schnüren hin- und hergeworfen werden. Erwachsene Männer mit Drachen. Zwischendurch werden sie zum Spielball des Windes, dann wieder scheinen sie den Wind zu beherrschen. Er kann seine Ohren vor den Geräuschen in der Bude nicht verschließen, es ist frustrierend. Er hört jedes Husten, jedes Röcheln der Kaffeemaschine. Fast zum Greifen nah. Die Frau, die den Laden betreibt, ist vielleicht zwanzig Jahre jünger als er, aber ihr Anblick schmerzt. Sie strahlt was Mönchisches aus, rackert hart und stillschweigend und gibt sich alle Mühe; der viel zu aufopfernde Typ. Mutter von vier Kindern, geschieden, brauchte dringend einen Job, als ihr Mann das Weite suchte. Als potenzielle Partnerin wäre sie einerseits erfahren, fast schon dienstbeflissen, andererseits aber auch höchst unheimlich. Sie zieht den Kopf ein wenig ein, um durch das kleine Fenster die Drachen sehen zu können.

»Ist einer davon Ihr Sohn?«

Sie sieht ihn verwundert an. »Kennen Sie meinen Robbi?«

»Ich kenne die meisten, zumindest vom Sehen«, sagt er.

13

Gegen 16.00 Uhr fährt er zum Oleana-Friedhof. Er parkt auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Er sieht sie in einer kleinen, blumenreichen Prozession die Straße heraufkommen, alle reichen Familien machen das so. Sie gehen zu Fuß, tragen ihre Toten über weite Strecken, während die Armen viel Geld für teure Leichenwagen ausgeben. Die Hajis balancieren den Sarg durchs Friedhofstor. Er sieht alles andere als leicht aus. Vielleicht haben sie tatsächlich ein paar Steine hineingeladen. Eleanor geht ganz hinten zwischen einer großen jungen Frau, der die Haare ins Gesicht hängen, und einer älteren, vielleicht die Tante. Auf der anderen Straßenseite sieht er den Polizisten, er trägt einen ordentlichen Anzug, wirkt aber noch müder als sonst. Er nickt Erhard zu und folgt der Prozession.

»Das ist die Strafe Gottes«, hörte er eine Frau auf einem Balkon über sich sagen. »So ein warmer Bruder gehört einfach nicht auf die Insel.«

14

Nachts liegt er mit offenen Augen im Bett und starrt das kantige Telefon mit der Spiralschnur an. Unmittelbar vorm Einschlafen sieht er sich immer wieder aufstehen und den Hörer abnehmen. Morgens beim Frühstück wandert sein Blick zurück zum Telefon, er hört es klingeln und nimmt den Hörer ab und überlegt schon, selbst anzurufen. Es sind bald achtzehn Jahre. Aber er kann sich nicht überwinden und beeilt sich stattdessen, zu seinem Auto zu kommen.

Als er den Supermarkt betritt, fällt ihm als Erstes das Münztelefon in der Ecke auf, und in einem der vielen Elektronikgeschäfte von Corralejo sieht er schon von Weitem einen Anrufbeantworter in einem verblichenen Karton. Anfang Januar geht es ihm immer so, seit Annette ihn damals angerufen und beschimpft hat. Da brachte er kein Wort heraus, während sie einfach ihre ganze Wut über ihm auskippte. Das war 1997, unmittelbar nachdem er damit begonnen hatte, ihr Geld zu schicken. Sie wollte das Geld nicht, sagte, sie ertrüge sein gottverdammtes Geld nicht, wollte nichts von ihm haben. Nichts. »Du bist tot, für mich bist du gestorben«, schrie sie und legte auf. Ein Jahr später rief sie wieder an. Diesmal sagte sie nichts, weinte nur zwanzig Sekunden lang leise in den Hörer. Seitdem hat sie nie wieder angerufen. In diesem Jahr sind es achtzehn Jahre, seit er sie verlassen hat. Und er wartet noch immer auf einen Anruf von ihr. Wünscht es sich fast. Auch wenn sie nur weint. Aber es passiert nicht. Möglich, dass sie seine Nummer längst vergessen hat. Oder ihn. Oder dass sie wieder geheiratet hat.

Er nimmt alle Fahrten an, die er bekommen kann, und fährt bis zum Abend, bis er so erschöpft ist, dass seine Lider zusammenkleben. Hinterher geht er runter zum Hafen, kauft sich eine Flasche Wein, sitzt allein auf der Mole und sieht den Kindern beim Planschen zu, bis auch die letzten Sonnenstrahlen der Isla de Lobos den Rücken kehren und das Meer schwarz wird. Er torkelt auf die Gegensprechanlage an der Calle del Muelle zu und klingelt bei Raúl und Beatriz.

»Komm hoch, komm hoch, Alter«, ruft Raúl wie immer.

Sie machen die Tür auf – sie in einem gelben, fast durchsichtigen Sommerkleid, in dem man ihre langen braunen Beine sehen kann, er im Hemd, von dem nur die unteren drei Knöpfe zugeknöpft sind. Sie empfangen ihn, als wären sie seine Kinder, gut aussehend, gesellig, glücklich. Sie haben sich gerade einen Mojito gemacht und gehen gemeinsam hoch auf die Dachterrasse.

Beatriz sitzt auf Raúls Schoß, sie küssen sich. Erhard erzählt von den Kitesurfern und von Bill Haji und von Aaz’ Mutter Mónica. Raúl meint, Erhard sei der unglaublichste Mensch, den er je kennengelernt habe, und Beatriz, die frische Mojitos für die beiden Männer und Wein für sich selbst holt, streift mit dem Hauch eines göttlichen Parfüms an ihm vorbei und fährt mit ihren langen roten Fingernägeln durch Erhards schütteres Haar.