Der Elternkompass - Nicola Schmidt - E-Book
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Der Elternkompass E-Book

Nicola Schmidt

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Beschreibung

Jenseits von Moden, Märchen & Mythen: Das wissenschaftlich fundierte Buch von der derzeit erfolgreichsten Erziehungsautorin Deutschlands Kennen Sie das auch? Ob Oma, Nachbar oder Lieblings-Bloggerin: In der Erziehung hat jeder eine Meinung, aber kaum jemand die Fakten. Wie soll ich mein Kind erziehen? Eine einfache Frage, die online und offline für Grabenkämpfe zwischen Eltern, Großeltern und Fachleuten sorgt: - Soll ich mein Baby schreien lassen oder lieber nicht? - Darf mein Kleinkind mit dem Essen werfen? - Soll mein Kind in der Grundschule Hausaufgaben machen oder ist das Schwachsinn? Die Wissenschaftsjournalistin und Bestsellerautorin Nicola Schmidt räumt auf mit Mythen, Irrtümern und Ammenmärchen. Für dieses spannende wie inspirierende Buch filterte sie heraus, was wirklich wichtig ist, um gesunde, respektvolle und glückliche Kinder großzuziehen. Sie analysierte über 900wissenschaftliche Studien zu allen relevanten Themen, lüftete aber auch die Geheimnisse von Kulturen, die besonders stabile, selbstbewusste und aufmerksame Kinder hervorbringen. Eltern ziehen die Erwachsenen von morgen groß – hier erfahren sie, was unsere Kinder heute brauchen, um die Zukunft zu bewältigen.

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Seitenzahl: 397

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Impressum

© eBook: GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, München, 2020

© Printausgabe: GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, München, 2020

Alle Rechte vorbehalten. Weiterverbreitung und öffentliche Zugänglichmachung, auch auszugsweise, sowie die Verbreitung durch Film und Funk, Fernsehen und Internet, durch fotomechanische Wiedergabe, Tonträger und Datenverarbeitungssysteme jeder Art nur mit schriftlicher Zustimmung des Verlags.

Projektleitung: Reinhard Brendli

Lektorat: Ralf Lay

Schlussredaktion: Barbara Kohl

Covergestaltung: independent Medien-Design, Horst Moser, München

eBook-Herstellung: Sabrina Ouertani

ISBN 978-3-8338-7660-8

1. Auflage 2020

Bildnachweis

Fotos: Stocksy, Natalie Menke

Syndication: www.seasons.agency

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Die GU-Homepage finden Sie im Internet unter www.gu.de

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GRÄFE UND UNZER VERLAG Grillparzerstraße 12 81675 München

Als die Wissenschaftsjournalistin Nicola Schmidt ihr erstes Kind bekam, erhielt sie Ratschläge von allen Seiten – aber niemand schien dazu Fakten zu kennen. Sie begann sich zu fragen: Was ist wirklich gut für unsere Kinder? Was ist nach­weislich wirksam? Seitdem trägt sie Jahr für Jahr Forschungsergebnisse rund um das Thema »Erziehung« zusammen und hilft Eltern, sich im Ratschläge-Dschungel zurechtzu­finden.

In diesem Buch gibt sie einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand, wie gewohnt amüsant und auf den Punkt gebracht. Sie erzählt, warum Wissenschaftler Babys immer trösten würden, was an Spinat gefährlich ist und warum kleine Hausaufgabenhasser besser sind als ihr Ruf. Außerdem mit dabei: Neugeborene, die krabbeln können, Kleinkinder, die von allein teilen lernen, und was eine Stunde mehr Schlaf mit der Lernfreude unserer Schulkinder zu tun hat.

FÜR EINE SCHÖNE KINDHEIT IST ES NIE ZU SPÄT

Unser Gefühl und die Wissenschaft sind sich einig: Die Kindheit sollte ein Ort der Wärme und des Vertrauens sein. Um uns gut zu entwickeln, brauchen wir als Kinder ein Zuhause, in dem wir uns geborgen, sicher und willkommen fühlen. Das ist der Ort, nach dem wir Menschen uns alle sehnen – das Fundament unseres Lebens.

Warum ist das so? Die frühe Kindheit ist die prägendste Phase unseres Lebens. Dort legen unsere Eltern die Grundlagen für unsere seelische und körperliche Gesundheit. Denn als Homosapiens-Kinder sind wir extrem bedürftig und hilflos. Wir gedeihen am besten, wenn uns jemand bedingungslos liebt und umsorgt. Wir brauchen jemanden, der unsere Gefühle erkennt und spiegelt, der mit uns lacht, uns in den Arm nimmt – jemanden, der Tag und Nacht für uns da ist, uns wärmt und wiegt. Wenn wir dieses Gefühl bekommen, sind wir gewappnet für die Welt: Wir haben Urvertrauen – jene besondere Sicherheit, dass wir immer wieder an diesen heilen inneren Ort zurückkehren können.

Eigentlich haben wir Menschen alle von Natur aus drei Engel an unserer Seite: ein starkes Selbstwertgefühl, das uns hilft, unseren Weg zu gehen, ein stabiles Stresssystem, das uns auch in schwierigen Zeiten ruhig bleiben lässt, und Resilienz, die psychische Widerstandskraft, die uns auch nach schweren Schicksalsschlägen hilft, wieder auf die Beine zu kommen. Doch diese drei müssen in der Kindheit aufgebaut, gestärkt und ausgebaut werden, damit sie uns durchs Leben tragen und alles verlässlich funktioniert.

Ich bin im alternativen Berlin der Achtzigerjahre groß geworden: mit hilflosen Erziehern in Kinderläden, überforderten Lehrern und wenig geschulten Sozialarbeitern, die sich in erster Linie um sich selbst drehten. Ich hatte das Glück, dass meine eigene Mutter schon damals nichts mehr auf die autoritäre Erziehung gab, die sie selbst als Kind erfahren hatte. Gleichzeitig hinterließ diese Erziehung tiefe Narben in ihrer Seele, die bis heute nicht verheilt sind.

Als meine eigenen Kinder geboren wurden, stand für mich deshalb fest, dass ich ihnen unbedingt einen besseren Start mitgeben wollte, ohne dass ich je etwas von Stresssystemen, Selbstwertgefühl oder Resilienz gehört hätte. Ich dachte mehr an ein warmes Zuhause, festes Urvertrauen und das Wissen, dass ich immer für sie da bin. Denn ich hatte gesehen, wie gewaltvolle, autoritäre Erziehung und emotionale Härte die Seele eines Menschen nachhaltig zerstören und sogar über zwei Generationen hinweg destruktiv wirken können. Ich wollte diese unheilvolle Tradition ein für alle Mal unterbrechen – und es besser machen.

Doch auf dem Weg dahin stieß ich auf Hindernisse, mit denen ich nicht gerechnet hatte.

Als mein Sohn sieben Wochen alt war, kamen Verwandte zu Besuch. Er war gerade friedlich auf meinem Arm eingeschlafen, da hörte ich zum ersten Mal, dass es an der Zeit sei, ihn »richtig zu erziehen«: »Willst du ihn nicht mal weglegen?« – »Nein, wenn ich ihn weglege, wacht er auf und weint, er will nicht allein sein.« – »Das muss er aber lernen! Das würde ich ihm nicht durchgehen lassen, du kannst ihn doch nicht ständig herumtragen!« Ich schaute mein winziges Baby an und fragte mich, warum es so kurz nach seiner Geburt »lernen« sollte, allein zu sein.

Im Laufe der nächsten Wochen bekam ich immer wieder solche »guten Ratschläge«: Ich solle das Baby auch mal schreien lassen, damit es mich nicht »um den Finger wickelte«, und es nicht füttern, wenn es Hunger hatte, damit ich es nicht »verwöhnte«. Außerdem sei es an der Zeit, einen Betreuungsplatz zu suchen und das Kind tagsüber wegzugeben. Ich sei schließlich keine Fachfrau und kenne mich daher mit Kindern nicht aus. Zu diesem Zeitpunkt war mein Baby noch nicht einmal drei Monate alt.

Unterschiedliche und widersprüchliche Ratschläge verunsichern uns als junge Eltern. Selbst Kinderarzt und Hebamme scheinen sich oft nicht einig zu sein, was richtig für ein kleines Kind ist.

Was ich zu hören bekam, passte so gar nicht zu dem, was ich mir vorgenommen hatte. Ich war vollkommen verunsichert. Aber da die Ratschläge von vermeintlichen Experten kamen – erfahrenen Müttern, Hebammen, einer Kinderärztin –, probierte ich es aus.

Man hatte mir als Lohn ein »braves Baby« versprochen. Doch was ich bekam, war das Gegenteil. Aus meinem bisher zufriedenen, friedlichen Säugling wurde durch diese Maßnahmen ein schreiendes, verzweifeltes Bündel. Mein Sohn wollte offenkundig weder allein schlafen noch auf sein Essen warten – noch ständig von mir getrennt werden. Statt ein »einfaches« Baby bekam ich ein nervöses Kind, das schlecht schlief, sich beim Stillen vor Hunger verschluckte und jedes Mal auszuflippen schien, wenn ich den Raum verließ. Als ich die vermeintlichen Experten darauf ansprach, erklärte man mir, dass ich daran aber nun wirklich selbst schuld sei – schließlich hätte ich ihn in den ersten zwei Monaten ja total verwöhnt und schon völlig verzogen. Jetzt müsse ich das Geschrei aushalten, bis er wieder gelernt hätte, wie die Welt »richtig« funktionierte.

Ich bin von Natur aus stur und scherte mich nicht drum. Ich machte es zu Hause heimlich so, wie ich es für richtig hielt, aber ich fühlte mich ständig schuldig, und zwar im doppelten Sinne: zum einen meinem Kind gegenüber, weil ich diesen Erziehungsquatsch überhaupt – wenn auch nur kurz – ausprobiert hatte, und zum anderen den »Experten« gegenüber, deren Weisheiten ich frech ignorierte, obwohl ich doch »nur« Mutter war. Zudem war ich schrecklich allein. In Mütterkreisen wurde ich mit meinem getragenen, bei mir schlafenden, nach Bedarf gestillten Baby schräg angesehen: Was erlaubte ich mir, all die erprobten Ratschläge infrage zu stellen? Ausgerechnet ich, die ich doch gar keine Ahnung hatte?

Leider konnte ich gleichzeitig nicht behaupten, dass es mir besser ging als anderen Müttern. Ich schien fürs Muttersein nicht wirklich gut gerüstet zu sein – eine besonders talentierte Vollzeitmutter war ich jedenfalls nicht. Ich fand es überhaupt nicht einfach, den ganzen Tag mit einem Säugling zu verbringen, völlig fremdgesteuert durch seine Bedürfnisse, seine Windeln, seinen Schlaf- und Essensrhythmus. Genau so schwer fiel es mir aber, ihn weinend an Papa, Tante oder einen Babysitter abzugeben, um mich zu »entspannen«. Es war für mich kein bisschen entspannend zu sehen, wenn es ihm dabei ganz offensichtlich nicht gut ging.

Und so war es dann mit der Coolness auch nicht weit her: Sobald ich eine Weile von ihm getrennt war, überkam mich das fast panische Bedürfnis, möglichst schnell zurück zu meinem Kind zu kommen und zu sehen, wie es ihm ging. Monatelang schwankte ich zwischen überforderter Langeweile und dem Bedürfnis nach ständigem Kontakt mit meinem Baby.

Es gab nur einen Menschen, der für meinen Zustand Verständnis hatte: meine Mutter. Trotz allem, was sie selbst erlebt hatte, war sie die Einzige, die mein Baby niemals »erziehen« wollte, sondern mit ihm sang, es wiegte und immer zu mir brachte, wenn es nach mir verlangte. Kein Wunder, dass sie der einzige Mensch war, bei dem mein Kleiner klaglos und freudig blieb.

Und dennoch: Egal, was ich tat, alle, der Mann, das Kind und ich, schienen ständig zu kurz zu kommen.

Gleichzeitig ging es dem Kind überraschenderweise hervorragend. Während meine Kinderärztin bei jeder Pflichtuntersuchung vor Begeisterung überschäumte, weil es sich so gut entwickelte, wach und gesund war, reagierte sie entsetzt, wenn sie hörte, wie ich mich von ihm »tyrannisieren« ließ.

Niemand hindert uns daran, mit unserem Kind so umzugehen, wie es sich für uns alle gut anfühlt.

Eines Abends saß ich weinend neben meiner Mutter auf dem Sofa: »Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll!« Ruhig fragte sie zurück: »Was willst du denn tun? Was willst denn du?« Oh, das wusste ich genau: Ich wollte mein Kind bei mir haben, es herumtragen und mit ihm spielen. Ich wollte es stillen, wenn es Hunger hatte, es nachts an meiner Seite wissen und arbeiten, ohne mich von dem kleinen Wurm trennen zu müssen. Ich wollte meinem Kind nicht auf die Finger hauen, wenn es »unartig« war, ich wollte nicht ständig »Nein, lass das!« rufen, und ich wollte es nicht allein schlafen lassen, wenn es ohne mich Angst hatte.

»Und wer hindert dich daran?«, fragte meine Mutter. Da machte es klick bei mir. Sie hatte recht. Wer hinderte mich eigentlich daran? Mich hinderte meine Angst, etwas falsch zu machen. Mich hinderte meine Isolation, das Gefühl, dass nur ich allein es nicht so machen wollte, wie »man« es machte. Mich hinderten all die versteckten Drohungen, einen kleinen »Tyrannen« großzuziehen, das Kind zu überfüttern oder seinem Rücken zu schaden. Mich hinderten die Aussagen, dass das Kind nie auf dem Arbeitsmarkt einer globalisierten Welt bestehen könne, wenn es nicht spätestens mit anderthalb Jahren von einer Fachkraft gefördert würde.

GESICHERTE FAKTEN STATT ERZIEHUNGSMÄRCHEN

Aber was war davon wahr? Was war »richtig«? Wer wusste denn, was richtig war? Die Empfehlungen, die ich als Mutter bekam, waren oft widersprüchlich und widersinnig. Selbst Kinderarzt und Hebamme schienen sich nicht einig zu sein, was richtig für ein kleines Menschenkind ist. Und je älter dieses Menschenkind wurde, desto chaotischer wurden die Meinungen, die mir um die Ohren flogen.

In meiner Ratlosigkeit tat ich das, was ich gelernt hatte: Ich fing an zu recherchieren. Ich bin ja keine Pädagogin, doch ich habe als Wissenschaftsjournalistin jahrelang für Zeitschriften gearbeitet, als Sozialwissenschaftlerin mein Diplom gemacht – mit Bibliotheken, Studien und Forschern kenne ich mich also bestens aus. Was ich wollte, waren eindeutige Antworten und Klarheit. Ich hörte auf, Erziehungsratgeber zu lesen, und vertiefte mich stattdessen in Studien. Ich begann im Internet, ging dann in Universitätsbibliotheken, und schließlich flogen mein Mann, das mittlerweile zum Kleinkind herangewachsene Baby und ich in die USA, um einige der Wissenschaftler hinter den Studien persönlich zu treffen und mit ihnen zu sprechen.

Je mehr ich las, desto erstaunter war ich: Vieles von dem Wissen, das die Forscher längst als bestätigt und sicher ansahen, hatte es offenbar nie bis in die Praxen der Kinderärzte oder den Alltag vieler Hebammen geschafft, geschweige denn bis zu all den wohlmeinenden Menschen, die mich mit ihren Ratschlägen überschütteten.

Mein Lieblingsbeispiel ist die immer noch grassierende Angst, einen Säugling zu verwöhnen. Sie stammt aus einem Erziehungshandbuch aus den Dreißigerjahren,1 in dem man Eltern davor warnte, kleine »Haustyrannen« großzuziehen. Keine Studie hat das je bestätigt, alle Befunde weisen darauf hin, dass Menschen, die ausreichend Liebe, Wärme und Zuwendung bekommen, sich prächtig entwickeln und genau die drei Engel ausbilden, von denen schon die Rede war: ein stabiles Stresssystem, Selbstwertgefühl und Resilienz. Und die Forschung hat unzählige Belege dafür, dass die »nicht verwöhnten« Säuglinge stattdessen an Körper und Seele krank werden.

Je tiefer ich bohrte, desto erstaunter wurde ich. Offenbar war es kein Zufall, dass manche Kinder entspannt, stressresistent und gut in der Schule waren, dass manche sich besser beruhigen ließen als andere, besser schliefen oder weniger krank waren. Ja, sogar dass sie später weniger an Altersleiden erkrankten, bessere Beziehungen führten oder Schicksalsschläge leichter wegstecken konnten – das war alles kein Zufall! Doch was steckte dahinter? Welche Erziehung war das Geheimnis ihrer Stärke und Gesundheit, ihres Selbstvertrauens und ihrer Liebesfähigkeit? Ich wollte es wissen, und zwar genau. Ich wollte herausfinden, was die Eltern dieser Kinder richtig machten – und stellte fest, dass das alles gut erforscht ist.

Das Konzept von Lob und Strafe speist sich eher aus dem Tiertraining als aus der aktuellen Lernwissenschaft.

Doch warum hatten es diese Forschungsarbeiten nie in den »Mainstream« geschafft? Erstens schreien Säuglinge mehr, wenn man sie mehr schreien lässt – und kränker werden sie dadurch auch. Und zweitens war das Märchen von der »Alles-ist-möglich«-Lüge,2 das mir sagte, ich könnte alles haben – Kinder, Karriere und eine großartige Beziehung –, genau das: ein Märchen. Alle ethnologischen, anthropologischen, pädagogischen und medizinischen Befunde zeigten mir: Nein, es war nie einfach, Kinder großzuziehen, es wird nie einfach sein, und wir können immer nur unser Bestes geben.

Ich hatte sicher mein Bestes gegeben. Doch auch für mich war es ein Schock, als mir klar wurde, dass ich trotz meiner ablehnenden Haltung den unsinnigsten Empfehlungen gegenüber (»Schreien stärkt die Lunge«, »Betreuung ab zwölf Wochen« und »Immer schön den Teller leer essen!«) schon in den ersten zwei Jahren mit meinem Kind gravierende Fehler gemacht hatte, einfach weil ich so vieles nicht wusste. Ich hatte offenbar eine Schwangerschaftsdepression gehabt, die niemand  – auch nicht meine Hebamme – erkannt, geschweige denn behandelt hatte. Dass junge Schwangere nächtelang weinen, ist ja normal, da reißt man sich einfach mal zusammen, oder? Ich war dem Weinen meines Säuglings hilflos ausgeliefert gewesen, und statt ihn mit ruhigem Atem zu koregulieren (zu beruhigen), wie es nachweislich hilfreich ist, hatte ich Stunden hektisch wippend auf dem Pezzi-Ball verbracht und dabei den Stresshormonpegel eines Hochleistungssportlers auf mein Kind übertragen.

Aber warum hatte mir das niemand vorher gesagt?

Mir wurde klar: Ich wollte weg von Tradition und Glauben, von Ammenmärchen und Unwissenheit hin zu Fakten – am besten zu doppelblind randomisiert ermittelten Tatsachen, also zu Ergebnissen von Studien, bei denen weder die Versuchsleiter noch die Studienteilnehmer Kenntnis über ihre jeweilige Gruppenzugehörigkeit (Kontroll- oder Experimentalgruppe) hatten.

Sprechen wir deshalb in diesem Buch von der »Randomisierung der Erziehungskunst«. Wir schauen uns an, was man belegen kann, und lassen alles links liegen, was zwar »Common Sense« ist, sich aber nicht beweisen lässt.

WORAN ERKENNE ICH EINE SERIÖSE STUDIE?

»Trau keiner Studie, die du nicht selbst gefälscht hast« – das hören wir oft, und es stimmt: Jedes Experiment, jede Studie sollten wir kritisch ansehen. Denn, um es mit dem römischen Philosophen Seneca (ca. 1–66 n. Chr.) zu sagen: »Es ist gleich falsch, allen oder keinem zu trauen.« Aber es gibt durchaus verlässliche Kriterien, die uns helfen, Ergebnisse richtig einzuschätzen.

Was wir in vielen Büchern, Blogbeiträgen, Interviews und so fort lesen, ist wie gesagt vor allem Ansichtssache. Daher finden wir bei einer einfachen Suche im Internet auch immer vermeintliche »Belege« für alles Mögliche, aber bei näherem Hinschauen entpuppen sich diese Texte als reine Meinungen. Das trifft auch auf viele Erziehungsratgeber zu, in denen jemand zu Papier gebracht hat, was er oder sie »meint«, es sei richtig für unsere Kinder. Hier gilt es, besonders vorsichtig zu sein: Was für mein Kind funktioniert, muss längst nicht für alle gelten – und umgekehrt.

Der aktuelle »Goldstandard« unter den Interventionsstudien sind die randomisierten kontrollierten Studien.

Die erste Sorte von »echten Studien« sind Beobachtungsstudien (deskriptive Studien). Sie stellen zum Beispiel fest, dass während des Beginns der Corona-Epidemie im Jahr 2020 deutlich weniger Frühgeburten auf die Welt kommen als vorher,3 regen die Diskussion an, sagen aber noch nichts über die Ursachen aus. Oft sind sie ein interessanter Ansatzpunkt, der jetzt überprüft werden kann, aber genau so oft muss man die Thesen verwerfen – das gehört zur Wissenschaft dazu. Ich benutze Beobachtungsstudien, um einen Denkanstoß zu bekommen, über den Tellerrand zu schauen oder um kleine Fallbeispiele zu nennen. Andere Beobachtungsstudien fragen schon nach der Ursache. Sie vergleichen Gruppen von Menschen miteinander (beispielsweise Schwangere, die Folsäure genommen haben, und solche, die sie nicht genommen haben) oder befragen Leute einmal oder mehrmals zu bestimmten Themen (Querschnitts- und Längsschnittstudien).

Die zweite Sorte von »echten Studien« sind die Interventionsstudien. Der aktuelle »Goldstandard« besonders für Medikamente oder seltene Krankheiten sind die randomisierten kontrollierten Studien (randomized controlled trial oder RCT). Hier teilen Forscher eine Gruppe per Zufall in zwei Hälften und vergleichen sie dann nach einer sogenannten »Intervention« (das kann ein Medikament sein, ein Training oder dergleichen). Wenn es etwa um die Wirksamkeit eines Empathietrainings geht, würde man beobachten, wie zum Beispiel die Gruppe mit Empathietraining (die Interventionsgruppe) und die zweite Gruppe ohne Training (oder beispielsweise mit Yoga statt des Empathietrainings) am Ende in einem Test abschneidet. So wollen Forscher feststellen, wie das Medikament oder das Training wirkt.

Dieses Beispiel zeigt aber auch schon, dass es oft schwer ist, so etwas im Familienkontext durchzuführen: Man kann (werdende) Mütter nicht willkürlich einer Still- oder einer Nichtstillgruppe zuordnen, da das ihre persönliche Entscheidung bleiben muss. In solchen Fällen können Forscher also nur rückblickend versuchen herauszufinden, was beispielsweise die stillenden von den nichtstillenden Müttern unterscheidet. Dabei versuchen sie oft, mathematisch andere Faktoren herauszurechnen, zum Beispiel den Einfluss von Bildungsgrad oder Alter.

Wenn die Kinder größer sind, geht es wieder besser: Man kann zum Beispiel problemlos die eine Schulklasse Hausaufgaben machen lassen und die andere nicht und dann die Testergebnisse vergleichen (die Ergebnisse sind erstaunlich – ich berichte weiter hinten im Buch davon). Dennoch sollten wir uns hier nicht blenden lassen: Forscher haben in einer groß angelegten Übersichtsstudie 2014 festgestellt, dass gut gemachte Beobachtungsstudien im Vergleich zu randomisierten kontrollierten Studien in der Regel gut abschneiden und keinen signifikanten Unterschied aufweisen.4

Und das waren nicht irgendwelche Forscher, sondern die renommierte Cochrane Collaboration, ein Zusammenschluss aus Wissenschaftlern, Ärzten, Fachleuten und Patienten, die sich mit der Vorgehensweise von klinischen Studien beschäftigt und die evidenzbasierte Medizin mitentwickelt haben, die danach fragt, was nachweislich wirklich hilft (lat. evidens [offenkundig, klar ersichtlich, überzeugend]).

In diesem Buch werde ich einzelne Studien immer wieder als Beispiele heranziehen, aber hauptsächlich interessiere ich mich für Reviews, also Übersichtsarbeiten. In einem Review sammeln Wissenschaftler alle Studien, die sie zu einem Thema finden können, sortieren sie in »brauchbar« oder »nicht brauchbar« und analysieren dann die Ergebnisse. Das hat den Vorteil, dass viele Studien von unterschiedlichen Kollegen einfließen, die unter Umständen auch unterschiedliche Meinungen haben und zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. In solchen Übersichten werden in der Regel außerdem nur Studien berücksichtigt, die durch das sogenannte »Peer-Review-Verfahren« geprüft wurden: Alle großen wissenschaftlichen Zeitschriften leisten sich den Luxus, Studien durch unabhängige Gutachter*innen aus dem gleichen Fachgebiet noch einmal gegenlesen zu lassen: Lohnt es sich, das zu veröffentlichen? Ist das belastbar? Auch dieses Verfahren ist nicht perfekt, und auch diesen Gutachter*innen geht mal etwas durch die Lappen, aber das Peer-Review-Verfahren verbessert die Qualität von Publikationen deutlich.

Auch seriöse Studien sollten mit gesundem Menschenverstand rezipiert werden. Wichtig sind vor allem die Fragen nach dem Aufbau, der Klarheit der Ergebnisse und dem Auftraggeber beziehungsweise Sponsor.

Wir sollten also immer fragen: Wer hat die Studie in Auftrag gegeben oder finanziert? Wie ist die Studie aufgebaut, und welche Frage stellt sie überhaupt. (Wie definiert man ein Schlafproblem?) Wie groß ist die Stichprobe? Gibt es eine Kontrollgruppe? Und nicht zuletzt: Wie klar oder vage sind die Ergebnisse?

Was die Presse dann daraus macht, ist noch mal eine andere Geschichte: Ein Satz wie »Man kann nicht nachweisen, ob es einen Säugling schädigt, wenn man ihn schreien lässt« wird leider nur allzu schnell zu der Schlagzeile »Schreienlassen schädigt Babys nicht« – was ja nicht dasselbe ist.

Gleichzeitig hat jede Studie auch ihre Schwächen, und wir kommen nie umhin, als mündige Bürger unseren gesunden Menschenverstand einzuschalten: Ein Test beispielsweise, bei dem Vierjährige fünfzehn Minuten mit einem Marshmallow allein gelassen werden und ihn nicht essen sollen, liefert nur sinnvolle Ergebnisse, wenn zum Beispiel alle Kinder gleich gern Schaumzuckerware essen und gerade gleich viel Hunger haben …

Kinder sind Hoffnung, sagt man. Und es heißt auch: Es ist nie zu spät für eine schöne Kindheit. Beides stimmt. Menschen haben ein sehr plastisches Gehirn, und die Forschung stellt immer wieder erstaunt fest, dass es viel wandelbarer ist, als wir je dachten. Das menschliche Gehirn ist unser ganzes Leben lang formbar, und das nicht nur auf lange Sicht: Es passt sich in jeder Minute an die äußeren Bedingungen an, also an kognitive, soziale und körperliche Reize. Es stellt dabei laufend neue Verbindungen zwischen den Nervenzellen her. Was für ein tröstlicher Gedanke! Egal, wie unsere Kindheit war – wir haben unser Leben selbst in der Hand.

Wenn Sie genau jetzt fünfmal ruhig ein- und ausatmen, verändert sich schon etwas! Und wenn wir mit der aktuellen Forschungslage davon ausgehen, dass der Mensch an sich gut ist, finden Sie in diesem Buch noch viel mehr Rädchen, an denen wir in der Erziehung unserer Kinder drehen können, um die Welt ein Stückchen besser zu machen.

DIE WELT VERÄNDERN, INDEM WIR UNSERE KINDER ANDERS ERZIEHEN

Sie werden in diesem Buch Dinge lesen, die möglicherweise nicht zu Ihrer Meinung passen. Vielleicht spricht einiges sogar gegen das, was Sie selbst erlebt haben oder was »man schon immer« so gemacht hat. Möglicherweise fragen Sie sich, warum ich Ihnen so unschöne Wahrheiten sage, warum ich Ihnen ein schlechtes Gewissen machen muss mit meinen Zeilen. Es fühlt sich vielleicht komisch an. Aber all das ist okay. Es ist normal. Schauen wir mit Liebe darauf! Es lohnt sich.

ACHTSAM MIT UNS UND DER WELT SEIN

Es gibt kaum ein Thema, das uns so tief trifft wie Erziehung. Sofort erwischen uns – ob wir Kinder haben oder nicht – grundsätzliche Fragen: Wie sind eigentlich meine eigenen Eltern mit mir als Kind umgegangen? Wie habe ich meine Kindheit erlebt, und warum fällt mir manches in meinem Leben so schwer? Haben meine Eltern bei meiner Erziehung etwas falsch gemacht? Was hätten sie besser machen können? Und was habe ich an meine Kinder schon weitergegeben? Welche Schäden werden ihnen bleiben? Was hätte ich tun sollen, was kann ich jetzt noch tun?

In unserer eigenen Erziehung und der Erziehung unserer Kinder finden wir Antworten auf Schwierigkeiten, die wir vielleicht noch heute in unserem Leben haben, und nicht zuletzt auf Probleme, die alle Eltern, unsere Gesellschaft, ja die ganze Menschheit und damit den Planeten betreffen.

Alles Private ist politisch, das gilt auch für die Kindererziehung. Im Jahr 2010 gründete ich für diese Fragen ein soziales Projekt (www.artgerecht-projekt.de), das fragt: Wie können wir als Homo sapiens unserer Art gerecht werden und nachhaltig auf unserem Planeten leben? Ich unterscheide dabei fünf Prinzipien, denen wir folgen: Bindung, Kontakt, Balance, Respekt und Schutz. Es sind Prinzipien, denen wir als Einzelne, aber auch als Familie und als Gesellschaft gerecht werden müssen und die zusätzlich eine planetare Dimension haben. Denn wenn wir in der Familie Liebe nicht an Bedingungen knüpfen, können wir auch eher in der Gesellschaft solidarisch sein, unserem Bäcker um die Ecke treu bleiben und anerkennen, dass Wildblumenwiesen für Bienen wichtig sind, auch wenn uns Unkrautvernichter die Arbeit leichter machen würden. Wenn wir es schaffen, selbst in Work-Life-Balance zu leben, haben wir auch mehr Raum für die Bedürfnisse aller Familienmitglieder und akzeptieren eher die Bedürfnisse des Planeten als gleichwertig zu denen des Homo sapiens.

Das Wissen um eine gesunde Erziehung kann ein Kompass sein, der uns selbst und unseren Kindern den Weg in ein besseres und zufriedeneres Leben weist.

Dass wir alle – Kinder, Erwachsene, Tiere und Pflanzen – Schutz, also geschützte Räume brauchen, ist ein weiterer Grundsatz unserer Arbeit. Kurz: Alles, was ich tue, basiert auf diesen Prinzipien und wissenschaftlichen Grundlagen, nicht auf meiner persönlichen Meinung. Ich stelle die Frage: Was ist nachweislich gut? Und damit arbeiten mein Team und ich.

Ich will Ihnen mit diesem Buch einen sicheren und wissenschaftlich fundierten Kompass bei der Kindererziehung geben, die eine bessere Welt möglich macht und in unseren Kinderzimmern damit anfängt. Wenn Sie sich dabei mit Ihrer eigenen Biografie und vor allem mit Ihrer Kindheit konfrontiert sehen, sind Sie in guter Gesellschaft. Denn es gibt viele Befunde, die uns zeigen, dass die rigide Erziehung, die wir aus dem letzten Jahrhundert mitbekommen haben, auch an uns Erwachsenen nicht spurlos vorübergegangen ist. Viele von uns tragen sie buchstäblich im Kern unserer Zellen, ob wir wollen oder nicht – als epigenetische Markierungen, sozusagen durch die »geerbten« Erfahrungen unserer Eltern. Die Epigenetik untersucht die Änderungen der Genfunktion, die nicht auf einer Veränderung der DNA-Sequenz – etwa durch Mutation oder Rekombination – beruhen und dennoch an Tochterzellen weitergegeben werden (gr. epí [darauf, daneben, bei, darüber] und génesis [Zeugung, Schöpfung]).

Somit kann das Wissen um gesunde Erziehung ein Kompass sein, der uns selbst und unseren Kindern den Weg in eine bessere planetare Zukunft weist. Denn: »Wer will, dass die Welt so bleibt, wie sie ist, will nicht, dass sie bleibt.«

So abgedroschen diese Redensart auch klingen mag, so wahr ist sie dennoch. Wir befinden uns immer noch inmitten eines weltweiten Experiments, in dem eine hochentwickelte Spezies herausfinden will, ob man auf einem endlichen Planeten nicht vielleicht doch unendliches Wachstum verwirklichen kann. Und wir zerstören damit gerade sehenden Auges unsere Lebensgrundlage, weil wir immer noch an diesen Mythos glauben. Oder weil wir keinen neuen Mythos haben? Das Interessante ist ja, dass »diese Entwicklung« oder »die Politik« oder »die Wirtschaft« von Menschen gemacht wird. Von Menschen, die ein Weltbild haben, die eine Kindheit hatten, aus der sie Vorstellungen und Bedürfnisse mitgenommen haben. Und daher bin ich überzeugt: Wenn wir die Welt verändern wollen, müssen wir bei unseren Kindern anfangen – und bei dem Kind in uns. Dann ist eine andere Welt plötzlich möglich.

Wir brauchen eine Generation von Menschen, die gesunde Bindungen eingehen kann, und zwar nicht, weil es »modern« ist, über Bindung zu fachsimpeln, sondern weil nur Menschen mit einem gesunden Bindungssystem überhaupt in der Lage sind, Mitgefühl zu empfinden und zu denken: »Es interessiert mich, wie es den Blauwalen geht.« Menschen brauchen eine Bindung zu sich selbst, zu ihrem Nächsten, zu unserem Heimatplaneten. Der US-amerikanische Gehirnforscher Daniel J. Siegel schreibt: »Wir können auf die Zukunft der Welt einwirken, indem wir uns gut um unsere Kinder kümmern und uns absichtsvoll darum bemühen, ihnen die Beziehungen zu ermöglichen, die wir wertschätzen und die für sie zum Normalzustand werden sollten.«5 Und auch für uns ist es gut. Wenn man Sterbende fragt, was sie gern anders gemacht hätten, dann sagen sie nie: »Ich wäre gern ein größeres Auto gefahren und hätte lieber mehr Zeit im Büro verbracht.« Sie sagen, dass sie gern öfter ihre Gefühle gezeigt hätten, dass sie nicht so viel hätten arbeiten und stattdessen viel mehr Zeit für ihre Freunde und Kinder hätten haben wollen.6 Wir wollen eine Spur hinterlassen, vor allem eine soziale Spur in den Herzen unserer Mitmenschen. Denn »das menschliche Gehirn kommt im Singular nicht vor«.7

Das Leben mit unseren Liebsten, mit Freunden und Familie – das ist der Sinn unseres Lebens. Der Homo sapiens ist eine so erfolgreiche Spezies, weil er auf Kommunikation, Kooperation und das Wechseln der Perspektive baut: Wir achten aufeinander, reden miteinander, arbeiten zusammen und fragen uns, wie es dem anderen wohl geht.

Wenn wir die Welt verändern wollen, müssen wir bei unseren Kindern anfangen – und bei dem Kind in uns.

Bei unseren Kindern können wir jetzt und heute damit anfangen, diesen Sinn zu leben. Und jede Minute, die wir hier investieren, wird uns hundertfach entlohnt werden, wenn unsere Zeit eines Tages abläuft.

Für unsere Kinder zählen die ersten tausend Tage am meisten: Hier formen sich ihr Gehirn, ihr Immun- und ihr Stresssystem, also die Art, wie sie denken, wie gesund sie sind und wie sie mit Belastungen umgehen. »Fehlschaltungen« aus der Zeit sind nur mit hohen gesellschaftlichen Kosten wieder »reparierbar«.

Die weiteren drei Jahre bis zum Alter von sechs Jahren sind prägend für die Entwicklung von Moral und Weltsicht unserer Kinder – also die Art und Weise, wie sie die Welt sehen, wie solidarisch sie mit anderen sind, wie viel Mitgefühl sie mit Schwächeren haben und was sie von der Welt erwarten.

Wie gesagt: Ich bin davon überzeugt, dass wir bei unseren Kleinsten anfangen müssen, um diese Welt positiv zu verändern. Bei unseren kleinen Kindern – und bei den kleinen Kindern in uns. Denn auch wir selbst sind geprägt und oft auch verängstigt von all dem, was wir als Kind selbst erlebt haben, und von den Schreckensnachrichten, die wir täglich über uns ergehen lassen müssen. Skandale, Kriege, Umweltkatastrophen – die »Bombardierung unserer Wahrnehmung durch all die negativen Einzelereignisse auf dieser Welt«, vor allem durch Nachrichten im Pay-per-Click-getriebenen Internet, kann zu einem negativen Weltbild und psychischen Belastungen führen.8 Wie können denn wir allein etwas zur Rettung der Welt tun, wenn da draußen sowieso ständig die Uhr auf fünf vor zwölf steht?

Wie Sie bereits wissen, habe ich darauf eine Antwort: Wir können bei unseren Kindern anfangen und uns so aus einem dauerhaften Angstzustand vor der Zukunft zurück in die Selbstwirksamkeit und Schönheit der Gegenwart holen. Kinder sind dafür die idealen Begleiter, auch und gerade dann, wenn sie uns mal wieder den letzten Nerv rauben! Denn Kinder sind immer im Hier und Jetzt.

ES IST BESSER, ALS WIR GLAUBEN

Heben wir den Blick, und stellen wir mal ganz nüchtern fest: Es ist eigentlich alles da. Wir leben in einer Zeit, die weniger in einer Krise steckt, als wir glauben; denn die meisten Lösungen für unsere Probleme sind schon vorhanden. Sie sind längst im Kleinen ausgedacht, ausprobiert und umgesetzt – und funktionieren ganz erstaunlich gut.9 Es gibt sie bereits, die Ideen für eine »gute, eine mögliche Zukunft«.10

Allein, uns fehlen momentan die Kraft, die Fantasie und der Mut. Statt dass wir, wie die Klimaaktivistin Greta Thunberg vor dem World Economic Forum in Davos 2019 forderte, »in Panik« ausbrechen (was uns im Übrigen wenig helfen würde), diagnostiziert uns der Historiker und Journalist Rutger Bregman genau das Gegenteil: Wir würden »im Koma liegen«11 und könnten uns eine bessere Zukunft gar nicht mehr vorstellen. Das hat auch viel mit unserer eigenen Kindheit zu tun, die uns oft ratlos, in Hilflosigkeit und unerfüllt zurückgelassen hat.

Es gibt sie längst, die Ideen für eine lebendige und lebenswerte Zukunft. Wir leben in einer Zeit, die weniger in einer Krise steckt, als wir glauben; denn die meisten Lösungen für unsere Probleme sind schon vorhanden.

Der bereits zitierte Autor Harald Welzer ist der Ansicht, wir Menschen in den Industrienationen seien gefangen in unerfüllten Bedürfnissen, die wir mit den Annehmlichkeiten des Hyperkonsums kompensieren müssen. In meinen Familiencamps sehen wir das jeden Sommer ganz konkret: Wenn wir mal Fernsehen, Internet, Alkohol und Zucker weglassen und einfach eine Woche lang in der Natur leben, kommen sie plötzlich wieder hoch, die großen Fragen: Warum bin ich hier? Warum lebe ich so, wie ich lebe? Was will eigentlich ich? Warum ist die Welt so, wie sie ist? Und nicht zuletzt: Warum habe ich viele Probleme, die ich zu Hause habe (wo doch angeblich alles so angenehm ist), plötzlich nicht mehr, wenn ich in einer Gruppe von anderen Familien »draußen« lebe? Nicht wenige gehen aus diesen Camps wieder nach Hause und ändern ihre Lebensweise – manche radikal, andere schrittweise, aber alle tief davon beeindruckt, wie anders sich das Leben anfühlen kann, wenn wir für einen winzigen Moment aus dem Hamsterrad des Hyperkonsums aussteigen.

Warum fällt uns das im Alltag so schwer? Nun, auch wir sind mal »erzogen« worden. Auch wir tragen Spuren in unseren Seelen, die uns schwächer machen, als wir sind.

Viele von uns leiden unter diffusen Ängsten, weil sie unter einer autoritären oder perspektivlosen Erziehung gelitten haben. Uns wurde vielfach schon als Säuglingen eine gewisse Hilflosigkeit antrainiert, damit wir dann als Kleinkinder »tun, was man uns sagt«, und »brav« sind.12 Und alle tragen wir alte, oft negative Glaubenssätze aus unserer Kindheit mit uns herum, die wir häufig ungefiltert an unsere Kinder weitergeben.13

Zeit, etwas zu verändern: Wir können das Leben unserer Kinder ab heute bewusst anders anlegen. Wir können sie bereits hier und jetzt stärker machen, als wir es je waren – und uns selbst gleich mit. Und dann können wir an einer neuen Welt mit ihnen bauen. Denn wir alle können in einer neuen, ökologischeren Welt nur gewinnen: Wir werden mehr Freunde, bessere Luft, mehr Spaß, gesünderes Essen, weniger Armut, weniger Gewalt, weniger Angst und vor allem viel, viel mehr Zeit haben. Zeit für unsere Kinder. Wie wäre es, wenn wir uns diese neue Gesellschaft erschaffen – »einfach so«? Also, wenn wir es täten, nicht, weil wir das Klima retten wollen oder weil Greta Thunberg uns dazu aufruft, sondern »einfach nur so«: für uns und unsere Kinder? Wenn wir es einfach tun, weil eine Welt mit Freunden, Radwegen, sauberer Luft und Zeitwohlstand sich einfach verdammt gut anfühlt?

WAS UNS BISHER DAVON ABHIELT, DIE WELT ZU VERÄNDERN

Wir sind gefangen in einer Welt aus strenger Arbeitsethik (nur wer Geld verdient und viel arbeitet, ist etwas wert), Hyperkonsum und sofortiger Befriedigung und gleichzeitig ständig und gezielt unbefriedigten Bedürfnissen.

Unbefriedigte Bedürfnisse? Ja, genau das. Wir sollen nämlich nicht glücklich und zufrieden sein. Dann wären wir in der Konsumgesellschaft nämlich nutzlos. Welzer schreibt: »Befriedigte Bedürfnisse sind der Tod der Wachstumsgesellschaft. Und deshalb ist ihre Geschäftsgrundlage die Produktion von Unglücklichsein.«14 Glück ist in unserer Ökonomie kein Wert, weil geschäftsschädigend.

Der Kabarettist und Autor der Känguru-Chroniken Marc-Uwe Kling fasst es knapp zusammen, während er mit dem Känguru in einer Buchhandlung steht und sein Blick über die aktuelle Ratgeberliteratur schweift: »Die Regale sind thematisch in fünf Schwerpunktgebiete unterteilt: Du bist zu hässlich, du bist zu dumm, du bist zu arm, du bist zu schlecht im Bett, und du bist generell nicht gut genug.« Dann liest er den Klappentext eines imaginären »Ratgeber-Ratgebers« vor, der die Situation so beschreibt: »Wie die vier apokalyptischen Reiter fallen Flexibilisierung, Entfremdung, Sicherheitsverlust und Erfolgsdruck über die Postmoderne her und hinterlassen unter den Trümmern der Tradition eine zutiefst verunsicherte, orientierungs- und ratlose Gesellschaft. Unerreichbare, massenmedial verbreitete Idealbilder von Schönheit, Coolness und Glück machen die Krise des eigenen Selbst zu einem Automatismus. Profitieren auch Sie vom Klima der Angst, schreiben Sie jetzt einen Ratgeber!«15

Wenn wir unsere Kinder mit einer positiven Grundausstattung ins Leben lassen, sparen sie sich all die Bücher und Seminare, die wir selbst dafür gebraucht haben.

Touché, würde ich sagen. So ein Buch wird das hier nicht sein. Denn hier geht es um unser Glück – nicht um Perfektion.

Die Forschung ist sich einig, dass Bedürfnisse einem einfachen Muster folgen: Befriedigte Bedürfnisse verschwinden, unbefriedigte tauchen immer wieder auf. Es wäre also wunderbar gewesen, wenn unsere Bedürfnisse nach Liebe, Zugehörigkeit und dem Recht auf ein sinnerfülltes Leben als Baby und Kleinkind schon erfüllt worden wären. Denn dann hätten wir das neurophysiologische Grundgerüst, das uns auch entspannt und glücklich sein lässt. Gemeinsam mit unseren Kindern können wir das immer noch lernen. Diese Reise kann etwas beängstigend sein. Es sind oft unsere eigenen alten Wunden, die uns davon abhalten, unseren Kindern die Werkzeuge für eine neue Zukunft mitzugeben – wir sind streng, also werden sie unsicher, wir sind unnahbar, also werden sie Suchende, wir sind ängstlich, also sind sie es. Aber wir können das ändern, hier und heute. Und es ist gar nicht so schwer. Natürlich dauert einiges davon ein bisschen, und wir glauben, »Zeit« wäre etwas, was wir nicht hätten, besonders nicht für unsere Kinder. Aber in Umfragen der Shell Jugendstudie16 wünschen sich die meisten Kinder vor allem eines: mehr Zeit mit den Eltern. Und diese Zeit wäre gut investiert.

Aber Zeit haben wir nicht, die Zeit hat viel mehr uns. Das Zeitregime – vor 150 Jahren noch weitestgehend unbekannt – hat uns fest im Griff. Schlaf ist ein »betriebswirtschaftliches Problem«17 geworden, und das merken wir vor allem, wenn unsere Kinder noch sehr klein sind und sich so gar nicht an den vermeintlich einzig richtigen, industriell geprägten Acht-Stunden-Schlafrhythmus anpassen lassen. Damit werden die Kinder zum Problem, zum Sand im Getriebe des Kapitalismus. Sie werden reihenweise pathologisiert, sie müssen erzogen werden, und man unterzieht sie schon als Babys einer behavioristischen Prozedur, die »abgestufte Extinktion« heißt und bei der unerwünschtes Verhalten durch Ignorieren gelöscht werden soll – ursprünglich an Hunden getestet und entwickelt für Menschen mit Angststörungen. Es liegt an uns, ob wir das mitmachen – oder ob wir uns wehren und sagen: Wir finden andere Wege.

DIE WELT NEU DENKEN

Es ist eine verrückte Welt, in der wir leben. Wir sind uns einig, dass wir den CO₂-Ausstoß begrenzen müssen, und belohnen gleichzeitig Vielflieger mit exklusivem Zutritt zur Business-Lounge, Kofferanhängern und Statuskarten.18 Wir kompensieren unsere Defizite damit, dass wir uns »etwas gönnen«. Dazu gehört auch, dass »unterm Strich« nur wir zählen und wir uns von Kreuzfahrtanbietern versprechen lassen: »Hier ist das Lächeln zu Hause«, wenn bei uns zu Hause längst der Terror des »Beeil dich!« eingezogen ist. Wir pflegen eine Kultur, in der die Automobilindustrie immer neue Spritschlucker auf den Markt wirft, die wir dann in den Rang von Statussymbolen erheben – ein Anachronismus aus dem Zeitalter fossilen Irrsinns, den wir uns eigentlich längst nicht mehr leisten können.

Macht nichts – fangen wir neu an! Heute!

Lassen Sie uns mal ganz anders denken: Wie wäre es, wenn unsere Kinder keine emotionalen Defizite mehr mit Konsum kompensieren müssten? Wie wäre es, wenn unsere Kinder eine neue Kultur der Solidarität, sozialen Gerechtigkeit und eines sicheren Lebens für alle leben könnten? Wie wäre es, wenn sie von sich aus davon ausgingen, dass sie es wert sind, saubere Luft, saubere Böden, gesundes Essen zu haben – und dass sie das ohne Ängste mit allen Mitmenschen auf dem Planeten teilen könnten, weil genug für alle da ist?

Der Einzelne ist mit der Bewältigung von komplexen Problemlagen wie dem Klimaschutz überfordert. Aber es ist ja nicht unser Job, die Welt allein zu retten.

Wie wäre es, wenn unsere Kinder später mal Leute cool fänden, die eben keinen dicken Geländewagen durch die Stadt fahren, sondern die wenig arbeiten und viel Zeit haben, die sich ehrenamtlich engagieren, nie gestresst sind und lieber kurz vorbeikommen und klingeln, als zehn Kurznachrichten zu schicken?

Wie wäre es, wenn unsere Kinder es wieder cool fänden, wählen zu gehen, etwas zu bewegen, und wenn sie in einer Umgebung aufwüchsen, die es ihnen leicht macht, Autos zu teilen, Abfall zu vermeiden und Fahrrad zu fahren? Wenn wir aufhören könnten, ein schlechtes Gewissen zu haben, weil es uns die Welt leicht macht, das Richtige zu tun?19 Denn wir alle wollen das Richtige, doch »der Einzelne ist mit der Bewältigung von komplexen Problemlagen wie dem Klimaschutz überfordert«20 – und es ist auch nicht unser Job, die Welt allein zu retten. Aber etwas anderes können wir. Wir können die Generation heranziehen, für die das alles selbstverständlich ist. Denn deren Erziehung wird auch das nächste Jahrhundert prägen.

Wem das zu utopisch ist, der sei an eine sehr alte Erkenntnis aus der Soziologie erinnert, nämlich dass Psychogenese und Soziogenese zwei Seiten der gleichen Medaille sind. Psychogenese beschreibt, wie menschliches Verhalten, Affekte und Empfindungen entstehen und sich verändern. Unsere Psychogenese sah der deutsche Soziologe Norbert Elias als einen Grundpfeiler unserer Zivilisation21 – wie wir uns verhalten, was wir fühlen und wie wir reagieren, macht aus, ob wir in einer Gesellschaft voller Solidarität oder Egoismus, Rechtsstaatlichkeit oder Willkür, Nachhaltigkeit oder Wachstum leben. Elias sagte, die Gesellschaftsform, in die wir hineingeboren seien, präge unsere Psyche. Aber es gilt auch andersherum: Mit unserer Psyche prägen wir die Gesellschaft, in der wir leben! Wir wirken also auf sie zurück – wir, unsere Kinder und unsere Kindeskinder. Wenn wir eine neue Kultur erschaffen wollen, dann ist es klug, in den kleinen Seelen damit anzufangen.

Die Erziehung unserer Kinder wird die Gesellschaft unseres Jahrhunderts prägen.

Das Gleiche gilt übrigens für Infrastrukturen: Wie wir leben, wohnen, arbeiten, uns ernähren und unsere Freizeit verbringen, prägt nicht nur die Infrastruktur, die wir dafür aufbauen (Straßen, Flughäfen, Rad- und Wasserwege). Die Infrastrukturen prägen auch uns, sie werden sozusagen zu »mentalen Infrastrukturen«, zu inneren Vorstellungen davon, wie die Welt zu sein hat.22 Das macht es einerseits so schwer, Infrastrukturen (zum Beispiel die heute völlig auf den Autoverkehr ausgerichteten Städte) zu verändern, gleichzeitig werden diese Gemeinschaftseinrichtungen sich sofort verändern, wenn wir neue innere Bilder erschaffen.

Und wo könnten wir diese Bilder besser erschaffen als in der Erziehung unserer Kinder? Also schauen wir uns die Bilder doch noch mal an, mit denen wir bisher gearbeitet haben, und holen uns dann neue Perspektiven.

WAS IST DER RICHTIGE WEG? UNSER NORDSTERN

Wussten Sie schon, dass es Neugeborene gibt, die bereits krabbeln? Dass manche Säuglinge nach nur wenigen Monaten laufen? Und zahlreiche Babys niemals Windeln tragen?

Ebenso wie viele von uns sich heute keine Welt mehr ohne Autos, Braunkohlekraftwerke und Wachstum vorzustellen vermögen, können wir uns oft gar nicht ausmalen, was bei Babys und Kleinkindern alles möglich ist. Denn wie wir erziehen, hat viel mit unserem Weltbild zu tun.

Ist der Mensch gut oder böse?

Alle Erziehung beginnt mit der Frage, ob der Mensch an sich gut oder böse ist. Viele christliche Völker glaubten traditionellerweise, wir würden »in Sünde geboren« und bräuchten Eltern, die uns den »Versuchungen des Teufels« mit Strenge und zur Not auch Gewalt entziehen. Schon Neugeborene und Kleinkinder müssten hier früh abgehärtet werden und lernen, sich zu fügen und gottesfürchtig zu sein.

Im traditionellen Bali gilt das genaue Gegenteil: Hier werden Babys als kleine Götter oder zumindest als Reinkarnationen der Ahnen verehrt. Dementsprechend sollen Neugeborene nach balinesischen Regeln in den ersten Wochen ihres Lebens zum Beispiel auf keinen Fall den – unreinen – Boden berühren. Einen Säugling abzulegen oder gar allein zu lassen wäre völlig undenkbar. Tja, was ist ein Baby nun: Gott oder Teufel? Sollen wir sofort reagieren oder es warten lassen? Wenn wir die Kulturen fragen, bekommen wir völlig unterschiedliche Antworten.

Welches Verhalten der Kinder wird belohnt?

Wir verstärken Verhalten, indem wir darauf reagieren, also lautet eine wichtige Frage: Worauf reagieren wir? Deutsche Mütter antworten eher auf positive Signale ihrer Babys, wenn die Babys lachen, glucksen oder »kieksen«. Beim Volk der Kisii in Westkenia beobachteten Anthropologen, dass sich Mütter von einem laut lachenden oder wild gestikulierenden Baby eher abwenden. Warum? Weil sie keine individualistischen oder extravertierten Kinder erziehen wollen – genau das Gegenteil dessen, was deutsche Eltern anstreben.23

Und selbst bei der motorischen Entwicklung, die man ja nun noch weniger der Kultur und mehr der Biologie zuordnen könnte, sind sich die Völker nicht einig.

In westlichen Gesellschaften haben Babys weniger Körperkontakt, dafür werden sie viel ermuntert, sich allein zu bewegen. Auch die Völker der !Kung in der südlichen Kalahari (südliches Afrika) haben ein großes Interesse daran, dass die Babys früh laufen lernen, und das Training der Beine gehört zum traditionellen Bewegungsspiel mit Kleinkindern. Das wiederum lässt so manchen westlichen Kinderarzt erbleichen: »Die Knochen sind noch zu weich«, hört man hierzulande. So glauben die !Kung, dass weiche Knochen erst vom Training fest werden, und sie behalten recht: Die meisten ihrer Kinder laufen bereits mit neun Monaten die ersten Schritte – für dieses auf dem afrikanischen Kontinent an vielen Orten berichtete Phänomen gibt es sogar einen Fachbegriff: »afrikanische Frühreife«.

Geschwisterabstand als urbane Legende

In westlichen Gesellschaften pflegt man die Ansicht, es sei gut, Geschwister so nah aneinander wie möglich zu bekommen, weil sie dann angeblich toll miteinander spielen und man die Arbeit »in einem Rutsch« erledigt habe. Außerdem würde sich das große Kind dann gar nicht erst daran erinnern, ein Einzelkind gewesen zu sein. Nichts davon ist belegt, und viele Eltern merken nach dem ersten Mal sehr schnell, dass das keine so gute Idee war (weswegen das dritte Kind dann oft erst drei bis fünf Jahre später kommt).

Was »richtig« für ein Baby ist, entscheidet jede Kultur für sich neu.

So eigenartig diese Unterschiede uns erscheinen, so haben sie doch oft einen Sinn: In einem dicht bewachsenen Gebiet wie dem der zentralafrikanischen Aka-Pygmäen geht ein laufendes Kleinkind viel eher verloren als in der Savanne bei vielen !Kung-Gruppen, daher hat niemand ein Interesse daran, dass es früh läuft. Und ob ein Kind direkt angesprochen wird oder eher »mitläuft«, legt schon früh fest, wie viel Aufmerksamkeit es als Kleinkind einfordert und braucht, wie stark sich sein »Ich-Gefühl« entwickelt und wie gut es sich in eine Gruppe eingliedern kann.

Wenn wir uns fragen, was »richtig« für Kinder ist, müssen wir uns also immer vor Augen halten, dass wir mit der Brille unserer Kultur auf alles schauen, was wir sehen. Die Forscherin Heidi Keller beschäftigt sich seit den Siebzigerjahren mit der Frage, was in unserer Biologie liegt und was uns die Kultur darüber sagt, wie wir mit Kindern »richtig« umgehen sollen.

Eltern der Nso in Kamerun und Mütter im indischen Bundesstaat Gujarat haben zum Beispiel laut einer ihrer Studien viel und häufig Körperkontakt mit ihren Säuglingen, sie tragen sie, lassen sie auf ihrem Schoß liegen, wiegen sie mit ihrem Körper in einem Tuch. Stattdessen wedeln Eltern in Deutschland häufiger mit Spielsachen vor ihren Babys und lassen sie »allein damit spielen«, was Mütter in Kamerun und im indischen Gujarat praktisch gar nicht tun. Die Babys lernen, »sich allein zu unterhalten, und machen es so unabhängig vom sozialen Miteinander«.24

Eine gute Idee? Nun, das sieht man in anderen Kulturen anders: »Dass ein Baby Zeit allein verbringt, ist eine unvorstellbare und grausame Idee für die Nso-Erziehungsphilosophie.«

Den Nso ist auch mehr als den deutschen Eltern die körperliche Entwicklung ihrer Kinder sehr wichtig – und folgerichtig sind die kamerunischen Babys mit drei Monaten in ihrer Motorik den hiesigen Kindern deutlich überlegen. Sie können nun schon über längere Zeit auch ohne Unterstützung frei sitzen und zeigen beim Herumtollen eine erkennbar stärkere Kopf- und Körperkontrolle. Dafür sind die deutschen Babys besser in der sozialen Kommunikation: Sie reagieren eher auf ihren Namen, lächeln in sozialen Situationen und geben erste interessante Geräusche von sich.

Besonders spannend wurde es, als Keller die Videos der einen Gruppe der anderen zeigte. Die Nso-Mütter trauten ihren Augen nicht, als sie sahen, wie deutsche Mütter ihre Kinder zu beruhigen versuchten, ohne ihnen die Brust zu geben, und wie deutsche Babys allein schliefen. Sie fragten sogar nach, ob es in Deutschland verboten wäre, die Kinder auf den Arm zu nehmen, weil die Babys so viel Zeit in Babywippern, in Wiegen und auf dem Boden verbrachten. Die deutschen Mütter hingegen waren entsetzt, als sie Massage und Bewegungstraining der Nso sahen, weil es ihnen unsanft und übergriffig vorkam.

Leider hinterfragen wir selten, welches Erziehungsziel wir eigentlich verfolgen und ob es ein sinnvolles, gesundes, kluges Ziel ist. In der westlichen Welt müssen Babys schon früh lernen, allein ein- und durchzuschlafen, weil wir hoffen, dass sie dann früh unabhängig und selbstständig werden. Ob das stimmt, weiß kein Mensch. Es gibt hingegen Studien, die belegen, dass Kinder gesünder, stärker, selbstbewusster und stabiler werden, wenn sie nachts keine Angst haben müssen und von Erwachsenen beschützt sind.