Der emotionale Rucksack - Vivian Dittmar - E-Book

Der emotionale Rucksack E-Book

Vivian Dittmar

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  • Herausgeber: Kailash
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Der emotionale Rucksack – das sind die schwierigen, unaufgearbeiteten Gefühle aus der Vergangenheit, die jeder mit sich herumschleppt: Angst, Wut, Trauer, Schmerz und andere mehr. Sie belasten uns im Alltag, in der Beziehung und im Job, indem sie zu emotionalen Überreaktionen führen und so selbst harmlose Situationen eskalieren lassen. Vivian Dittmar, bekannte Referentin und Seminarleiterin, stellt einen neuen, heilsamen Umgang mit dem emotionalen Rucksack vor. Sie zeigt, wie wir ihn kontrolliert und bewusst entladen können, sodass wir endlich freier und mit weniger Ballast durchs Leben gehen, ohne bei jeder Kleinigkeit aus der Haut zu fahren. So wird es sogar in emotionalen Ausnahmezuständen möglich, mit uns und anderen gelassener umzugehen.

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Seitenzahl: 349

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VIVIAN DITTMAR

Der

emotionale

Rucksack

Wie wir mit ungesunden Gefühlen aufräumen

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

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Originalausgabe

© 2018 Kailash Verlag, München

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Lektorat: Anne Nordmann, Chiara Jana Greber Umschlaggestaltung: ki 36 Editorial Design, München, Daniela Hofner Umschlagmotiv: Rucksack: © Wolfgang Ludwig/plainpicture

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-21569-9V003

www.kailash-verlag.de

WICHTIGER HINWEIS

Dieses Buch kann ärztlichen/psychotherapeutischen Rat nicht ersetzen. Der Leser ist aufgefordert, selbst Verantwortung zu übernehmen und zu entscheiden, ob und wann er medizinische Hilfe in Anspruch nehmen will. Autorin und Verlag übernehmen keine Haftung für vermeintliche oder tatsächliche Schäden, die sich aus dem Gebrauch der in diesem Buch angeführten Inhalte ergeben.

Anmerkung: Ich weiß, dass es inzwischen in vielen Kreisen üblich ist, konsequent gegendert zu sprechen und zu schreiben. Ich habe mich bewusst dagegen entschieden, da eine hohe Lesbarkeit des Textes mir wichtiger ist als politische Korrektheit und ich gegenderte Ausdrucksformen leider oft als Sprachverstümmelung empfinde. Trotzdem ist es mir ein großes Anliegen, an dieser Stelle deutlich zu sagen, dass meine Aussagen geschlechtsunabhängig sind, wenn ich mich nicht ausdrücklich auf ein Geschlecht beziehe. Genauso spreche ich in meinen Schilderungen beispielhaft von Mann und Frau, wodurch ich jedoch gleichgeschlechtliche Paare in keiner Weise diskriminieren möchte.

Für meine Mutter

INHALTSVERZEICHNIS

Einleitung

Teil I: Emotionales Gepäck

1 Du hast einen Rucksack auf

2 Was ist emotionale Aktivierung?

3 Der emotionale Schließmuskel

4 Emotionale Überlebensstrategien

5 Von Rittern, Drachen und Prinzessinnen

Teil II: Ein bewusster Umgang

6 Emotionale Aktivierung als Chance

7 Die Kraft der Anteilnahme

8 Die innere Zündschnur

9 Die Praxis der Bewussten Entladung

10 Vorsicht Sackgasse!

Teil III: Emotionale Hygiene

11 Was ist emotionale Hygiene?

12 Heilung oder Reaktivierung?

13 Wellenreiten im Alltag

14 Wenn die anderen spinnen

15 Dein Rucksack ist ein Geschenk

Ausblick

Anhang

Schritt-für-Schritt-Anleitung: Bewusste Entladung erlernen

Checkliste nach der Entladung

Zündschnur kompakt

Danksagung

Übungsverzeichnis

Quellenverzeichnis

Register

EINLEITUNG

Es gibt Momente im Leben, da verstehen wir uns selbst nicht mehr. Das können ganz alltägliche Momente sein, wie etwa die berühmte offen gelassene Zahnpastatube, die eine Beziehungskrise provoziert. Oder weniger alltägliche Momente, wie wenn ein Wildfremder uns ohne Grund anpöbelt und wir erstaunt merken, dass uns das völlig aus der Bahn wirft. Ich erinnere mich lebhaft an einen solchen Moment vor vielen Jahren, der mich noch lange beschäftigte.

Es war ein typischer Münchener Herbsttag, und ich beschloss, mit meinem damals etwa dreijährigen Sohn ins Schwimmbad zu gehen. Es muss unter der Woche gewesen sein, vermutlich vormittags, denn das Bad war weitgehend leer, bis auf eine Seniorengruppe, die ausgerechnet im Kinderbecken ihre Aquagymnastikstunde hatte. Vor der Gruppe stand eine junge Frau, die energisch versuchte, Bewegung in die träge Ansammlung von Rüschenbadekappen zu bringen.

Das Becken war nicht ganz voll, und wir dachten uns nichts dabei, am hinteren Beckenrand ins Wasser zu gleiten. Mein Sohn war schon damals ein leidenschaftlicher Schwimmer, mit dem Planschbecken hatte er nichts mehr am Hut. Im großen Becken war es viel kälter, und einige ehrgeizige Sportskanonen zogen stoisch ihre Bahnen. Ein Dreijähriger hatte dort nichts verloren.

Wir waren gefühlt noch keine dreißig Sekunden im Wasser, als die Kursleiterin wie eine Furie auf uns losging. Ich kann mich nicht mehr erinnern, was sie gesagt hat, denn in dem Moment passierte es, völlig unvorhergesehen. Es war, als würde der Himmel einstürzen. Hätte ich auf festem Boden gestanden, ich hätte schwören können, dass soeben zwischen meinen Füßen eine Erdspalte aufgegangen war, um mich zu verschlingen. Meine Wahrnehmung verzerrte sich, und ich merkte, wie mein gesamter Gefühlshaushalt aus den Fugen geriet. Ich kann gar nicht sagen, was ich genau gefühlt habe, so wild wirbelte es in mir durcheinander.

Ich tat das Einzige, was mir in diesem Moment einfiel: Ich stammelte irgendetwas, nahm mein Kind unter den Arm und flüchtete auf die Toilette, wo ich in haltloses Schluchzen ausbrach. Und ich meine wirklich haltlos, so wie ich seit Jahren nicht geweint hatte.

Was war geschehen? Ich hatte keinen blassen Schimmer. Die Situation wäre vielleicht besser nachzuvollziehen gewesen, wenn ich zum Beispiel unter einer Depression gelitten oder sonst in einer Lebenskrise gesteckt hätte. Doch nichts davon traf zu. Es war ein ganz normaler Morgen gewesen, und auch wenn ich schon immer sensibler und emotionaler war als viele andere Menschen, diese Reaktion war sogar für mich extrem.

Ich hatte tausend Fragen: Wo kamen all diese Gefühle auf einmal her? Warum konnte eine wildfremde Frau, die ich in meinem Leben noch nie gesehen hatte und auch nie wiedersehen würde, mich so aus der Bahn werfen? Was gab ihr so eine Macht über meinen Gefühlshaushalt? Warum versagten all meine üblichen Steuerungsmechanismen? Warum war es mir nicht gelungen, ihr die Meinung sagen, mich schützend vor mein Kind zu stellen oder zumindest ohne emotionalen Super-GAU die Situation zu akzeptieren? Ich hatte keine einzige Antwort.

Diese Geschichte ist nun über fünfzehn Jahre her. Heute weiß ich, was damals geschehen ist: Etwas an der Situation erinnerte mich an eine längst vergangene Erfahrung, die ich nicht verarbeitet hatte. Mit anderen Worten, eine Ladung in meinem emotionalen Rucksack wurde aktiviert. Doch viel wichtiger als diese sicher nicht bahnbrechende Erkenntnis ist die Tatsache, dass ich inzwischen gelernt habe, mit meinem Rucksack nicht nur irgendwie klarzukommen, sondern ihn als wertvolle Ressource in meinem Leben zu schätzen. Es war ein langer Weg dorthin, auf dem ich auch immer wieder in Sackgassen landete, irgendwelchen vermeintlichen Lösungen aufsaß, die sich als Scheinlösungen entpuppten.

In den letzten Jahren begann ich dann im Zuge meiner Arbeit mit Menschen diese Erkenntnisse zu teilen – in Seminaren zur Persönlichkeitsentwicklung, auf Festivals, in Führungskräfteschulungen, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Und ich stellte fest, egal ob knallharter Manager, aufgeräumter Ingenieur, verträumter Künstler oder liebevolle Mutter: Wir alle haben einen emotionalen Rucksack, und wir alle erleben immer wieder Momente, in denen unsere emotionale Steuerung versagt.

Vielleicht bist du besser darin, dich zusammenzureißen und dir nichts anmerken zu lassen, wenn du innerlich entgleist. Vielleicht gelingt es dir die meiste Zeit sogar, es vor dir selbst zu verbergen. Vielleicht sind deine Symptome ganz anders als meine, wenn dein emotionaler Rucksack sich bemerkbar macht. Nicht jeder bricht gleich in Tränen aus. Manche Menschen bekommen zum Beispiel einen Wutanfall und verstehen im Nachhinein nicht, was in sie gefahren ist. Andere fühlen plötzlich gar nichts mehr und nehmen alles nur noch wie durch Watte wahr. Wieder andere erleben wilde Wechselbäder der Gefühle, die von einer überlauten, nicht einzudämmenden Gedankenflut begleitet werden.

Egal, wie du emotionale Ausnahmezustände erlebst und wie du sie überlebst: Sie alle haben gemeinsam, dass unsere emotionale Steuerung versagt und wir nicht mehr fähig sind, angemessen auf die Situation zu reagieren. Wir erkennen uns selbst nicht mehr und können im Nachhinein oft nur noch hilflos den Kopf schütteln und uns fragen, was um alles in der Welt in uns gefahren ist. Also wenn es gut läuft. Wenn es schlecht läuft – und das passiert leider sehr häufig, – schieben wir dem Auslöser die Schuld für unsere Reaktion in die Schuhe. Klar, die Aquagymnastiktussi war wirklich eine blöde Schnepfe, die überhaupt kein Recht darauf hatte, ein Kind aus dem Kinderbecken zu vertreiben. Doch diese Anklage ändert nichts daran, dass meine emotionale Reaktion völlig unangemessen war. Und damit hat die blöde Schnepfe nichts zu tun. Das ist mein emotionaler Rucksack.

Nun ist das Beispiel, das ich gewählt habe, einerseits extrem, andererseits aber auch harmlos. Gerade weil ich die Frau nie wiedergesehen habe und auch sonst nichts mit ihr zu tun hatte, ist nichts weiter passiert, als dass ein schöner Morgen im Schwimmbad verdorben wurde. Doch nicht immer sind die Auswirkungen unserer emotionalen Ausnahmemomente so harmlos. Oft erleben wir sie mit Menschen, die uns nahestehen – mit unserem Partner, unseren Kindern, unseren Eltern oder unserem Vorgesetzten. In diesen Situationen kann unser emotionales Gepäck und unsere Unfähigkeit, angemessen damit umzugehen, fatale Folgen haben: Wir missbrauchen unsere Liebsten als emotionale Mülleimer, wir sagen Dinge, die uns unseren Job kosten können, oder wir beenden Liebesbeziehungen, die wir eigentlich fortführen wollten, um nur einige Beispiele zu nennen. Deshalb ist die Auseinandersetzung mit unserem emotionalen Rucksack alles andere als Luxus. Sie ist essentiell, wenn wir daran interessiert sind, gesunde Beziehungen zu führen, gute Entscheidungen zu treffen und unsere emotionalen Ladungen nicht einfach an die nächste Generation weiterzugeben.

Die Auswirkungen unseres emotionalen Rucksacks machen sich in allen wichtigen Lebensbereichen bemerkbar. Viele Trennungen und Scheidungen sind darauf zurückzuführen. Der Beziehungsraum wird Stück für Stück vergiftet, bis allein die Anwesenheit des anderen unerträglich geworden ist. In Unternehmen verursacht die Hilflosigkeit von Mitarbeitern und Führungskräften im Umgang mit dem emotionalen Rucksack horrende Kosten. Sie stört und verzerrt die Kommunikation, wodurch konstruktive Zusammenarbeit unmöglich wird. Und die meisten Eltern stellen irgendwann mit Schrecken fest, dass sie sich genau wie die eigene Mutter, der eigene Vater verhalten, trotz aller guten Vorsätze, genau das nie zu tun. Es ist ihr emotionaler Rucksack, der alle guten Absichten zunichtegemacht hat und sie zur Karikatur der eigenen Eltern werden lässt.

Und nicht zuletzt verdirbt uns unser emotionaler Rucksack immer wieder kostbare Lebenszeit, wie es mir an jenem Morgen im Schwimmbad ergangen ist. Doch so muss es nicht laufen. Inzwischen weiß ich: Diese Situationen sind nur scheinbar irrational und überflüssig. Tatsächlich folgen sie einer ganz eigenen Logik, die wir nicht nur verstehen, sondern die wir uns sogar zunutze machen können. Solche Situationen sind keine seltsamen Störfaktoren, sondern kostbare Gelegenheiten, unseren emotionalen Rucksack aufzuräumen und anstehende Entwicklungsschritte zu vollziehen.

Dieser Prozess ist nicht immer einfach, doch er lohnt sich. Dabei geht es auch nicht darum, irgendwo anzukommen, wo unser emotionaler Rucksack schließlich ganz ausgepackt ist und wir unser Leben endlich genießen können. Für mich ist der Weg zum Ziel geworden, und ich durfte auf diesem bereits so viel Kostbares für mich entdecken, dass ich heute keinen Schritt auf dieser Reise mehr missen möchte.

Doch ich greife vor. Beginnen wir am Anfang. Beginnen wir damit, unseren emotionalen Rucksack genauer in Augenschein zu nehmen.

TEIL I

EMOTIONALES GEPÄCK

Auf jedem Lebensweg gibt es Erfahrungen, die wir nicht so ohne Weiteres wegstecken, und das ist auch gut so. Wir brauchen Herausforderungen, um uns zu entwickeln, wir müssen gelegentlich an die Grenzen dessen kommen, was für uns erträglich ist – und zuweilen sogar darüber hinaus. Zwar sind dies die Abschnitte unseres Lebensweges, auf die wir aus naheliegenden Gründen lieber verzichten würden, doch das hilft uns nicht weiter. Unsere Kontrolle über das, was wir erleben, ist begrenzt. Das gilt für die Kindheit noch mehr als für den späteren Lebensweg. Doch auch im Erwachsenenalter kommt es zu gewöhnlichen oder ungewöhnlichen Herausforderungen. Manche von diesen scheinen gottgesandt oder der anarchischen Willkür eines seelenlosen Universums geschuldet, je nachdem welche Deutungsweise man bevorzugt. Andere scheinen hausgemacht, etwa wenn wir wieder und wieder die gleiche ungute Entscheidung treffen und uns dadurch in Schwierigkeiten bringen, die uns weit über unsere Komfortzone hinaustragen.

Unabhängig davon, ob sie hausgemacht sind oder scheinbar ohne unser Zutun schicksalhaft über uns hereinbrechen – solche Erlebnisse fordern ihren Tribut. Wie wir diesen Tribut zollen, bestimmt, welchen Einfluss sie auf unseren weiteren Lebensweg haben. Alles läuft auf eine einfache Frage hinaus: Wachsen wir an ihnen, oder zerbrechen wir? Anders ausgedrückt: Machen sie uns krank oder weise?

Die Antwort auf diese Fragen ist alles andere als einfach. Plattitüden wie »Was dich nicht umbringt, macht dich stark« sind schnell dahingesagt, im wirklichen Leben helfen sie uns kaum weiter. Oft wollen wir an den Herausforderungen, die das Leben uns zuspielt, wachsen und wissen einfach nicht wie. Viele der gängigen Strategien erweisen sich in diesen Situationen als nutzlos. Und mit jeder neuen Herausforderung, an der wir eher zerbrechen, als zu wachsen, wird unser Rucksack ein kleines bisschen schwerer.

In diesem ersten Teil geht es zunächst darum, unser emotionales Gepäck genauer in Augenschein zu nehmen. Wie ist es beschaffen? Wo kommt es her? Wie macht es sich in unserem Leben bemerkbar? Und vor allem: Was will es von uns? Wenn es wirklich, wie von mir behauptet, nicht primär dazu da ist, uns das Leben schwer zu machen – wofür ist es dann bitte schön gut? Im zweiten Teil wenden wir uns der Frage zu, wie wir gut mit diesem Gepäck umgehen können, bevor wir im dritten Teil beleuchten, wie dieser gesunde Umgang im gelebten Alltag aussehen kann.

1

DU HAST EINEN RUCKSACK AUF

Ein Rucksack ist eine äußerst praktische Erfindung. In seinen Tiefen findet auf Reisen oder Wanderungen unser wichtigstes Hab und Gut Platz, und unterwegs kommt erfahrungsgemäß noch so manches Souvenir hinzu. Natürlich nur das Nötigste, denn auch wenn alles im Rucksack schön verstaut ist – erfahrene Reisende wissen, dass jedes Gramm zählt.

Das Wunderbarste an einem Rucksack ist natürlich, dass wir uns all das Zeug außer Sichtweite auf den Rücken schnallen können. Und sind wir erst eine Weile unterwegs, dann scheint es, als wäre der Rucksack ein Teil unseres Körpers, so sehr haben wir uns an sein Gewicht gewöhnt. Wir können die Last, die wir tragen, weitgehend vergessen – auch wenn wir uns vielleicht gelegentlich wundern, warum unsere Reise so beschwerlich ist.

Ähnlich verhält es sich mit unserem emotionalen Gepäck. Jeder von uns trägt einen emotionalen Rucksack mit sich herum. Manche einen sehr großen, geradezu überdimensionierten, wie er für eine Polarexpedition oder ähnlich ambitionierte Exkursionen gebraucht wird. Ganze Zeltausrüstungen sowie der Proviant für mehrere Tage finden in solchen Exemplaren Platz. Andere tragen einen deutlich kleineren, vielleicht im Stil jener Handtaschen, die alle paar Jahre wieder in Mode kommen: winzige Beutelchen, die an langen Trägern etwas verloren zwischen unseren Schulterblättern baumeln. In ihnen findet gerade mal ein Portemonnaie, vielleicht ein Lippenstift und ein zerknautschtes Taschentuch Platz.

Doch was ist das eigentlich für ein Ding, dieser emotionale Rucksack? Wo kommt er her, wie ist er entstanden, was will er von uns? Um das zu verstehen, müssen wir uns zunächst mit dem Unterschied zwischen Gefühlen und Emotionen befassen, zwei Phänomene, die gerne in einen Topf geworfen werden, in meiner Verwendung der Begriffe jedoch sauber voneinander unterschieden gehören. Denn jedes hat einen anderen Ursprung, und mit jedem will anders umgegangen werden.

Was ist ein Gefühl?

Beginnen wir mit dem Begriff »Gefühl«. Für diesen gibt es weder unter Psychotherapeuten noch unter Wissenschaftlern eine einheitliche Definition, weshalb ich mir in meinem Buch Gefühle & Emotionen – Eine Gebrauchsanweisung erlaubt habe, meine eigene festzulegen. In meinem Vokabular bezeichnet Gefühl eine Empfindung, die durch eine Interpretation aus dem Moment heraus entsteht und die in diesem Moment eine bestimmte Funktion erfüllt. Zum Beispiel: Ich komme nach Hause, der Abwasch ist nicht gemacht, ich interpretiere das als »falsch« und erzeuge dadurch Wut.

Diese Wut gibt mir die nötige Energie, etwas dagegen zu unternehmen, etwa selbst abzuspülen oder meinen Mitbewohner darauf anzusprechen. Wenn es sich um ein reines Gefühl handelt, frei von emotionalen Altlasten, dann ist die erzeugte Wut genau so groß und intensiv, wie die Situation es erfordert. Danach ist die Situation abgeschlossen. Es bleibt kein Restgefühl in meinem System zurück, da die gesamte Energie in der entsprechenden Handlung aufgebraucht wurde. In meinem Modell des Gefühlskompasses gehe ich von fünf Grundgefühlen aus, die uns gemeinsam befähigen, mit allen Situationen des Lebens angemessen in Beziehung zu treten: Wut, Trauer, Angst, Scham und Freude. Warum genau diese fünf und warum sie alle meines Erachtens gleich wichtig sind, ist ein Thema, auf das ich in Teil drei noch wesentlich detaillierter eingehen werde. An dieser Stelle möchte ich lediglich festhalten, dass Gefühle nach meinem Verständnis etwas sehr Praktisches sind. Ihr schlechter Ruf rührt zu einem Großteil daher, dass sie mit jenen Empfindungen, die ich Emotionen nenne, verwechselt werden. Und die können, im Gegensatz zu Gefühlen, wirklich sehr unpraktisch sein.

Emotionen sind etwas anderes

Auch für den Begriff »Emotion« gibt es keine einheitliche Definition. Oft wird er einfach als Synonym für Gefühl verwendet. Diese Konvention spiegelt in meinen Augen die Tatsache wider, dass wir in unserem Kulturkreis noch keine differenzierte Sprache für Gefühlsbelange entwickelt haben. Eine emotional kompetente Kultur braucht eine differenzierte Sprache, um unterschiedliche Gefühlsphänomene präzise beschreiben zu können. Ich habe mich anderen Autoren angeschlossen und verwende den Begriff Emotion, um damit nicht gefühlte Gefühle aus der Vergangenheit, so genannte »emotionale Altlasten«, zu bezeichnen.

Die mangelnde Unterscheidung zwischen Gefühl und Emotion hat weitreichende Konsequenzen für unseren Umgang mit beidem. Gefühl und Emotion unterscheiden sich nicht nur in ihrem Ursprung, sondern auch in ihrer Funktion und Wirkung. Während Gefühle, wie soeben beschrieben, aus dem Moment heraus, durch meine Interpretation einer Situation entstehen, stammen Emotionen aus der Vergangenheit. Sie sind in Situationen entstanden, die wir zum damaligen Zeitpunkt nicht fühlen wollten oder konnten.

Das kann daran liegen, dass wir überwältigt waren und unsere emotionale Kapazität nicht ausgereicht hat. Wir waren zu klein dafür, wir konnten etwas nicht fühlen und dadurch nicht verarbeiten. Oder wir wollten nicht fühlen, was durch eine bestimmte Situation und unsere Interpretation in uns ausgelöst wurde – weil es sich nicht gut anfühlte, weil wir zu sehr mit »wichtigen Dingen« beschäftigt waren, weil es nicht in unser Selbstbild passte oder weil wir nicht genug mit uns selbst in Kontakt waren, um mitzubekommen, was eigentlich gerade in uns passierte.

Egal ob wir nicht fühlen konnten oder nicht fühlen wollten: Die Erfahrungen bleiben unabgeschlossen und wandern zusammen mit den nicht gefühlten Gefühlen in unseren emotionalen Rucksack. Dort warten sie auf eine Gelegenheit, wieder gefühlt zu werden, damit sich die Erfahrung vervollständigen kann.

Size matters

Wer einen großen Rucksack mit sich herumträgt, hat entsprechend schwer an ihm zu tragen. Denn auch wenn er bequem weggeschnallt ist: Seine Ausmaße und das Gewicht belasten uns. Sie machen uns buchstäblich das Leben schwer, was sich vor allem darin äußert, dass wir unser Leben nicht so genießen können wie andere Menschen. Das schiere Gewicht unseres Rucksacks zieht uns ständig nach unten. Als wäre das nicht genug, hat die darin enthaltene Ladung auch noch die unangenehme Eigenschaft, in den ungünstigsten Augenblicken hervorzuquellen, unsere emotionale Steuerung auszuhebeln und in unseren Beziehungen jede Menge Unheil anzurichten.

Ist der Rucksack hingegen deutlich kleiner, kann es sein, dass wir in unserem Leben kaum etwas von ihm mitbekommen. Er ist halt da, und nur äußerst selten, wenn überhaupt jemals, geschieht etwas, das uns auf seine Existenz aufmerksam macht. Vielleicht haben wir gelegentlich mit den Rucksäcken unserer Mitmenschen zu kämpfen, wenn diese uns unsanft anrempeln, doch darüber hinaus ist unser Leben von diesem Thema nicht weiter tangiert.

Nun habe ich hier bewusst zwei Extreme skizziert: den überdimensionierten Polarexpeditionsrucksack und den fast schon lächerlich kleinen Handtaschenrucksack. Die meisten Menschen werden sich wohl zwischen diesen beiden Extremen wiederfinden, irgendwo im Bereich Daypack bis hin zu den leichteren Treckingmodellen. Doch wir alle kennen Menschen mit dem einen oder anderen Extrem. Menschen, die sich unerklärlich schwertun, die wir instinktiv mit Samthandschuhen anfassen, damit wir nicht unversehens die Ladung auf ihrem Rücken um die Ohren bekommen. Und jenen anderen Typ, der erstaunlich unbekümmert, vielleicht auch ein bisschen oberflächlich durch sein Leben spaziert und oftmals nicht wirklich nachvollziehen kann, in welch große Dramen sich seine Mitmenschen ständig verwickeln oder warum sie das Leben so schwernehmen.

Ein universelles Phänomen?

Ich habe ja bereits erwähnt, dass ich in den letzten Jahren die Gelegenheit hatte, mit vielen hundert Menschen über dieses Phänomen zu sprechen, und dabei einige faszinierende Entdeckungen machen durfte. Die erste Erkenntnis war wie gesagt, dass offenbar jeder Mensch einen emotionalen Rucksack hat. Früher dachte ich, dass das nur auf manche Menschen zutrifft, logischerweise genau jene, die sich zu einem Persönlichkeitsentwicklungsseminar mit dem Schwerpunkt Gefühle anmelden würden. Sie waren halt wie ich: Sie hatten große Rucksäcke, die ihnen das Leben schwer machten, und deshalb begaben sie sich auf die Suche nach etwas, das ihnen helfen könnte.

Doch dann begann ich im Rahmen von Businesstrainings mit Führungskräften und Mitarbeitern aus den unterschiedlichsten Bereichen und Hierarchieebenen über dieses Thema zu sprechen. Und siehe da: Sie alle trugen einen emotionalen Rucksack mit sich herum! Doch nicht nur das – und hier kommt nun die zweite wichtige Erkenntnis –, auch sie besaßen ein sicheres Gespür dafür, wie groß der eigene Rucksack oder der ihrer Kollegen war. Sie wussten genau, mit wem sie vorsichtiger umgehen mussten und mit wem sie auch mal etwas flapsiger sein konnten. Darüber hinaus wussten sie – Erkenntnis Nummer drei –, wann sie es mit einer aktivierten emotionalen Ladung zu tun hatten. Sie besaßen diesen scheinbar sechsten Sinn, wenn in einer Besprechung die Luft zum Schneiden dick war oder wenn in einem Raum, den sie gerade betraten, eine Ladung hochgegangen war.

Diese Erkenntnis war für mich sehr wichtig, denn die Teilnehmer meiner Trainings waren ja nicht da, weil sie sich speziell für emotionale Kompetenz interessierten, sondern sie waren von ihren Personalabteilungen meist aus ganz anderen Gründen angemeldet worden. Sie hatten sich in ihrem Leben noch nie mit diesen Themen befasst und würden es vielleicht auch nie wieder tun. Sie waren nicht zu mir gekommen, weil sie einen besonderen Leidensdruck in diesem Bereich verspürten, sondern sie waren halt im Rahmen von Kulturentwicklungsprozessen bei mir gelandet: Ingenieure, Techniker, Marketingleute, Vertriebler, Schichtleiter, ITler, Finanzbuchhalter, Männer und Frauen, am Anfang, mittendrin oder bald schon am Ende ihres Berufslebens.

Aufgrund dieser Erfahrungen wage ich es, dir zu unterstellen, dass auch du einen Rucksack mit dir herumträgst, jetzt gerade, in diesem Moment, ob du dir dessen bewusst bist oder nicht. Wie groß er ist, kann ich nicht sagen. Doch vermutlich kannst du es selbst ganz gut einschätzen, hast auch du dieses instinktive Gespür dafür, mit was für einer Ladung du herumläufst und welches Gewicht du auf den Schultern trägst.

Das Rucksackvolumen

Doch wovon hängt es eigentlich ab, wie groß unser Rucksack ist? Ist es Veranlagung, hat es mit der Kindheit zu tun, welche Faktoren spielen vielleicht noch eine Rolle? Sehr bewährt hat sich für mich die folgende Formel, die ich ursprünglich im Scherz zur Berechnung des Rucksackvolumens entwickelt hatte:

In Worten: Unser Rucksackvolumen ergibt sich aus drei Faktoren. Der erste ist die Intensität der Erfahrungen, die wir in unserem Leben gemacht haben. Stammen wir aus einer Familie, in der alles so weit in Ordnung war, oder hing der Haussegen häufiger schief als gerade? Haben wir unser Leben bislang in Sicherheit und mäßigem Wohlstand verbringen dürfen – also entsprechend dem, was hierzulande als normal gilt –, oder haben wir Flucht, Entbehrung und Existenzängste erfahren? Hierbei geht es nicht allein um Kindheitserfahrungen, auch wenn natürlich unbestritten ist, dass diese uns ein Leben lang prägen. Doch auch spätere intensive Ereignisse hinterlassen ihre Spuren: eine schwierige Scheidung, der Verlust des Arbeitsplatzes, eine schwere Krankheit, der Tod eines nahestehenden Menschen, um nur einige Beispiele zu nennen. Kurzum, wie herausfordernd unsere bisherigen Lebenserfahrungen waren, ist einer der Faktoren, die bestimmen, wie groß unser Rucksack ist.

Der zweite Faktor kann mit dem Wort Sensibilität zusammengefasst werden. Wie empfindlich bist du? Wie intensiv erlebst du etwas? Wie stark beeinträchtigt dich das Erlebte? Ein Schlüsselerlebnis war für mich, als ein Freund, der mir in meiner ersten großen Lebenskrise als Teenager beistand, zu mir sagte: »Weißt du was? Mir ist etwas über dich klargeworden. An dir ist gar nichts verkehrt. Du bist einfach sehr, sehr sensibel.« Wie recht er hatte! Ich gehöre zu den Menschen, die von einer Kindheit traumatisiert wurden, in der im Großen und Ganzen ehrlich gesagt alles ziemlich in Ordnung war. Klar, man kann immer ein Haar in der Suppe finden, doch nüchtern betrachtet war alles halb so schlimm. Ich bin aber leider wirklich wahnsinnig sensibel, weshalb die mittelstarke Intensität meiner Erfahrungen in meiner Rucksackformel mit einer sehr hohen Bewertung in puncto Sensibilität multipliziert wird.

Neben den beiden Faktoren Intensität der Erfahrungen und Sensibilität der Person, die beide zusammenwirken, um unser Rucksackvolumen zu vergrößern, gibt es einen dritten Faktor, einen, der unser Rucksackvolumen reduziert. In der Formel wird dieser Unterstützung genannt. Hierbei geht es zum einen um die Frage, wie viel Unterstützung jemand hatte, um seine Erfahrungen zu verarbeiten. Das ist vor allem bei den richtig großen Emotionspaketen ausschlaggebend, denn diese entstanden ja in Momenten, in denen unsere eigene emotionale Kapazität nicht ausreichte, um mit einer Erfahrung klarzukommen. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass wir die Unterstützung anderer brauchen, um diese zu verarbeiten. Warum das so ist und welche Art von Unterstützung hier wirklich weiterhilft, wird uns noch ausführlich beschäftigen. Und nein, es geht hier nicht darum, dass du eine Therapie beginnen sollst, auch wenn es natürlich Situationen im Leben gibt, wo das eine gute Idee ist.

Neben dieser Unterstützung durch andere, die für große Emotionspakete unabdingbar ist, beinhaltet der Faktor Unterstützung auch, inwieweit wir uns selbst bei der Verarbeitung schwieriger Erfahrungen zur Seite stehen. Das mag sich zunächst seltsam anhören – ich bin doch immer bei mir, wie soll ich mir denn bitteschön nicht zur Seite stehen? Bei genauerem Hinsehen erkennen wir jedoch, dass viele Menschen tatsächlich oft nicht bei sich sind und sich selbst bei der Verarbeitung schwieriger oder unliebsamer Erfahrungen mit schöner Regelmäßigkeit im Stich lassen. Der innere Monolog – der meist unbewusst geschieht – verläuft entlang wohlvertrauter Linien. Sätze wie »Jetzt stell dich nicht so an« oder »Bist du immer noch nicht darüber hinweg?« oder »Reiß dich doch mal zusammen!« haben viele Menschen in der Kindheit verinnerlicht. Wer in schweren Zeiten oder wenn alte emotionale Wunden berührt werden, so mit sich redet, pflegt ehrlich gesagt keinen unterstützenden, liebevollen Umgang mit sich.

Wem gehört dieser Rucksack?

Ich erinnere mich noch lebhaft daran, wie ich vor vielen Jahren mit einer guten Freundin in einem Café am Münchener Flughafen saß, als wenige Meter von uns entfernt ein herrenloser Rucksack entdeckt wurde. Er befand sich vor den Fahrkartenautomaten für die öffentlichen Verkehrsmittel und sah eigentlich ganz unschuldig aus. Vermutlich hatte ein erschöpfter Reisender ihn dort abgestellt, während er sich um seine Fahrkarte bemühte und ihn dann, beglückt von dem erfolgreichen Abschluss seines Unterfangens, stehen gelassen.

Es dauerte nicht lang, bis die Polizei auf das Gepäckstück aufmerksam gemacht wurde und gezwungenermaßen begann, sich dafür zu interessieren. Es war, Jahre bevor die Ereignisse des 11. Septembers die Ära des Kriegs gegen den Terror offiziell einläuteten. Damals war es, nüchtern betrachtet, extrem unwahrscheinlich, dass es sich bei diesem Rucksack um eine Bombe handeln könnte. Trotzdem folgte ein aufwändig inszeniertes Spektakel. Es begann mit einigen immer dringlicher werdenden Durchsagen, dass der Eigentümer des besagten Rucksacks sich doch bitte umgehend seiner annehmen solle. Nichts dergleichen geschah. Vermutlich saß er oder sie längst in der S-Bahn in die Innenstadt und bekam von alldem nichts mit. Es folgte eine Absperrung des Bereichs durch eine Handvoll Polizeibeamte, die ihre Sache natürlich sehr ernst nahmen. Genervte Passagiere mussten von den Fahrkartenautomaten ferngehalten werden. Man wartete auf die Ankunft von Spezialisten – speziell ausgebildete Hunde oder Sprengstoffspezialisten der Polizei oder beides, ich weiß es ehrlich gesagt nicht mehr so genau.

Woran ich mich jedoch lebhaft erinnere, ist, dass meine Freundin sich über die Maßen amüsierte. Sie gehört zu jenen Menschen, die mit der glücklichen Gabe gesegnet sind, das Lustige in jeder Situation zu erkennen. In ihren Augen war das Ganze ein eigens für uns inszeniertes Theaterstück. Sie fand es urkomisch, dass ein schusseliger Reisender völlig unwissend einen solchen Aufruhr verursachen konnte. Mit am meisten amüsierte sie die Vorstellung, zu den Beamten zu gehen und sich als die Besitzerin des Rucksacks auszugeben. Sie hätte zu gern die Rolle dieses Schussels gehabt und die Reaktion auf den Gesichtern der Menschen gesehen, die sich vor unseren Augen immer tiefer in ihr Drama verstrickten.

Ich weiß nicht mehr, wie die Szene endete. Vielleicht einfach mit meiner Abreise. Sie ist mir jedoch lebhaft im Gedächtnis geblieben, da die Reaktion meiner Freundin so ungewöhnlich war. Den meisten Menschen – mich inbegriffen – wäre es vermutlich wahnsinnig peinlich, so einen Aufruhr zu veranstalten. Meiner Freundin wäre es sicher auch peinlich gewesen, aber genau diese Peinlichkeit fand sie urkomisch. Sie kann sich, im Gegensatz zu mir, über ihre Unzulänglichkeiten amüsieren wie andere Menschen über ihren Lieblingskomiker. Daher hätte sie gern die Hand gehoben und gesagt: »Dieser Rucksack gehört mir.« Das ist ein Satz, den die wenigsten Menschen leicht über die Lippen bringen – vor allem dann nicht, wenn es um ihren emotionalen Rucksack geht.

Wer ist für deinen Rucksack verantwortlich?

Meine Freundin hätte ohne Weiteres Verantwortung für einen Rucksack übernommen, der gar nicht ihrer war. Und zwar nicht, weil sie ihn sich gerne aneignen wollte, sondern weil sie es urkomisch findet, unvollkommen zu sein, und der Moment der Spannungsauflösung sie reizt. Eine ähnliche Spannungsauflösung geschieht zwischen Menschen, wenn sie beginnen, Verantwortung für ihren emotionalen Rucksack zu übernehmen. Es ist der erste entscheidende Schritt, um die Beziehung zu unserem emotionalen Gepäck zu verändern. Doch genau vor diesem Schritt sträuben wir uns oft gewaltig, empfinden ihn häufig als bittere Medizin.

Wir fühlen uns als Opfer der überwältigenden Erfahrungen und sehen überhaupt nicht ein, dass wir den ganzen Mist nun auch noch aufräumen sollen. Nicht jeder war so glücklich wie ich und hatte eine eigentlich recht passable Kindheit. Viele Menschen haben in ihrer Kindheit, auch in Verhältnissen, in denen oberflächlich betrachtet alles ganz in Ordnung war, Mangel gelitten – Mangel an Zuwendung, Mangel an Präsenz, Mangel an Akzeptanz für ihr Anderssein, Mangel an unbeobachteter Zeit. Und es wachsen auch heute noch viele Kinder unter Umständen auf, die selbst oberflächlich betrachtet alles andere als optimal sind. Mit anderen Worten: Es ist total nachvollziehbar, dass wir die Verantwortung für dieses emotionale Gepäck, das vielfach in der Kindheit entstanden ist, nicht übernehmen wollen. Soll sich doch jemand anderes darum kümmern! Ich habe schließlich schon genug gelitten!

So nachvollziehbar diese Haltung auch ist: Sie hilft uns nicht weiter. Jene Menschen, die wir für die Verursacher unseres Leides halten, sind oft schon verstorben – oder sie verstehen nicht im Entferntesten, was eigentlich unser Problem ist. Und selbst wenn sie Mitgefühl für unsere Last haben, wenn sie wissen, welch große Päckchen durch ihr Verhalten in unserem Rucksack gelandet sind, hilft auch das uns erstaunlich wenig weiter. Noch immer hängt dieses Ding an unserem Rücken. Noch immer zieht uns seine Last in die Tiefe.

Verantwortung für unseren Rucksack zu übernehmen bedeutet nicht, dass wir auch die Schuld für das, was geschehen ist, übernehmen. Es geht hierbei gar nicht um Schuld. In unserem Rucksack befinden sich Erfahrungen, die wir auf unserem Lebensweg gemacht und die wir nicht verdaut haben. Warum wir diese Erfahrungen gemacht haben und wessen Schuld das ist, spielt für die Frage der Verantwortung für den Rucksack erstaunlicherweise keine Rolle.

Diese Erfahrungen können mit Menschen zu tun haben, die es eigentlich nur gut mit uns meinten – wie mein Großvater, der seine Kinder regelmäßig schlug, weil er tatsächlich glaubte, das sei ein notwendiger Bestandteil einer guten Erziehung. Oder sie können mit Menschen zu tun haben, die wirklich böse Absichten hatten, die uns wehtun wollten. Oder es können Erfahrungen sein, für die niemand etwas kann, wie bei einer guten Freundin von mir, deren Mutter an Krebs starb, als sie acht Jahre alt war.

So unterschiedlich die vermeintlichen Ursachen oder Verursacher unserer Erfahrungen auch sein mögen – die Verantwortung für die Aufarbeitung von Lebenserfahrungen liegt immer bei der Person, die sie durchlebt hat. Wir sind also nicht für die Erfahrung selbst verantwortlich, sehr wohl jedoch dafür, wie diese in uns weiterlebt. Für die Spuren, die diese in uns hinterlässt. Und genau das wird maßgeblich von der Verarbeitung bestimmt.

Dieser kleine, aber feine Unterschied ist ausschlaggebend, um einen neuen Umgang mit unserem Rucksack zu entwickeln. Denn eines wird im Verlauf dieses Buches auch deutlich werden: Dein Rucksack ist nicht nur eine potenziell gefährliche Last. Er ist auch ein Schatz, der darauf wartet, von dir ausgepackt zu werden. Und vielleicht tröstet es dich ja, dass dieser Schatz nicht der Person zugutekommt, die du vielleicht für den Inhalt deines Rucksacks verantwortlich hältst, sondern dir. Doch um ihn zu bergen, braucht es Arbeit, und der Weg erscheint zunächst beschwerlich. Dass dieser Weg auch lohnend sein kann, wird im Laufe dieses Buches deutlich – ebenso wie die Tatsache, dass es wesentlich einfacher sein kann, als wir gemeinhin annehmen.

Im Inneren des Rucksacks

Bevor wir uns der Frage zuwenden, wie dein Rucksack sich in deinem Leben bemerkbar macht, möchte ich einen genaueren Blick in das Innere des Rucksacks werfen. Im Laufe der Jahre wurde mir klar, dass sich die dort gespeicherten Päckchen grob in drei Kategorien oder Schichten unterteilen lassen. Ich möchte diese kurz anreißen, auch wenn das volle Ausmaß der Unterscheidung vermutlich erst im Laufe des Buches deutlich werden wird, wenn wir uns tiefgehender mit dem Rucksack auseinandersetzen.

Die Schichten des Rucksacks

Die erste Kategorie oder Schicht ist jene, die ich schon genannt und beschrieben habe: die emotionalen Altlasten. Diese sind in Situationen entstanden, die uns emotional überforderten oder die wir nicht fühlen wollten. Die drei in der Rucksackformel beschriebenen Faktoren bestimmen, wie viele Päckchen sich in welcher Größe im Rucksack im Laufe unserer Lebensreise ansammeln. Die Schicht mit diesen Päckchen kann also sehr dünn sein oder bis in die Tiefen des Rucksacks hineinreichen.

Die zweite Kategorie oder Schicht ist jene der Traumata. Diese sind ebenso wie die emotionalen Altlasten durch überwältigende Erfahrungen entstanden. Während Emotionen jedoch aus nicht gefühlten Gefühlen bestehen, sind Traumata nicht entladene biologische Programmierungen.

Mit biologische Programmierungen meine ich instinkthafte Überlebensprogramme. Dazu zählen die Flucht-und-Kampf-Reaktion, die Schockstarre, aber auch Hunger, Durst, Ekel und sexuelle Lust, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Traumata entstehen also, wenn in einer Situation solche Überlebensprogramme aktiviert wurden und dann, genau wie bei den Emotionen, zur späteren Verarbeitung abgespalten wurden. Das kann in einer einzelnen schockartigen Situation geschehen sein, wie bei einem Autounfall, oder als schleichender Prozess über mehrere Jahre, etwa wenn ein Kind konstant zu wenig Zuwendung bekommt und daher in einem ständigen Überlebensmodus ist. Das Erste wird gemeinhin als Schocktrauma, das Zweite als Entwicklungstrauma bezeichnet.

Die Unterscheidung von Trauma und emotionaler Altlast ist deshalb wichtig, weil beide nicht nur unterschiedlich entstanden sind, sondern auch auf unterschiedlichem Weg Heilung finden. Bei emotionalen Altlasten geht es vor allem darum, nicht gefühlte Gefühle wieder ins Bewusstsein zu heben, zu fühlen und dadurch ihre Verarbeitung zu ermöglichen. Diese geschieht also auf emotionaler Ebene. Nicht so bei den Traumata. Da biologische Programmierungen auf einer prärationalen Ebene angesiedelt sind, müssen Traumata über den Körper verarbeitet werden. Beides wird uns im Laufe des Buches noch beschäftigen, und auch die Unterscheidung wird immer deutlicher werden.

An dieser Stelle ist noch eine Beobachtung wichtig: Traumata sind im Rucksack meistens von einer Schicht emotionaler Altlasten bedeckt. Menschen mit traumatischen Erfahrungen haben meistens große Rucksäcke. Im Alltag und in ihren nahen Beziehungen tritt vor allem diese erste emotionale Schicht in Erscheinung. Ob darunter ein Trauma verborgen liegt, ist für den Laien oft nicht so ohne Weiteres zu erkennen. Der Hauptfokus dieses Buches liegt auf der Verarbeitung emotionaler Altlasten, nicht auf der Traumatherapie. Da beides jedoch in Menschen mit Traumata eng verknüpft ist, werde ich im Laufe des Buches immer wieder auf beides Bezug nehmen.

Die dritte Schicht oder Kategorie im Rucksack ist jene der kollektiven Altlasten. Diese zeigen sich bewusst oft erst in Menschen, die ihren Rucksack schon ein Stück weit ausgepackt haben. Es handelt sich hierbei um kollektive gesellschaftliche Themen oder auch Menschheitsthemen, die nicht verarbeitet wurden. Auch diese Schicht lässt sich theoretisch wieder in emotionale Altlasten und Traumata unterteilen, da auch im Kollektiv beides vorkommt. In Deutschland sind hier natürlich an erster Stelle die beiden großen Kriege des zwanzigsten Jahrhunderts zu nennen. Oder bei Frauen das Thema sexueller Missbrauch, das auch in vielen Frauen auftaucht, die selbst keine Missbrauchserfahrungen gemacht haben. Auch in vielen Beziehungen spielen kollektive Themen eine Rolle – nicht geheilte Wunden im Verhältnis zwischen den Geschlechtern. Auf den Bereich der kollektiven Themen werde ich am Ende des Buches noch genauer eingehen. An dieser Stelle möchte ich es dabei belassen, auf seine Existenz hingewiesen zu haben.

Doch nun zurück zu dir und deinem Rucksack: Was trägst du mit dir herum? Wie macht es sich in deinem Leben bemerkbar? Eckst du nur gelegentlich etwas an, oder wird jeder Tag, jede Beziehung und jeder Lebensbereich von diesem Gewicht bestimmt? Oft geschieht mit unserem emotionalen Gepäck nämlich ganz Ähnliches wie damals am Flughafen mit dem herrenlosen Rucksack. Wir sind nur einen Augenblick unachtsam, und schon wird unser Rucksack Auslöser mannigfacher Probleme. Dabei kann es sich um eskalierende Dramen handeln – wie etwa wenn besagter Rucksack wirklich eine Bombe enthalten hätte, die dann womöglich auch noch wie in einem Actionfilm explodiert wäre –, mindestens genauso häufig sind es jedoch eher unterschwellig lavierende, äußerst diffuse Dynamiken, von denen keiner genau weiß, was eigentlich los ist. War einfach jemand unachtsam? Oder war es Absicht? Gibt es überhaupt ein Problem, oder ist eigentlich alles in Ordnung und wir machen uns umsonst verrückt?

Im nächsten Kapitel befassen wir uns mit dem Thema emotionale Aktivierung, um besser zu verstehen, wie dein Rucksack dein Leben und deine Beziehungen beeinflusst – und woran du das merkst. Denn auch wenn viele Menschen offenbar ein feines Gespür für die Existenz des Rucksacks haben und auch wahrnehmen, wenn seine Ladung sich bemerkbar macht: Es gibt viele verschiedene Ausprägungen dieses Phänomens, die nicht immer alle auf den ersten Blick als solche erkannt werden.

Übung 1: Erste Rucksackinspektion

Nimm dir etwas Zeit, um dich mit deinem Rucksack zu beschäftigen, indem du folgende Fragen für dich reflektierst. Du kannst dazu Tagebuch schreiben, bei einem Spaziergang darüber nachdenken oder mit einer Person deines Vertrauens darüber sprechen:

Wie groß ist mein Rucksack? Vergib aus dem Bauch heraus einen Wert auf einer Skala von eins bis zehn. Wenn du magst, kannst du auch spaßeshalber die Formel verwenden und für jeden Faktor einen Wert auf einer Skala von eins bis zehn vergeben. Du kannst diese Überlegung auch für dir nahestehende Menschen anstellen. Wie groß ist ihr Rucksack in deiner Wahrnehmung?Wie macht sich dein Rucksack in deinem Leben bemerkbar? Welche Beziehungen und Lebensbereiche sind besonders von ihm betroffen?Suche dir einen Gegenstand, der ein wichtiges Emotionspäckchen aus deinem Rucksackinhalt symbolisiert.

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WAS IST EMOTIONALE AKTIVIERUNG?

In der Einleitung habe ich erzählt, wie es mir eines schönen Tages im Schwimmbad erging, als eine mir wildfremde Person mich anblaffte. Damals hatte ich keine Worte, um meine Erfahrung zu beschreiben. Heute nenne ich das, was damals geschehen ist, emotionale Aktivierung.

Als emotionale Aktivierung bezeichne ich sowohl den Moment als auch den Zustand, wenn etwas in unserem Rucksack aus seinem weitgehend harmlosen Schattendasein herausgerissen wird. Wir werden in einen Ausnahmezustand versetzt, der jedoch bei Weitem nicht immer so dramatisch sein muss, wie das bei mir im Schwimmbad der Fall war. Fast noch verbreiteter sind in unserem Kulturkreis Aktivierungszustände, die auf den ersten Blick gar nicht emotional wirken. Sie sind eher durch eine Abwesenheit von Gefühl gekennzeichnet, durch eine gewisse Dumpfheit, die sich wie eine zähe Masse über Menschen und Situationen legt.

Was auf den ersten Blick wie ein krasser Widerspruch erscheint, löst sich bei genauerem Hinsehen auf. Letztlich sind beide Ausprägungen emotionaler Aktivierung – jene der übermäßig dramatischen Emotionalität und jene der gefühlsarmen Dumpfheit – Strategien, um nicht zu fühlen, was jetzt gerade in uns geschieht. Unabhängig davon, ob wir übersteuern oder abstumpfen: Das aktivierte Päckchen und die dazugehörige Ladung haben die Kontrolle über uns. Unsere emotionale Steuerung entgleist in die eine oder andere Richtung, wodurch wir nicht mehr Herr unserer selbst sind. Wir sagen und tun dann Dinge, die wir normalerweise nicht sagen oder tun würden: Schimpfwörter verwenden, Geschirr schmeißen, Freundschaften kündigen. Und wir schaffen es umgekehrt nicht, Dinge zu tun oder zu sagen, die normalerweise selbstverständlich wären: uns entschuldigen, jemandem unsere Hilfe anbieten, zärtlich sein. Wenn wir ehrlich sind, bereuen wir unser Verhalten oft im Nachhinein. Oder wir rationalisieren es, da wir der Tatsache nicht ins Auge sehen können, dass wir uns total daneben verhalten haben.

Bevor wir uns mit dem Mechanismus beschäftigen, der emotionaler Aktivierung zugrunde liegt, möchte ich genauer darauf eingehen, wie diese sich bemerkbar macht. Beginnend mit den emotionalen Merkmalen, gefolgt von den körperlichen und mentalen Symptomen, möchte ich die große Bandbreite möglicher Erscheinungsformen kurz anreißen.

Emotionale Merkmale

Merkmale emotionaler Aktivierung

1. Starke Emotionen oder emotionale Taubheit

2. Körperliche Stresssymptome

3. Veränderte Sinneswahrnehmungen

4. Irrationalität

5. Veränderte Stimmlage

6. Verzerrte Wahrnehmung

Eine emotionale Aktivierung kann sich in einem heftigen Emotionschaos äußern, wie das bei mir im Schwimmbad der Fall war. Dieses Chaos kann, je nach Temperament und Art der emotionalen Ladung, die berührt wurde, ganz unterschiedlich gefärbt sein. Während der eine haltlos in Tränen ausbricht, bekommt der andere einen Wutanfall. Ein Dritter hat eine Panikattacke, während ein Vierter plötzlich von Selbsthass überflutet wird. Und ein Fünfter ist womöglich plötzlich von einer völlig überdrehten Heiterkeit ergriffen.

Häufig hat unsere Emotionalität bei einer Aktivierung nicht nur eine bestimmte Färbung, sondern pendelt zwischen mehreren Erscheinungsformen hin und her, vermischt diese zu einem unkenntlichen Wust: der Wutanfall, dem die Selbstzerfleischung folgt, die Panik, die in hysterisches Gelächter übergeht, das Schluchzen, das gespickt ist von Selbstvorwürfen.

Und dann gibt es eben jene andere Art, mit einer emotionalen Aktivierung umzugehen, die auf den ersten Blick wesentlich subtiler, schleichender, lavierender und damit irgendwie undurchschaubarer erscheint. Statt mit heftigen Emotionen auf die Welt zu reagieren, ziehen wir uns hier von der Welt zurück. In unserem Innenleben dominiert dann vielleicht eine Taubheit, die mal in ein diffuses Unwohlsein übergehen oder mal einem inneren Druck weichen kann. Das kann plötzlich geschehen, was die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass wir es selbst bemerken, es kann sich jedoch auch langsam einschleichen. Solche Zustände können sich im Laufe eines Lebens so weit verfestigen, dass die Bezeichnung Ausnahmezustand absurd erscheint. Was ursprünglich mal als vorübergehende Überlebensstrategie des emotionalen Systems gedacht war, ist dann zum Normalzustand geworden.

Körperliche Merkmale

Plötzliche und eher dramatische Aktivierungen gehen oft mit körperlichen Stresssymptomen einher: Der Puls erhöht sich, die Hände werden feucht, unser Temperaturempfinden verändert sich. Auch unsere Sinneswahrnehmungen können stark beeinträchtigt sein. Unser Sichtfeld verändert sich, wir bekommen einen Tunnelblick oder, wie bei mir im Schwimmbad, es scheint der Himmel einzustürzen. Auch unsere Wahrnehmung von Geräuschen kann plötzlich anders sein, als hätten wir Wattebausche in den Ohren, oder alles ist auf einmal unerträglich laut. Auch die eigene Stimme kann sich plötzlich ganz anders anhören.