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Etwas Übernatürliches hat von der zwölfjährigen Regan Besitz ergriffen und verwandelt sie in eine dämonische Kreatur. Da diverse Ärzte keine Erklärung finden, bittet Regans Mutter einen katholischen Priester um Hilfe. Doch alle Bemühungen von Pater Karras scheitern. Deshalb beantragt er bei seiner Kirche den Exorzismus. Der Priester will eine Teufelsaustreibung vornehmen, um das Mädchen zu retten … Das vom Autor überarbeitete und erweiterte Meisterwerk. Neu übersetzt von Patrick Baumann. Die Verfilmung von 1973 löste weltweite Skandale aus. Schockierte Zuschauer verließen scharenweise die Kinos. Heute gilt der mit drei Oscars ausgezeichnete Film als Klassiker. St. Louis Post-Dispatch: »Man sollte Der Exorzist zweimal lesen. Zuerst um die Spannung und den Schock zu erleben, um beim zweiten Mal die Sprache und den Stil zu genießen … Ein Erlebnis, das man nicht vergisst.« phantastik-couch.de: »Blatty schuf einen modernen Mythos, der in Sachen Kultfaktor und Langlebigkeit irgendwo zwischen Bram Stokers Dracula und Ira Levins Rosemary's Baby anzusiedeln ist.«
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Seitenzahl: 519
Veröffentlichungsjahr: 2019
Aus dem Amerikanischen von Patrick Baumann
Impressum
Die amerikanische Originalausgabe The Exorcist
erschien 1971 im Verlag Harper & Row.
Copyright 40th Anniversary Edition
© 1971, 2011 by William Peter Blatty.
Copyright © dieser Ausgabe 2019 by Festa Verlag, Leipzig
Veröffentlicht mit Erlaubnis der Erben.
Titelbild: Arndt Drechsler
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-86552-773-8
www.Festa-Verlag.de
Für Julie
Als Jesus an Land ging, lief ihm ein Mann aus der Stadt entgegen, der von Dämonen besessen war … Schon seit Langem hatte ihn der Geist in seiner Gewalt, und man hatte ihn wie einen Gefangenen an Händen und Füßen gefesselt. Aber immer wieder zerriss er die Fesseln … Jesus fragte ihn: Wie heißt du? Er antwortete: Legion.
LUKAS8, 27-30
JAMES TORELLO: Die haben Jackson an den Fleischerhaken gehängt. Er war so schwer, dass er ihn verbogen hat. Drei Tage hing er an dem Ding, bis er abgekratzt ist.
FRANK BUCCIERI(kichernd): Jackie, du hättest den Kerl sehen sollen. Der war wie ein Elefant, und wenn Jimmy ihm eins mit dem Elektroschocker verpasst hat …
TORELLO(begeistert): Er hing zappelnd an diesem Haken, Jackie. Wir haben ihn mit Wasser überschüttet, damit der Schocker besser wirkt, und er war am Schreien …
AUS FBI-AUFNAHMEN EINES
ABGEHÖRTEN COSA-NOSTRA-TELEFONATS
ÜBER DEN MORD AN WILLIAM JACKSON
Für manche der Dinge, die die Kommunisten getan haben, gibt es keine andere Erklärung. Wie bei dem Priester, dem sie acht Nägel in den Schädel gehämmert haben. (…) Dann waren da noch die sieben kleinen Jungen und ihr Lehrer. Sie waren dabei, das Vaterunser zu beten, als die Soldaten über sie herfielen. Einer hat sein Bajonett genommen und dem Lehrer die Zunge abgeschnitten. Die anderen haben den sieben kleinen Jungen Essstäbchen in die Ohren gestochen. Wie behandelt man solche Fälle?
DR. TOM DOOLEY
Dachau
Auschwitz
Buchenwald
Prolog
Im Norden Iraks
Die glühende Sonne brachte Schweißperlen auf der Stirn des alten Mannes zum Vorschein, und dennoch legte er die Hände um das Glas mit heißem, süßem Tee, als ob er sie wärmen wollte. Er wurde die böse Vorahnung nicht los. Sie klebte an seinem Rücken wie kühles, nasses Laub.
Die Ausgrabung war vorbei. Der Tell war Schicht für Schicht durchsucht worden, man hatte die Innereien des Siedlungshügels untersucht, etikettiert und verladen: die Perlen und Anhänger; die Glyptiken; die Phalli; Mörser aus geschliffenem Stein mit Ockerflecken; polierte Töpfe. Nichts Außergewöhnliches. Eine assyrische Toilettendose aus Elfenbein. Und Menschen. Die Knochen von Menschen. Die morschen Überreste dieser kosmischen Folter, die ihn einmal dazu verleitet hatte, sich zu fragen, ob die Materie nichts anderes sei als Luzifer, der von unten nach seinem Gott grapschte. Aber jetzt wusste er es besser. Die Düfte von Süßholz und Tamarisken ließen ihn den Blick auf die Mohnhügel richten, auf die schilfbewachsene Ebene und die zerklüftete, mit Steinen übersäte Straße, die sich wie ein Pfeil in die Ungewissheit bohrte. Im Nordwesten lag Mosul, im Osten Erbil, im Süden befanden sich Bagdad, Kirkuk und der feurige Ofen Nebukadnezars. Er bewegte die Beine unter dem Tisch vor der einsamen Teestube am Straßenrand und starrte auf die Grasflecken an seinen Stiefeln und der Kakihose. Er nippte an seinem Tee. Die Ausgrabung war vorbei. Was würde jetzt beginnen? Er staubte diesen Gedanken ab wie ein frisches Fundstück, fand jedoch kein passendes Etikett für ihn.
Aus dem Inneren der Teestube war ein pfeifendes Atmen zu hören: Der verdorrte, alte Besitzer schlurfte auf ihn zu und wirbelte Staub auf mit seinen russischen Schuhen, die er wie Pantoffeln trug und deren Hinterkappen unter seinen Fersen knirschten. Sein dunkler Schatten kroch über den Tisch.
»Kaman chay, chawaga?«
Der Mann in kakifarbener Kleidung schüttelte den Kopf und starrte auf die senkellosen, verdreckten Schuhe hinab, die dick verkrustet waren von den Ablagerungen des Daseins. Der Stoff, aus dem der Kosmos ist, dachte er milde: Materie; doch auf irgendeine Weise letztlich Geist. Der Geist und diese Schuhe waren für ihn lediglich Aspekte eines viel grundlegenderen Stoffes, der ursprünglich und vollkommen fremdartig war.
Der Schatten verlagerte sich. Der Kurde stand da und wartete wie eine uralte Schuld, die beglichen werden wollte. Der alte Mann in Kaki hob den Blick und schaute in Augen, die auf feuchte Weise ausgebleicht wirkten, als hätte sich eine Eierschalenmembran über die Iris gelegt. Glaukom. Früher hätte er diesen Mann nicht lieben können. Er zog seine Brieftasche hervor und suchte zwischen ihren rissigen, zerknüllten Bewohnern nach einer Münze: Da waren einige Dinare, ein irakischer Führerschein und eine zwölf Jahre alte, verblichene katholische Kalenderkarte. Auf ihrer Rückseite stand: ›Was wir den Armen geben, nehmen wir mit uns, wenn wir sterben.‹ Er bezahlte seinen Tee und hinterließ ein Trinkgeld von 50 Fils auf dem zersplitterten Holz eines Tisches, der die Farbe von Traurigkeit hatte.
Er ging zu seinem Jeep. Das Klirren des Schlüssels, der ins Zündschloss glitt, durchdrang kristallklar die Stille. Für einen Augenblick hielt er inne und starrte grübelnd ins Leere. In der Ferne ragte die Hügelstadt Erbil mit ihrer abgeflachten Oberseite hoch auf und wirkte im Hitzeflimmern wie eine schwebende Insel. Ihre brüchigen Dächer hingen in den Wolken wie ein von Trümmern übersäter, schlammbedeckter Himmelssegen.
Die Laubblätter klebten sich fester an seinen Rücken.
Etwas wartete.
»Allah ma’ak, chawaga.«
Verfaulte Zähne. Der Kurde grinste und winkte zum Abschied. Der Mann in Kaki tastete in den Tiefen seines Inneren nach Wärme und brachte ein Winken und ein knappes Lächeln zustande. Es ließ nach, als er den Blick abwandte. Er startete den Motor, fuhr eine scharfe, exzentrische 180-Grad-Wende und brach in Richtung Mosul auf. Der Kurde blieb stehen und sah ihm nach, verwirrt von einem entmutigenden Gefühl des Verlusts, das ihn überkam, während der Jeep beschleunigte. Was hatte er verloren? Was hatte er in Gegenwart dieses Fremden gespürt? Er erinnerte sich: Es war etwas wie Sicherheit gewesen, ein Behütetsein, ein tiefes Behagen. Nun verschwand es mit dem schnellen Jeep in der Ferne. Er fühlte sich auf merkwürdige Weise allein.
Um zehn Minuten nach sechs war die gewissenhafte Inventarisierung abgeschlossen. Der Kurator für Antiquitäten in Mosul, ein Araber mit hängenden Wangen, schrieb sorgfältig einen letzten Eintrag in das Bestandsbuch auf seinem Tisch. Für einen Moment hielt er inne und blickte zu seinem Freund auf, während er die Feder in ein Tintenfass tauchte. Der Mann in Kaki wirkte gedankenverloren. Er stand mit den Händen in den Taschen an einem Tisch und starrte auf irgendein trockenes, etikettiertes Flüstern aus der Vergangenheit hinunter. Einige Augenblicke betrachtete der Kurator ihn unbewegt und neugierig; dann wandte er sich wieder dem Eintrag zu und schrieb in strenger, sehr kleiner und säuberlicher Handschrift. Schließlich seufzte er und legte die Feder hin, als er bemerkte, wie spät es war. Der Zug nach Bagdad fuhr um acht Uhr. Er löschte die Seite ab und bot seinem Gegenüber Tee an.
Der Mann in Kaki schüttelte den Kopf, ohne den Blick von dem Gegenstand auf dem Tisch zu lösen. Der Araber beobachtete ihn mit vagem Unbehagen. Was lag da in der Luft? Irgendetwas stimmte nicht. Er stand auf und ging näher heran; dann fühlte er eine Art Prickeln im Nacken, als sein Freund sich schließlich bewegte, nach einem Amulett griff und es nachdenklich in der Hand hielt. Es war ein grüner Steinkopf, der den Dämon Pazuzu darstellte, die Verkörperung des Südwestwinds. Er brachte Krankheit und Seuchen. Der Kopf hatte ein Loch. Der Besitzer des Amuletts hatte es getragen, um sich zu schützen.
»Böses gegen Böses«, hauchte der Kurator und fächelte sich träge mit einer französischen Wissenschaftszeitschrift Luft zu, auf deren Titelseite jemand einen Daumenabdruck in Olivenöl hinterlassen hatte.
Sein Freund rührte sich nicht; er äußerte sich auch nicht. Der Kurator neigte den Kopf zur Seite. »Stimmt etwas nicht?«, erkundigte er sich.
Keine Antwort.
»Pater Merrin?«
Der Mann in Kaki schien ihn immer noch nicht zu hören, blieb ganz in das Amulett vertieft, seinen neuesten Fund. Einen Moment später legte er es hin und warf dem Araber einen fragenden Blick zu. Hatte er etwas gesagt?
»Nein, Pater. Nichts.«
Sie murmelten Abschiedsworte.
An der Tür ergriff der Kurator die Hand des alten Mannes mit besonderer Festigkeit.
»Mein Herz hat einen Wunsch: dass Sie nicht gehen.«
Die Antwort seines Freundes war sanft und handelte von Tee, von Zeit, von etwas, das erledigt werden musste.
»Nein, nein, nein! Ich meine: nach Hause!«
Der Mann in Kaki fixierte den Rest einer gekochten Kichererbse, der sich in einem Mundwinkel des Arabers festgesetzt hatte; aber sein Blick war geistesabwesend. »Nach Hause«, wiederholte er.
Der Ausdruck klang nach etwas, das endete.
»In die Staaten«, fügte der arabische Kurator hinzu und fragte sich noch im selben Moment, warum er das tat.
Der Mann in Kaki sah, wie besorgt der andere war. Es war ihm nie schwergefallen, diesen Mann gernzuhaben. »Auf Wiedersehen«, sagte er leise; dann wandte er sich rasch ab und trat in die wachsende Düsternis der Straßen hinaus, begann eine Heimreise, deren Dauer ungewiss schien.
»Wir sehen uns nächstes Jahr!«, rief der Kurator ihm von der Tür aus nach. Aber der Mann in Kaki schaute nicht zurück. Der Araber blickte der kleiner werdenden Gestalt hinterher, während diese schräg über eine schmale Straße ging und dabei beinahe mit einer schnellen Droschke zusammenstieß. In der Kabine saß eine korpulente arabische Frau, deren Gesicht nur ein Schatten hinter dem schwarzen Spitzenschleier war, der lose über ihr ausgebreitet lag wie ein Grabtuch. Er nahm an, dass sie zu irgendeiner Verabredung raste. Bald verlor er seinen eiligen Freund aus den Augen.
Der Mann in Kaki bewegte sich wie unter Zwang. Er ließ die Stadt hinter sich, durchkreuzte die Randgebiete, überquerte mit hastigen Schritten den Tigris. Aber als er sich den Ruinen näherte, wurde er langsamer, denn mit jedem Schritt nahm seine noch unausgereifte Vorahnung festere, schrecklichere Formen an.
Und doch musste er es wissen. Er würde sich vorbereiten müssen.
Eine Holzplanke, die als Brücke über einen schlammigen Fluss namens Khosr diente, knirschte unter seinem Gewicht. Und dann war er angekommen, stand auf dem Hügel, auf dem sich einmal in vollem Glanz die 15 Tore von Ninive erhoben hatten, gefürchtete Heimstatt assyrischer Horden. Jetzt lag die Stadt vor ihm, hingestreckt im blutigen Staub ihrer Bestimmung. Und doch war er da, lag noch immer in der Luft – dieser andere, der über seine Träume herfiel.
Der Mann in Kaki durchstreifte die Ruinen. Der Tempel des Nabu. Der Tempel der Ishtar. Er prüfte die Vibrationen, die er spürte. Am Palast des Assurbanipal blieb er stehen und sah zu einer Kalksteinstatue hinauf, die noch in situ aufragte. Gezackte Schwingen und Krallen an den Füßen. Ein knolliger, abstehender, stummelartiger Penis und ein Mund, den ein wildes Grinsen dehnte. Der Dämon Pazuzu.
Plötzlich erschlaffte der Mann in Kaki.
Er senkte den Kopf.
Er wusste es.
Es würde kommen.
Er starrte auf den Staub und die rasch wachsenden Schatten. Das Rund der Sonne begann unter den Rand der Welt zu sinken, und er konnte das schwache Kläffen der Rudel wilder Hunde hören, die durch die Randbezirke der Stadt streiften. Er rollte die Ärmel seines Hemdes herunter und knöpfte sie zu, als sich ein kühler Wind erhob. Er wehte aus dem Südwesten.
Der Mann hastete nach Mosul, zu seinem Zug, sein Herz ummantelt von der eiskalten Überzeugung, dass er bald von einem uralten Feind gejagt würde, dessen Gesicht er nie gesehen hatte.
Doch er kannte seinen Namen.
Erster Teil: Der Anfang
1
Wie das kurze, verlorene Aufflackern explodierender Sonnen, das schwach zu den Augen eines Blinden durchdringt, blieb der Beginn des Grauens beinahe unbemerkt; im Geschrei dessen, was folgte, geriet er in Vergessenheit, wurde vielleicht gar nicht mit dem Grauen in Verbindung gebracht. Es war schwer, sich darüber ein Urteil zu bilden.
Es war ein Mietshaus. Düster. Eng. Ein efeuumrankter Ziegelbau im Kolonialstil, gelegen im Viertel Georgetown, Washington, D. C. Auf der anderen Straßenseite lag der Campus der Georgetown University. An der Rückseite fiel eine kahle Böschung steil zur belebten M Street und dem gleich dahinter gelegenen Fluss Potomac ab. In der ersten Aprilnacht war es still im Haus. Chris MacNeil saß im Bett und ging ihren Text für den Dreh am nächsten Tag durch. Regan, ihre Tochter, schlief im Zimmer am anderen Ende des Flurs, und unten schliefen die beiden Hausangestellten mittleren Alters, Willie und Karl, in einem Raum neben der Vorratskammer. Etwa um 0:25 Uhr blickte Chris mit verwirrtem Stirnrunzeln von ihrem Skript auf. Sie hörte pochende Laute. Sie hörten sich seltsam an. Dumpf. Tief. Rhythmisch gruppiert. Ein fremdartiger Code, geklopft von einem Toten.
Komisch.
Für einen Moment hörte sie zu, dann wandte sie sich ab. Aber als das Pochen weiterging, konnte sie sich nicht mehr konzentrieren. Sie warf das Drehbuch schwungvoll aufs Bett.
Gott, ist das nervig!
Chris stand auf, um der Sache auf den Grund zu gehen.
Sie ging in den Flur und sah sich um. Das Pochen schien aus Regans Zimmer zu kommen.
Was macht sie da?
Sie tappte den Flur entlang. Das Klopfen wurde plötzlich lauter und viel schneller, und als sie die Tür aufstieß und ins Zimmer trat, hörte es schlagartig auf.
Was zum Kuckuck ist hier los?
Ihre hübsche elfjährige Tochter schlief, eng an einen großen kulleräugigen Stoffpanda geschmiegt. Er hieß Pookey. Durch das jahrelange Drücken war er ausgebleicht; Jahre voller schmatzender, warmer, feuchter Küsse.
Chris trat leise an ihr Bett, beugte sich über sie und flüsterte: »Rags? Bist du wach?«
Gleichmäßiges Atmen. Schwer. Tief.
Sie sah sich im Zimmer um. Dämmriges Licht aus dem Flur fiel in bleichen Flecken auf Regans Bilder und Plastiken, auf weitere Stofftiere.
Okay, Rags. Deine alte Mutter ist fix und fertig. Mach schon, sag’s! Sag ›April, April‹!
Aber Chris wusste genau, dass solche Spielchen ihrer Tochter nicht ähnlichsahen. Das Kind war schüchtern und zaghaft. Wer spielte ihr dann diesen Streich? Ihr eigener, schläfriger Geist, der dem zufälligen Klappern von Heizungs- und Wasserrohren eine Ordnung zuschrieb? In den Bergen von Bhutan hatte sie einmal stundenlang einen buddhistischen Mönch angestarrt, der meditierend am Boden hockte. Schließlich hatte sie geglaubt zu sehen, wie er schwebte – aber jedes Mal, wenn sie diese Geschichte jemandem erzählte, fügte sie ein »Vielleicht« hinzu. Und nun kam ihr der Gedanke, dass ihr Verstand, dieser unermüdliche Geschichtenerzähler, aus dem Pochen vielleicht mehr gemacht hatte, als es war.
Blödsinn! Ich hab’s doch gehört!
Abrupt warf sie einen Blick zur Decke.
Da! Ein leises Kratzen.
Ratten auf dem Dachboden, Herrgott noch mal! Ratten!
Sie seufzte. Das muss es sein. Lange Rattenschwänze. Bumm, bumm! Sie war seltsam erleichtert. Dann bemerkte sie die Kälte. Das Zimmer. Es war eiskalt.
Chris tappte zum Fenster und betrachtete es. Geschlossen. Sie griff an die Heizung. Warm.
Ach, tatsächlich?
Verwirrt ging sie zum Bett und legte Regan eine Hand an die Wange. Sie war weich wie Watte und leicht verschwitzt.
Ich muss krank sein!
Chris betrachtete ihre Tochter, ihre Stupsnase und ihre Sommersprossen, und einem plötzlichen, warmen Impuls folgend beugte sie sich über das Bett und gab ihr einen Wangenkuss. »Ich hab dich wirklich lieb«, flüsterte sie. Dann kehrte sie in ihr Schlafzimmer zurück, zu ihrem Bett und ihrem Drehbuch.
Für eine Weile lernte Chris ihren Text. Der Film war ein Comedy-Musical-Remake von Mr. Smith geht nach Washington. Man hatte eine Nebenhandlung hinzugefügt, in der es um Studentenaufstände am Campus ging. Chris spielte darin die Hauptrolle. Sie war eine Psychologieprofessorin, die sich auf die Seite der Rebellen schlug. Und sie hasste die Rolle. Diese Szene ist unterirdisch!, dachte sie. Einfach nur dumm! Obwohl sie keine höhere Bildung genossen hatte, verwechselte sie Parolen niemals mit der Wahrheit und neigte dazu, sich wie ein neugieriger Blauhäher hartnäckig durch das Wortgeklingel zu picken, bis sie die darin verborgene, glitzernde Tatsache fand. Und aus diesem Grund ergab die Studentenrevolte für sie keinen Sinn. Aber wie kommt das?, fragte sie sich nun. Liegt das etwa am Generationsunterschied? Ist doch Quatsch; ich bin erst 32. Das ist einfach blöd, sonst nichts, das ist …
Beruhig dich. Ist ja nur noch eine Woche.
Sie hatten die Innenaufnahmen in Hollywood fertiggestellt. Jetzt mussten nur noch ein paar Außenaufnahmen auf dem Campus der Georgetown University gedreht werden, und morgen würde es losgehen.
Schwere Lider. Sie wurde schläfrig. Die nächste Seite war merkwürdig zerrissen. Ihr britischer Regisseur, Burke Dennings. Wenn er besonders angespannt war, riss er mit zitternden, flatternden Händen einen schmalen Papierstreifen aus der nächsten Drehbuchseite, die gerade zur Hand war, und kaute diesen Streifen dann langsam, Zentimeter für Zentimeter, bis er sich in seinem Mund in eine feuchte Kugel verwandelt hatte.
Der verrückte Burke, dachte Chris.
Sie gähnte mit einer Hand vor dem Mund und warf einen liebevollen Blick auf den Rand des Drehbuchs. Die Seiten sahen wie angenagt aus. Sie musste wieder an die Ratten denken. Anscheinend haben die kleinen Mistviecher sogar Rhythmusgefühl. Sie machte sich im Kopf eine Notiz, Karl am Morgen zu sagen, dass er Fallen aufstellen sollte.
Ihre Finger entspannten sich. Das Skript löste sich aus ihnen. Sie ließ es fallen. Blöd, dachte sie. Es ist blöd. Linkisch tastete sie nach dem Lichtschalter. Und Schluss. Sie seufzte und blieb eine Zeit lang reglos liegen, schlief beinahe ein. Dann trat sie mit einer trägen Beinbewegung die Bettdecke von sich.
Zu warm! Zu verflixt warm! Sie dachte wieder an diese verblüffende Kälte in Regans Zimmer. Da kam ihr ein Filmdreh mit Edward G. Robinson in den Sinn, dem legendären Gangsterfilmstar der 1940er-Jahre. Damals hatte sie sich gefragt, weshalb sie in jeder gemeinsamen Szene mit ihm vor Kälte fast zitterte – bis ihr klar wurde, dass es diesem raffinierten alten Hasen doch tatsächlich gelungen war, sich zwischen sie und ihren Scheinwerfer zu stellen. Ein schwaches, amüsiertes Lächeln überkam sie beim Gedanken daran, sanft wie das Wasser an den beschlagenen Fensterscheiben. Chris schlief ein. Und während etwas klingelte, träumte sie auf erschütternd spezielle Weise vom Tod, als ob dieser etwas vollkommen Neues, nie Dagewesenes war. Sie keuchte, löste sich auf, entglitt in die Leere, wobei sie immer wieder dachte: Ich werde nicht mehr sein, ich werde sterben, nicht mehr da sein in alle Ewigkeit, o Papa, lass das nicht zu, oh, lass nicht zu, dass sie das tun, lass mich nicht für immer nichts sein, schmelzen, mich auflösen, Klingeln, das Klingeln …
Das Telefon!
Mit klopfendem Herzen schnellte sie hoch, die Hand am Hörer und ein Gefühl von Schwerelosigkeit im Bauch. Sie war ein Ding ohne Gewicht, und ihr Telefon klingelte.
Sie nahm den Anruf entgegen. Es war der Regieassistent.
»Du musst um sechs in die Maske, Schätzchen.«
»Ich weiß.«
»Wie fühlst du dich?«
»Als wär ich gerade erst ins Bett gegangen.«
Der Assistent lachte leise. »Also, bis gleich.«
»Ja, klar.«
Chris legte auf und blieb für einen Moment reglos sitzen, in Gedanken noch bei ihrem Traum. Ein Traum? Es war eher wie ein Gedanke im halb bewussten Zustand des Erwachens: Diese schreckliche Gewissheit. Das Schimmern des nackten Schädelknochens. Das Nichtsein. Unumkehrbar. Sie konnte es sich nicht vorstellen.
Gott, das kann nicht sein!
Niedergeschlagen ließ sie den Kopf hängen.
Aber es ist so.
Sie ging ins Badezimmer, zog sich einen Morgenmantel an und trippelte die alte Kiefernholztreppe zur Küche hinunter, wo sie das Leben in Form von brutzelndem Speck bereits erwartete.
»Ah, guten Morgen, Mrs. MacNeil!«
Die graue, schlaffe Gestalt mit den bläulichen Tränensäcken, die dort Orangen auspresste, war Willie. Sie hatte einen leichten Akzent. Schweizerisch, wie der von Karl. Sie wischte sich die Hände mit einem Papiertuch ab und ging zum Herd.
»Ich mach das schon, Willie.« Feinfühlig, wie sie war, hatte Chris die erschöpfte Miene der Haushälterin bemerkt. Während Willie sich mit einem Brummen wieder der Spüle zuwandte, goss die Schauspielerin sich Kaffee ein und setzte sich in die Frühstücksnische. Dort schaute sie auf ihren Teller hinab und lächelte liebevoll, als sie die rote Rose sah, die sich vor dem weißen Hintergrund abhob. Regan. Der Engel. Wenn Chris arbeitete, schlich sich Regan am Morgen oft leise aus dem Bett und kam in die Küche herunter, wo sie eine Blume auf den leeren Teller ihrer Mutter legte, um sich dann schlaftrunken den Weg zurück in ihr Zimmer zu bahnen. An diesem Morgen schüttelte Chris reumütig den Kopf, als ihr wieder einfiel, dass sie erwogen hatte, das Mädchen Goneril zu nennen. Klar. Nur keine Scheu. So bereitest du sie gleich auf das Schlimmste vor. Bei dieser Erinnerung lächelte sie schwach. Sie nippte an ihrem Kaffee, und als ihr Blick wieder auf die Rose fiel, wurde ihre Miene für einen Moment traurig und ihre grünen Augen bekamen einen verlorenen, heimatlosen Ausdruck. Sie hatte sich an eine andere Blume erinnert. Einen Sohn. Jamie. Er war vor langer Zeit im Alter von drei Jahren gestorben, als Chris noch ein sehr junges, unbekanntes Chormädchen am Broadway gewesen war. Damals hatte sie sich geschworen, dass sie sich nie mehr so für jemanden aufopfern würde, wie sie es für Jamie und seinen Vater, Howard MacNeil, getan hatte. Während ihr Traum über den Tod sich zusammen mit den Dämpfen des heißen, schwarzen Kaffees in Luft auflöste, wandte sie sich von der Rose und ihren Gedanken ab. Willie brachte den Saft und stellte ihn ihr hin.
Chris erinnerte sich an die Ratten.
»Wo ist Karl?«
»Ich bin hier, Madam!«
Geschmeidig wie eine Katze betrat er die Küche durch die Speisekammertür. Sein Auftreten war souverän und dennoch respektvoll. Er drückte sich ein Stück von einem Papiertaschentuch ans Kinn, wo er sich beim Rasieren geschnitten hatte. »Ja?« Groß und muskulös ragte er vor dem Tisch auf mit seinen glitzernden Augen, seiner Raubvogelnase und seinem kahlen Kopf.
»Hey, Karl, wir haben Ratten auf dem Dachboden. Besorgen Sie uns besser ein paar Fallen.«
»Da sind Ratten?«
»Das habe ich doch gerade gesagt.«
»Aber der Dachboden ist sauber.«
»Na gut, dann haben wir eben saubere Ratten!«
»Wir haben keine Ratten.«
»Karl, ich hab sie letzte Nacht gehört.«
»Vielleicht waren das die Wasserleitungen«, bohrte Karl nach, »oder Dielenbretter.«
»Oder Ratten! Kaufen Sie nun die verdammten Fallen und hören auf zu diskutieren?«
Karl hastete davon und rief: »Ja! Ich mache mich sofort auf den Weg!«
»Nein, nicht sofort, Karl! Die Geschäfte haben alle geschlossen!«
»Die haben alle geschlossen!«, rief Willie ihm tadelnd nach.
Aber er war schon verschwunden.
Chris und Willie tauschten einen Blick aus; dann wandte Willie sich mit einem Kopfschütteln wieder dem Speck zu. Chris trank einen Schluck Kaffee. Seltsam. Ein seltsamer Mann, dachte sie. Wie Willie war er fleißig, sehr loyal, sehr diskret. Und doch war irgendetwas an ihm, das sie vage beunruhigte. Was war es? Diese subtile Arroganz, die er ausstrahlte? Nein. Etwas anderes. Aber sie konnte es nicht näher bestimmen. Die Hausangestellten waren seit fast sechs Jahren bei ihr, und dennoch war Karl eine wandelnde Maske – eine sprechende, atmende, unübersetzte Hieroglyphe, die steifbeinig ihre Aufträge ausführte. Aber hinter der Maske war etwas in Bewegung; sie hörte den Mechanismus ticken, aber es war, als hätte er ein Bewusstsein. Die Haustür öffnete sich knarrend und fiel wieder ins Schloss. »Die haben geschlossen«, murmelte Willie noch einmal.
Chris aß ein wenig von ihrem Speck und kehrte dann in ihr Zimmer zurück, wo sie ihr Kostüm anzog, das aus Rock und Pullover bestand. Sie sah in den Spiegel und betrachtete ernst ihre kurzen, roten Haare, die immer zerzaust wirkten, die zahllosen Sommersprossen in ihrem frisch gewaschenen Gesicht. Dann schielte sie, setzte ein dümmliches Grinsen auf und sagte: »Oh, hi, du kleines, wunderbares Mädchen von nebenan! Kann ich mit deinem Mann sprechen? Deinem Liebhaber? Deinem Zuhälter? Ach, dein Zuhälter ist im Armenhaus? So ein Pech!« Sie streckte sich die Zunge heraus. Aber dann ließ sie die Schultern hängen. Mein Gott, was für ein Leben. Nachdem sie die Schachtel mit den Perücken geholt hatte, schlurfte sie wieder nach unten und trat auf die hübsche, von Bäumen gesäumte Straße hinaus.
Für einen Augenblick blieb sie vor dem Haus stehen und atmete das frische Versprechen ein, das in der Morgenluft lag, hörte den gedämpften Alltagsgeräuschen des erwachenden Lebens zu. Mit wehmütigem Blick sah sie nach rechts, wo neben dem Haus eine alte Steintreppe steil zur weit unten gelegenen M Street abfiel. Nicht weit davon waren die antiken Rokoko-Ziegeltürmchen und das mediterran anmutende Ziegeldach des oberen Eingangs zum alten Depot, dem Car Barn, das jetzt als Universitätsgebäude diente. Toll. Ist ’ne tolle Gegend, dachte sie. Verflucht noch mal, warum bleib ich nicht hier? Kaufe das Haus? Fange an zu leben? Eine tief dröhnende Glocke begann zu läuten – die Turmglocke vom Campus der Georgetown University. Ihre melancholischen Schwingungen brachten die Wasseroberfläche des schlammig braunen Flusses zum Zittern und drangen tief ins müde Herz der Schauspielerin vor. Sie ging zu ihrem Arbeitsplatz, zu diesem grässlichen Affentheater, dieser künstlichen, lachhaften Nachahmung der Vergangenheit.
Ihr Trübsinn ließ nach, als sie den Campus durch das Haupttor betrat; er ließ noch mehr nach, als sie die Garderobentrailer erblickte, die entlang der Einfahrt nahe der Südmauer des Grundstücks aufgereiht standen. Als um acht Uhr die erste Szene des Tages anstand, war sie beinahe wieder ganz sie selbst: Sie fing einen Streit über das Drehbuch an.
»Hey, Burke? Schaust du dir das verdammte Ding jetzt mal an?«
»Ach, sieh an, du hast ja tatsächlich ein Drehbuch! Wie schön!« Der angespannt wirkende Regisseur Burke Dennings sah sie mit einem verschmitzt funkelnden, zuckenden linken Auge an und riss mit zitternden Fingern einen schmalen Papierstreifen aus ihrem Skript. »Ich glaube, ich brauch was zum Knabbern.«
Sie standen auf der Esplanade vor der Hauptverwaltung der Universität, umgeben von Statisten, Schauspielern und dem Hauptteam des Films. Hier und dort waren ein paar Schaulustige auf dem Rasen zu sehen, hauptsächlich Angehörige der jesuitischen Fakultät. Der Kameramann schlug gelangweilt die Daily Variety auf, während Dennings sich kichernd das Papier in den Mund stopfte, wobei sein Atem leicht nach dem ersten Gin an diesem Morgen roch.
»O ja, ich bin wirklich verdammt froh, dass man dir auch ein Drehbuch gegeben hat!«
Er war ein schlitzohriger, zerbrechlicher Mann in den Fünfzigern und sprach mit einem starken, charmanten britischen Akzent, so abgehackt und präzise, dass er damit selbst den unflätigsten Kraftausdrücken Eleganz verlieh. Wenn er trank, schien er stets kurz davor zu sein, in schallendes Gelächter auszubrechen, und wirkte, als müsste er ständig um seine Fassung ringen.
»Na dann, sag’s mir, meine Kleine. Worum geht’s? Wo liegt das Problem?«
Die Szene sah vor, dass der Dekan des fiktiven College aus dem Drehbuch sich mit einer Ansprache an die Studenten wandte, um diese davon abzuhalten, ein angedrohtes Sit-in durchzuführen. Chris sollte die Stufen zur Esplanade hinaufrennen, dem Dekan das Megafon aus den Händen reißen, auf das Verwaltungsgebäude deuten und rufen: »Reißen wir es nieder!«
»Das ergibt überhaupt keinen Sinn«, wandte Chris sich an den Regisseur.
»Wieso, ist doch eine ganz klare Sache«, log Dennings.
»Ach, wirklich? Na, dann erklär’s mir, Burkey-Wurky. Warum zum Kuckuck sollten sie das Gebäude niederreißen? Wozu? Wie verstehst du das?«
»Willst du mich auf den Arm nehmen?«
»Nein, ich will wissen, warum!«
»Einfach weil es da ist, Liebes!«
»Im Drehbuch?«
»Nein, hier, auf diesem Grundstück!«
»Ach, komm schon, Burke, das sieht ihr doch gar nicht ähnlich. Das passt überhaupt nicht zu dieser Figur. Sie würde das nicht tun.«
»Doch, würde sie.«
»Nein, würde sie nicht.«
»Sollen wir den Autor kommen lassen? Ich glaube, der ist in Paris!«
»Um sich zu verstecken?«
»Um zu ficken!«
Seine Aussprache war knapp und tadellos und seine Fuchsaugen glitzerten in seinem teigigen Gesicht, während das Wort überdeutlich bis zu den gotischen Turmspitzen empordrang. Chris ließ sich lachend an seine Schulter sinken. »Ach, Burke, du bist einfach unmöglich, verdammt noch mal!«
»Stimmt.« Er sagte es wie Cäsar, der bescheiden die Gerüchte über seine dreimalige Ablehnung der Kaiserkrone bestätigte. »Also dann, können wir weitermachen?«
Chris hörte ihn gar nicht. Um zu sehen, ob dieser die vulgäre Bemerkung gehört hatte, warf sie einem etwa 40-jährigen Jesuiten, der zwischen den sie umringenden Schaulustigen stand, einen flüchtigen, verschämten Blick zu. Der Mann hatte ein düsteres, raues Gesicht. Wie ein Boxer. Mit Spuren kleiner Verletzungen. Die Augen hatten etwas Trauriges, Trauerndes, aber sein Blick war freundlich und beruhigend, als er sie ansah und ihr lächelnd zunickte. Ja, er hatte es gehört. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr und entfernte sich.
»Ich habe gefragt: Können wir weitermachen?«
Chris drehte sich um, riss sich los. »Ja, klar, Burke. Legen wir los.«
»Na, Gott sei Dank.«
»Nein, warte mal!«
»Ach, herrje!«
Sie hatte noch etwas am Ablauf der Szene auszusetzen. Sie hatte das Gefühl, dass mit ihrer Zeile bereits der Höhepunkt erreicht war, und nicht erst damit, dass sie unmittelbar danach ins Gebäude rannte.
»Das fügt der Szene nichts Wichtiges hinzu«, beharrte Chris. »Das ist dumm, sonst nichts.«
»Ja, ist es, meine Liebe, ist es«, stimmte Burke ihr aufrichtig zu. »Aber der Cutter besteht darauf, dass wir es filmen«, fuhr er fort. »Das ist die Lage, in der wir stecken. Verstehst du?«
»Nein, tu ich nicht.«
»Natürlich verstehst du das nicht, Schatz, weil du absolut recht hast: Es ist dumm. Weißt du, die Szene, die direkt danach kommt …« Dennings kicherte. »Nun ja … Weil die damit anfängt, dass Jed durch eine Tür hereinkommt, ist der Cutter vollkommen überzeugt, dass diese hier damit enden muss, dass du durch eine Tür hinausgehst.«
»Machst du Witze?«
»Oh, ich bin ganz auf deiner Seite, Süße. Es ist zum Kotzen, beschissen, hirnverbrannt. Aber warum drehen wir es nicht einfach, und du vertraust mir, dass ich es aus der Endfassung herausschneide? Wird bestimmt eine leckere Knabberei, der Fetzen.«
Chris lachte. Und war einverstanden. Burke warf dem Cutter einen Blick zu, der als aufbrausender Egozentriker mit einem Hang zu langen, zeitraubenden Diskussionen galt. Aber dieser sprach gerade mit dem Kameramann. Der Regisseur seufzte erleichtert.
Während Chris am Fuß der Treppe wartete, bis die Scheinwerfer aufgewärmt waren, beobachtete sie Dennings dabei, wie er einen unglückseligen Kamerabühnenmann wüst beschimpfte und danach sichtlich vor Zufriedenheit strahlte. Er schien geradezu in seiner Exzentrizität zu schwelgen. Aber Chris wusste, dass er ab einer gewissen Alkoholmenge zu plötzlichen Wutausbrüchen neigte. Wenn das um drei oder vier Uhr morgens passierte, konnte es leicht vorkommen, dass er einflussreiche Personen anrief und sie wegen irgendwelcher unbedeutender Provokationen mit einem Schwall von Beleidigungen überzog. Chris erinnerte sich an einen Studiochef, dessen Verfehlung darin bestanden hatte, bei einer Filmvorführung eine verhaltene Bemerkung über Dennings’ leicht ausgefranstes Hemd zu machen. Dieser hatte ihn um drei Uhr morgens aufgeweckt und ihn als »beschissenen Bauerntrampel« bezeichnet, dessen Vater, der Gründer des Studios, »höchstwahrscheinlich psychotisch« sei und während des Drehs von Der Zauberer von Oz »Judy Garland wiederholt betatscht« habe. Am nächsten Tag täuschte er dann Gedächtnisschwund vor, strahlte aber klammheimlich vor Freude, wenn die Beleidigten ihm in allen Einzelheiten schilderten, was er getan hatte.
Wenn es ihm in den Kram passte, war er jedoch durchaus in der Lage, sich zu erinnern. Chris lächelte und schüttelte den Kopf, als sie daran zurückdachte, wie er in ginbefeuerter, rasender Wut die Büroräume seines Studios zertrümmert hatte. Als der Produktionsleiter ihn später mit einer detaillierten Rechnung sowie Polaroidfotos der Verwüstung konfrontierte, hatte er diese schelmisch als »offensichtliche Fälschungen« zurückgewiesen, da der angerichtete Schaden »viel, viel schlimmer« gewesen sei. Sie glaubte nicht, dass er ein Alkoholiker oder auch nur ein hoffnungsloser Problemtrinker war. Er schien vielmehr zu trinken und sich unverschämt zu benehmen, weil man es von ihm erwartete: Er musste seinem Ruf gerecht werden.
Na ja, dachte sie, ich schätze, das ist auch eine Art, sich unsterblich zu machen.
Sie drehte sich um und hielt über die Schulter nach dem Jesuiten Ausschau, der gelächelt hatte, als Burke den vulgären Fluch von sich gab. Er ging in der Ferne davon, niedergeschlagen, mit gesenktem Kopf, eine einsame, schwarze Regenwolke ohne Regen. Sie hatte Priester nie gemocht. Die waren so selbstsicher. So gefestigt. Aber dieser …
»Bist du startklar, Chris?«
»Bin ich.«
»In Ordnung, bitte absolute Ruhe!«, rief der Regieassistent.
»Film ab!«, befahl Burke.
»Läuft!«
»Und Action!«
Unter dem Jubel der Statisten rannte Chris die Stufen hinauf. Dennings beobachtete sie und fragte sich, was ihr durch den Kopf ging. Sie hatte viel zu schnell nachgegeben. Er warf dem Dialogtrainer einen vielsagenden Blick zu. Dieser kam sofort pflichtbewusst angetrottet und reichte ihm sein aufgeschlagenes Drehbuch, wie ein alternder Messdiener, der dem Priester beim Gottesdienst das Messbuch darbot.
Sie hatten bei unregelmäßigem Sonnenlicht gearbeitet, und um vier Uhr nachmittags war der Himmel dunkel und mit dichten Wolken verhangen.
»Burke, wir haben bald kein Licht mehr«, bemerkte der Regieassistent sorgenvoll.
»Ja, irgendwann geht überall auf der Scheißwelt das Licht aus.«
Auf Dennings’ Anweisung gab der Assistent allen Mitarbeitern für den Rest des Tages frei. Chris war nun auf dem Heimweg, richtete die Augen auf den Bürgersteig und verspürte große Müdigkeit. An der Kreuzung der 36. und der O Street blieb sie stehen, um einem älteren italienischen Lebensmittelverkäufer, der sie von der Tür seines Ladens aus gegrüßt hatte, ein Autogramm zu geben. Sie schrieb ihren Namen und ›Mit herzlichen Grüßen‹ auf eine braune Papiertüte. Dann wartete sie einen vorbeifahrenden Wagen ab, überquerte die N Street und warf einen Blick zur katholischen Kirche auf der anderen Straßenseite. Die Kirche der heiligen Soundso. Das Personal bestand aus Jesuiten. Sie hatte gehört, dass John F. Kennedy dort Jackie geheiratet hatte und zum Gottesdienst gegangen war. Sie versuchte, es sich vorzustellen: John F. Kennedy im Schein der Opferkerzen zwischen den frommen, runzligen alten Frauen; John F. Kennedy, der mit gesenktem Kopf betete; ich glaube … Die Entspannungspolitik gegenüber Russland. Ich glaube, ich glaube … Apollo IV im Klappern der Rosenkranzperlen. Ich glaube an die Auferstehung und das ewige …
Ja, so war er. Der geile Bock.
Chris sah zu, wie ein Bierlaster der Firma Gunther auf dem Kopfsteinpflaster vorbeirollte, bis obenhin gefüllt mit feuchtfröhlichen Verheißungen.
Sie überquerte die Straße. Als sie die O Street entlangging und am Unterrichtsgebäude der Holy-Trinity-Grundschule vorbeikam, eilte ein Priester von hinten an ihr vorbei, die Hände in den Taschen einer Nylon-Windjacke vergraben. Jung. Sehr angespannt. Hatte dringend eine Rasur nötig. Ein Stück weiter vorne bog er nach rechts in einen Durchgang ab, der zu einem Hof an der Rückseite der Kirche führte.
Chris blieb vor dem Durchgang stehen und beobachtete den Mann neugierig. Er ging auf ein kleines weißes Häuschen zu. Eine alte Fliegengittertür öffnete sich quietschend und ein anderer Priester kam dahinter zum Vorschein. Dieser nickte dem Jüngeren knapp zu, senkte den Blick und ging rasch zu einem der Kircheneingänge. Noch einmal wurde die Tür des Häuschens von innen geöffnet. Wieder ein Priester. Er sah aus wie – Hey, das ist er! Ja, das ist der, der gelächelt hat, als Burke ›ficken‹ sagte! Aber jetzt war sein Gesichtsausdruck ernst, als er den Neuankömmling begrüßte und ihm in einer sanften, irgendwie väterlichen Geste den Arm um die Schultern legte. Er führte ihn hinein, und die Fliegengittertür schloss sich mit einem lang gezogenen, schwachen Quietschen.
Chris starrte auf ihre Schuhe hinab. Sie war verwirrt. Was treiben die da? Sie fragte sich, ob Jesuiten zur Beichte gingen.
Ein leises Donnergrollen. Sie hob den Blick zum Himmel. Würde es regnen? Die Wiederauferstehung und das ewige …
Ja. Ja, sicher. Nächsten Dienstag. Knisternd zuckten ein paar Blitze in der Ferne. Ruf uns nicht an, Kleine, wir melden uns bei dir.
Sie schlug den Mantelkragen hoch und ging langsam weiter.
Sie hoffte, es würde in Strömen regnen.
Eine Minute später war sie zu Hause. Dort ging sie geradewegs ins Badezimmer. Danach betrat sie die Küche.
»Hi Chris, wie ist es gelaufen?«
Eine hübsche Blonde, Mitte 20, saß am Tisch. Sharon Spencer. Frisch aus Oregon. Seit drei Jahren war sie Regans Privatlehrerin und Chris’ Sozialsekretärin.
»Ach, der übliche Mist.« Chris schlenderte zum Tisch und begann ihre Post durchzublättern. »Gibt’s irgendwas Aufregendes?«
»Willst du nächste Woche zum Dinner ins Weiße Haus?«
»Ach, ich weiß nicht … Wo ist Rags?«
»Unten im Spielzimmer.«
»Was macht sie?«
»Sie modelliert. Macht einen Vogel, glaube ich. Der ist für dich.«
»Den hab ich auch bitter nötig«, murmelte Chris. Sie ging zum Herd und goss sich eine Tasse heißen Kaffee ein. »War das mit dem Dinner ein Witz?«
»Nein, natürlich nicht«, erwiderte Sharon. »Das ist am Donnerstag.«
»Eine große Dinnerparty?«
»Nein, soweit ich weiß, werden nur fünf oder sechs Leute da sein.«
»Hey, super!«
Sie war erfreut, aber nicht überrascht. Alle suchten ihre Gesellschaft: Taxifahrer, Dichter, Professoren, Könige. Was mochten sie eigentlich so an ihr? Ihre Lebendigkeit?
Chris setzte sich an den Tisch. »Wie lief der Unterricht?«
Sharon zündete sich eine Zigarette an und runzelte die Stirn. »Mathe war wieder ziemlich schwierig.«
»Wirklich? Ist ja merkwürdig.«
»Ja, ich weiß. Das ist eigentlich ihr Lieblingsfach.«
»Na ja, diese ganze ›neue Mathematik‹. Meine Güte, ich kann ja kaum das Kleingeld für den Bus abzählen …«
»Hi, Mom!«
Mit ausgestreckten, schlanken Armen sprang Chris’ kleine Tochter zur Tür herein und rannte auf ihre Mutter zu. Rote Zöpfe. Ein sanftes, strahlendes Gesicht voller Sommersprossen.
»Na, kleiner Stinker?« Freudig packte Chris sie, umarmte sie kräftig und drückte ihr einen schmatzenden Kuss auf die rosige Wange. Sie konnte ihre stürmische Liebe nicht zurückhalten. »Mmmm-mmm-mmmh!« Noch mehr Küsse. Dann hielt sie Regan mit ausgestreckten Armen vor sich und musterte sie prüfend. »Und, was hast du heute so gemacht? Irgendwas Aufregendes?«
»Ach, nur so Zeug.«
»Was denn für Zeug? Was Gutes? Hm?«
»Äh, mal sehen …« Regan drückte ihre Knie an die ihrer Mutter und wiegte sich sanft hin und her. »Also, gelernt hab ich natürlich.«
»Mh-hm.«
»Und gemalt.«
»Was hast du gemalt?«
»Ach, na ja, Blumen, du weißt schon. Gänseblümchen. Nur in Rosa. Und dann … O ja! Dieses Pferd!« Plötzlich war sie ganz begeistert und riss die Augen weit auf. »Dieser Mann hatte ein Pferd, weißt du, unten am Fluss? Wir liefen da lang, Mom, und dann kam dieses Pferd vorbei, das war so schön! Ach, Mom, das hättest du sehen sollen. Und der Mann hat mir erlaubt, mich draufzusetzen! Wirklich! Ich hab fast ’ne Minute lang draufgesessen!«
Mit heimlicher Belustigung zwinkerte Chris Sharon zu. »So, so, du durftest dich also draufsetzen?«, fragte sie und hob eine Augenbraue. Als sie für den Filmdreh nach Washington gezogen waren, hatte die blonde Sekretärin, die jetzt praktisch zur Familie gehörte, noch bei ihnen im Haus gewohnt, in einem freien Schlafzimmer im Obergeschoss. Dann hatte sie in einem Reitstall in der Nähe den ›Pferdemann‹ kennengelernt, woraufhin Chris zu dem Schluss gekommen war, dass sie Privatsphäre brauchte. Sie hatte sie in einer Suite in einem teuren Hotel einquartiert und darauf bestanden, die Rechnung zu bezahlen.
»Ja, durfte sie«, gab Sharon grinsend zurück.
»Es war ein graues Pferd!«, fügte Regan hinzu. »Mutter, können wir ein Pferd kaufen? Ich meine, könnten wir?«
»Mal sehen, Schätzchen.«
»Wann könnte ich denn eins haben?«
»Mal sehen. Wo ist denn der Vogel, den du gemacht hast?«
Zuerst sah Regan sie verständnislos an. Dann drehte sie sich zu Sharon um und grinste sie mit schüchternem Tadel an, wobei ihre Zahnspange zum Vorschein kam. »Du hast es ihr verraten!« Sie wandte sich wieder ihrer Mutter zu und kicherte. »Das sollte eine Überraschung sein.«
»Du meinst …«
»Mit der lustigen, langen Nase, so wie du es wolltest!«
»Ach, Rags, du bist so lieb. Kann ich ihn mal sehen?«
»Nein, ich muss ihn noch anmalen. Wann gibt’s Abendessen, Mom?«
»Hast du Hunger?«
»Ich verhungere.«
»Mensch, es ist doch noch nicht mal fünf. Wann hatte sie denn ihr Mittagessen?«, erkundigte sich Chris bei Sharon.
»So um zwölf ungefähr.«
»Wann kommen Willie und Karl zurück?«
Chris hatte ihnen den Nachmittag freigegeben.
»Ich glaube, um sieben«, antwortete Sharon.
»Mom, können wir bei Hot Shoppe essen?«, drängte Regan. »Können wir?«
Chris hob die Hand ihrer Tochter, lächelte zärtlich, küsste die Hand und erwiderte: »Lauf nach oben und zieh dich um, dann gehen wir.«
»Oh, ich hab dich so lieb!«
Regan rannte aus dem Raum.
»Schatz, zieh das neue Kleid an!«, rief Chris ihr nach.
»Wärst du nicht auch gerne wieder elf?«, sinnierte Sharon.
»Ich weiß nicht.«
Chris griff nach ihrer Post und begann, all die gekritzelten Schmeicheleien durchzugehen. »Mit meinem Gehirn, wie’s jetzt ist? Mit allen Erinnerungen?«
»Klar.«
»Nie im Leben.«
»Denk noch mal drüber nach.«
Chris ließ die Briefe fallen und hob ein Drehbuch mit einem Begleitbrief ihres Agenten Edward Jarris auf. Der Brief war säuberlich an die Titelseite geheftet. »Ich dachte, ich hätte denen gesagt, dass ich für eine Weile keine Drehbücher mehr will.«
»Das solltest du lesen«, sagte Sharon.
»Ach ja?«
»Ja, ich hab’s heute Morgen gelesen.«
»Ist gut?«
»Ich finde es toll.«
»Und ich darf eine Nonne spielen, die herausfindet, dass sie lesbisch ist, oder?«
»Nein, du spielst überhaupt nichts.«
»Mann, Filme werden ja wirklich immer besser! Wovon redest du da, verflixt noch mal, Sharon? Warum grinst du so?«
»Die wollen, dass du Regie führst.« Sharon stieß geziert ihren Zigarettenrauch aus.
»Was?«
»Lies den Brief.«
»O mein Gott, Shar, du nimmst mich doch auf den Arm!«
Chris stürzte sich auf das Schreiben, verschlang die Worte gierig: … neues Drehbuch … ein Triptychon … das Studio will Sir Stephen Moore … vorausgesetzt, er nimmt die Rolle an …
»Ich führe bei seiner Episode Regie!«
Chris riss die Arme hoch und stieß einen rauen, schrillen Freudenschrei aus. Dann drückte sie sich den Brief mit beiden Händen an die Brust. »O Steve, du Engel, du hast es nicht vergessen!« Sie hatten in Afrika gedreht, hatten betrunken auf Campingstühlen gesessen und den golden-zinnoberroten Sonnenuntergang betrachtet. »Ach, diese ganze Branche ist so blödsinnig! Für die Schauspieler ist sie totaler Mist, Steve!« – »Oh, mir gefällt sie.« – »Sie ist Mist! Weißt du, was in diesem Geschäft das Beste ist? Regie führen. Dann hat man was erreicht, das einem keiner nehmen kann. Ich meine, dann hat man was geschaffen, das lebendig ist!« – »Na, dann tu das doch einfach, Liebes! Tu es!«– »Das habe ich doch schon versucht, Steve! Ich hab’s versucht; die wollten sich nicht drauf einlassen.« – »Wieso nicht?« – »Ach, komm schon, du weißt, warum. Die trauen mir das nicht zu.« – »Tja, ich trau es dir zu.«
Ein warmes Lächeln. Eine schöne Erinnerung. Der liebe Steve …
»Mom, ich kann das Kleid nicht finden!«, rief Regan vom Treppenabsatz.
»Im Wandschrank!«, rief Chris zurück.
»Da hab ich nachgeschaut!«
»Bin gleich oben!« Chris blätterte die Seiten des Drehbuchs durch, hielt dann inne und murmelte mit verdrossener Miene: »Ich wette, das ist Schrott.«
»Oh, das glaube ich nicht, Chris! Nein! Ich halte es wirklich für was Gutes!«
»Ach, du warst doch auch der Meinung, dass bei Psycho Gelächter vom Band gefehlt hat.«
»Mommy?«
»Ich komme!«
»Hast du heute ein Date, Shar?«
»Ja.«
Chris deutete auf die Post. »Na, dann geh schon. Um diesen ganzen Kram können wir uns morgen früh noch kümmern.«
»Oh. Okay.« Sharon griff nach ihrem Stenoblock.
Ein ungeduldig quengelnder Ruf: »Muuutteeer!«
Chris seufzte, stand auf und sagte: »Bin gleich wieder da.« Aber als sie sah, wie Sharon auf ihre Armbanduhr schaute, zögerte sie. »Was ist?«
»Wird Zeit für mich zu meditieren, Chris.«
Chris musterte sie mit liebevoller Genervtheit. In den letzten sechs Monaten hatte sie zusehen können, wie ihre Sekretärin sich in eine Sucherin nach innerem Frieden verwandelte. Es hatte in Los Angeles mit Selbsthypnose angefangen, die bald von buddhistischem Singsang abgelöst worden war. Während der letzten Wochen, in denen Sharon in dem Zimmer im Obergeschoss gewohnt hatte, hatte es im Haus nach Weihrauch gerochen. Ein monoton dahingeleiertes Nam myoho renge kyo (»Wenn du das immer wieder singst, Chris, nur das, dann erfüllt sich dein Wunsch und du bekommst alles, was du willst!«) war zu allen möglichen und unmöglichen Zeiten ertönt – für gewöhnlich immer dann, wenn Chris ihren Text einstudierte. »Du kannst ruhig den Fernseher einschalten«, hatte Sharon ihrer Arbeitgeberin dabei einmal großzügig mitgeteilt. »Ist schon in Ordnung. Ich kann bei allem möglichen Lärm singen.«
Jetzt beschäftigte sie sich mit transzendentaler Meditation.
»Glaubst du wirklich, dass so ein Zeug dir irgendwas bringt, Shar?«
»Es gibt mir innere Ruhe«, erwiderte Sharon.
»Aha«, gab Chris tonlos zurück. Dann wandte sie sich ab und begann zu murmeln: »Nam myoho renge kyo.«
»Mach das so 15 bis 20 Minuten lang«, rief Sharon ihr zu. »Vielleicht funktioniert’s ja auch bei dir.«
Chris unterbrach ihr Gemurmel und suchte nach einer passenden Antwort. Aber dann gab sie auf. Sie ging nach oben in Regans Zimmer und trat sofort auf den Wandschrank zu. Regan stand mitten im Raum und starrte an die Decke.
»Na, was ist los?«, fragte Chris ihre Tochter, während sie im Schrank nach dem Kleid suchte. Es war ein hellblaues Baumwollkleid. Sie hatte es in der vorigen Woche gekauft, und sie erinnerte sich noch daran, wie sie es in diesen Schrank gehängt hatte.
»Komische Geräusche«, sagte Regan.
»Ja, ich weiß. Wir haben Gäste.«
Regan sah sie an. »Hm?«
»Eichhörnchen, Schatz; Eichhhörnchen auf dem Dachboden.« Ihre Tochter war sehr empfindlich und hatte panische Angst vor Ratten. Sogar Mäuse machten sie nervös.
Die Suche nach dem Kleid blieb erfolglos.
»Siehst du, Mom, es ist nicht da.«
»Ja, das sehe ich. Vielleicht hat Willie es in die Wäsche getan.«
»Es ist weg.«
»Tja, dann zieh eben das marineblaue an. Das ist auch hübsch.«
Nach einer Nachmittagsvorstellung von Rekrut Willie Winkie mit Shirley Temple in einem Programmkino in Georgetown fuhren sie über die Key Bridge zum Hot-Shoppe-Restaurant in Rosslyn, Virginia. Dort aß Chris einen Salat, während Regan sich eine Suppe, zwei Sauerteigbrötchen, Grillhähnchen, einen Erdbeershake sowie Blaubeerkuchen mit Schokoladeneis einverleibte. Wo steckt sie das alles hin?, fragte sich Chris. In die Handgelenke? Das Kind war dünn wie eine flüchtige Hoffnung.
Chris zündete sich eine Zigarette zum Kaffee an und betrachtete durch das Fenster zu ihrer Rechten die Türme der Georgetown University. Dann senkte sie den Blick mürrisch und nachdenklich zur trügerisch ruhigen Wasseroberfläche des Potomac, unter der eine gefährlich schnelle, starke Strömung verborgen lag. Chris rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. Im sanften, gleichmäßigen Abendlicht erschien ihr dieser Fluss mit seiner scheinbaren Stille und Ruhe plötzlich wie etwas, das insgeheim Pläne schmiedete.
Und wartete.
»Das war ein leckeres Essen, Mom.«
Chris wandte sich der zufrieden lächelnden Regan zu. Wie schon so oft, hielt sie auch diesmal wieder unwillkürlich den Atem an, als sie diesen ziehenden, unwillkommenen kleinen Schmerz spürte, der immer auftrat, wenn sie Howards Gesichtszüge in denen ihrer Tochter wiedererkannte. Oft glaubte sie, dass es etwas mit dem Winkel zu tun hatte, in dem das Licht auf sie fiel. Sie blickte auf Regans Teller hinab.
»Und den Kuchen lässt du liegen?«
Regan senkte den Blick. »Mom, ich hatte vorher schon Süßigkeiten gegessen.«
Chris drückte ihre Zigarette aus und grinste.
»Komm, Rags, gehen wir nach Hause.«
Sie waren noch vor sieben Uhr zurück. Willie und Karl waren bereits wieder da. Regan lief sofort ins Spielzimmer, weil sie unbedingt die Plastik für ihre Mutter fertigstellen wollte.
Chris ging in die Küche, um das Drehbuch zu holen. Dort traf sie auf Willie, die gerade Kaffee kochte, grob gemahlen, im offenen Topf. Sie machte einen reizbaren, mürrischen Eindruck.
»Hi Willie, wie war’s? Haben Sie sich gut amüsiert?«
»Fragen Sie lieber nicht.« Willie fügte dem brodelnden Inhalt des Topfes eine Eierschale und eine Prise Salz hinzu. Sie berichtete Chris, dass sie ins Kino gegangen waren. Willie hatte die Beatles sehen wollen, aber Karl hatte auf einem Arthouse-Film über Mozart bestanden. »Fürchterlich«, schäumte Willie, während sie die Herdflamme kleiner stellte. »So ein Blödmann!«
»Tut mir leid, das zu hören.« Chris klemmte sich das Drehbuch unter den Arm. »Ach, Willie, haben Sie das Kleid gesehen, das ich Regan letzte Woche gekauft habe? Das blaue aus Baumwolle?«
»Ja, heute Morgen in ihrem Wandschrank.«
»Wo haben Sie es dann hingebracht?«
»Nirgendwohin, es ist noch da.«
»Haben Sie es vielleicht aus Versehen mit in die Wäsche getan?«
»Nein, es ist noch da.«
»In der Wäsche?«
»Im Schrank.«
»Nein, da ist es nicht. Ich habe nachgeschaut.«
Willie wollte etwas erwidern, presste dann jedoch nur die Lippen aufeinander und warf ihr einen finsteren Blick zu. Karl war hereingekommen.
»Guten Abend, Madam.«
Er ging zur Spüle, um sich ein Glas Wasser einzuschenken.
»Haben Sie die Fallen aufgestellt?«, wollte Chris von ihm wissen.
»Hier sind keine Ratten.«
»Haben Sie sie aufgestellt?«
»Natürlich habe ich das, aber der Dachboden ist sauber.«
»Und wie fanden Sie den Film, Karl?«
»Spannend«, antwortete er. Sein Ton war so ausdruckslos wie seine Miene.
Chris summte einen berühmten Beatles-Song vor sich hin und wollte gerade die Küche verlassen, aber dann drehte sie sich abrupt um.
Nur noch einen Versuch.
»War es nicht schwer, die Fallen zu bekommen, Karl?«
Mit dem Rücken zu ihr erwiderte er: »Nein, Madam. Nicht schwer.«
»Um sechs Uhr morgens?«
»Der Rund-um-die-Uhr-Laden.«
Sie schlug sich leicht mit der Hand an die Stirn und starrte für einen Moment Karls Rücken an. Dann wandte sie sich ab und ging aus der Küche, wobei sie leise »Scheiße!« murmelte.
Nach einem langen, gemütlichen Bad suchte Chris im Schlafzimmerschrank nach ihrem Bademantel. Stattdessen fand sie Regans verloren gegangenes Kleid. Es lag zusammengeknüllt am Boden des Schranks.
Sie hob es auf. Die Preisschilder hingen noch daran.
Wie kommt das hier rein?
Chris versuchte, sich zu erinnern. Ihr fiel ein, dass sie am selben Tag, an dem sie das Kleid gekauft hatte, auch zwei oder drei Dinge für sich selbst besorgt hatte.
Ich muss alles zusammen hier reingesteckt haben.
Sie brachte das Kleid in Regans Zimmer und hängte es in ihrem Schrank auf einen Kleiderbügel. Mit in die Hüfte gestemmten Händen begutachtete sie Regans Garderobe. Schön. Schöne Sachen. Ja, Rags, schau hierhin, nicht dorthin zu deinem Daddy, der nie schreibt und nie anruft.
Als sie sich vom Schrank abwandte, stieß Chris sich an der Unterseite eines Sekretärs den Zeh. O Mann, bin ich blöd! Während sie den Fuß hob und sich den Zeh rieb, stellte sie fest, dass das Möbelstück etwa einen Meter von seiner ursprünglichen Position entfernt stand.
Kein Wunder, dass ich mich dran gestoßen habe. Das muss Willie beim Staubsaugen gemacht haben.
Mit dem Drehbuch, das sie von ihrem Agenten bekommen hatte, ging sie ins Arbeitszimmer hinunter.
Anders als im riesigen Wohnzimmer, dessen große Erkerfenster einen Ausblick auf die Key Bridge boten, die sich über dem Potomac wölbte und zur Küste Virginias führte, herrschte im Arbeitszimmer eine beinahe verschwörerische Atmosphäre, die einen an reiche Onkel denken ließ, die sich Geheimnisse anvertrauten. Ein etwas erhöhter Ziegelkamin, die Wandvertäfelung aus Kirschbaumholz, dazu kreuzförmig angeordnete Deckenbalken aus einem Holz, das so robust wirkte, als würde es von einer uralten Zugbrücke stammen. Die einzigen Gegenstände, die in diesem Raum zur Gegenwart passten, waren eine moderne Bar, die von Wildleder- und Chromsitzen umgeben war, sowie einige farbenfrohe Marimekko-Kissen auf einem Daunensofa. Auf diesem ließ Chris sich nieder und streckte sich mit dem Drehbuch ihres Agenten in der Hand aus. Sein Brief steckte zwischen den Seiten. Sie zog ihn hervor und las ihn noch einmal. Glaube, Hoffnung und Nächstenliebe: ein Film, der aus drei unabhängigen Teilen bestand, jeder davon mit einer anderen Besetzung und einem anderen Regisseur. Ihr Teil würde Hoffnung sein. Sie mochte den Titel. Vielleicht ein bisschen langweilig, dachte sie, aber auf eine gehobene Art.Wahrscheinlich werden sie ihn noch ändern in ›Ich pfeif auf die Tugend‹ oder so was.
Die Türglocke läutete. Burke Dennings. Er kam oft bei ihr vorbei – ein einsamer Mann. Chris lächelte reumütig, als sie hörte, wie er Karl irgendeine Obszönität zukrächzte. Er konnte den Hausangestellten offenbar nicht leiden und versuchte immer wieder, ihn zu provozieren.
»Hallo, hallo, ich brauch was zu trinken!«, verkündete er beim Hereinkommen übellaunig. Mit abgewandtem Blick marschierte er zur Bar und vergrub die Hände in den Taschen seines zerknitterten Regenmantels.
Er setzte sich auf einen Barhocker. Er wirkte gereizt, blickte gehetzt hin und her und machte den Eindruck, von irgendetwas enttäuscht zu sein.
»Mal wieder auf der Jagd?«, fragte Chris.
»Was zum Teufel meinst du?«, schnaubte Dennings.
»Du hast wieder diesen Gesichtsausdruck.« Sie hatte ihn schon einmal gesehen, als sie zusammen in Lausanne an einem Film gearbeitet hatten. In ihrer ersten Nacht in einem biederen Hotel mit Blick auf den Genfer See hatte Chris Schlafprobleme gehabt. Um kurz nach fünf Uhr morgens war sie aus dem Bett gesprungen und hatte beschlossen, in die Lobby hinunterzugehen, um einen Kaffee zu trinken oder sich etwas Gesellschaft zu suchen. Während sie im Flur auf den Fahrstuhl wartete, schaute sie aus dem Fenster und sah den Regisseur mit steifen Schritten am Seeufer entlanggehen, die Hände zum Schutz vor der eisigen Februarkälte tief in den Manteltaschen vergraben. Als sie in der Lobby eintraf, betrat er gerade das Hotel. »Weit und breit keine Nutte aufzutreiben!«, blaffte er ärgerlich und stürmte an Chris vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Er betrat den Fahrstuhl, der ihn rasch zu seiner Etage, seinem Zimmer, seinem Bett brachte. Als Chris den Vorfall später erwähnte, um ihn damit aufzuziehen, wurde der Regisseur wütend und warf ihr vor, »widerliche Halluzinationen« zu verbreiten, die die Leute ihr wahrscheinlich glauben würden, nur weil sie »ein Star« sei. Außerdem bezeichnete er sie als »vollkommen wahnsinnig«. Doch dann räumte er beschwichtigend ein, dass sie »vielleicht« jemanden gesehen und diese Person irrtümlicherweise für ihn, Dennings, gehalten habe. »Das wäre gar nicht so unwahrscheinlich«, hatte er noch hinzugefügt, »meine Ururgroßmutter war nämlich Schweizerin.«
Chris trat hinter die Bar und erinnerte ihn an diesen Vorfall.
»Genau, diesen Gesichtsausdruck, Burke. Wie viele Gin Tonics hattest du heute schon?«
»Komm schon, sei nicht albern«, fauchte er. »Zufällig habe ich den ganzen Abend bei einem Tee-Empfang verbracht, einem verfluchten Fakultätstee!«
Chris verschränkte die Arme und stützte sich auf die Bar. »Du warst wo?«, fragte sie mit zweifelnder Stimme.
»Ja, los, nur zu; grins ruhig!«
»Du hast dich bei einem Tee-Empfang mit Jesuiten volllaufen lassen?«
»Nein, die Jesuiten sind nüchtern geblieben.«
»Trinken die nichts?«
»Bist du noch ganz bei Trost? Die haben gesoffen wie die Löcher! So eine Trinkfestigkeit hab ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen!«
»Hey, komm schon, sei ein bisschen leiser, Burke! Sonst hört Regan dich noch!«
»Ach ja, Regan.« Dennings senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Natürlich! Und wo in Gottes Namen bleibt nun mein Drink?«
Chris schüttelte tadelnd den Kopf, richtete sich auf und griff nach einer Flasche und einem Glas. »Willst du mir nicht erzählen, was um alles in der Welt du bei einer Teegesellschaft zu suchen hattest?«
»Öffentlichkeitsarbeit, verflucht noch mal. Etwas, das du eigentlich machen solltest. Ich meine, mein Gott, wir haben schließlich ihr Grundstück verdreckt«, erwiderte der Regisseur mit gespielter Frömmigkeit. »Ja, mach nur, lach darüber! Das ist alles, wozu du gut bist – lachen und ein bisschen mit dem Hintern wackeln!«
»Ich stehe hier doch nur und lächle unschuldig.«
»Na ja, irgendjemand musste jedenfalls gute Miene zum bösen Spiel machen.«
Chris streckte die Hand aus und strich mit einem Finger sanft über die Narbe über Dennings’ linkem Auge. Diese war das Resultat eines heftigen Faustschlags, den ihm Chuck Darren, der muskulöse Actionfilmstar aus seinem letzten Streifen, am letzten Drehtag versetzt hatte. »Sie wird weiß«, bemerkte sie mitfühlend.
Dennings machte ein grimmiges Gesicht. »Ich werde dafür sorgen, dass er nie wieder für die großen Studios arbeiten kann. Die wissen alle schon Bescheid.«
»Ach, komm schon, Burke. Bloß dafür?«
»Der Mann ist ein Irrer, Schätzchen! Er hat nicht mehr alle Tassen im Schrank, und er ist gefährlich! Der ist wie ein alter Hund, der immer friedlich in der Sonne liegt, und dann springt er eines Tages plötzlich auf und beißt jemanden ins Bein!«
»Und dass er dir das Licht ausgeknipst hat, hatte natürlich nichts damit zu tun, dass du ihm vor versammelter Mannschaft mitgeteilt hast, wie ›verfickt peinlich‹ er wäre, ›fast so schlimm wie ein Sumoringer‹?«
»Süße, sei nicht unanständig«, wies Dennings sie scheinheilig zurecht, während er ein Glas Gin Tonic von ihr entgegennahm. »Meine Liebe, wenn ich ›verfickt‹ sage, ist das in Ordnung, aber nicht, wenn Amerikas kleiner Liebling das sagt. Aber nun erzähl mir mal, wie es dir geht, meine kleine tanzende und singende Mini-Nova!«
Chris beantwortete die Frage mit einem Achselzucken und einer niedergeschlagenen Miene, wobei sie sich über den Tresen lehnte und auf ihre verschränkten Arme stützte.
»Komm, sag’s mir, meine Kleine, bedrückt dich was?«
»Weiß nicht.«
»Na los, sag’s dem Onkel.«
»Scheiß drauf, ich glaub, ich trink auch was.« Sie richtete sich abrupt auf und griff nach einer Flasche Wodka und einem Glas.
»O ja, ausgezeichnet! Eine wunderbare Idee! Also dann, worum geht’s, mein Schatz? Wo liegt das Problem?«
»Schon mal übers Sterben nachgedacht?«, fragte Chris ihn.
Dennings runzelte die Stirn. »Sagtest du ›Sterben‹?«
»Ja, Sterben. Hast du schon mal richtig darüber nachgedacht, Burke? Was das bedeutet? Was es wirklich bedeutet?«
Sie goss Wodka in ihr Glas.
Dennings wirkte nun etwas nervös. Er krächzte: »Nein, Liebes. Habe ich nicht! Ich denke nicht darüber nach, ich mache es einfach. Warum um alles in der Welt fängst du jetzt an, übers Sterben zu reden, Herrgott noch mal?«
Chris zuckte mit den Schultern und ließ einen Eiswürfel in ihr Glas fallen. »Ich weiß nicht. Heute Morgen habe ich daran gedacht. Nun ja, nicht gedacht im eigentlichen Sinn. Es war so eine Art Traum beim Aufwachen. Das hat mir einen Schauer über den Rücken gejagt, Burke, es hat mich richtig schwer getroffen – was es bedeutet. Ich meine, das Ende, Burke, das wirklich endgültige Ende – das war so, als hätte ich vorher noch nie was vom Sterben gehört!« Sie blickte zur Seite und schüttelte den Kopf. »O Mann, hat mir das Angst eingejagt! Ich hab mich gefühlt, als würde ich mit 150 Millionen Stundenkilometern von diesem verdammten Planeten herunterfallen.« Sie hob das Glas zum Mund. »Ich glaube, diesen trinke ich pur«, murmelte sie und nippte am Wodka.
»Ist doch Unfug«, schnaubte Dennings. »Der Tod ist ein Trost.«
Chris ließ das Glas sinken. »Für mich nicht.«
»Komm schon – man lebt in seinen Werken weiter oder in seinen Kindern.«
»Das ist doch Blödsinn! Meine Kinder sind nicht ich!«
»Ja, Gott sei Dank. Eine von dir reicht völlig.«
Chris beugte sich vor. Sie hielt ihr Glas auf Hüfthöhe, und ihr zartes, elfenhaftes Gesicht war sorgenvoll. »Ich meine, stell dir das mal vor, Burke! Nicht zu existieren! Nicht zu existieren in alle Ewig…«
»Ach, jetzt hör schon auf! Hör auf mit dem Geschwafel und denk lieber mal drüber nach, nächste Woche beim Fakultätstee deine viel bewunderten, Make-up-bedeckten langen Beine herzuzeigen! Vielleicht können diese Priester dir ein bisschen Trost spenden!«
Dennings stellte sein Glas mit einem Knall auf den Tresen zurück. »Nehmen wir noch einen!«
»Weißt du, ich hab gar nicht gewusst, dass die Alkohol trinken.«
»Tja, du bist ja auch naiv«, erwiderte der Regisseur mürrisch.
Chris musterte ihn. Hatte er bereits seinen kritischen Zustand erreicht? Oder hatte sie tatsächlich einen wunden Punkt berührt?
»Gehen die eigentlich zur Beichte?«, fragte sie.
»Wer?«
»Die Priester.«
»Woher soll ich das wissen?«, entgegnete Dennings heftig.
»Na ja, hast du mir nicht mal erzählt, dass du studiert hast, um …«
Dennings schlug mit der flachen Hand auf den Tresen und schnitt ihr das Wort ab, indem er schrie: »Komm schon, wo bleibt mein verfluchter Drink?«
»Soll ich dir nicht lieber einen Kaffee holen?«
»Sei nicht albern, Schatz! Ich will einen Drink!«
»Du kriegst aber einen Kaffee.«
»Ach, Spatz, jetzt sei doch nicht so«, flötete Dennings plötzlich in einem schmeichelnden, sanften Tonfall. »Nur noch einen, bevor ich mich wieder auf den Weg mache.«
»Etwa mit dem Auto?«
»Das ist jetzt aber gemein, Liebes. Wirklich, das sieht dir gar nicht ähnlich.« Schmollend schob Dennings ihr sein Glas hin. »Die Art der Gnade weiß von keinem Zwang«, zitierte er Shakespeare, »sie tröpfelt wie Gordon’s Dry Gin zur Erde unter ihr. Also, wärst du so gut? Nur noch einen, dann haue ich ab, versprochen.«
»Ehrlich?«
»Bei meiner Ehre und meinem Leben!«
Chris musterte ihn prüfend. Dann nahm sie kopfschüttelnd die Gin-Flasche in die Hand. »Ja, diese Priester«, sagte sie geistesabwesend, während sie Gin in Dennings’ Glas goss. »Vielleicht sollte ich mal einen oder zwei von denen einladen.«
»Die würden nie wieder gehen wollen«, knurrte Dennings. Seine Augen röteten sich und wurden plötzlich noch kleiner als sonst, jedes für sich ein kleines Fenster zur Hölle. »Das sind verfickte Schmarotzer!« Chris hob die Tonic-Flasche, aber er winkte unwirsch ab. »Nein, in Gottes Namen, pur, kannst du dir das denn nie merken? Der dritte muss immer pur sein!« Sie sah zu, wie er sein Glas nahm und den Gin hinunterschüttete. Dann stellte er das Glas wieder hin, starrte mit gesenktem Kopf hinein und murmelte: »Rücksichtsloses Miststück.«
Chris beobachtete ihn wachsam. Japp, er ist kurz vorm Durchdrehen. Sie wechselte das Thema und sprach nicht mehr von den Priestern, sondern von dem Angebot, Regie zu führen, das sie erhalten hatte.
»Oh, super«, knurrte Dennings, der immer noch in sein Glas schaute. »Bravo!«
»Aber um ehrlich zu sein, es macht mir ein bisschen Angst.«
Sofort sah Dennings zu ihr auf, und seine Miene war jetzt voll väterlicher Güte. »Dummes Zeug!«, rief er. »Siehst du, Kleine, das Schwere am Regieführen ist, es so aussehen
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