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Der Albtraum jedes Kriminalisten: Ein toter Jugendlicher ohne Namen wird versteckt in einem Keller gefunden. Ein alter Gang führt in die nordkoreanische Botschaft. Doch alle Ermittlungen scheitern an der Immunität der Botschaftsangehörigen. Der Junge ist asiatischer Abstammung. Ist er Koreaner? Führt die Spur ins rechte Milieu? Zwischen verschwiegenen Diplomaten, einem offen rassistischen Lehrer und gewalttätigen Klassenkameraden versuchen Hauptkommissarin Sunja Löwel und ihre Kollegen, das Rätsel zu lösen. Ein zweiter Mord lenkt ihren Verdacht gar auf den offiziellen Vertreter Nordkoreas. Ein Land, das Feinde auch außerhalb seiner Landesgrenzen verfolgt.
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Seitenzahl: 355
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Kurzbeschreibung:
Der Albtraum jedes Kriminalisten: Ein toter Jugendlicher ohne Namen wird versteckt in einem Keller gefunden. Ein alter Gang führt in die nordkoreanische Botschaft. Doch alle Ermittlungen scheitern an der Immunität der Botschaftsangehörigen. Der Junge ist asiatischer Abstammung. Ist er Koreaner? Führt die Spur ins rechte Milieu? Zwischen verschwiegenen Diplomaten, einem offen rassistischen Lehrer und gewalttätigen Klassenkameraden versuchen Hauptkommissarin Sunja Löwel und ihre Kollegen, das Rätsel zu lösen. Ein zweiter Mord lenkt ihren Verdacht gar auf den offiziellen Vertreter Nordkoreas. Ein Land, das Feinde auch außerhalb seiner Landesgrenzen verfolgt.
Sascha Behringer
Der Fall Yonko K.
Kriminalroman
Edel Elements
Edel Elements
Ein Verlag der Edel Germany GmbH
© 2017 Edel Germany GmbH Neumühlen 17, 22763 Hamburg
www.edel.com
Copyright © 2018 by Sascha Behringer
Dieser Titel wurde vermittelt durch die Berliner Literaturagentur Wortunion.
Lektorat: Raiko Oldenettel
Korrektorat: Dr. Rainer Schöttle
Covergestaltung: Anke Koopmann, Designomicon, München
Konvertierung: Datagrafix
Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.
ISBN: 978-3-96215-106-5
www.facebook.com/EdelElements/
www.edelelements.de/
(Pitch): Wer tötet einen Sechzehnjährigen?
Prolog
Kapitel 1: Abgründe
Kapitel 2: Dunkle Zeichen
Kapitel 3: Hoheitsgebiete
Kapitel 4: Zwischenräume
Kapitel 5: Vater, Mutter, Kind
Kapitel 6: Küchenlieder
Kapitel 7: Schwarze Männer
Kapitel 8: Willkommen und Abschied
Kapitel 9: Gefährlicher Haarschmuck
Kapitel 10: Verfolger und Verfolgte
Kapitel 11: Akten und Affen
Kapitel 12: Im Fokus
Kapitel 13: Die Jagd
Kapitel 14: Sackgasse
Kapitel 15: Das Gold der Lindenblätter
Epilog
Quellen
Internet
Zeitschriften
Bücher
Filme
Zu den Autoren
Dank
Klappentext
Das Ermittlerteam
Der Albtraum jedes Ermittlers: Ein unbekannter Toter. Im Keller eines Hostels in Berlin-Mitte wird die Leiche eines Jugendlichen gefunden. Eine passende Vermisstenmeldung liegt nicht vor. Fieberhaft suchen Hauptkommissarin Löwel und ihr Team nach der Identität des Opfers. Sie entdecken einen Verbindungsgang vom Keller des Hostels zur nordkoreanischen Botschaft. Doch die entsprechenden Ermittlungen scheitern an der Immunität der Botschaftsangehörigen.
Durch mühevolle Kleinarbeit finden die Kommissare heraus: Das Opfer ist Yonko Kreuzer, ein 16-jähriger Gymnasiast, der an dem Tag ermordet wurde, als seine Klasse zu einer Sprachreise nach England aufbrach. Sein Vater, ein nordkoreanischer Dissident, gilt seit Jahren als vermisst.
Wurde der Junge Opfer eines rassistischen Überfalls? Oder hängt sein Tod mit dem Verschwinden seines Vaters zusammen? Müssen die Ermittler diplomatische Konflikte mit Nordkorea riskieren, um den Täter zu finden? Oder sind die Demütigungen Yonkos in der Schule eine Spur? Steckt vielleicht gar sein Lehrer dahinter, der behauptet, Yonko sei gar nicht zur Klassenfahrt erschienen? Oder sein rechtsradikaler Mitschüler Nico? Je intensiver Sunja Löwel und ihr Team suchen, umso weniger Spuren bestätigen sich. Alle Verdächtigen haben Alibis. Alle Untersuchungen laufen ins Leere. Der Fall stellt die Ermittler vor ein schier unlösbares Rätsel.
Sascha Behringers Der Fall Yonko K. ist der 3. Band der Krimireihe um die Hauptkommissare Sunja Löwel und Matthias Müller. Diese Reihe kombiniert das lokale Großstadtpanorama mit einem weiten gesellschaftspolitischen Rahmen.
Im ersten Fall, in dem sich die Nachforschungen bis in die Ukraine erstreckten, musste sich das Kriminalistenduo Löwel & Müller mit dem brisanten Thema der Leihmutterschaft auseinandersetzen. Im zweiten Fall mit Gentrifizierung und Immobilienspekulation in Berlin, im Zusammenhang mit den verheerenden Folgen des Jugoslawienkrieges.
Im vorliegenden dritten Fall begeben sich die Ermittler in das Milieu eines Jugendlichen, der, obwohl in Berlin geboren, sich nie in dieser Stadt heimisch fühlte und dessen seit Jahren vermisster Vater aus Nordkorea stammt. Einem Land, das seine Feinde durchaus auch außerhalb seiner Landesgrenzen verfolgt.
Eingemauert mit eigener Hand Vergehen wir vor Durst
– Tadeusz Różewicz –
„Yonko! Du musst!“
Seine Mutter hämmerte gegen die Badezimmertür.
Er biss die Zähne zusammen. Die Tür war abgeschlossen. Sollte sie klopfen, soviel sie wollte. Ein Blick zur Uhr. Noch sechs Minuten. Jede Minute, die er zu früh losging, war gefährlich. Jahrelanges Training. Er hatte es genau berechnet. Immer wieder die Zeit gestoppt. Erst in letzter Sekunde, direkt vor dem Klingeln, durfte er den Klassenraum betreten.
Er kriegte es einfach nicht hin. Obwohl er schon seit einem halben Jahr trainierte, war er ihnen nicht gewachsen. Gestern hatten Nico und seine Kumpels wieder an der Ecke gestanden. Ihm ein Ding verpasst.
Yonko sah in den Spiegel, wandte das Gesicht nach rechts und betrachtete seine Schläfe. Den blauen Fleck und die Schramme hatte er kaschiert. Er drehte das Gesicht frontal und beugte sich vor. Er fand, dass er ziemlich deutsch aussah. Bis auf die Augen. Nur noch zwei Tage bis zur Klassenfahrt.
Am letzten Schultag vor den Sommerferien hatte sein Vater ihm geschrieben. In der Hofpause. Wie üblich hatte er in einer der Mauernischen gestanden und gehofft, sie würden ihn nicht entdecken. Er hatte das Handy eingeschaltet. Und da war die Nachricht gewesen. Auf Facebook. Ungläubig hatte er die Worte und das Bild auf dem Display angestarrt. Sein Vater. Ein Schwindel hatte ihn gepackt und seine Beine waren gummiweich geworden.
Hallo Yonko. Ich bin dein Papa. Möchte dich gern wiedersehen.
Der Nutzername war Sehun.
Er hatte den Rücken gegen die Mauer gepresst. Um nicht umzufallen. Die Zähne aufeinandergebissen, bis ihm der Kiefer wehgetan hatte. Nicht heulen. Bloß nicht heulen. Sein Vater lebte! Diese hundsgemeine Lügnerin. Die ganze Zeit hatte sie ihn eiskalt angelogen. Wie verrückt hatte er noch in der Pause mit seinem Vater hin- und hergeschrieben. Am Ende hatte der angeboten, ihm Flugtickets nach Spanien zu schicken, wo er jetzt lebte. Danach hatten sie jeden Tag Nachrichten ausgetauscht.
„Du kommst zu spät!“ Wieder schlug sie gegen die Tür. „Du musst los! Komm endlich raus!“
Am liebsten hätte er den Schlüssel umgedreht, die Tür aufgerissen und wäre ihr an die Kehle gegangen. Hätte ihr seine Wut ins Gesicht geschrien. Angelogen! Das eigene Kind! Zehn Jahre lang! Er hasste sie, wie man nur jemanden hassen kann. Aber wenn er etwas gelernt hatte, dann sich zu beherrschen. Sich Wut und Angst nicht anmerken zu lassen. Das hätte alles nur schlimmer gemacht. Dann hätte seine Mutter gewonnen. Dann hätte Nico gewonnen. Dann hätten sie alle gewonnen. Nur, weil niemand in ihn reinsehen konnte, war er stärker als sie.
Sie würden sich noch umgucken. Alle.
Vier Minuten. Er atmete durch. Straffte die Schultern. Strich sich die Haare glatt. Berührte mit dem Finger das kleine Tattoo an der linken Hand. Sein Name. Seine Wurzeln. Bestimmt hatte sein Vater den Namen ausgesucht. Er würde ihn so vieles fragen.
Noch einmal betrachtete er sein Gesicht. Immer noch kein Bartansatz. Die meisten Jungs in seiner Klasse hatten schon einen.
Gestern hatte er den Brief mit dem Ticket bei der Post abgeholt. Einfach so. Wie verrückt hatte sein Herz geklopft. Aber der Mann von der Post hatte ihm den Umschlag einfach rübergeschoben. Er trug ihn jetzt bei sich wie einen Schatz.
Die Idee, wie er alle Probleme auf einen Schlag lösen konnte, war ihm sofort gekommen, als er die Nachricht seines Vaters gelesen hatte. Es war so einfach wie genial. Übermorgen. Abschlussfahrt 10. Klasse. Er würde seine Tasche packen. Losgehen. Und verschwinden. Niemand würde Verdacht schöpfen. Am wenigsten seine Mutter.
Oh, wie dumm sie war. Eine Schande. Wenn sie nach der Klassenfahrt merken würde, dass er nicht wiederkam, hätte er zwei Wochen Vorsprung. Das sollte reichen. Keiner würde ihn finden.
Dafür hatte er zwar die ganzen Sommerferien noch durchhalten müssen, eine furchtbare Zeit, aber die hatte er genutzt. Spanisch gelernt. Die Basics. Das Geld von Nico nicht angerührt. Das würde er für seinen Start im neuen Land brauchen. Außerdem hatte er sein Zeug zu Geld gemacht. Die Anlage, die guten Skater, Bücher, Klamotten, alles hatte er verkauft. Er dachte an sein leeres Zimmer und lächelte. Seine Mutter ließ er da schon seit Monaten nicht mehr rein. Die würde Augen machen, wenn die Polizei das Zimmer öffnete.
Und trainiert hatte er, noch mehr als vorher. Wer wusste, was auf einen zukam? Außerdem wollte er seinen Vater beeindrucken, der bestimmt ein cooler Typ war.
Zwei Minuten. Sein Herz raste.
Noch einmal prüfte er die Schläfe. Nichts mehr zu sehen, alles Okay. Jetzt musste er sich sputen. Sein Mund war trocken. Mit der hohlen Hand nahm er einen Schluck Wasser. Und wenn Nico nun doch … Bei dem wusste man nie. Jeden Tag dachte der sich neue Teufeleien aus.
Nein. Das war vorbei. Niemand hatte mehr Macht über ihn. Alles war vorbereitet. Übermorgen. Losgehen und verschwinden.
Was sein Vater wohl sagen würde, wenn er ihm mitteilte, dass er bei ihm bleiben wollte?
Das Ticket war da. Unter seinem Shirt. Bis übermorgen musste er nur noch funktionieren. Keinen Fehler machen. Damit nichts schiefging. Schade, dass er ihre Gesichter nicht sehen würde, wenn sie im Bus saßen und auf ihn warteten. Wenn sie begriffen, dass er nicht kam. Dass er nie mehr kam. Dass er weg war. Für immer. Dass sie nun keinen mehr hatten, den sie quälen konnten.
Die Schramme brannte unter der Abdeckcreme. Nico, das Schwein. Der würde noch an ihn denken.
Wir spielen, bis uns der Tod abholt.
– Erwin Hapke –
Die Sommerhitze hatte sich weit in den Herbst hinein ausgebreitet und war dann auf einen Schlag verschwunden. Heute, am 26. September, war es empfindlich kalt.
Klaus Moormann tastete nach der Brille auf dem Nachttisch, stieg aus dem Bett, schloss das Fenster und warf einen zärtlichen Blick auf seine schlafende Frau. Geräuschlos zog er die Tür hinter sich zu. Der Urlaub im Oderbruch hatte ihm schön die Knochen gewärmt! Ein kleines Ferienhäuschen, Spaziergänge, Radtouren … Vorbei! Im Wohnzimmer stieg er in die blaue Arbeitshose und holte eines der dicken Flanellhemden, die gefütterte Cordweste und Schafwollsocken aus dem Schrank. Die würde er brauchen. Die Sandalen standen im Flur. Er schlüpfte hinein und sah auf die Armbanduhr. 5:55 Uhr. Noch nie war er zu spät gekommen. Er liebte es, eine halbe Stunde vor Dienstbeginn da zu sein und den ersten Kaffee mit den Kolleginnen aus der Küche, den beiden Putzfrauen oder dem Portier zu trinken.
Punkt sechs verließ Moormann seinen heimatlichen Plattenbau in der Voßstraße. Es nieselte. Die fünf Minuten zum Hostel ging er immer zu Fuß. Um diese Zeit waren hier kaum Menschen unterwegs. Er überquerte die Wilhelmstraße, die vor Nässe glänzte, passierte die hölzerne Baustellenverkleidung am U-Bahnhof Mohrenstraße, ging an der tschechischen Botschaft entlang und betrachtete die Rosenrabatten des Zietenplatzes. In seinen Augen das einzig Erfreuliche in dieser Gegend. Dann der hohe, graue Eisenzaun, der ihn stets an ein Gefängnis erinnerte. Wenige Schritte später erreichte er seine Arbeitsstelle.
Sieben Jahre hatte er noch. So sehr er sich auf die Rentenzeit freute, die er sich als eine Reise entlang alter Bahnstrecken ausmalte, so wenig konnte er sich vorstellen, diesen Weg eines Tages nicht mehr zu gehen. Er mochte es, gebraucht zu werden. Seine Arbeit war in Ordnung. Die Kollegen schätzten ihn und er sie. Heute würde er ihnen von seinem Urlaub erzählen und sich dann gleich um alle defekten Wasserhähne, Glühbirnen, Nachtschränke und Betten kümmern. Die Heizungsanlage musste er prüfen, die würde bald in Betrieb gehen. Und ins Putzmitteldepot sollte er auch dringend. Sicher hatten die Reinigungskräfte in den zwei Wochen sämtliche Vorräte auf den Etagen aufgebraucht.
Das Cityhostel Berlin, ein hellgrauer, fünfstöckiger Plattenbau mit pompöser Überdachung vor dem Eingang, ragte wie ein Monolith vor ihm auf. Moormann lächelte, selbst nach so langer Zeit kam es ihm eigenartig vor, dass aus dem ehemaligen Botschaftsgebäude ein Hostel geworden war. Besonders absurd fand er den abgesägten Sicherheitszaun. Das musste schon zu Ostzeiten ein imposantes Gebäude gewesen sein. Die Nordkoreaner wollten eben nicht nur im eigenen Land etwas hermachen. Aber als nach der Wende die Botschaftsbelegschaft rapide verkleinert worden war, hatten sie dieses Haus 2001 abgegeben.
Moormann streckte sich. Er trat durch die Flügeltür. Ein Gemisch aus Kaffeeduft und scharfem Reinigungsmittel empfing ihn. Die dicke Monika, die mit hochrotem Gesicht die Marmorfliesen schrubbte, stützte sich am Wischeimer hoch und kam auf ihn zu. Geschickt wich er ihrer Umarmung aus, winkte dem Portier zu und sah sich in der Lobby um. Es waren erst vereinzelte Gäste mit ihren Rollkoffern zu sehen. Ein junger Kerl in schlecht sitzendem Anzug lümmelte auf der grau-weißen Sitzgruppe herum, drei verschlafene Teenager standen an der Rezeption und diskutierten mit dem Portier, ein Mädchen machte sich am Getränkeautomaten zu schaffen. Selbst im Frühstücksraum war niemand.
Moormann ging in die Küche, in der das Mittagessen vorbereitet wurde. Seine Brillengläser beschlugen. Undeutlich nahm er Kartoffelberge, Rosenkohl und Schnitzel wahr. Er wurde mit Hallo empfangen, griff sich einen Pott Kaffee und hielt ein Schwätzchen mit den drei Köchinnen. Ja, hier war er richtig. Allmählich kehrte die Wärme in seinen Körper zurück.
Um 6:30 Uhr schlenderte Moormann gut gelaunt in die Lobby, nickte dem Portier zu, betrat den Fahrstuhl und drückte die Taste zum Keller. Er freute sich, dass es keine Zwischenfälle gegeben hatte in den letzten vierzehn Tagen. Seit er hier arbeitete, waren die zwei größten Katastrophen ein Wasserrohrbruch und der Brand in einem Sechsbettzimmer gewesen. Ein betrunkener englischer Jugendlicher war mit einer Zigarette im Bett eingeschlafen, das war den Knaben teuer zu stehen gekommen. Beides über zehn Jahre her, seitdem war Ruhe. So sollte es auch bleiben. Moormann liebte es gemütlich. Sein Bedarf an Katastrophen war im Übrigen durch die täglichen Nachrichten gedeckt. Vor einer Woche hatte Berlin gewählt. Seine Frau und er hatten ihre Stimmen per Briefwahl abgegeben und dann im Urlaub das Ergebnis in den Nachrichten gesehen: 14,2 % für die AfD. Er war geschockt. Wie konnten die Deutschen ihre Geschichte so schnell vergessen?
Moormann holte den Schlüsselbund aus der Tasche und öffnete die Kellertür. Er stieg die ersten Stufen hinab, hielt inne und schnupperte. Was für ein widerlicher Gestank! Eine verendete Ratte? Die musste er schleunigst finden. Wahrscheinlich hatten die während seines Urlaubs wieder ein Loch entdeckt, die Viecher. Ob die Koreaner nebenan auch so mit Ratten zu kämpfen hatten?
Er ging unter der milchigen Notbeleuchtung hindurch und wanderte die verschlungenen, schummrigen Gänge entlang. Der unangenehme Geruch nahm zu.
Am Ende des Ganges angekommen, stand er vor dem Putzmitteldepot. Das schloss er immer ab. Falls sich ein Hotelgast hierher verirrte. Die Chemikalien, die hier lagerten, waren nicht ungefährlich.
Klaus Moormann schüttelte sich. Das war eindeutig Verwesungsgeruch. Er schloss die graue Eisentür zum Putzmittelraum auf, öffnete sie, schaltete das Licht an und erstarrte.
Da lag ein Mensch. Und das war … Das war unmöglich!
Vorsichtig beugte er sich über den Leichnam, hielt die Luft an und sah genau hin. Die Ähnlichkeit war frappierend. Andererseits, er hatte ihn lange nicht gesehen. Irrte er sich? Spielte ihm sein Gedächtnis einen Streich? Nein, er war ziemlich sicher.
Was sollte er jetzt tun? Wie kam der Junge ausgerechnet hierher?
Für einen Moment wurde ihm schwindlig, er kämpfte gegen das Verlangen, hinauszurennen. Dann fiel ihm etwas ein. Er ließ sich neben der Leiche auf die Knie nieder und machte sich hastig an der hinteren Ecke des Chemikalienregals zu schaffen.
„Löwel?“
„Frau Hauptkommissarin, Sie müssen sofort zum Cityhostel kommen. Glinkastraße 5-7. Ihre Kollegen sind benachrichtigt. Arzt ist unterwegs. Keine angenehme Sache, die Leiche liegt wohl schon länger.“
„Bin unterwegs.“
Sunja Löwel, die nach der nächtlichen Rückkehr aus Frankreich auf einen geruhsamen Montag gehofft hatte, sprang aus dem Bett. Mit nackten Füßen landete sie auf der zerknautschten Reisetasche, streckte sich und warf automatisch einen Blick aufs Handy. Zehn vor sieben. Eine unchristliche Zeit. Aber was hatte sie erwartet? Rufbereitschaft eben.
Also würde es heute wieder nichts mit dem Joggen. Seit einem guten Jahr versuchte sie, vor der Arbeit zu laufen, als Ausgleich zu den Zigaretten. Aber oft wurde sie auch außerhalb der Dienstzeiten plötzlich ins LKA gerufen.
Wie kalt es geworden war! Noch im Gehen zog sie die Sachen über. Auf dem Weg ins Bad fiel ihr der Brief ihres Vaters ein, den sie nachts im Kasten gefunden hatte. Gleich schlug ihr Herz schneller. Absurd! Da suchte sie ihn in Frankreich, erfuhr, dass er in dem Wanderzirkus nicht mehr beschäftigt war, dass er stattdessen seit Jahren in Polen wohnte, eine neue Familie hatte, niemand seine Adresse kannte. Und dann kam sie nach Hause und fand einen Brief von ihm! Mit Anschrift und Telefonnummer. Er kündigte an, demnächst nach Berlin kommen und sie besuchen zu wollen.
Zum Duschen war keine Zeit. Rasch spritzte sie sich eine Handvoll kaltes Wasser ins Gesicht, sah in den Spiegel und versuchte, ihre widerspenstigen braunen Haare halbwegs in Form zu bringen. Eine Frisur war das nicht, aber egal. Dass das Grau auf ihrem Kopf neuerdings so enorm zunahm, störte sie mehr. War das normal mit 47?
Ihr Vater. Sie musste ihn anrufen. Aber nicht jetzt. Die Kommissarin bemühte sich, die Gedanken an ihn beiseitezuschieben. Glinkastraße. Wo war das noch? Im Stadtbezirk Mitte, irgendwo in der Nähe der Friedrichstraße. Waren da nicht früher die Botschaften gewesen?
Ein schneller Espresso musste sein, sonst konnte sie nicht denken. Sunja stellte die italienische Kanne auf den Herd und sah aus dem Küchenfenster. Die Äste der alten Linden bogen sich im Herbststurm. Die Bänke des Forckenbeckplatzes, auf denen in den letzten Monaten die Obdachlosen ihre Zeit verbracht hatten, waren leer. Zu kalt. Wie schnell der Sommer immer vorbei war. Vor einer Woche, bei ihrem Aufbruch nach Paris, war es noch heiß gewesen.
Rasch kippte sie den Espresso hinunter, griff nach Autoschlüssel und Zigarettenschachtel und warf die Tür hinter sich zu.
Der Urlaub war vorbei. Ein Toter wartete auf sie.
Die Augen waren geschlossen. Die kurzen Haare schimmerten tiefschwarz. Das Gesicht eine weiße, wächserne Fläche. Noch etwas rundlich, wie das eines Kindes. Wohlproportioniert. Aber schon dabei, erwachsen zu werden. Der Bartwuchs hatte noch nicht eingesetzt. Kein Pickel, keine Falte, keine Narbe. Er trug ein hellbraunes T-Shirt mit der gelben Aufschrift WsT und knielange Jeans. Seine nackten Füße steckten in braunen Sandalen. Er war sehr schlank, fast schmächtig.
Sunja war, als drücke sein Gesicht etwas aus. Stolz? Trotz? Es erinnerte sie an die Gesichter der steinernen Soldaten dieser chinesischen Armee aus Terrakotta, die sie einmal in einer Ausstellung gesehen hatte.
Dieser süßliche Geruch!
Hauptkommissarin Löwel drehte sich um, lief rasch den Gang hinauf und trat ins Freie, um ein paar Atemzüge der klaren, feuchten Herbstluft zu genießen. Dann ging sie langsam zurück in den Keller.
Dort kamen gerade die Männer der Kriminaltechnik an. Sie begrüßte sie und schob sich im Gang an ihnen vorbei.
Wieder in dem winzigen Verschlag, wusste sie nicht, was sie mehr entsetzte: Das so unwirklich weiße Gesicht des Jugendlichen, der aufdringliche Leichengeruch, der ihr sofort erneut den Atem nahm, oder die dicke Fliege, die sich auf dem nackten Bauch des Toten niedergelassen hatte, genau dort, wo sein T-Shirt nach oben gerutscht war.
Der Verschlag war kaum größer als acht Quadratmeter. Graue verrostete Eisenregale ragten vom Boden bis zur Decke. Darin türmten sich Kanister, Flaschen und Kartons. An der Frontseite sah man ein winziges, vergittertes Fenster.
Der Tote lag in der Mitte des Raumes, zwischen den beiden längsseitigen Regalen. Unter seinen Kopf hatte jemand eine blau-weiß karierte Decke geschoben. Wie ein Kopfkissen. Ein Stapel weiterer solcher Decken, etwa acht Stück, lag im rechten unteren Regalfach. Sunja warf einen Blick auf das Türschloss, es schien nicht beschädigt.
Es ging nicht, trotz Mundschutz hielt sie es nicht aus. Sie trat rückwärts aus dem Verschlag heraus und prallte mit ihrem Kollegen HP zusammen.
„Ach du Scheiße“, murmelte dieser. „Das gleich am Montag. Guten Morgen, Sunja.“
„Morgen …", murmelte sie, irritiert von dem schreienden Lila seines Hemdes. Trotz des Regens sah er aus, als käme er geradewegs aus der Modeboutique. Kein Stäubchen, kein Fältchen, perfekte Frisur. Wie machte er das nur immer um diese Uhrzeit?
Zwei Kriminaltechniker tauchten auf. Sie mühten sich, Scheinwerfer am Eingang des Verschlages zu positionieren. Andere trugen Koffer herbei.
Sunja entdeckte ihren jüngsten Kollegen René Hartmann am Ende des Ganges zwischen zwei Streifenpolizisten, die den Kellereingang bewachten. Er musste den Kopf einziehen. Sie winkte ihm zu. Ein netter Kerl war er, sensibel, fast zwei Meter groß, schlaksig, mit kastanienbraunen langen Locken, immer korrekt und höflich. Sie mochte ihn.
Hier war es zu eng. Man musste sich seitlich aneinander vorbeidrücken und die Techniker wussten nicht, wo sie ihre Geräte abstellen sollten.
„Wer hat ihn gefunden?“, fragte HP.
„Der Hausmeister. Ein gewisser Klaus Moormann. Ist oben, ein Arzt kümmert sich um ihn.“
Den Geruch würde sie wieder tagelang nicht loswerden, das wusste sie.
„Lass uns hochgehen“, sagte HP mit Blick auf den Toten. „Der läuft uns nicht weg. Du siehst aus, als bräuchtest du einen Kaffee. Ich trinke einen mit. Ach, da kommt unser Doktor.“
Sunja begrüßte den Arzt und gab ihm die nötigen Informationen. Sie hatte schon viele Tote gesehen und versuchte stets, sie würdevoll zu betrachten. Körper, aus denen das Leben gewichen war. Menschen, die gelebt, geliebt und gelitten hatten. Deren Geschichte sie erkunden musste, um zu verstehen, was ihnen passiert war. Wenn es sich um Kinder oder Jugendliche handelte, fiel es ihr schwerer, die professionelle Distanz zu wahren. Der Junge dort war auf keinen Fall volljährig. Sein Gesicht hatte deutlich asiatische Züge.
Einer der Techniker beugte sich über das Opfer.
„Papiere?“, fragte sie ihn.
Der Mann schüttelte den Kopf. „Alle Taschen leer.“
Am Kellereingang gab sie René die Hand. Ihr Kollege sah müde aus. Soweit sie sich erinnerte, hatte er noch nie die Leiche eines Kindes gesehen.
Zu dritt gingen sie die Treppe hinauf. Durch die rückwärtige Fensterfront der Lobby sah Sunja einen riesigen grauen Plattenbau. Kleine, braune Fenster. Das Gebäude erinnerte sie an ein vernachlässigtes Studentenwohnheim und kam ihr merkwürdig düster vor. Aber vielleicht lag das an den dunklen Flecken, die die Nässe auf den Beton gezeichnet hatte.
Sie selbst waren in einem Hostel für Jugendliche. An den Wänden prangten Graffiti, alles war hell und modern, nur der schwarze Flügel gegenüber der Rezeption passte nicht ganz ins Bild. Jugendliche mit müden Gesichtern schlurften zum Frühstücksraum, der sich hinter der Rezeption befand.
René seufzte. „So ein junger Kerl. Schrecklich.“
„Der kann höchstens fünfzehn sein, oder?“, sagte HP und zupfte sich einen Fussel vom Ärmel.
„Warten wir, was der Arzt sagt“, entgegnete Sunja. „Wo ist der Hausmeister?“
„Er kommt gleich.“
Kommissar Matthias Müller stürmte herein. „Sorry Leute“, murmelte er. „Ging nicht eher. Ernesto hatte die halbe Nacht grässliche Bauchkrämpfe, der Ärmste. Aber ich hab’s hingekriegt. Mit Kümmeltee!“ Er lächelte stolz. „Und? Was haben wir?“
Wie immer trug Matthias seinen blauen Parka, dazu die übliche gelbe Wollmütze. Kein Mensch würde ihn auf der Straße für einen Kriminalisten halten, dachte Sunja. Seine etwas altbackene, pummelige Erscheinung täuschte darüber hinweg, dass er Karatemeister war und bereits mehrere Auszeichnungen gewonnen hatte. Er sah erschöpft aus. Seit er zweifacher Vater war, schlief er wenig. Er kümmerte sich rührend um seine Kinder und arbeitete Teilzeit. Schon vor einer Weile hatte er verlauten lassen, das Sabbatjahr nach der Elternzeit sei bereits beantragt. Das wolle er, um weiter für seine Kinder da sein zu können.
„Ein Junge. Vielleicht fünfzehn, sechzehn“, entgegnete sie. „Liegt seit ein paar Tagen tot in einem verschlossenen Kellerraum. Keine Papiere, kein Handy, nichts. Der Hausmeister hat ihn gefunden.“
„Todesursache?“, fragte Matthias.
„Keine sichtbare. Ich spreche gleich mit dem Arzt, er ist noch unten. Aber wir müssen eh abwarten, was Ole sagt. Verdammt, er sieht aus wie ein Kind.“ Sie sah sich schon vor den erschütterten Eltern stehen und nach Worten ringen. „Scheiße, manchmal hasse ich diesen Beruf.“
„Was Passendes in den Vermisstenanzeigen?“, fragte HP.
Sunja schüttelte den Kopf. „Ach, hol doch irgendwo Kaffee her, ja?“
Ihr Kollege lächelte. „Gern.“
Sie nahmen auf einer grau-weißen Sitzgruppe Platz. Sunja betrachtete die geräumige Lobby. Allmählich wurde es voller. Junge Leute stiegen aus dem Fahrstuhl, kamen die Treppe hinunter oder checkten am Tresen ein. Die meisten sahen aus, als hätten sie gleich mehrere Nächte hintereinander durchgemacht. Neonröhren verbreiteten ein unbarmherzig grelles Licht. Der weiße Boden aus edlem Marmor schien ihr nicht zu den flimmernden Bildschirmen zu passen, die an den Wänden hingen und auf denen Musikvideos liefen.
„Zuerst prüfen wir die Vermisstenanzeigen“, sagte sie, nachdem HP vier Kaffeetöpfe auf den Tisch gestellt hatte. „Das machst du, René. Erst Berlin, dann bundesweit. Der Junge sieht asiatisch aus. Ist er Deutscher? War er Gast hier im Hostel? Und rede mit dem Fotografen, er soll schleunigst ein erträgliches Foto von ihm machen. Kümmere dich um die Vervielfältigung. Solange wir nicht wissen, wer er ist, ist Fußarbeit angesagt.“
Sie trank einen Schluck von dem dünnen Kaffee. „HP, du befragst die Leute hier. Belegschaft, Gäste, Besucher, alle. Lass dir sicherheitshalber die Gästeliste der letzten vierzehn Tage geben. Kannte ihn jemand, der hier übernachtete? Hat er jemanden besucht? Matthias. Du nimmst dir die Häuser und Geschäfte der Umgebung vor. Frag in der Zentrale nach Verstärkung. Es ist zwar Montag, aber vielleicht sind ein paar Kollegen zu Hause. Wohnte der Junge hier irgendwo? Erkennt ihn jemand? Ich spreche mit dem Hausmeister, den Technikern, dem Arzt und der Staatsanwältin. Und rufe den Chef an. Wir treffen uns um zehn. Am besten wieder hier.“
Ihre Kollegen machten sich auf den Weg. Sunja ging vor die Tür, um zu rauchen.
Kaum hatte sie sich unter das Vordach gestellt und die Zigarette angezündet, kam ein älterer Mann mit silberfarbener Brille auf sie zu. Er trug eine blaue Arbeitshose, ein kariertes Flanellhemd und, was sie irritierte, Sandalen über Wollsocken.
„Sind Sie von der Kripo?“, fragte er. Sein Gesicht war faltig, er musste um die sechzig sein.
„Guten Tag, Hauptkommissarin Löwel. Wer sind Sie?“
„Klaus Moormann. Der Hausmeister.“ Er gab ihr die Hand. „Unser Portier meinte, Sie wären hier draußen und ich soll mich bei Ihnen melden.“ Mit Blick auf ihre Zigarette fuhr er fort: „Früher hab ich auch geraucht. Hilft das gegen den furchtbaren Geruch? Ich glaub, den werde ich mein Leben nicht mehr los, entsetzlich.“
Sie nickte verständnisvoll. „Sie haben den Toten gefunden? Erzählen Sie doch.“
Klaus Moormann begann. Minutiös beschrieb er seinen Tagesanfang.
Sunja holte ihren Block heraus und machte sich Notizen. Als junge Frau hatte sie im Strafgericht protokolliert, seitdem war sie in der Lage, wörtlich mitzuschreiben, was Menschen sagten. Das erwies sich bei der Auswertung von Zeugenbefragungen oft als hilfreich. Allerdings erlebte sie es nicht oft, dass Zeugen gleich mit genauen Angaben zur Uhrzeit um sich warfen. Hatte dieser Mann sich auf die Befragung vorbereitet oder lief sein Leben tatsächlich so getaktet ab? Gegen halb sieben habe er neue Putzmittel für die Versorgungsräume auf den Etagen holen wollen, sagte Moormann. Die Vorräte seien in diesem Depot im Keller untergebracht. Und da habe er den Jungen entdeckt. Und gleich die Polizei gerufen.
„Haben Sie in dem Raum etwas angefasst?“
„Natürlich nicht.“
„Kennen Sie den Toten?“
„Nein!“
Sunja stutzte. Das Nein war ihr etwas zu schnell gekommen. Sie beschloss, später darauf zurückzukommen.
„Wie viele Schlüssel gibt es für den Kellerraum?“
„Einen. Den habe ich. Das heißt – warten Sie, irgendwann muss es mal zwei gegeben haben.“
„Warum?“
„Das ist so ein Standardschloss, das damals mit zwei Schlüsseln verkauft wurde. Wir haben mehrere Schlösser dieser Art im Keller, und die haben alle zwei Schlüssel. Aber seit ich hier arbeite, also seit 15 Jahren, existiert für diesen Raum nur noch der eine. Und den hatte ich mit im Urlaub.“
„Im Urlaub?“
Wie zum Beweis holte Moormann sein Schlüsselbund aus der Westentasche. Haustür, Briefkasten, Wohnung, erklärte er und wies auf die einzelnen Schlüssel. Garten, Gartenhaus, Haupteingang des Hostels, Kellereingang, Werkstatt. Und dieser hier, der Gelbe, sei der Schlüssel zum Putzmitteldepot, in dem er den Toten gefunden hätte.
Alle Schlüssel hatten farbige Plastiküberzieher.
„Sie sagten, es gibt mehrere ähnliche Schlösser im Keller. Wo befinden sich die dazugehörigen Schlüssel?“
„In meiner Werkstatt. Weil ich die seltener brauche. Aber diesen hier habe ich immer dabei, aus Sicherheitsgründen. Weil da Chemikalien lagern.“
„Wo ist Ihre Werkstatt?“
„Im Keller.“
„Könnten die anderen Schlüssel zu diesem Schloss passen?“
„Nein, da bin ich ganz sicher.“
„Und warum hatten Sie gerade diesen Schlüssel mit? Mussten Ihre Kollegen nicht an die Putzmittel?“
Moormann erklärte, er habe die Reinigungsmittel in den Räumen der Putzfrauen auf den einzelnen Etagen großzügig nachgefüllt. Am Freitag vor seinem Urlaub, an seinem letzten Arbeitstag. Und er wisse, dass ein solcher Vorrat für vierzehn Tage reiche.
Sunja drückte ihre zweite Zigarette im Ascher aus. Vor einigen Monaten hatte sie wieder begonnen zu rauchen.
Gemeinsam gingen sie in die Lobby zurück, die inzwischen bevölkert war. Aus dem Frühstücksraum drang Stimmengewirr. Man sah Jugendliche unterschiedlicher Nationalität beim Essen. Hinter dem Tresen stand jetzt ein anderer Portier, er war schwarz und sah aus wie ein Schwergewichtsboxer. Musik spielte, eine Schar pubertärer Mädchen, die, nach ihren tropfenden Regenschirmen zu urteilen, gerade angekommen waren, versuchte ihm etwas klarzumachen. Sie lachten und redeten alle durcheinander. Es schienen Holländerinnen zu sein. Ein schlaksiger Blondschopf um die zwanzig klimperte auf dem Flügel herum.
„Können wir irgendwo in Ruhe weitersprechen?“, fragte sie.
„Kommen Sie. Die Konferenzräume oben sind frei. Möchten Sie einen Kaffee? Ich könnte auch noch einen gebrauchen. Milch? Zucker?“
„Gern mit Milch.“
Moormann verschwand kurz hinter dem Tresen, sprach mit dem Portier und rief etwas in die Küche hinüber.
Dann fuhren sie gemeinsam in die dritte Etage hinauf und nahmen an einem langen weißen Tisch Platz. Aus dem Fenster sah man in Richtung Leipziger Straße, unter tief hängenden grauen Wolken entdeckte Sunja den Globus tragenden Atlas auf dem Dach des Museums für Kommunikation.
„Und der Kellerraum war abgeschlossen?“, fragte sie. „Da sind Sie ganz sicher?“
„Korrekt. Mit zwei Umdrehungen. Wie immer. Wenn nicht, wäre mir das ja sofort aufgefallen. Ich habe schließlich aufgeschlossen.“
„Wie erklären Sie es sich, dass während Ihrer Abwesenheit trotzdem jemand dort hineingelangt sein muss?“
„Das ist es ja! Ist mir unbegreiflich. Selbst wenn jemand über die alte Hoftür reinkommt, in den Keller, meine ich, dann kann er ja nicht ins Depot!“ Auf Nachfrage berichtete er, im Hof zwischen der Koreanischen Botschaft und dem Hostel gäbe es noch eine Eisentür, die zum Keller führe. Aber die sei völlig verrostet und seit den Umbauten 2001 sicher nicht mehr benutzt worden. Seiner Kenntnis nach existiere für diese Tür auch kein Schlüssel. Er selbst beträte das Hostel immer durch den Haupteingang und ginge vom Foyer aus in den Keller.
Eine Frau in rosa Kittelschürze trat ein. Sie musterte Sunja neugierig und stellte ein Tablett mit Kaffeekanne und zwei Tassen auf den Tisch. Dann beugte sie sich vertraulich zum Hausmeister herunter, flüsterte ihm etwas ins Ohr und lief hinaus.
Ein Schatten war über Moormanns Gesicht gehuscht. Schweigend goss er Kaffee ein, dabei entdeckte Sunja drei blaue Punkte zwischen Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand. Diese Tätowierung kannte sie. Die hatte man in DDR-Gefängnissen gestochen. Sie würde nachsehen, ob sie etwas über ihn fand.
Sie bat ihn, ihr einen Grundriss des Kellers mit sämtlichen Räumen und Türen zukommen zu lassen. Außerdem eine Liste aller Hotelangestellten inklusive der Dienstpläne der letzten vierzehn Tage.
„Was wird eigentlich in den anderen Kellerräumen aufbewahrt?“, fragte sie.
„Liegestühle für die Sommerterrasse, Auflagen, Kisten mit Geschirr, ausrangierte Automaten, alles Mögliche für den Hotelbetrieb eben. Und eine Menge Ersatzgestänge für die Metallbetten. Sie glauben nicht, wie oft unsere Gäste die Betten kaputtmachen. Wie auch immer sie das hinkriegen. Ich repariere jede Woche mehrere. Aber teilweise sind die Kellerverschläge auch nicht abgeschlossen. Nur wenn es sich um wertvollere Gegenstände handelt.“ Es passierte nämlich immer mal wieder, meinte Moormann, dass Hotelgäste doch in den Keller gelangten. Einige seiner Kollegen würden leider manchmal vergessen, den Zugang von der Lobby aus abzuschließen, wenn sie in Eile wären. „Dann schlagen sie die Tür nur hinter sich zu. Es steht zwar ‚Zugang nur für Personal‘ drauf, aber es gibt auch neugierige Gäste, besonders, wenn sie so jung sind wie unsere. Sie suchen wohl nach Souvenirs. Vielleicht gehen sie davon aus, dass da unten noch Teile der Berliner Mauer lagern.“ Er lächelte.
Sunja nahm einen Schluck Kaffee und betrachtete ihn. Warum bot er ihr so viele Möglichkeiten an, wie jemand in den Keller gelangt sein konnte? War er wirklich so ehrlich, wie es den Anschein hatte?
Sie notierte sich seine Urlaubsdaten samt Anschrift. „Kann jemand bestätigen, dass Sie die ganze Zeit dort waren?“
Nur seine Frau, meinte der Hausmeister. Sie hätten ein etwas abgelegenes Ferienhäuschen am Waldrand gehabt. Im Grunde sei er immer mit seiner Frau zusammen gewesen, nur an zwei Tagen wäre er mal tagsüber allein herumgeradelt.
„An welchen?“
Er kratzte sich die Stirn. „Na, Sie stellen Fragen. Ich hatte Urlaub. Einmal, glaube ich, am Anfang der ersten Woche, und das zweite Mal, das muss so drei oder vier Tage vor Schluss gewesen sein. Genau weiß ich das aber nicht mehr.“
„Wie lange waren Sie da jeweils unterwegs?“
„Oh, ein, zwei Stunden vielleicht.“
„Und wo waren Sie?“
„An einer stillgelegten Bahnstrecke. Ist ein Hobby von mir, so was interessiert mich.“
„Haben Sie den Toten wirklich noch nie vorher gesehen? Könnte es ein Gast aus dem Hostel gewesen sein?“
„Ich kenne diesen Jungen nicht“, sagte Moormann sofort. „Da bin ich sicher. Ich habe ein sehr gutes Personengedächtnis, müssen Sie wissen. Ein Gast kann es natürlich trotzdem gewesen sein, das Hostel ist stark frequentiert, und ich sehe ja nicht alle Gäste.“ Er zögerte kurz. „Das da war ja noch ein halbes Kind. Wissen Sie, was mir gleich auffiel?“
„Was denn?“
„Er könnte doch aus Korea sein, so wie er aussieht, nicht? Und das ist merkwürdig.“
„Warum?“
„Weil dieses Gebäude hier einmal zur Nordkoreanischen Botschaft gehörte. Wussten Sie das nicht? Jetzt ist sie nur noch nebenan. Das Haus mit dem hohen Eisenzaun. Unser Hostel hat eine spannende Geschichte, und das Viertel hier ist auch sehr interessant.“ Er verfiel in einen Plauderton. Geschichte schien sein Steckenpferd zu sein. Im 18. Jahrhundert wäre diese Gegend ein teures Wohnquartier für preußische Staatsangestellte gewesen, der Name Wilhelmstraße künde noch davon. Dann hätte Hitler hier seine Protzbauten errichten lassen, die Neue Reichskanzlei, den Führerbunker. Den man nach dem Krieg mehrfach vergeblich versucht hätte zu sprengen. Dann wäre er mit Erde zugeschüttet und in den Siebzigern mit Wohnungen überbaut worden. In der Zeit wären auch die Botschaften hier entstanden. Nach der Wende hätte Nordkorea ein Gebäude verpachtet.
Moormann erzählte von seiner Anfangszeit im Hostel. Von seiner Arbeit als „Mädchen für alles“. Sprach vom Sohn, der Entwicklungshelfer sei, von seiner Frau, die wegen verschiedener chronischer Erkrankungen Erwerbsminderungsrente bekäme, eine gute Frau, er versuche ihr das Leben möglichst zu erleichtern …
Sunja hörte zu. Er wirkte glaubwürdig und freundlich. Ein Handwerker vom alten Schlag, zuverlässig, der wahrscheinlich nachts um zwei aus dem Bett sprang, wenn seine Arbeitsstelle ihn brauchte. Doch ihr Beruf hatte sie Misstrauen gelehrt. Vielleicht war er während seines Urlaubs nach Berlin gekommen, ohne dass jemand dies gemerkt hatte. Wenn er wirklich den einzigen Schlüssel besaß, wie er ja selbst sagte?
„Herr Moormann, kann es sein, dass Sie den Schlüssel zum Depot einmal irgendwo liegen gelassen haben? So, dass jemand anderes an ihn herankam?“
„Unmöglich. Ich habe ihn immer bei mir.“
„Und die Rezeption ist vierundzwanzig Stunden am Tag besetzt?“
„Theoretisch ja. Nachts sogar mit zwei Kollegen.“
„Warum theoretisch?“
„Mitunter kommt es mal vor, wenn es ruhig ist, dass die Portiers sich in der Nacht kurz aufs Ohr hauen.“
„Was natürlich nicht erlaubt ist.“
„Natürlich nicht.“
„Gibt es eine Videoüberwachung des Eingangsbereiches?“
Moormann fuhr sich durchs schüttere Haar. „Ein heikles Thema. Sagen wir so: Dran stehen tut es ja überall, dass wir videoüberwacht sind. Haben Sie wahrscheinlich gesehen. Und gegenüber der Rezeption sind ja auch die Bildschirme. Aber zwei unserer Kameras sind uralt, eine davon schon seit Langem kaputt, und die andere zeigt kaum noch verwertbare Bilder. Na ja. Ich habe das dem Chef öfter gesagt. Aber er meint, wir sind so gut überwacht wie kein anderes Hotel.“ Er lachte und wies in Richtung der hinteren Fenster. „Wegen des Nachbarhauses.“
Tatsächlich entdeckte Sunja sofort mehrere Überwachungskameras an der Wand des Nebengebäudes.
„Das ist die Koreanische Botschaft?“, fragte sie erstaunt.
„Genau. Bedrückend, oder? Ich habe lange gedacht, sie steht leer, aber abends sieht man manchmal ein paar nackte Glühbirnen hinter den Fenstern leuchten. Die Leute, die dort wohnen, tun mir leid.“
Sunja nickte. „Trotzdem, die Daten Ihrer Kameras brauchen wir alle. Am besten von den letzten zehn Tagen. An wen muss ich mich da wenden?“
„Das ist unmöglich! Wir speichern nur 48 Stunden, dann wird das Band überschrieben.“
„Schade. Trotzdem, ich nehme die Speicherdaten mit. Wir haben gute Techniker.“ Sie notierte den Namen des Verantwortlichen. „Gut, Herr Moormann, so weit fürs Erste, danke für Ihre Zeit. Ihre Daten haben wir, ich muss Sie nur bitten, Berlin vorerst nicht zu verlassen. Sie wissen nun einmal am besten im Hostel Bescheid. Ach, könnten Sie mir bitte noch die unbenutzte Tür zeigen, die vom Hof zum Keller führt?“
Gemeinsam gingen sie hinunter und einmal halb um den Plattenbau herum. Der Regen war stärker geworden. Sunja registrierte, dass leider keine der Botschaftskameras auf den Eingangsbereich des Hotels gerichtet war.
Moormann wich einer Pfütze aus. Dann zeigte er ihr eine verrostete Kellertür, die sich in einem tiefergelegten Schacht befand, nickte und verabschiedete sich.
Der Schacht war etwa zwei mal zwei Meter breit, an der rechten Seite führte eine Eisentreppe herunter. Alles lag voller Laub und Abfall: Plastikflaschen, Bierdosen, ein aufgeweichter Damenschuh ohne Absatz. Ein modriger Geruch wehte zu ihr herauf. Sunja stieg die Treppe hinunter. Beim letzten Schritt wäre sie fast auf dem nassen Laub weggerutscht. Sie ging nah an die Tür heran, betrachtete das rostige Schloss, sah sich den Boden und die Treppe genauer an, schüttelte den Kopf und stieg wieder hinauf.
Die Kommissarin rief einen der Techniker an, der auch gleich kam und die alte Tür in Augenschein nahm. Er bestätigte, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit in den letzten Jahren nicht geöffnet worden war, versprach aber, sie noch einmal genauer zu untersuchen.
Auf dem Rückweg durch die Lobby kam ihr der Arzt entgegen und Sunja war froh, dass er ihr damit den Gang in den Keller ersparte.
„Keine äußere Gewaltanwendung, Frau Kommissarin“, begann er. „Todesursache unklar. Vielleicht Vergiftung? Genaues sagt Ihnen die Rechtsmedizin. Lassen Sie uns rausgehen, ich brauche frische Luft.“
Sie stellten sich unter die Überdachung.
„Kann es Suizid sein?“, fragte Sunja.
„Möglich. Aber Schleifspuren an Rücken und Beinen post mortem. Er ist nach seinem Tod eindeutig bewegt worden.“
„Und sonst?“, fragte sie.
„Ein Tattoo an der linken Hand, Kreise und Striche. Hab ich so noch nie gesehen. Keine Spuren eines Kampfes, auf den ersten Blick. Ein Hämatom am Handgelenk, aber wie alt das ist, kann ich beim besten Willen nicht sagen. Ein schon gelb verfärbtes Hämatom an der linken Schläfe, darunter eine verschorfte Schramme. Beides älter als vierzehn Tage. Ich gehe von einer Liegezeit von vier bis fünf Tagen aus. Aber der Keller ist feucht, machen Sie sich keine Hoffnung auf eine stundengenaue Angabe.“
„Ist der Fundort der Tatort?“
„Das müssen die Kollegen in der Rechtsmedizin klären. So, jetzt muss ich aber, Frau Löwel, meine lebenden Patienten warten. Gefallen mir auch besser. Bericht wie immer gestern, ich wünsche Ihnen viel Glück! Auf Wiedersehn!“
Er hob die Hand und rauschte davon.
Sunja sah nach oben, hielt inne und ließ die feinen Tropfen auf ihr Gesicht fallen. Sie fuhr sich durchs nasse Haar, widerstand der Versuchung, sich gleich die nächste Zigarette anzuzünden, und machte sich widerstrebend auf den Weg in den Keller.
Die Techniker hatten nichts gefunden, was einen baldigen Hinweis auf die Identität des Toten versprach. Die Druckspuren unter seinen Achseln, vermutlich beim Transport der Leiche entstanden, waren diffus und kaum verwertbar. Die Decke unter seinem Kopf stammte wahrscheinlich aus dem Regal des Kellerraumes. Fingerabdrücke gab es nur die des Hausmeisters. Woraus sich vielleicht etwas machen ließe, sei ein einzelnes Haar auf dem T-Shirt des Jungen, meinte der Techniker, das augenscheinlich nicht von ihm selbst stamme, außerdem Faserspuren eines blauen Nylongewebes sowie einige Hautpartikel unter einem seiner Fingernägel.
Gedankenversunken stieg die Kommissarin die Treppen hinauf. Sie warf einen Blick zur Uhr. Kurz vor zehn. Ein merkwürdiger Fall. Gleich würden ihre Kollegen kommen. Hoffentlich hatten die ein wenig von dem Glück gehabt, das der Arzt ihnen gewünscht hatte.
Rasch kümmerte sie sich um den Abtransport der Leiche und telefonierte mit Ole Hansen, dem Leiter des rechtsmedizinischen Instituts in der Turmstraße. Sie bat ihn, den Toten bald zu untersuchen und sie umgehend anzurufen, falls er Hinweise auf die Identität fände.
Staatsanwältin März regte sich am Telefon wie gewohnt auf. Diesmal darüber, dass man sie nicht geholt und ihr den Toten an Ort und Stelle gezeigt hatte. Sie wollte wissen, ob die Presse vor Ort gewesen wäre, war erleichtert, dass dies nicht der Fall war und ordnete an, bis 15 Uhr über die ersten Ergebnisse informiert zu werden. Bis dahin sollten die Kommissare ja wohl etwas haben, meinte sie.
Sunjas Kollegen trafen kurz nacheinander ein. Schon an ihren Gesichtern sah sie, dass ihre Hoffnungen nicht aufgingen.
René berichtete, eine passende Vermisstenmeldung läge nicht vor, weder in Berlin noch bundesweit. HP, der sämtlichen Gästen und Mitarbeitern des Hotels das Foto gezeigt und dabei all seine Fremdsprachenkenntnisse bemüht hatte, hatte ebenfalls keinen Treffer gelandet. Auf der Gästeliste der letzten vierzehn Tage sei ihm nichts aufgefallen, was mit dem Opfer in Verbindung stehen könnte. Alle Gäste der vergangenen zwei Wochen hätten ordnungsgemäß ausgecheckt. Matthias, nass wie ein Pudel, der gemeinsam mit drei Streifenpolizisten Wohnhäuser und Geschäfte der näheren Umgebung abgeklappert hatte, sagte dasselbe. Natürlich stünden einige Anwohner noch aus, die sie nicht angetroffen hätten. Darum würde er sich bald kümmern.
Niemand hatte den kleinsten Hinweis gefunden. Kein Mensch kannte das Opfer.
Ein Messer kann seinen eigenen Griff nicht schnitzen.
– Koreanisches Sprichwort –
Sie waren an einem kalten Wintermorgen gekommen. Der Anführer hatte das Versteck sofort gefunden. Die Bibel auf den Boden geworfen. Geschrien, bis er Schaum vor dem Mund hatte. Der Mann trug eine andere Uniform als der Rest der Bande, wahrscheinlich gehörte er zur Staatspolizei. Keiner wusste, wer sie verraten hatte. Eine Bibel im Haus reichte allemal für eine Verhaftung. Sie zerrten seine Eltern aus den Betten. Brüllten. Schlugen.
Sippenhaft war normal in diesem Land.
Dass er nichts über das Schicksal seiner Familie gewusst hatte, war in der Zeit nach der Verhaftung das Schlimmste gewesen. Er selbst war jung und stark, dieses Martyrium würde er auf sich nehmen. Aber die Eltern?
Der Vater hatte an die Wiedervereinigung Koreas geglaubt und mit einer Gruppe Gleichgesinnter dazu Ideen ausgetauscht. Er selbst hatte nichts davon gewusst. Bis er einen an den Vater gerichteten Brief versehentlich öffnete. Damals hatte er gelitten, weil sein Vater ihm nicht vertraute. Er hatte noch nicht gewusst, wie lebenswichtig es war, keine Ahnung zu haben.
Heute staunte Sehun, dass jemand in einem Land wie Nordkorea noch Ideale hegen konnte. Der ständig drohende Hunger, weil die mittelalterliche Landwirtschaft keine Erträge brachte und die Verteilung der Lebensmittel nicht funktionierte. Der Winter in den kaum beheizten Häusern. Die Angst vor dem Nachbarn, dem Kollegen, dem eigenen Partner. Jeder konnte Zuträger des Regimes sein oder werden. Jeder war erpressbar. Die Lager …
Barfuß hatte er vor ihrem Haus in Cheongjin gestanden, bis der Wagen kam. Das Wasser im Kübel war gefroren gewesen. Er würde, ja, er wollte leiden. Wie Christus.