Der falsche Mann - David Ellis - E-Book

Der falsche Mann E-Book

David Ellis

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Beschreibung

Er lebt in seiner eigenen Welt, abgeschottet, scheinbar ohne Empfindung. Doch dann wird der Kriegsveteran Tommy des Mordes an einer Studentin verdächtigt. Er beteuert seine Unschuld, aber alles spricht gegen ihn. Der Anwalt Jason Kolarich übernimmt die Verteidigung: ein scheinbar aussichtsloses Unterfangen. Als ein prominentes Mafiamitglied umgebracht wird, erhält der Fall eine dramatische Wendung: Kolarich kommt einer mysteriösen Bruderschaft auf die Spur, die einen Anschlag plant. Er braucht Beweise – doch seine Gegner sind übermächtig ...

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Zum Buch

Der Anwalt Jason Kolarich übernimmt die Verteidigung des Kriegsveteranen Thomas David Stoller. Stoller leidet unter einer posttraumatischen Belastungsstörung sowie Schizophrenie und wird beschuldigt, die Chemiestudentin Kathy Rubinkowski ermordet zu haben. Die Fakten sprechen gegen ihn, doch als Kolarich von einem Mafiakiller erfährt, dass die berüchtigte Unterweltgröße Gin Rummy den Mord begangen haben soll, beginnt der Anwalt, an die Unschuld seines Mandanten zu glauben.

Als der Informant umgebracht wird, ist klar, dass er die Wahrheit gesagt hat, und Kolarich bemüht sich, weitere Beweise zu ermitteln.

Allerdings bleibt ihm kaum noch Zeit bis zur Verhandlung. Dabei stößt er auf Hinweise, dass Kathy Rubinkowski durch ihre Arbeit in einer Kanzlei auf sensible Informationen gestoßen ist, die möglicherweise zu ihrem Tod geführt haben. Die Studentin hatte herausgefunden, dass eine kleine Farm in großen Mengen Düngemittel eingekauft hat und gleichzeitig Lieferungen von Nithromethan bekam, zwei Stoffe, die in der Mischung hochexplosiv werden. Kolarich wird klar, dass hinter dem Mord eine Verschwörergemeinschaft steckt, die ein perfides Attentat plant. Der tödliche Countdown läuft…

Zum Autor

David Ellis, geboren 1967, machte 1993 an der Northwestern Law School seinen Abschluss und arbeitet heute in Chicago als Anwalt mit Schwerpunkt Verfassungsrecht. Mit In Gottes Namen gelang ihm in Deutschland der Sprung auf die Bestsellerlisten. David Ellis lebt mit seiner Frau und zwei gemeinsamen Töchtern in Illinois.

Besuchen Sie den Autor im Internet unter www.davidellis.com

David Ellis

Der Falsche Mann

Thriller

Aus dem Amerikanischen

von Alexander Wagner

Wilhelm Heyne Verlag

München

Die Originalausgabe THEWRONGMAN erschien 2012 bei

G. P. PUTNAM’S SONS, New York, published by the Penguin Group

Vollständige deutsche Erstausgabe 08/2013

Copyright © 2012 by David Ellis

Copyright © 2013 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Redaktion: Tamara Rapp

Umschlaggestaltung: yellowfarm GmbH, S. Freischem,

unter Verwendung eines Motivs von © iStockphoto/deniz genc

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-10426-9

www.heyne.de

Prolog

Januar

Heute Nacht wird Kathy Rubinkowski etwas Schlimmes zustoßen.

Im Augenblick ist sie jedoch noch vollauf damit beschäftigt, ihren Wagen zu parken. Es ist eine ziemliche Herausforderung, den Accord in die schmale Parklücke zwischen den beiden dicken Geländewagen zu manövrieren. Doch da ein Parkplatz in der Nähe ihrer Wohnung in etwa so selten auftaucht wie der Halley’sche Komet, nimmt sie die Mühe in Kauf, ebenso wie das unvermeidliche leichte Anstoßen der benachbarten Fahrzeuge.

Bevor sie den Motor ausschaltet, blickt sie sich um. Hier oben im nördlichen Teil wird die Gehringer Street von modernen Apartmentkomplexen flankiert, dazwischen stehen vereinzelt Einfamilienhäuser, die nach und nach von Yuppie-Pärchen aufgekauft und luxussaniert werden. Es ist kurz vor zweiundzwanzig Uhr, und die Straße ist menschenleer. Die Beleuchtung ist schummrig. Leichte Nebelschwaden hängen über dem Asphalt wegen der im Tagesverlauf leicht gestiegenen Temperaturen. Es ist ein Januartag im Mittleren Westen, trotzdem ist das Thermometer an diesem Nachmittag auf fünf Grad plus geklettert.

Sie atmet aus und streckt sich. Sie ist hundemüde. Acht Stunden lang hat sie Frachtbriefe und Transportrechnungen geprüft, gefolgt von vier Stunden anorganischer Chemie, in denen sie aufmerksam Professor Dylans monotonen Ausführungen über Molekülorbitaltheorie gelauscht hat. Das schlaucht.

Sie schnappt sich ihren Rucksack vom Beifahrersitz und schlüpft aus dem Wagen. In der letzten Stunde ist die Temperatur deutlich gefallen, als hätte die Stadt sich plötzlich daran erinnert, dass Winter ist. Erneut mustert Kathy ihre Umgebung. Alles scheint in Ordnung. Sie geht um den Wagen herum zum Kofferraum, lässt ihn aufschnappen und holt ihre Sporttasche heraus. Sie hatte mit dem Gedanken gespielt, heute Abend im Fitnessraum der Universität noch ein wenig zu trainieren, aber irgendwie fehlte ihr dann doch die nötige Energie. Vielleicht rennt sie später noch zwanzig Minuten auf ihrem Laufband, auch wenn sie das eher bezweifelt.

Sie bezweifelt es deshalb, weil sie noch etwas anderes erledigen muss. Es ist kein Auftrag für die Arbeit. Auch kein Auftrag für die Uni. Es ist überhaupt kein Auftrag. Sondern etwas, das ihr keine Ruhe lässt. Vielleicht völlig grundlos, aber je mehr sie darüber nachdenkt…

Sie schließt den Kofferraum. Ein leises Keuchen entfährt ihrem Mund, und sie stolpert rückwärts gegen den Kühlergrill des Geländewagens hinter ihr. Noch vor wenigen Augenblicken war keiner auf der Straße. Jetzt ist da jemand. Sie holt tief Luft.

»Tut mir leid«, entschuldigt sie sich für ihre heftige Reaktion. »Sie haben mich erschreckt.«

Keine fünf Sekunden später dringt eine Kugel exakt zwischen ihren Augen in ihren Schädel ein. Sie durchbohrt ihn in gerader Linie, zerschmettert das Keilbein, das Siebbein, die Orbitalplatten und bleibt schließlich im Stammhirn stecken. Das Projektil erzeugt eine Schockwelle, die sich durch das übrige Gehirn fortpflanzt und für den sofortigen Verlust des Bewusstseins sorgt. Kurz bevor es endgültig erlischt, erinnert sich Kathy daran, dass morgen ihr vierundzwanzigster Geburtstag ist.

Sie bricht tot auf der Straße zusammen. Blut strömt aus Nase und Mund, hinausgepumpt von einem Herzen, das noch nicht bemerkt hat, dass es eigentlich zu schlagen aufhören sollte. Ihre erlöschenden Augen sehen nicht mehr, wie ihr der Mann die Handtasche vom Arm zieht, das Handy aus der Gürteltasche nimmt und die Halskette herunterreißt.

Sie hört seine auf dem Asphalt widerhallenden Schritte nicht mehr, mit denen er sich hastig von ihrem leblosen Körper entfernt.

***

Detective Frank Danilo spähte durch die einseitig verspiegelte Glaswand. Der Verdächtige redete mit sich selbst, seine Lippen bewegten sich pausenlos, und obwohl er die Hände zu leichten Fäusten geballt hatte, zuckten seine Finger.

Die Fingerabdrücke, die man ihm bei seiner Einlieferung abgenommen hatte, stimmten mit denen eines gewissen Thomas David Stoller überein. Alter siebenundzwanzig. Ehemals bei den Army Rangers, vor dreiundzwanzig Monaten entlassen. Offiziell wohnte Stoller im Van Hart Way, nächtigte aber seinem Äußeren nach zu schließen wohl eher im Park.

»Er quasselt ununterbrochen.« Detective Mona Gregus nippte an ihrem Kaffee. »Aber ich versteh kein verdammtes Wort.«

»Weil er so nuschelt oder weil er Unsinn redet?«

Gregus schüttelte den Kopf. »Vermutlich beides.«

»Spielt er uns vielleicht nur was vor?«, fragte Danilo. »Denn andernfalls ist ja wohl ziemlich klar, worauf sein Fall hinausläuft.«

»Schon klar, Francis, aber das ist nicht unser Bier. Wir holen uns jetzt seine Aussage, und dann sollen sich die im Gefängnis um ihn kümmern.«

Danilo nickte und stupste mit dem Handrücken leicht gegen ihren Arm. Dann schnappte er sich den Karton mit den Beweismitteln, und gemeinsam betraten sie den Verhörraum.

Der Geruch traf sie wie ein Schlag vor die Brust. Massive Körperausdünstungen raubten ihnen fast den Atem. Tom Stoller hatte schwarzes, verfilztes Haar, das in alle Richtungen abstand, und einen langen Bart, in dem sich diverse Abfälle und Essensreste verfangen hatten. Er trug ein schmuddeliges T-Shirt und ein fleckiges, zerrissenes Hemd mit verblasstem, unleserlichem Aufdruck. In diesen Kleidern hatte man ihn aufgegriffen. Was erstaunlich war, denn er lebte und schlief draußen, und bei den aktuellen Minusgraden schien diese Bekleidung alles andere als angemessen.

Unter Stollers dunklen, nervös zuckenden Augen hingen schwere Tränensäcke. Seine Wangen waren fleckig und von Narben entstellt. Er war unnatürlich dünn. Als die beiden Detectives den Verhörraum betraten, duckte er sich, reagierte aber ansonsten nicht auf ihre Anwesenheit.

Detective Danilo wollte schon loslegen, zögerte dann aber einen Moment. Der Verdächtige war ein Irakkriegsveteran, der jetzt obdachlos war. Natürlich war er offiziell nicht das Opfer, aber auch sein Leben hatte tragische Züge. Für Danilo waren es mit die schlimmsten Momente seines Jobs, wenn er mit dem Täter genauso viel Mitleid empfand wie mit dem Opfer.

Danilo schaltete die Videokamera ein und blickte durch den Sucher, um ganz sicherzugehen, dass sie auf die Stühle und den Tisch gerichtet war. Natürlich war sie das, aber trotzdem– vor achtzehn Monaten hatte es in Area Two diesen Vorfall gegeben, bei dem die Kamera irgendwie verschoben worden war und der Detective es versäumt hatte, sie noch einmal zu kontrollieren. Richter Mulroney war alles andere als begeistert gewesen, als er Bilder von einer kahlen Wand zu sehen bekam und lediglich die Tonspur zu hören war; er hatte deswegen ein perfektes Geständnis über einen Doppelmord für unzulässig erklärt.

Die Detectives ließen sich dem Verdächtigen gegenüber nieder. »Das hier ist Detective Francis Danilo. Ich bin Detective Ramona Gregus. Der Vernommene ist Thomas David Stoller.« Danilo nannte Stollers Sozialversicherungsnummer, seine letzte bekannte Adresse sowie Ort, Datum und Uhrzeit der Vernehmung.

»Mr. Stoller, ich bin Detective Frank Danilo. Dies ist Detective Mona Gregus. Darf ich Sie Tom nennen?«

Stoller hatte die ganze Zeit weiter vor sich hin gemurmelt, allerdings nun mit gesenktem Kinn und leiserer Stimme. Kauderwelsch. Unzusammenhängendes Gebrabbel.

»Tom, würden Sie mich bitte ansehen?«

Der Verdächtige blinzelte zu ihm hoch und straffte dann den Oberkörper.

»Tom, Sie haben das Recht zu schweigen. Alles, was Sie sagen, kann vor Gericht gegen Sie verwendet werden. Sie haben das Recht auf einen Anwalt. Wenn Sie sich keinen Anwalt leisten können, wird ein Pflichtverteidiger für Sie bestimmt. Haben Sie diese Rechte verstanden, Tom?«

Der Täter blickte zwischen den Detectives hin und her. Dabei nickte er pausenlos mit dem Kopf. Die Videokamera würde das Nicken aufzeichnen. Das Regelwerk des Obersten Gerichtshofs schrieb an keiner Stelle vor, dass die Zustimmung verbal geäußert werden musste.

»Tom…«

»Haben Sie… Wasser?«, fragte Stoller, dessen Stimme rau und belegt klang. Eine erste Kontaktaufnahme.

»Sie wollen Wasser, Tom? Wir holen Ihnen welches.«

Detective Gregus verließ den Raum. Danilo wartete. Theoretisch hätte er fortfahren können, doch ein Verteidiger hätte leicht jede Aussage Stollers anfechten können, die er machte, während er auf sein Wasser wartete. Zwar würde kein Gericht dies als Zwangsausübung bewerten, aber ein entsprechender Anwalt konnte möglicherweise eine geneigte Jury davon überzeugen, Stoller hätte geglaubt, ihm würden lebenswichtige Grundnahrungsmittel verweigert, solange er den Cops nicht das Gewünschte erzählte.

Kurz darauf kam Gregus mit zwei großen Styroporbechern Wasser zurück und stellte sie vor Stoller. Er stürzte beide Becher mit großen Schlucken hinunter, wobei Wasser aus seinen Mundwinkeln rann und von seinem schmutzigen Bart tropfte. Er schmatzte mit den Lippen und nickte.

»Mir ist heiß«, sagte er.

»Okay«, sagte Danilo. »Wir können Ihnen eine Decke… Ihnen ist heiß?«

»Mir ist heiß.«

Vermutlich die Nerven, dachte Danilo. Wegen der Panik stieg sein inneres Thermometer. Das kam vor. Erstaunlich genug, dass dieser Kerl bei seiner spärlichen Kleidung und den Minusgraden draußen nicht ständig fröstelte, andererseits befand er sich jetzt schon seit mehreren Stunden im Gebäude.

»Tom, wissen Sie, warum Sie hier sind?«

Stoller antwortete nicht. Allerdings unterbrach er sein Gemurmel und schien zu lauschen. Danilo öffnete den Karton mit den Beweismitteln und holte die Tüte mit der Mordwaffe heraus, eine Glock 23 Halbautomatik.

»Das ist meine Pistole«, sagte Stoller, während Danilo die Tüte vor ihm schwenkte.

Danilo warf Gregus einen raschen Seitenblick zu. Jesus. Der Mann machte es ihnen leicht.

»Ist das Ihre Waffe, Tom?«

Stoller griff danach. Danilo zog sie zurück.

»Das ist meine Pistole«, wiederholte Stoller trotzig.

»Die Waffe ist ein Beweismittel, Tom. Okay? Und bleiben Sie mit dem Hintern auf Ihrem Stuhl sitzen.«

»Sie gehört mir.« Stoller starrte auf den Tisch. »Es ist meine.«

»Woher haben Sie diese Waffe, Tom?«

Stoller antwortete nicht. Als hätte er nicht zugehört. Danilo wiederholte die Frage und erhielt erneut keine Antwort.

»Wo wohnen Sie, Tom?«, fragte er.

Die Augen des Verdächtigen zuckten, ein schiefes Grinsen huschte über seine Lippen. »Wo ich… wohne?«

»Okay, sagen wir schlafen«, sagte Danilo. »Wo schlafen Sie?«

»Park.« Stoller kicherte.

»Franzen Park?« Die Antwort schien offensichtlich. Franzen Park war der Name eines schicken Viertels rund um den Park, wo zunehmend exklusive Stadthäuser aus dem Boden schossen zwischen Apartmenthäusern, in denen Studenten wie Kathy Rubinkowski wohnten. Stoller hingegen hatte seine Nächte eindeutig im Park selbst verbracht.

Stoller schüttelte den Kopf, was allerdings keine Antwort auf die Frage zu sein schien.

»Westlich vom Park liegt die Gehringer Street, Tom.« Danilo bemühte sich um einen beiläufigen Tonfall. »Kennen Sie diese Straße?«

Keine Antwort. Sein langsames, schrittweise aufbauendes Vorgehen schien Danilo nicht weiterzubringen. Der Detective trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte und überlegte einen Moment.

»Warum sind Sie vor den Cops weggerannt, Tom?«

Die Polizei hatte Stoller im Park hinter dem Hauptgebäude der Parkverwaltung entdeckt, wo er zwischen zwei Mülltonnen kauernd eine Handtasche durchwühlte, die später als die Tasche von Kathy Rubinkowski identifiziert worden war. Er hatte eine Holzlatte nach einem der Cops geworfen, damit dessen Taschenlampe beiseitegeschlagen und war anschließend zu Fuß gute drei Blocks geflüchtet, bevor ihm ein weiterer Streifenwagen den Weg abgeschnitten hatte.

Stoller hörte auf zu zucken. Seine Augen schossen durch den Raum. Offensichtlich machte ihm ein weiterer Hitzeschub zu schaffen, erneut ging ein stechender Geruch von ihm aus. Schweiß trat ihm auf die Stirn. Er hob die Hände vom Tisch und hielt sie vor sich in der Luft, offenbar vollständig in einer anderen Welt verloren.

Detective Danilo wartete ab. Aber Stoller schien zu keinem Geständnis bereit. Daher wiederholte Danilo seine Frage– warum war Stoller an diesem Abend vor der Polizei weggerannt? Und er versuchte es mit weiteren Fragen. Was haben Sie gestern Abend gemacht, Tom? Woher hatten Sie diese Handtasche?

»Tom.« Danilo schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.

Stoller zuckte zusammen, ohne sich aber in Danilos Richtung umzudrehen, fast als hätte er ein Geräusch gehört, das er nicht richtig zuordnen konnte. Seine Lippen bewegten sich rasch, doch Danilo verstand kein einziges verdammtes Wort.

»Tom!«, wiederholte er und hieb erneut auf den Tisch.

Detective Gregus zog einen Ordner aus dem Beweismittelkarton. Fotos vom Tatort. Sie reichte ihn Danilo und nickte.

Richtig. Vermutlich war das jetzt ein guter Zeitpunkt dafür.

Danilo schob eins der Fotos quer über den Tisch. Kathy Rubinkowski, die tot auf der Straße lag, inmitten einer großen Blutlache.

Der Verdächtige warf einen raschen Blick auf das Foto, bevor er mit fest zugepressten Augen den Kopf herumriss.

»Das waren Sie, Tom, richtig? Sie haben diese Frau getötet.«

Der Tisch wackelte, als Stoller sich davon abstieß und aufsprang.

»Tom, haben Sie diese Frau erschossen?«

Vor seinem Stuhl stehend schüttelte Stoller heftig den Kopf und raufte sich mit beiden Händen die Haare.

»Tom, wenn Sie keine Erklärung dafür liefern können, sind Sie wegen vorsätzlichen Mordes dran.«

»Nein.« Stoller schüttelte den Kopf so wild und unkontrolliert, dass Danilo fast fürchtete, er könnte sich selbst verletzen.

»Erzählen Sie mir, wie es passiert ist, Tom, oder Sie werden den Rest Ihres Lebens…«

»Runter damit!«, bellte Stoller mit tiefer, kontrollierter Baritonstimme. »Fallen lassen! Ich sagte, runter damit!«

Die Detectives blickten einander an. Keiner von ihnen hielt etwas in der Hand, das man hätte fallen lassen können. Was meinte er…

»Runter damit!«

Danilo wappnete sich innerlich. Sicherheit hatte Priorität. Allerdings befanden sich keine geladenen Waffen im Raum, und falls die Situation eskalierte, konnten sie jederzeit den Alarmknopf unter dem Tisch drücken und Hilfe herbeirufen.

Die Kameraaufzeichnung war ein weiterer Punkt, auf den es zu achten galt, doch der Verdächtige befand sich immer noch im Blickwinkel des Objektivs, und die Lautstärke seiner Stimme war ohnehin mehr als ausreichend.

Stoller hatte sich mit gespreizten Beinen aufgebaut und brüllte weiter seine Kommandos: »Lassen Sie die Waffe fallen! Runter mit der Waffe! Sofort! Die Waffe runter!«

Interessanterweise waren seine Augen dabei die ganze Zeit geschlossen. Er brüllte die Wand an.

Es folgten einige Sekunden angespannter Stille. Schließlich fragte Danilo vorsichtig: »Hat sie eine Waffe auf Sie gerichtet, Tom? Ist es so gewesen?«

»Ich hab Ihnen doch gesagt, Sie sollen sie runternehmen!«, fauchte Stoller, bevor er mit einem Mal in sich zusammenfiel. Der bellende Kommandoton ging in ein klägliches Jammern über. »Ich hab’s Ihnen gesagt… ich hab doch gesagt, Sie sollen sie runternehmen. Warum haben Sie nicht…«

Stoller stürzte zu Boden. Er stieß einen gequälten Laut aus, irgendetwas zwischen dem ängstlichen Quietschen eines Mädchens und dem gutturalen Schrei eines Tiers.

»Wach auf!«, heulte er. »Bitte nicht… bitte nicht sterben… bitte, o Gott, bitte nicht sterben…«

Ein unbeherrschtes Schluchzen schüttelte Stoller.

Detective Danilo kniff sich in die Nasenwurzel und stieß einen langen Seufzer aus. Manchmal hasste er seinen Job.

Buch I

Oktober–November

1

Deidre Maley wahrte die Fassung, bis sie den Gerichtssaal 1741 verlassen hatte. Sie war eine stolze Frau, die ihre Gefühle kontrollierte, daher wartete sie, bis sie einen Teil des Flurs für sich alleine hatte, bevor sie in Tränen ausbrach.

Sie hatte sich so ohnmächtig gefühlt. So wütend und verwirrt und ohnmächtig. Sie hatte mit ansehen müssen, wie ihr Neffe Tommy in seinem Gefängnisoverall dasaß und mit leeren Augen zu Boden starrte, während der Richter mit sachlicher Stimme Entscheidungen verkündete, die sie nur zur Hälfte verstand und denen Tommy in seinem momentanen Zustand wohl gar nicht folgen konnte. Sein Anwalt, ein Pflichtverteidiger, war ein netter Mann, aber er hatte noch zig andere Fälle, war immer in Eile und versprach ihnen jedes Mal, dass noch viel Zeit für die Prozessvorbereitung blieb, obwohl dieser bereits in weniger als zwei Monaten stattfand.

Nach einer Weile beruhigte sich Deidre wieder. Weinen löst keine Probleme, hatte ihre Mutter immer gesagt. Ihr Neffe Thomas hatte keine Mutter mehr. Deidre war der einzige Mensch, der ihm noch geblieben war.

Sie entdeckte einige Männer, die wie Reporter aussahen– sofern das Tragen von Notizblöcken und kleinen Rekordern ein Indiz dafür war– und die in den benachbarten Gerichtssaal 1743 strömten. Da sie es nicht besonders eilig hatte, zur Arbeit zurückzukehren, folgte sie ihnen.

Offensichtlich war dort ein Prozess im Gange, denn im Saal herrschte eine förmliche Atmosphäre und eine angespannte, aseptische Stille. Unwillkürlich stieg Panik in ihr auf. Schon in wenigen Wochen würde ihr Tommy vor einem Gericht wie diesem stehen.

Deidre setzte sich und sah zu. In der Mitte des Raums stand ein Staatsanwalt im grauen Anzug mit einem Zeigestock neben einem vergrößerten Foto, das auf einem dreibeinigen Stativ befestigt und zur Jury gedreht worden war.

»Nun, Ms. Engles«, dröhnte der Ankläger, »Sie sind sich ganz sicher, dass Sie freie, ungehinderte Sicht auf die Schießerei hatten?«

»Klar.« Im Zeugenstand saß eine hübsche Afroamerikanerin, die bestenfalls Mitte zwanzig war.

»Dieser Tanklaster.« Der Staatsanwalt wandte sich dem vergrößerten Foto zu und deutete mit dem Zeigestock auf einen Sattelschlepper, der vor der Tankstelle parkte, parallel zur Straße und im rechten Winkel zu den Zapfsäulen, an denen kein einziger Wagen stand. »Dieser Tanklaster hat Ihnen nicht die Sicht versperrt?«

»Nein. Ich hatte ja am anderen Ende geparkt. Von dort aus konnte man die Straße rund um den Laster sehen.«

»Nur für das Protokoll– war das am äußeren westlichen Ende?« Der Anwalt setzte erneut den Zeigestock ein. »Am äußeren westlichen Ende der Tankstelle?«

»Richtig.«

»Die am weitesten westlich gelegene Reihe von Zapfsäulen?«

»Genau.«

»Und Sie befanden sich westlich dieser letzten Reihe mit Zapfsäulen?«

»Stimmt.«

»Und von dort aus sahen Sie das People’s Twenty-four, das vorhin bereits eingeführt wurde.« Der Anwalt ging zu einem weiteren Foto auf einem Stativ. »Gibt dieses Foto exakt Ihren Blickwinkel vom Fahrersitz Ihres Wagens aus wieder, während Sie in der Nacht der Schießerei auf der westlichen Seite der am weitesten westlich gelegenen Reihe Zapfsäulen parkten?«

»Ja, so hab ich es gesehen.«

»Und Sie konnten direkt auf die südlich gelegene Straße schauen, ohne von dem Tanklaster behindert zu werden?«

»Klar, das war kein Problem.«

»Und Sie sind sich sicher, Ms. Engles, dass die Person, die die Waffe abgefeuert und Malik Everson getötet hat, heute hier im Gerichtssaal sitzt?«

»Klar, es war Rondo.«

»Mit ›Rondo‹ meinen Sie Ronaldo Dayton.«

Am Tisch der Verteidigung stieß der Anwalt den Afroamerikaner neben sich leicht mit dem Ellbogen an. Der Mann erhob sich.

»Das da drüben ist Rondo«, erklärte die Zeugin.

»Würde das Protokoll bitte vermerken, dass die Zeugin den Angeklagten Ronaldo Dayton eindeutig identifiziert hat.« Der Staatsanwalt nickte zufrieden. Keine weiteren Fragen«, sagte er.

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