Der Feuergeist – Die Legende vom Tränenvogel 3 - Young-do Lee - E-Book

Der Feuergeist – Die Legende vom Tränenvogel 3 E-Book

Young-do Lee

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Beschreibung

Das Fantasy-Epos aus Korea!

Durch einen Trick haben sich die Nagas, telepathische Echsenwesen aus den Dschungeln im Süden, die Macht ihrer Göttin angeeignet und setzen sie jetzt im Krieg gegen die Völker des Nordens ein. Obwohl die nördlichen Armeen von Feuergöttern und Drachen angeführt werden, haben sie kaum eine Chance auf den Sieg, denn die Nagas sind praktisch unsterblich. Ihre einzige Hoffnung ist, dass eine Gruppe Abenteurer – der Lekon-Krieger Tinahan, Feuerwesen Bihyung und der Mensch Kaygon Draka – ihren geheimen Auftrag ausführen: Sie müssen die Reinkarnationen der Götter des Nordens finden …

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Seitenzahl: 584

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Das Buch

Nachdem sich die Nagas, die Echsenwesen aus dem heißen Dschungel von Kiboren im Süden, durch einen Trick die Macht ihrer Göttin angeeignet haben, führen sie nun einen gnadenlosen Expansionskrieg gegen die Völker des Nordens. Kaygon Draka, der Lekon-Krieger Tinahan und Dokebi-Feuergeist Bihyung müssen die Inkarnationen der Götter der Menschen, Lekons und Dokebis finden. Nur zu dritt kann man gegen einen bestehen, sagt ein uraltes Sprichwort, und so brauchen sie die Macht dreier Götter, um den Nagas Einhalt zu gebieten. Doch während Menschen, Lekons und Dokebis verzweifelt nach den Göttern suchen, nehmen die Nagas eine Stadt nach der anderen ein. Ihre Suche wird zu einem Wettlauf gegen die Zeit.

In Korea millionenfach verkauft und erfolgreicher als Game of Thrones und The Witcher – mit DIELEGENDEVOMTRÄNENVOGEL hat Lee Young-do Fantasy-Geschichte geschrieben.

Die große Saga DIELEGENDEVOMTRÄNENVOGEL in vier Bänden:

Das Blut der Herzlosen

Der träumende Krieger

Der Feuergeist

Die Suche nach dem König

Der Autor

LEEYOUNG-DO, geboren 1972, studierte Koreanische Sprache und Literatur an der Kyungnam University. Seinen ersten Roman veröffentlichte er zunächst in Fortsetzungen im Internet, ehe er 1998 in Korea als Buch publiziert wurde und den Aufstieg des Autors zum Fantasy-Superstar einläutete. Seither hat Lee Young-do mehrere Romanserien veröffentlicht, darunter DIELEGENDEVOMTRÄNENVOGEL, sein wichtigstes und erfolgreichstes Werk, das derzeit als Videospiel adaptiert wird. Lee Young-do lebt mit seiner Familie in Masan an der koreanischen Südküste.

LEE YOUNG-DO

DIELEGENDEVOMTRÄNENVOGEL

Dritter Roman

DER FEUERGEIST

Aus dem Koreanischen vonSun Young Yun, Philipp Haas undAlexandra Schiefert

Titel der Originalausgabe:

눈물을 마시는 새 3: 불을 다루는 도깨비

This book is published with the support of the

Literature Translation Institute of Korea (LTI Korea).

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe 10/2024

Redaktion: Bella Locke

Copyright © 2003 by Lee Young-do

Copyright © 2024 dieser Ausgabe und der Übersetzungby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Published in arrangement with Lee Young-doc/o Minumin Publishing Co., Ltd.,and Casanovas & Lynch Literary Agency

Umschlaggestaltung: Der gute Punkt, München

Cover Design, Illustration and Map by Yi Suyeon

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN 978-3-641-31700-3V001

Erster Teil

Sintflut

Es gibt eine Sache, die diejenigen, die nach Macht streben … wie etwa Herrscher, Kaufleute … unbedingt … bedenken müssen. Es finden sich keine Helden, großartige Persönlichkeiten, oder sogar … unter den Drachenmenschen. Die Macht eines Drachenmenschen ist nicht … zu beherrschen oder ihnen gewaltsam Informationen zu entreißen. Ganz im Gegenteil, die Macht eines Drachenmenschen ist … Gefahr ausgesetzt, unterworfen zu werden.

… begreifen nicht, welche Macht diese Abstumpfung birgt. Und man kann feststellen, dass die Herzen der Menschen voller … sind.

– Auszug aus den »Kashida-Inschriften«, die so stark beschädigt sind, dass sie nicht nur Bedauern hervorrufen, sondern auch die Fantasie anregen

Nach drei Tagen lösten gelegentliche Schauer den sintflutartigen Regen ab, fast so, als gönnte sich der Himmel eine Pause. Obwohl es so wirkte, als würde es jeden Moment gänzlich aufhören, regnete es doch bis zum Nachmittag weiter. Die hartnäckigen Tropfen tränkten die Engger-Ebene und ließen sie schlammig und morastig zurück. Eine dünne Nebelschicht kroch über die Erde, und direkt darunter breitete sich eine scheußliche Mischung aus Schlamm und Asche aus.

Auf einem kleinen Hügel am Rande der Ebene ließ sich Gwalhaid Gyuriha auf dem Hocker nieder, den er selbst herangeschafft hatte, und wischte sich mit einer beiläufigen Handbewegung über die Stirn. Er fand das Wetter recht angenehm. Mit dem starken Regen waren die Temperaturen deutlich angestiegen. Es wäre freilich im Sinne der Naga-Truppen, wäre es hier annähernd so warm gewesen wie in Kiboren, doch um das zu erreichen, hätte man den Regen aufgeben und sich allein darauf konzentrieren müssen. So war das Ergebnis eine Temperatur, die für beide Seiten nicht allzu unangenehm war.

Gwalhaids Finger glitten über die Scheide seines Langschwertes. Er hatte darauf bestanden, dieses Schwert anstelle eines Harpunenschwertes zu verwenden, und natürlich hatte niemand seiner Sturheit etwas entgegenzusetzen gehabt. Wahrscheinlich auch deshalb, weil sein Langschwert die Arbeit Dutzender Harpunenschwerter übernehmen konnte.

Das vertraute Gefühl des Leders unter seinen Fingerspitzen rief in dem alten Krieger eine gewisse Aufregung und Nostalgie hervor. An dieses Gefühl gewöhnte man sich nie vollkommen.

»Keine Sorge, mein alter Freund«, sagte Gwalhaid lächelnd, »heute wirst du wieder köstlich speisen.«

Ein wildes Grinsen breitete sich auf den Gesichtern der anderen Kämpfer aus, die ringsumher auf dem Hügel standen. Niemand von ihnen pflichtete Gwalhaids Worten bei oder fügte noch eine witzige Bemerkung hinzu. Dieser Umstand stimmte Gwalhaid auf der einen Seite froh, doch auf der anderen Seite schmerzte es ihn – es war der unumstößliche Beweis dafür, dass zu viele der unbeschwerten jungen Männer verschwunden waren. Sie hatten es nicht geschafft, ihren jugendlichen Übermut zu bremsen – das war wohl das Privileg und der Fluch der Jugend zugleich. Gwalhaid erinnerte sich gut an die Namen eines jeden dieser liebenswerten Rabauken: Fangschrecke Pesoda, Grimols der Verrückte, der liebeskranke Digur, Goha der Zwerg, der schlummernde Gwihatz …

Ein melancholisches Lächeln breitete sich auf Gwalhaids Gesicht aus, als er sich an Gwihatz’ Spitznamen erinnerte.

Der schlummernde Gwihatz.

Gwihatz Shinbyure aus Schrados hatte immer wieder seine einzigartige Einstellung zum Krieg kundgetan: Mit den Worten »das Schlachtfeld ist mein Bett, und ich muss dringend Schlaf nachholen« hatte der gut aussehende Kerl seine Kameraden aus dem Konzept gebracht. Selbst dann, als die Hörner zum Angriff geblasen hatten, hatte Gwihatz nur gemurmelt: »Das ist das Signal. Hoffentlich ist es auch Zeit für ein paar süße Träume?« Einige seiner nervösen Mitstreiter hatten gelacht, während andere – diejenigen, die vor Angst wie gelähmt schienen – ihm beeindruckte Blicke zugeworfen hatten. Bedauerlicherweise gab Gwihatz nie eine Antwort auf die neckende Frage, ob er denn mehr Frauen im Bett gehabt oder mehr Gegner auf dem Schlachtfeld niedergestreckt habe. Und nun konnte man ihn gar nichts mehr fragen, denn er hielt sein ewiges Schläfchen auf dem Schlachtfeld.

Doch Gwalhaid kannte den wahren Grund dafür, wieso Gwihatz den Kriegsschauplatz als sein Bett bezeichnet hatte: Er war stets ein nachdenklicher Mann gewesen und wollte lieber als Frauenheld in Erinnerung bleiben, als zuzugeben, dass er von schrecklichen Albträumen heimgesucht wurde. Alles zum Wohle seiner Leute!

Keine Albträume mehr, wenn du schläfst, Gwihatz. Ruhe in Frieden.

Gwalhaid stieß ein tiefes Seufzen aus, während er den strömenden Regen beobachtete. Zu viele junge Männer waren gefallen. Wunderschöne Blüten, die begehrenswerte Früchte versprachen, waren von einem erbarmungslosen Sturm fortgerissen worden. Und es gab nichts, womit ein alter Soldat ihre Gräber hätte schmücken können. Schon zu lange dienten Gwalhaids Fähigkeiten einzig und allein dem Zweck, den Naga-Truppen zu entkommen, und nicht etwa einen großen Sieg herbeizuführen. Er nahm an, dass Pesoda, Grimols, Digur, Goha und Gwihatz ihn wohl zu sehr respektiert hatten, um diese ernüchternde Wahrheit auszusprechen.

Oder auf die Städte hinzuweisen, die er nicht hatte schützen können.

Die Schönheit von Schrados lebte inzwischen nur noch in alten Liedern weiter. Die legendäre Mauer Zaboros hatte das Vertrauen der Menschen dahinter letztlich enttäuscht. Zu sehen, wie die Sechs-Brüder-Türme Pansais – die größte der größten Städte des Alten Hochlandes – für immer im Wasser versanken, hatte Maripgan Bemion sogar den Verstand gekostet. Noch immer hörte er die Schreie der Ertrinkenden und hatte eine solche Angst vor Wasser, dass er sogar Lekons in den Schatten stellte.

Vergebt mir, ihr glorreichen Städte!

Gequält von Schuldgefühlen blickte Gwalhaid nach vorne und sah, dass jemand im Regen den Hügel heraufgerannt kam. Langsamer, sonst fällst du noch hin, dachte er, als er den Soldaten mit schmatzenden Schritten näher kommen hörte. Und Momente später, ganz so wie er befürchtet hatte, stürzte der Soldat auch schon mit dem Gesicht voraus in den Bodennebel. Gwalhaid schnalzte leise mit der Zunge, während er die Szene beobachtete, doch der Soldat sprang sofort wieder auf und marschierte unbekümmert weiter.

Er hielt vor Gwalhaid inne und schrie: »Generaloberst Gwalhaid! Ich soll Euch eine Nachricht vom Hauptquartier überbringen, Generaloberst!«

»Putz dir erst mal das Gesicht ab, dann rede.«

Der Soldat wischte sich etwa ein Kilo Schlamm aus dem Gesicht, woraufhin die roten Wangen eines Mädchens zum Vorschein kamen. Trotz aller bitteren Erfahrungen musste der Generaloberst schmunzeln. Als das Mädchen das sah, errötete es noch mehr und versuchte rasch, sich an die Nachricht zu erinnern, die es sich eigentlich eingeprägt hatte. Glücklicherweise war sie nicht allzu kompliziert.

»Das Wetter wird bald umschlagen, Generaloberst! Es wird bald eine Inspektion geben, Generaloberst!«

»Verstehe. Aber hör mal, Deonui, wieso machst du nicht ein bisschen langsamer, wenn der Boden so nass und schlammig ist?«

»Ich werde langsamer machen, Generaloberst Gwalhaid!«

»Solange du hier bist, werde ich wohl nie vergessen, wer ich bin. Du kannst wegtreten.«

»Jawohl, Generaloberst Gwalhaid!«

Deonui Dalbi drehte sich um und ging langsam davon. Zu langsam, denn sie verlor bald das Gleichgewicht und fiel wild mit den Armen rudernd erneut in den Schlamm. Allerdings kam sie sofort wieder auf die Beine – ganz so, wie Gwalhaid und die anderen Beobachter es erwarteten – und rannte unbekümmert den Hügel hinunter. Es war, als wäre ihr gar nichts passiert. Kein Wunder, dass die allgemeine Meinung über Deonui Dalbi besagte, dass sie, würde sie sich einmal versehentlich in einer Bärenhöhle wiederfinden, lediglich erröten und losrennen würde. Die Vorstellung, dass ein irritierter Bär ihr vermutlich hinterherlaufen würde, fand ebenfalls viel Anklang. Gwalhaid rang sich ein Lachen ab, als er sich erhob.

Verlorene Helden, zerstörte Städte! Ich weine um euch. Er starrte durch den Sturm auf die Ebene. Aber die Zukunft gehört Deonui Dalbi!

Der alte Krieger strich wieder über die Scheide des Langschwertes. Es war ein Werkzeug, das in das Fleisch des Gegners eindringen und so eine geradezu intime Nähe herstellen konnte. Gwalhaid biss sich auf die Unterlippe.

Eines Tages werde ich euch folgen, Männer. Wir werden gemeinsam lachen und singen! Ich warte sehnsüchtig auf diesen Tag … doch bis er kommt, werde ich für dieses Mädchen und seine immer blutigen Knie kämpfen!

Als er sich den anderen Kriegern zuwandte, war sein Lächeln verschwunden. Gwalhaid verspürte keine Reue mehr. Er hatte einen Grund zu kämpfen, und einen Feind, den es zu besiegen galt.

Die Zeit der Schlacht war gekommen.

Als Bauh Moridol jemanden durch die Tür kommen hörte, drehte er sich um.

»Schlammdämon!«, krakeelte er augenblicklich, doch Rasu Gyuriha, der gerade eine Karte studierte, sagte, ohne dabei aufzusehen: »Nein, das ist nur Deonui Dalbi.«

Der »Schlammdämon« stimmte lauthals zu: »Jawohl, Generalmajor Rasu! Ich habe alle Befehle ausgeführt, Generalmajor!«

Rasu Gyuriha vergaß über Deonuis Geschrei den Gedanken, den er bis eben noch verfolgt hatte, und sah von der Karte auf. Bei dem schockierenden Anblick verstand er sofort, dass Schlossherr Bauh Moridols Ausruf keineswegs übertrieben gewesen war. Rasu war sich nicht sicher, ob die seltsame Kreatur, die im Türrahmen stand und alles dreckig machte, tatsächlich die Botin war, die er entsandt hatte.

»Wie zum Teufel kann man sich nur so benehmen? Nein, vergiss es. Du musst nicht antworten. Wegtreten!«

»Jawohl, Generalmajor Rasu!«

Bauh und Rasu seufzten unwillkürlich, als Deonui in ihrer typisch ungestümen Art davonmarschierte. Rasu Gyuriha gab es auf, die Karte zu studieren, und wandte sich an Bauh Moridol. »Nun, wie geht es Shiuse?«

»Er ist sehr müde.«

»Müde? Er konnte sich jetzt fast vier Monate lang ausruhen.«

»Er ist es leid, sich auszuruhen. Im Moment ist er so launisch und bösartig, dass nicht einmal ich es wage, mich ihm zu nähern.«

Rasu biss sich aufgeregt auf die Zunge. »Hervorragend! Dann können wir heute wohl von einem großen Erfolg ausgehen.«

Bauh Moridol ächzte und wand sich unbehaglich. Er wusste schon, was genau Rasu mit »Erfolg« meinte. »Vorausgesetzt, deine Annahmen über die Bewegungen des Mahagonikorps sind zutreffend. Nicht dass du dich jemals geirrt hättest …«

»Ich bin mir sicher. Wir haben in den letzten vier Monaten fünf Niederlagen eingesteckt. Sie würden niemals auf die Idee kommen, dass Shiuse hier ist. Immerhin haben sie uns eingekesselt. Nein, ich habe keine Zweifel.«

»Wie viele Opfer gab es in den fünf verlorenen Schlachten?«

»Weiß ich nicht. Etwa fünfzehntausend?«

Die Aufregung ließ Bauh Moridols Augen rötlich glänzen. »Manchmal denke ich, dass du sogar noch Furcht einflößender bist als die Nagas! Bist du denn nicht mehr oder weniger für diese fünfzehntausend verlorenen Leben verantwortlich?!«

Rasu Gyuriha kümmerte es nicht, dass man ihn verabscheute. Dass Bauh Moridol eine so unbedeutende Tatsache direkt vor einer wichtigen Schlacht ansprach, verärgerte ihn allerdings. Natürlich durfte man nicht vergessen, dass Bauh Moridol ein Dokebi war. Es widerstrebte Rasu, doch er hatte das Gefühl, sich nun erklären zu müssen. »Ja, du hast schon recht. Aber ich würde lieber von den vierzigtausend geretteten Leben sprechen als von den fünfzehntausend verlorenen.«

»Davon können wir nur sprechen, wenn wir diese Schlacht gewinnen …«

»Wir werden gewinnen, Schlossherr!«

Bauh bedachte Rasu noch einmal mit einem misstrauischen Blick, dann drehte er sich zu Ryun Pey um, der seine ausdruckslosen Augen auf den Tisch gerichtet hatte.

Zwar schien es, als würde er ins Leere starren, doch tatsächlich beobachtete er die Bewegungen des Wassers in einem kilometerweiten Umkreis um ihn herum. Es war Ryun gewesen, der das Ende des Regens vorhergesagt hatte. Als Bauh über Ryuns Fähigkeiten nachdachte, wurde ihm schwindlig: Ryun hatte einen dreidimensionalen Raum im Blick, der sich mehrere Kilometer weit ausbreitete und dabei hinauf in den Himmel, aber auch bis unter die Erde reichte. Als der Feind die Kavallerie der Nordarmee mit Geysiren attackiert hatte, hatte Ryun daraufhin seinen Überwachungsbereich ausgeweitet. Man konnte sich das wie eine riesige Kugel vorstellen, die einen Durchmesser von zig Kilometern hatte.

»Ihr müsst bald gehen, Schlossherr Bauh Moridol«, sagte Ryun Pey.

Bauhs üppige Figur durchlief ein Schauder. Ryun blickte immer noch hinunter auf den Tisch, doch tatsächlich waren seine Augen auf den Schlossherrn gerichtet. Hätte der Dokebi unter all den Personen, die er kannte, die absonderlichste herauspicken sollen, so hätte er, ohne zu zögern, Ryuns Namen genannt. Für Bauh Moridol war es schwierig, einen Mann, der mit geschlossenen Augen Individuen anhand ihrer Körperflüssigkeiten »sehen« konnte, überhaupt als »Person« zu bezeichnen. Ryuns Fähigkeit schockierte sogar die Nagas, und so weigerten sich zahlreiche Kriegsgefangene, überhaupt daran zu glauben. Doch ganz gleich, ob sie es glaubten oder nicht, Ryun konnte und tat es trotzdem.

»Der Himmel wird bald aufklaren. Die Hüter haben das Wetter auf der Engger-Ebene bereits geändert und warten nun darauf, dass es sich von allein beruhigt. Vermutlich wollen sie ihre Kräfte für die Schlacht aufsparen. Ihr solltet die Dokebis versammeln und losziehen.«

»Verstanden, Herzog.«

Ryuns Mundwinkel zuckten, als er mit »Herzog« angesprochen wurde. Nicht etwa, weil er kein Herzog war – dem königlichen Arasit-Erlass zufolge war Ryun Pey tatsächlich der ehrenwerte Herzog von Hatengrazu.

Den Leuten reichte der Titel als Rechtfertigung für Ryuns Anwesenheit. Glaubte man den weit verbreiteten Gerüchten, hatte Herzog Ryun nach einem Erbschaftsstreit in Hatengrazu die Seiten gewechselt und unterstützte nun den zurückgekehrten König des Nordens. Jeder, der auch nur ein bisschen über die Gesellschaft der Nagas wusste, hätte bei dieser Erklärung gelacht, doch den meisten Bewohnern des Nordens kam sie lediglich seltsam vertraut vor.

Während Ryun an die fadenscheinigen Gründe für seine Anwesenheit im Norden dachte, kam ihm einmal mehr in den Sinn, dass bereits zu viele Lügen erzählt worden waren. Der Gipfel des Lügenkonstrukts war die Identität des Königs, der nun über den Norden herrschte. Ryun hob den Blick. Im zweiten Stock war jemand, den er zwar mit seinen Fähigkeiten, nicht jedoch mit seinen Augen erkennen konnte.

Bauh Moridol erhob sich und verbeugte sich, ehe er ging. Er schien froh darüber zu sein, diesen Ort nun verlassen zu können.

Sie hatten sich im Erdgeschoss eines zweistöckigen Bauernhauses eingenistet, das sich etwas abseits des Lagers von Gwalhaid und den Truppen befand. Die meisten hatten sich darüber gefreut, einen so guten Unterschlupf gefunden zu haben, doch Bauh hatte dieses Gefühl nicht geteilt. Die niedergestreckten Körper der Bauernfamilie waren zwar entfernt worden, doch die Blutspritzer an den Wänden und die Lachen auf dem Boden waren geblieben. Erst als die Soldaten das Blut fortgeschrubbt hatten, hatte Bauh zugestimmt, zu bleiben. Trotzdem hatte er sich die ganze Zeit über unwohl gefühlt.

Plötzlich stieg in Ryun ein Gefühl von Misstrauen auf. »Wieso haben sie das Bauernhaus stehen gelassen?«

»Was meint Ihr, Herzog?«

»Sie haben die Engger-Ebene als Schlachtfeld auserkoren, uns bis hierher verfolgt und zusammengetrieben. Dann haben sie ringsumher die Erde verbrannt, damit wir die Pflanzen weder nutzen noch essen können. Ich spreche als Naga, wenn ich sage, dass es von erschreckender Entschlossenheit zeugt, dass sie sogar so weit gehen, Getreide zu verbrennen. Also, warum haben sie ausgerechnet dieses Bauernhaus verschont?«

Die feinen Härchen in Rasus Nacken richteten sich auf. »Meint Ihr, es gibt in diesem Haus eine Falle …?«

»Nein. Nichts dergleichen. Und wir sind zu weit oben, als dass eine Flut für uns zum Problem werden könnte.«

»Vielleicht hatten sie nicht genug Zeit? Das ist immerhin etwas anderes, als Felder in Brand zu stecken. Hätten sie das Haus nur zerstört, um es uns unbequem zu machen, wäre es reine Kraftverschwendung gewesen.«

Ryun neigte den Kopf, erwiderte jedoch nichts. Er hatte ohnehin kein gutes Argument parat. In diesem Moment bemerkte er, dass sich Menschen dem Bauernhaus näherten, und sagte beiläufig: »Leutnant Konedo und seine Söhne werden gleich eintreffen.«

An Rasus Miene erkannte er, dass er erneut einen Fehler gemacht hatte. Rasu Gyuriha war zwar von kalter Vernunft beherrscht, in seiner Rationalität mehr Naga als Mensch, doch nicht einmal er konnte sich daran gewöhnen, dass Ryun auf Personen außerhalb eines Gebäudes hinwies, als würde er sie mit eigenen Augen sehen. Doch abgesehen davon ließ sich Rasu seine Gedanken nicht anmerken.

Als die drei Bilpa-Männer eintraten, sagte er kühl: »Herein, herein!«

Die Männer verneigten sich vor Ryun und näherten sich dann dem Tisch.

Aus der Nähe konnte Ryun nicht verhindern, einen Blick auf Konedo Bilpas Hand – oder besser gesagt, auf seine fehlende Hand – zu werfen. An diesem Tag war »Hand 7« an seinem rechten Arm befestigt, ein Morgenstern mit grausigen Stacheln. Daneben entdeckte Ryun »Hand 5« und »Hand 6« an Konedos Gürtel, als die drei Männer an den Tisch herantraten. Konedo Bilpa hatte sich offensichtlich einige »helfende Hände« für die Schlacht geholt.

Auch Rasus Blick wanderte zu Konedos Händen, dann neigte er den Kopf. »Das Spielzeug, auf das Ihr gewartet habt, ist eingetroffen.«

Konedo, Grom und Tokari strahlten. Rasu öffnete behutsam eine kleine Holzkiste, die auf dem Tisch stand, und nahm drei Dokebi-Hüte heraus. Als er sie ablegte, entfernte Konedo seinen Helm, um sich stattdessen einhändig einen der Hüte aufzusetzen.

Sofort löste er sich in Luft auf.

Grom, Tokari und Rasu waren nicht überrascht, da sie einen solchen Hut schon einmal in Aktion erlebt hatten. Allerdings blickten sie besorgt in Ryuns Richtung. Von dem scheinbar leeren Platz am Tisch ertönte zögerlich Konedos Stimme: »Herzog, könnt Ihr mich sehen?«

Ryun blickte einige Zeit lang schweigend ins Nichts. Die drei Männer – vier mit dem Unsichtbaren – warteten nervös auf Antwort.

»Ich kann Euch nicht sehen«, sagte Ryun dann endlich.

Die vier Männer jauchzten erfreut. Grom und Tokari sputeten sich, ebenfalls einen Dokebi-Hut aufzusetzen, und Rasu nickte zufrieden, als sie ebenfalls verschwanden. Doch Ryun meldete sich erneut zu Wort: »Unteroffizier Tokari, bleibt stehen. Ihr werdet noch mit Leutnant Konedo zusammenstoßen und den Dokebi-Hut zerstören.«

Rasu war sichtlich enttäuscht, als ihm klarwurde, was Ryuns Kommentar zu bedeuten hatte. Tokari und Grom tauchten nacheinander wieder auf, auch ihre Laune war gedämpft. Zum Schluss legte Konedo Bilpa den Hut wieder ab und ließ ihn auf den Tisch sinken. »Aber sagtet Ihr nicht, Ihr könntet uns nicht sehen?«

»Ich kann Euch nicht sehen, aber Ihr alle habt Wasser in Euren Körpern.«

Anders als Konedo und Grom verstand Tokari sofort, was Ryun sagen wollte. »Aha! Ich verstehe, was Ihr meint. Aber das heißt dann, dass wir für andere Nagas unsichtbar sind?«

»So ist es. Endlich ein Erfolg! Der Dokebi-Hut verbirgt sogar die Temperatur. Wirklich beeindruckend.«

Rasu und Tokari waren erleichtert. Tokari erklärte seinem Bruder und Vater rasch: »Wenn wir die Hüte aufsetzen, können uns die Nagas nicht sehen. Der Herzog konnte uns sehen, weil er das Wasser in unseren Körpern sehen kann. Er besitzt immerhin auch die Fähigkeit, Wasser im Untergrund zu erkennen. Aber, Herzog … Können uns die Feinde dann trotzdem ein wenig wahrnehmen? Obwohl sie nicht die gleichen Fähigkeiten haben wie Ihr?«

»Das wäre sehr schwierig für sie. Abgesehen von Generaloberst Gallotek gibt es niemanden, der Fähigkeiten hat, die den meinen ähneln. Und selbst wenn es jemanden gäbe, könnte er auf einem überfüllten Schlachtfeld unmöglich etwas erkennen.«

Grom und Konedo waren begeistert. Konedo rieb mit der linken Hand über den Morgenstern an seiner rechten und rief: »Das ist großartig! Ich werde mit dem Dokebi-Hut viel Spaß haben!«

Rasu schüttelte warnend den Kopf. »Aber nicht zu viel Spaß! Der Feind weiß, dass wir diese Hüte haben. Also verwendet sie nur, wenn es notwendig ist … Ach, nun ja. Ich habe vergessen, dass ihr Männer aus Balkene seid.«

Konedo, Grom und Tokari vergaben Rasu den Fehler mit einem durchtriebenen Lächeln. Die Balkene-Männer waren für ihre Geduld bekannt – weil sie eine grundlegende Eigenschaft eines jeden Diebes war.

Aus den Augenwinkeln schielte Grom zur Treppe, als er sagte: »Hm, wir brauchen zwei, um Bonui von Nanui zu unterscheiden. Um ganz sicher zu gehen, dass man uns nicht sehen kann, könnte Ihre Majestät es ebenfalls überprüfen …« Grom wurde leiser, als er bemerkte, dass ihn die Männer, Ryun ausgenommen, fassungslos anstarrten.

Rasu Gyuriha bedachte Konedo mit einem Blick, der deutlich machte, dass er nichts dazu sagen würde. Konedo nickte ihm kaum merklich zu, dann trat er seinem erstgeborenen Sohn brutal gegen das Schienbein. Grom brüllte schmerzerfüllt auf, umklammerte das geschundene Bein und kippte vornüber. Konedos wutentbranntes Geschrei brach von oben über ihn herein: »Du Dummkopf! Wie sollte unser König das überprüfen?«

»Äh!« Grom erkannte seinen Fehler erst jetzt. »Ähm! Nein! Der König kann das ja gar nicht überprüfen!«

»Und was sollte das dann eben?«

»I… Ich habe wohl kurz den Verstand verloren!«

Rasu schüttelte den Kopf. »Verlier bloß nicht noch einmal den Verstand, Unteroffizier Grom!« Das Gesicht des Angesprochenen lief hochrot an, und Rasu fragte sich, ob er einen so beherzten und gleichzeitig so schusseligen Kerl nicht besser vom Schlachtfeld fernhalten sollte, entschied sich letztlich aber dafür, es bei einer Verwarnung zu belassen. »Ich vertraue darauf, dass Leutnant Konedo und Unteroffizier Tokari sich aufopfernd um Unteroffizier Grom kümmern und dafür sorgen werden, dass er seinen Verstand nie wieder verliert.«

Grom sah unruhig zu Boden, um den scharfen Blicken seines Vaters und jüngeren Bruders zu entgehen.

Rasu räusperte sich. »Macht euch auf den Weg! Denkt daran, dass ihr euch gut verteilen müsst. Wir können euch schließlich ebenso wenig sehen. Ihr wisst, was ihr zu tun habt, nicht wahr?«

Die drei Bilpa-Männer bejahten die Frage und verließen das Bauernhaus dann.

Rasu sah hinüber zu Ryun: »Herzog, es ist Zeit für die Inspektion Ihrer Majestät. Soll ich gehen?«

»Ich kümmere mich darum.«

Ryun stieg die Treppe zum zweiten Stock hinauf und klopfte an die Tür zu seiner Linken. Die Geste war ihm nur allzu bekannt, da er sie ständig wiederholen musste, doch das änderte nichts daran, dass sie sinnlos war.

[Hier ist Ryun. Darf ich eintreten?]

Die ebenso bekannte Antwort ertönte aus dem Inneren des Zimmers. »Wer ist da?«

»Ryun Pey, Hoheit.«

»Ihr dürft eintreten, Herzog.«

Der Raum war leer, abgesehen von einem einfachen Bett und einem Kleiderschrank. Samo Pey saß auf dem Bett. Sie trug bereits ihre Rüstung und betrachtete die Maske, die sie in den Händen hielt. Ryun stand einen Moment lang still im Türrahmen und betrachtete Samo.

[Sind die Vorbereitungen abgeschlossen?], nirmte sie. Ihr Blick ruhte weiterhin auf der Maske.

[Sind sie. Ich weiß nicht, wie Generalmajor Rasu all die Aufregung im Zaum hält.]

[Seine Vorbereitungen auf diesen Tag haben vier Monate gedauert und fünfzehntausend Leben gefordert.]

Ryun nickte. Samo blickte für einen Moment hinauf an die Zimmerdecke, dann nirmte sie: [Wie viele Opfer in den Reihen der Nagas?]

[Vielleicht zweihundert.]

Samo erwiderte lange nichts. Schließlich nirmte sie: [Es ist ein Wunder, dass die Soldaten die Moral nicht verlieren.]

[Das ist nur dem unermüdlichen Einsatz des Generaloberst und anderer Krieger zu verdanken.]

[Hm. Der schlummernde Gwihatz], nirmte Samo nach einer Weile. [Erinnerst du dich an ihn?]

[Der junge Mann, der Albträume hatte?]

[Mir ergeht es gerade nicht anders.]

[Wie bitte?]

[Ich habe immer wieder diese Träume, die es mir schwer machen, einzuschlafen. Innerhalb der letzten Tage war es andauernd der gleiche Traum. Verschiedene Versionen davon, aber das Ende ist immer gleich: Ich stehe vor den Truppen, aus welchem Grund auch immer. Eine Inspektion, eine Rede oder eine Gedenkfeier, die Verleihung von Auszeichnungen … Jedes Mal gibt es einen anderen Grund. Ich bin auf dem Podium und blicke zu ihnen hinunter. Dann kommt jemand auf mich zu. Ich weiß nicht, wer es ist. Ich kann nicht einmal sagen, ob ich die Person kenne oder nicht, geschweige denn, ob es überhaupt eine Person ist. So oder so, sie tritt auf mich zu und nimmt mir die Maske ab. Ich sehe sie kommen, jedes Mal, aber ich kann sie nicht aufhalten. Mein Gesicht wird den Soldaten offenbart.] Samo lächelte angedeutet. [Ich wüsste gerne, wie es dann weitergeht, aber ich wache immer zu früh auf.]

[Wahrscheinlich träumst du das, weil es eine große Bürde ist, die Maske zu tragen.]

[Ryun, leg dich zu mir aufs Bett!]

[Was?]

[Hier, leg dich aufs Bett!]

Verwirrt trat Ryun an das Bett heran, und Samo erhob sich, um ihm Platz zu machen. Nachdem er sich langsam gesetzt hatte, ließ er sich auf den Rücken sinken.

Dann schrie er überrascht auf.

Da war etwas an die Decke geschrieben worden. Genauer gesagt, hatte jemand mit Tinte etwas auf die Dachbalken gemalt, das man nur erkennen konnte, wenn man auf dem Bett lag.

Samo nickte. [Siehst du? Sie wussten es. Sie wussten, dass wir hier in diesem Haus unterkommen würden, wenn sie es stehen ließen. Und dass ich dieses Zimmer nehmen würde. Das ist doch deutlich bedrohlicher und einschüchternder als einen Brief zu senden, oder?]

Ryun stimmte Samo zu und las die Nachricht. Sie war eigentlich nichts Besonderes. Nur ein Satz, der die Nordarmee dazu drängte, sich zu ergeben. Doch die Bedingungen waren etwas unkonventionell. Ryun erhob sich und stellte sich wieder neben das Bett.

[Bieten sie uns ein unabhängiges Gebiet an, wenn wir die Waffen niederlegen? Generalmajor Rasu wäre begeistert, würde er das sehen. Weil er denken würde, dass der Feind uns in einer so geschwächten Position vermutet, dass wir auf ein solches Angebot eingehen würden.]

[Sie verfolgen wohl den Plan, die Ungläubigen an einem Ort zu versammeln und sie in gut fünfzig Jahren alle auf einmal auszulöschen. Aber was meine Aufmerksamkeit erregt hat, ist, dass dieses Angebot von jemandem stammen muss, der beide Seiten versteht – die Nagas und die Ungläubigen. Denkst du, sie haben Ungläubige auf ihrer Seite? Falls nicht, müssen sich die Nagas mit den Sitten der Ungläubigen vertraut gemacht haben …] Samo hielt einen Moment inne. [Falls es Letzteres ist, heißt das nicht auch, dass sich die Ungläubigen mit den Nagas vertraut gemacht haben?]

[Und trotzdem wären sie schockiert, wenn sie wüssten, dass ihre Königin eine Naga ist.]

Samo seufzte. [Da hast du recht.]

Ryun blickte verbittert zu Samo hinüber, während Samo in eine unbestimmte Richtung lächelte und sich dann die Maske aufsetzte.

Sie war gleichermaßen schön und furchterregend.

Die Wolken rissen auf, der Himmel wurde klar. Die Nebeldecke, die sich über die Engger-Ebene gelegt hatte, hob sich langsam und gab den Blick auf den schlammigen Boden, der sich bis zum Horizont erstreckte, frei. Ryun seufzte, als er die Wasserpfützen betrachtete, die die Ebene an vielen Stellen bedeckten. Dem Feind wäre es wohl nur zu gelegen gekommen, hätten sie eine Region mit einem Fluss oder einem riesigen See gewählt, doch Rasu Gyuriha hatte ihnen diesen Gefallen nicht getan. So hatten die Naga-Truppen darauf zurückgreifen müssen, Wolken über dem Schlachtfeld zusammenzurufen und drei Tage lang sintflutartigen Regen herabströmen zu lassen.

Rasu musste zugeben, dass ihn ihre Bemühungen, das Schlachtfeld aufzuweichen, beeindruckten. Aus diesem Grund hatte er beschlossen, auf die Forderung der Nagas einzugehen. »Auch eine Schlacht ist eine soziale Interaktion, wenn auch eine recht extreme Form davon. Gegenseitige Zugeständnisse sind da nicht so ungewöhnlich.« Also hatten sie einige Tage ruhig abgewartet, während der Feind die Ebene tränkte.

Drei Tage später sorgten die Nagas dafür, dass der Regen wieder aufhörte. Es war eine ganz »natürliche« Art und Weise, den Beginn einer Schlacht zu verkünden. Dieser Gedanke trieb Ryun ein bitteres Lächeln ins Gesicht. Nach Jahren des Krieges gegen einen Feind, der die Kräfte der Natur seinem Willen unterwarf, war »natürlich« ein Wort, das man nur noch sarkastisch meinen konnte.

Fünftausend Männer der Kavallerie bezogen ihre Stellung, und fünfunddreißigtausend Fußsoldaten taten es ihnen gleich, doch in der Engger-Ebene herrschte Stille. Es war sogar so still, dass die Krieger die Schritte von Riesentiger Marunare, der sich einem großen Felsen vor ihnen näherte, gut hören konnten.

Wie immer ritt die Königin auf Marunare und wurde dabei von der Königsgarde flankiert. Der Vorschlag, die Mitglieder der Königsgarde durch Menschen oder Lekons auszutauschen, wurde immer wieder laut und blieb doch immer nur das: ein Vorschlag. Lekons, die im Krieg kämpften und die Schlacht gegen die Nagas als ihren Lebenstraum bezeichneten, wollten an der Front sein und nicht den König beschützen. Die Heeresleitung auf der anderen Seite wollte keine Menschen in der Nähe des Königs wissen. Tatsächlich reichte schon der Anblick der Königsgarde aus, damit die Menschen verstanden, dass die Entscheidung der Heeresleitung richtig war. Erinnerten die bloßen Körperteile der Duokxinis – von Kopf bis Fuß – bereits an Waffen, waren sie nun außerdem von passionierten Schmieden mit einigen Rüstungsteilen ausgestattet worden, sodass sie noch furchterregender erschienen.

Während er die Königin beobachtete, schickte Ryun seine Sinne ein weiteres Mal so weit wie möglich aus. Nachdem er beinahe zehn Kilometer abgesucht hatte, gelangte er zum gleichen Ergebnis wie die vorherigen Male: Es waren keine gefährlichen Bewegungen des Wassers zu erkennen, die sich eventuell gegen die Königin hätten richten können. Sorgfältig ging er den Ablauf durch, den er hätte befolgen müssen, hätte er doch noch etwas Auffälliges bemerkt. Erst danach blickte er wieder richtig zu seiner Königin auf.

Marunare sprang mit einem eleganten Satz auf den großen Felsen. Auf dem Rücken des Riesentigers thronend, blickte die Königin aus beachtlicher Höhe auf die Krieger herunter. Die berühmte Maske, die ihr Gesicht verdeckte, gab den Männern das Gefühl, als blickte sie in alle Richtungen gleichzeitig.

Nachdem die Königin ihre übliche Position eingenommen hatte, stellte sich ein Lekon vor dem Felsen auf, um die Männer ebenfalls anzusehen. Die Unverschämtheit, dass er ihrer Majestät den Rücken zukehrte, wurde entschuldigt, da es keine andere Möglichkeit gab. Die Königin wartete, bis der Lekon bereit war, dann begann sie zu sprechen: »Hört die Worte eurer Königin.«

»HÖÖÖ-RTDIEWOOOR-TEEEEU-REEERKÖÖÖÖ-NIII-GIIIN«, wiederholte der Lekon mit einem Krähen, das alle vierzigtausend versammelten Krieger hören konnten. Wenn man ehrlich war, waren diese Appelle fast sinnlos, denn die Königin sagte immer wieder das Gleiche: »Ich werde euch einhundertmal vergeben, wenn ihr besiegt zurückkommt! Solltet ihr allerdings euer Leben für den Sieg lassen, so werde ich euch nicht vergeben!«

Ryun Pey sah, wie Rasu Gyuriha schwer seufzte. Der Generalmajor hatte die Königin angefleht, nur einmal so etwas zu sagen wie »Wenn ihr eure Königin liebt, dann schlachtet den Feind gnadenlos ab!«, doch die Königin wollte nichts davon wissen. Einmal, gerade als Rasu schon hatte aufgeben wollen, hatte ihn die Königin ernst gefragt: »Wie würdest du antworten, würde deine Königin so etwas zu dir sagen?« Und Rasu hatte daraufhin geschnaubt und erwidert: »Ich würde sagen, dass ich mich selbst weitaus mehr liebe als meine Königin.« Rasus Ehrlichkeit hatte Ryun und die anderen Anwesenden schockiert, doch die Königin hatte nur gelächelt und ihm diese Frechheit verziehen. Gleichermaßen hatte sie auch Rasus Wunsch ignoriert.

Ryun konnte die Sturheit der Königin ebenso wenig verstehen. Rasus Wunsch, vor der Schlacht die Kampfeslust der Soldaten anzustacheln, erschien Ryun logisch. Doch die Königin sprach nie von Triumph, Ehre oder Würde. Oder gar vom Mut im Angesicht des sicheren Todes! Die Königin wiederholte nur immer wieder: »Kommt lebend zurück.«

Welcher Soldat will das nicht?

Ryun versank in Gedanken, während die Königin von dem Felsen herabstieg und sich mit der Königsgarde zurückzog. Die Kommandanten führten die Truppen zu ihren Positionen, als die Hörner ertönten. Die Flaggen flatterten wild im Wind, während Hornsignale und lautes Pfeifen über die Ebene hallten. Die Befehle der Leutnants waren zu hören, und die Unteroffiziere reagierten auf die Schreie mit allerlei unflätigen Antworten.

Die Schlacht hatte begonnen. Trotz der wenig reißerischen Ansprache ihrer Königin wussten die Krieger sehr wohl, wo sie sich befanden: Man ließ sie auf dem schmalen Grat zwischen Leben und Tod tanzen.

Ein schmaler Grat, der von gut versteckter, jedoch nicht minder grausamer Härte sprach.

Die Wolken, die die Engger-Ebene innerhalb der letzten drei Tage eingehüllt hatten, lösten sich endlich ganz auf. Gros, Truppenkommandant des Mahagonikorps, blickte zum blauen Himmel empor, der hinter den Wolken hervorkam, und warf sich dabei so stolz in die Brust, als hätte er den Regen persönlich verscheucht.

Tatsächlich war es auch so.

Gros sah sich um, und noch mehr Stolz erfüllte ihn. Der Anblick der Kriegselefanten in der Ferne erfreute ihn dabei besonders. Zunächst hatte man sie lediglich gebraucht, um der Kavallerie der Nordarmee zu entgehen, die die Naga-Fußsoldaten niedergetrampelt hatte. Doch die Elefanten hatten jegliche Erwartungen übertroffen! Eine Truppe von Geistesbändigern, angeführt von der brillanten Sudy Kalib, bewegte sich praktisch als Einheit mit den Kriegselefanten und wurde von den gegnerischen Soldaten als Monster angesehen, das den Verstand einer Naga mit dem Körper eines Elefanten vereinte. Eine wahrhaft zerstörerische Macht! Gros erinnerte sich immer noch lebhaft daran, wie Sudy Kalib in der letzten Schlacht ein Pferd zerstampft hatte und über das gesamte Schlachtfeld gerannt war – mitsamt dem Reiter, der auf dem Stoßzahn des Elefanten aufgespießt sein Ende gefunden hatte.

Die Infanterie des Mahagonikorps umfasste zwanzigtausend Soldaten und war ebenso herrlich. Zwar war Gros’ ambitionierter Plan, jeden einzelnen Fußsoldaten mit einer Rüstung auszustatten, die ihn vor Harpunenschwertern schützte, zurückgewiesen worden – es gab innerhalb der Naga-Truppen nicht genügend fähige Schmiede –, jedoch ließ ihn der Anblick der Fußsoldaten, die mit kampfbereit erhobenem Xyker voranschritten, diese Schwäche vergessen.

Während Gros zufrieden dastand, trat ein Adjutant an ihn heran.

[Truppenkommandant! Nur ein letztes Mal noch: Seid Ihr sicher, dass wir jetzt kämpfen sollten?]

Das Gefühl der Zufriedenheit verschwand augenblicklich, und Gros drehte sich zu seinem Adjutanten um. Rasch beruhigte er sich wieder. Der Adjutant war eine Frau, und die Naga-Frauen, die nun die Befehle der Männer entgegennahmen, hatten ihre Art, alles zu hinterfragen, nicht aufgegeben.

[Ja, Adjutantin. Wir werden jetzt kämpfen. König Riesentiger hat mein Angebot abgelehnt, die Nordarmee wird nicht kapitulieren.]

[Wenn Ihr drei Tage länger warten und die Ebene weiter mit Wasser fluten würdet, würde Generaloberst Gallotek hier eintreffen.]

[Und unsere Hüter-Generäle würden sich verausgaben. Das ist Schwachsinn!]

[Aber Generaloberst Gallotek befahl Euch, auf ihn zu warten.]

[Mag sein! Doch die Tatsache, dass der Generaloberst bei jeder Schlacht anwesend sein möchte, ist der Grund, wieso wir kaum vorankommen. Er sollte Vertrauen in seine Truppenkommandanten haben, doch scheinbar ist er dazu nicht in der Lage. Sein Verhalten ist vermutlich nur natürlich, immerhin fürchten die meisten Kommandanten, Fehler zu machen, und weigern sich deswegen, auf ihr Urteilsvermögen zu vertrauen. Trotzdem, der Generaloberst kann eine so weite Front nicht allein überblicken! Es ist an der Zeit, dass wir ihm zeigen, wozu wir fähig sind!]

[Euer Nirm ist richtig, aber ist der König des Nordens denn nicht vor Ort? Und Ryun Pey ebenso! Ihr nirmt, dass die Hüter-Generäle unserer Einheit allein mit Ryun Pey fertigwerden können, und ich vertraue Eurem Urteil. Aber in diesem Fall müssen die Soldaten ohne Unterstützung der Hüter-Generäle gegen den Feind vorgehen.]

[Und sie werden sie vernichten! Sudy Kalib wird ihre Kavallerie zerstören, und jeder Naga-Soldat wird zehn Ungläubige niederstrecken. Also, was ist das Problem?]

Die Adjutantin konnte das Problem nicht in Worte fassen. Der Mahagonikorps bestand aus zwanzigtausend Fußsoldaten und fünfhundert Elefanten. Mit diesen Zahlen konnten sie den vierzigtausend Soldaten auf der anderen Seite auf jeden Fall entgegentreten. Doch die Adjutantin hatte ein mulmiges Gefühl bei der Sache. Und Jahre der Kriegserfahrung untermauerten diese Vorahnung. Es fühlte sich einfach falsch an.

Noch bevor die Adjutantin dieses Gefühl richtig beschreiben konnte, kam ihr Gros herrisch nirmend zuvor: [Ich habe ihrem König die Chance gegeben, zu kapitulieren, doch sie haben das Angebot, ihre Leben zu retten, ausgeschlagen. Wir müssen sie also nur noch zerstören, Adjutantin.]

Die Adjutantin war unschlüssig. Sie hatte nicht viel Zeit, um eine Entscheidung zu treffen. [Ich verstehe, Truppenkommandant, aber ich möchte, dass festgehalten wird, dass ich mich gegen die Schlacht ausgesprochen habe.]

Gros verzog unwirsch das Gesicht. Diese elende Sturheit!

[Na schön!], nirmte Gros scharf. [Dann warst du eben dagegen, Vias Makerow!]

[Danke], erwiderte Vias ausdruckslos und trat zurück. Gros starrte sie noch einen Moment lang an, dann richtete er den Blick wieder aufs Schlachtfeld und gab den Befehl, vorzurücken.

Die Fackeln wurden in hohem Bogen geschwungen. Die Elefanten und die Soldaten marschierten voraus. Als Gros das Schlachtfeld erreichte, blickte er nach Norden über die Engger-Ebene und stellte fest, dass sich der Feind bereits für das Gefecht gerüstet hatte. Gros wusste, wessen Fähigkeiten dies zu verdanken war, und entsandte Generaloberst Gwalhaid seine ehrlich gemeinte Anerkennung. Doch Gros hatte es nicht eilig, während er seine Soldaten losschickte. Gwalhaid würde warten. Schließlich hatten ihn die Naga-Truppen in der Vergangenheit in einen Hinterhalt gelockt, indem sie so getan hatten, als würden sie kopflos nach der richtigen Formation suchen. Gwalhaid hatte angegriffen, nur um von explodierenden Geysiren und brutalem Eisregen in die Flucht geschlagen zu werden. Wäre Ryun Pey nicht gewesen, so hätte Gwalhaid wohl eine Niederlage einstecken müssen, von der sich die Nordarmee nicht mehr erholt hätte. Seitdem wartete er respektvoll darauf, dass die Nagas ihre Vorbereitungen abschlossen. Gros ließ sich absichtlich Zeit, um Gwalhaid zu provozieren.

Doch schon bald darauf erlebte Gros eine Überraschung.

Die Armee der Ungläubigen hatte sich plötzlich in Bewegung gesetzt, doch Gros ließ sich davon nicht in Panik versetzen. Die Hüter-Generäle standen entlang der Front verteilt und wurden durch Gros’ kräftiges Nirm auf den Angriff vorbereitet. Gros beobachtete den Feind und setzte seine Vorbereitungen in Ruhe fort, bis er sicher sein konnte, dass die anderen Hüter-Generäle bereit waren, ihre Kräfte einzusetzen.

Gros hatte nicht erwartet, dass die Nordarmee auf sie zustürmen würde. Doch die Fußsoldaten an der Spitze trennten sich in der Mitte und marschierten nach links und nach rechts davon. Was hatten sie vor? Die Soldaten, die sich aufgeteilt hatten, blockierten so die Kavallerie, die aus diesem Grund nicht nach vorne reiten konnte. Was war das für ein sinnloser Schachzug?

Eine böse Vorahnung stieg in Gros auf, als er auf die andere Seite blickte. Vias, die neben ihm stand und ähnlich irritiert war, nirmte: [Das sind keine Dokebi-Flammen, das sind echte Soldaten. Ich frage mich, wieso sie sich so bewegen.]

Gros dachte kurz darüber nach. [Sie probieren wohl eine neue Formation aus. Das passt gar nicht zu Gwalhaid. Er muss ziemlich verzweifelt sein.]

[Gwalhaid ist ein erfahrener Stratege. Er führt sicher etwas im Schilde.]

Gros wollte eine Antwort nirmen, vergaß sie jedoch bei dem Anblick, der sich ihm nun bot. In der Sekunde, in der er entdeckte, was da zwischen der geteilten Infanterie hervortrat, verstand Gros, wieso Gwalhaid nicht gewartet, sondern die Fußsoldaten in der Mitte geteilt hatte.

Und wieso sie sich nicht ergeben hatten.

Es hatte die Form eines Dokebis. Das heißt, es erinnerte mehr an einen Dokebi als an eine andere Kreatur. Seine Haut glühte wie heißes Eisen, und Rauch stieg von seinen Gelenken empor. Statt der Augäpfel waren in seinen Augenhöhlen nur lodernde Flammen zu erkennen. Die gleichen Flammen, die aus seinen Nasenlöchern, seinem Mund und jeder Pore seines Körpers stoben. Es war ein weiß glühender Feuerball, der das Antlitz eines Dokebis trug und die gnadenlose Antwort auf den Wunsch nach größtmöglicher Zerstörung war.

Gros’ Schuppen rieben wild aneinander, als er aufschrie: [Das ist Shiuse!]

Shiuse breitete seine gewaltigen Arme aus. Funken stoben aus seinem wilden, flammengleichen Schopf. Die Inkarnation des Feuers spie Flammen, die sich hoch wie ein Berg auftürmten, dann stürzte sie sich geradewegs in das Feuer, das sie soeben ausgestoßen hatte. Shiuse stürmte voran, während sich das Flammenmeer hinter ihm ausbreitete und wie ein meterlanger Umhang durch die Luft wehte.

Die Inkarnation des Gottes, der sich selbst tötet stürzte sich auf die Nagas.

Gros konnte sich nicht mehr um die Formation der Truppen kümmern. Seinem panischen Nirm folgend, verteilten sich die Hüter-Generäle auf der Engger-Ebene und nirmten dabei unentwegt ihre Götternamen. Hastig konzentrierten sie ihre Wasserkräfte auf Shiuse, der direkt auf sie zuhielt.

Das Wasser erhob sich wie ein formloser Geist von der durchweichten Ebene.

Eine Welle formte sich.

Der Anblick des Wassers, wie es sich auf der weiten Ebene kräuselte, war überwältigend. Die Welle saugte gierig all das Wasser, jeden noch so kleinen Tropfen aus jeder Pfütze, auf, bis sie Dutzende Meter hoch war. Diese Wand aus Wasser raste nun auf Shiuse zu. Shiuse knurrte die Welle an, die sich ihm von allen Seiten näherte.

Schäumend brach die berghohe Welle über ihn herein.

Ein Turm aus Dampf explodierte und stieg in die Höhe.

Von der Stelle ausgehend, an der die Inkarnation des Feuers und die Welle aufeinandergetroffen waren, fegte ein Hitzesturm über die Ebene. Es war ein ganz »natürlicher« Vorgang. Gros, der sich erschrocken abgewandt hatte, fuhr wieder herum, um den Blick auf den Punkt des Zusammenstoßes zu richten. Noch immer stieg Wasserdampf in die Höhe.

Plötzlich flackerte eine Furcht einflößende Hitze hinter dem Dampfschleier auf und verwandelte ihn in einen Tornado. Gros standen die Schuppen zu Berge, und er brüllte verzweifelt auf, während er die Hitze beobachtete.

Obwohl sich mehrere Hundert Meter zwischen ihnen befanden und obwohl Shiuse keine Augen hatte, spürte Gros, dass er ihn ansah. Flammen leckten und züngelten an Shiuses Körper, während er sich mit beiden Händen auf seine Knie stützte. Sein Feuer hatte den Dampf vertrieben und brachte die Pfützen ringsumher zum Brodeln. Während Gros so dastand, starr vor Angst und mit dem Gefühl, dass seine Seele jede Sekunde aus seinem Körper fahren würde, richtete sich Shiuse zu seiner vollen Größe auf.

Um ihn herum entstand eine Feuerwand, die gut doppelt so hoch war wie er selbst. Dann stürmte er los. Gros’ Bauchgefühl sagte ihm, dass es an der Zeit war, sich zurückzuziehen, doch sie hatten gerade erst begonnen, sich zu formieren, und es war unmöglich, alle Truppen zu evakuieren. Das Chaos wäre verheerend gewesen.

In diesem Moment entsandte Vias ein Nirm, das so kräftig war, dass es Gros’ Verstand erschütterte: [Rückzug!]

[Was?]

[Wir müssen uns zurückziehen! Wir sind reingelegt worden. Es ergibt keinen Sinn zu kämpfen, wenn Shiuse hier ist!]

Und obwohl Gros selbst über einen Rückzug nachgedacht hatte, konnte er nicht anders, als sich darüber zu ärgern, dass die Adjutantin sich erneut eingemischt hatte. [Bist du blind? Wenn wir uns jetzt zurückziehen, äschert Shiuse unsere gesamte Armee ein. Erinnere dich an die Schlucht von Akinsrow! Wir müssen angreifen!]

Vias wollte Gros in diesem Moment verzweifelt verfluchen und beschimpfen, doch sein verachtender Blick ließ vermuten, dass er Vias’ Gedanken ohnehin erahnen konnte. Bestimmt nirmte er: [Angriff! Angriff! Wenn wir nahe genug heranrücken, kann Shiuse sein Feuer nicht nutzen!]

Die Nagas verstanden Gros’ Nirm: Ein Nahkampf mit der Nordarmee war der einzige Weg, Shiuse daran zu hindern, alles niederzubrennen. Die Nagas stürmten auf den Feind zu, um sich selbst zu retten.

Zu aufgebracht vom plötzlichen Chaos und der spontanen Planänderung bemerkte Gros nicht, dass die Nagas keine Gelegenheit gehabt hatten, Sodrag einzunehmen, bevor sie sich auf den Feind stürzten.

Hinter der Formation der Nordarmee ertönte das laute Signal eines Horns. Die Kämpfer hoben ihre Waffen und die Infanterie marschierte los. Doch anders als die Nagas, die in halsbrecherischem Tempo vorwärtsstürmten, bewegten sich die Fußsoldaten der Nordarmee nur langsam. Mit den selbst gewählten Harpunenschwertern in der rechten Hand und dabei die Formation haltend, bewegten sich die Krieger auf Befehl der Leutnants voran.

Der Boden unter ihren Füßen fühlte sich seltsam an. Nachdem er drei Tage lang durchnässt worden war, nur um dann plötzlich jeglicher Feuchtigkeit beraubt zu werden, war es nun so, als bräche die Erde unter ihnen ein. Es war wahrlich düster, doch die Leutnants führten sie immer weiter.

Die fünfunddreißigtausend Infanteriesoldaten marschierten in unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Die Mitte war langsamer als die Flanken, sodass eine Art Keil entstand, bei dem die linke und die rechte Seite wie Flügel nach vorne abstanden.

Am vorderen Ende des Keils stürmte Shiuse als furchterregende Feuerlawine voran. Die Fußsoldaten der Nagas, die immer noch zu weit von ihm entfernt waren, um ihn zu berühren, waren entsetzt, als ihre Gewänder urplötzlich Feuer fingen. Shiuse stürzte geradewegs auf sie zu.

Doch die Hüter-Generäle hinter der Naga-Infanterie hatten sämtliches Wasser zu sich gerufen. Etwa hundert Meter über dem Boden, in einer viel zu geringen Höhe, um Regen oder gar Schnee zu bilden, begann es zu kristallisieren. Shiuse knurrte grimmig, als er in den Himmel blickte, und ließ das Feuer, das von seinem Körper ausging, noch heißer lodern. In genau diesem Moment donnerte der Eisregen der Hüter-Generäle wie ein Wasserfall auf ihn nieder.

Ein ohrenbetäubender Knall ertönte, und Wasserdampf stieg explosionsartig auf.

Die Nagas konnten den Ort der Kollision nicht stürmen, und sie wollten es auch gar nicht, weswegen sich die Truppen nach links und rechts aufteilten – wie eine Schere, die durch Stoff schnitt. Die Nagas umrundeten Shiuse, um anschließend auf die Nordarmee dahinter zuzustürmen.

Die zornigen Nagas rückten immer näher, doch die Nordarmee behielt trotz allem ihr gemächliches Tempo bei.

Der Boden bebte. Die Schreie der Elefanten zerrissen die Luft. Die Herzen, die den Nagas fehlten, hämmerten schnell in jeder Brust der Nordarmee. Mit geweiteten Pupillen hielten sie die Geschwindigkeit durch schiere Willenskraft. Sie kommen, sie kommen, sie kommen. Zu nahe. Furchtbar nahe. Werde ich sterben? Soll ich weiter den dummen Soldaten spielen, während mir ein Xyker im Nacken steckt? Die Soldaten fragten sich, ob die gesamte Heeresleitung zur gleichen Zeit stumm geworden war. Doch in diesem Moment ertönten die Stimmen der Generalleutnants Semiquo und Mupinto vom linken und rechten Flügel. Sie brüllten: »REISSTSIEINSTÜCKE!«

Gierig auf Fleisch, flogen Harpunenschwerter und Xyker aufeinander zu.

Jeder Infanterist der Nordarmee trug drei Harpunenschwerter bei sich. Es war eine grausame Waffe, die eigens für den Kampf gegen die Nagas entwickelt worden war. Ein Harpunenschwert ließ sich nur schwer wieder entfernen, wenn es einmal in einen Körper gestoßen worden war, und sorgte somit nicht nur für anhaltende Schmerzen, sondern auch dafür, dass die Bewegungen der Nagas deutlich eingeschränkt wurden. Da sie keine Chance gehabt hatten, Sodrag zu nehmen, waren die Nagas ihnen hilflos ausgeliefert. Doch sie kannten diese Schwerter bereits. Die Nagas ertrugen die starken Schmerzen, als die Klingen in ihre Körper eindrangen und dort steckenblieben, noch während sie ihre Xyker gegen die Nordarmee erhoben.

Grauenvolle Schreie erfüllten die Engger-Ebene, und Blut spritzte.

Morde wurden zu einem Massaker und dann wieder zu einer Schlacht. Die Geschwindigkeit, mit der sich die Zerstörung sämtlicher Moral in ein langweiliges historisches Ereignis verwandelte, war erschreckend. Doch das Blut, das aus jedem dieser Momente triefte, war heiß. Der trockene Boden nahm es begierig auf, bereitete den Gefallenen blutige Särge. Im Tausch für all das Eisen, das die Menschen aus der Erde gewonnen hatten, nahm sie nun ihre Leichen entgegen. Es war das eiskalte Begleichen alter Rechnungen.

Es war hektisch und laut.

Und traurig.

Kallik Missores war ein junger Mann aus Pansai. Für ihn gab es nichts zu erben, und da er sich um seine schwerkranke Mutter hatte kümmern müssen, war er stets Junggeselle geblieben. Irgendwann hatte er den Gedanken an eine Hochzeit schließlich aufgegeben. Oft wollte er fragen »Wieso gebt ihr mir nicht eure Töchter, statt mich für die Erfüllung meiner Pflichten zu loben?«, doch letzten Endes schaffte der junge Mann, der neununddreißig Jahre damit zugebracht hatte, den perfekten Gentleman zu mimen, es nicht, diese Worte auszusprechen. Ein leises Lachen entkam ihm, als er die Naga-Frau vor sich mit einem Harpunenschwert erstach. Es war ein blitzsauberer Angriff.

Das Harpunenschwert bahnte sich seinen Weg durch die aufgerichteten Schuppen und die Muskeln von Zimbori Tuna, bevor es sich zwischen ihren Rippen verhakte. Zimbori Tuna stammte aus Visgrazu und war bis vor zwei Jahren die Mutter eines fünfjährigen Mädchens gewesen. Doch nachdem das kleine Kind von einem Balkon zu Tode gestürzt war, hatte Zimbori dieses furchtbare Haus hinter sich gelassen und sich dem Heiligen Krieg angeschlossen. Der Schmerz, den das Harpunenschwert hinterließ, als es sich in ihren Körper bohrte, erinnerte sie kurz an den Moment, als sie ihr Ei gelegt hatte. Doch anders als die Schmerzen der Erinnerung an ihre Tochter, die bei einem Unfall gestorben war, war das Harpunenschwert grausam und real und zerriss ihren Leib. Jedes Mal, wenn sich die Klinge in ihr bewegte, schien ihr Körper in Flammen aufzugehen. Zimbori wurde wahnsinnig. Verschlungen von Hass und Trauer schwang sie den Xyker.

Kallik Missores wollte soeben das zweite Harpunenschwert ziehen, als etwas wuchtig gegen seinen Kiefer schlug. Noch war ihm nicht klar, was soeben passiert war, weswegen er die Naga mit der Schulter rammte. Zimbori Tuna stolperte zurück und fiel zu Boden. Kallik trieb ihr das zweite Harpunenschwert, das er mühsam hervorgezogen hatte, in den Bauch und fixierte Zimbori damit auf dem Boden. Und da Kallik kein Nirm wahrnehmen konnte, hörte er auch ihre Schmerzensschreie nicht. Er wollte den gefallenen Feind soeben verfluchen, als ihm endlich bewusst wurde, dass ihm der Unterkiefer weggerissen worden war. Als seine Hand seinen Gaumen berührte, stieß Kallik einen grotesken Schrei aus, der Blut und Speichel wild umherspritzen ließ.

Kallik fiel vornüber auf Zimboris Brust, während er seinen Dolch zog. Sie wirkten nun wie zwei Liebende, die einander innig umschlangen. Doch es war der Dolch, der auf Zimbori Tunas Lippen traf. Kallik hatte die Klinge in Zimboris Mund getrieben und machte sich nun daran, ihren Unterkiefer vom Rest ihres Kopfes zu trennen. Zimboris Verstand explodierte unter genirmten Schreien, mit letzter Kraft trieb sie ihren Xyker in Kalliks Seite. Trotzdem sägte der Dolch weiter durch ihren Kiefer.

Dann zermalmte der riesige Vorderfuß eines Elefanten die beiden. Blut und andere Körperflüssigkeiten spritzten umher, als wäre eine Eiterblase auf der Oberfläche der Erde ausgedrückt worden.

Der Elefant hatte keinen Namen. In den sechzehn Jahren, in denen er die Kenterop-Ebene durchstreift und dort gelebt hatte, hatte er den fehlenden Namen nie als Problem empfunden. Die letzte Erinnerung, die das riesige Tier hatte, war, dass es seinen Rüssel um den Ast eines Akazienbaumes geschlungen hatte. Der Ast war jedoch widerstandsfähiger gewesen, als er ausgesehen hatte, und der Elefant hatte fester daran zerren wollen. Das war alles. Danach gab es keine weiteren Erinnerungen. Natürlich wusste er, was seitdem geschehen war, aber er wusste nicht warum. Auch wenn er gegnerische Soldaten unter seinen Füßen zerquetschte und sich mit seinem Rüssel einen Weg bahnte, wusste der Elefant, dass er sich in diesen Situationen befand – doch er konnte sie nicht deuten. Der Begriff »Neutralität« schien speziell für diesen Elefanten erfunden worden zu sein.

Zurata aus Kashida war stets ein lebensbejahender Mann gewesen. Seit er als Kind herausgefunden hatte, dass es nicht normal war, Großeltern, aber keine Eltern zu haben, war seine positive Einstellung nie ins Wanken geraten und somit seine größte Tugend. Auch als er gesehen hatte, wie seine Großeltern sich darum bemühten, seinetwegen nicht zu weinen, hatte Zurata an seinem Optimismus festgehalten. Scheiße! Was ist schon dabei, das inzestuöse Kind eines Geschwisterpaares zu sein, das von den anderen Dorfbewohnern zu Tode geprügelt wurde? Ist doch alles gut. Sogar als er auf den tobenden Elefanten zustürmte und das Harpunenschwert dabei falsch herum hielt, war Zurata positiv gestimmt – bis zum Schluss.

»Hey, du Riesenblödmann! Hier ist ein Zeichen der Anerkennung direkt aus Zumunnuri!«

Sudy Kalib, die den Elefanten ritt, litt unter Migräne. Sie plagte sie schon seit dem Angriff des Bie-Naga vor Monaten im Dschungel, der sich mit Sodrag einen Vorteil verschafft hatte. Manchmal stark, manchmal leicht – doch die Migräne nahm kein Ende. Und in diesem Moment war sie sogar besonders schlimm. Als sie sah, wie Zurata auf sie zustürmte, zwang sie dem Elefanten zornig ihren Willen auf. Ohne zu zögern, schlug er daraufhin mit seinem Rüssel zu.

Zurata stürzte zu Boden, Blut spritzte aus seiner Nase, seinem Mund und seinen Ohren. Gemeinsam mit dem Blut entwich ihm auch sein lebenslanger treuer Gefährte, der Optimismus. Der Fuß des Elefanten ging auf seinen Kopf nieder. Zuratas Helm war nicht geeignet, seinen Schädel zu schützen. Trotz Sudys Hoffnungen war das jedoch kein passendes Ventil für ihren Zorn, und ihre Schuppen richteten sich auf, als die Kopfschmerzen sogar noch schlimmer wurden. Der Elefant spürte Sudys Emotion und suchte mit blutunterlaufenen Augen nach seinem nächsten Opfer.

Doch sein nächster Gegner war über ihm. Sudy Kalib und ihr Elefant blickten rasch nach oben, als sie die Vorzeichen des Todes spürten, dem keine lebendige Kreatur entkommen konnte.

Zrader war ein Lekon, der aus dem Alten Tiefland stammte und auf diese Tatsache ein wenig zu stolz war. Er hielt seinen Kamm für einzigartig und seinen Schnabel für besonders glänzend. An diesem Tag auf der Engger-Ebene, an dem er geradewegs auf Sudy Kalib und ihren Elefanten zurannte, dachte Zrader, dass sein Kamm und sein Schnabel zwar toll waren, doch seine Doppelblattaxt mit einer Spannweite von zwei Metern – ja, die war wahrlich fantastisch! Also hatte Zrader sich vorgenommen, sie am Schädel eines Elefanten zu testen, um zu sehen, wie wunderbar sie tatsächlich war.

Der Elefant entkam der Geistesbändigung in dem Moment, als ihm sein bevorstehender, unvermeidbarer Tod bewusst wurde. Verängstigt versuchte er zu fliehen, doch Zraders Axt traf ihn zwischen Planung und Umsetzung.

Mit einem einzigen Hieb verwandelte Zrader den Elefanten in acht Tonnen totes Fleisch. Der gewaltige Körper des Tieres brach zusammen. Zrader sprang auf ihn und stieß einen Siegesschrei aus. Sein Lekon-Krähen erschütterte die Erde und den Himmel.

Sudy Kalib stürzte vom Rücken des Elefanten und wurde, kaum dass sie den Boden berührt hatte, von einem Sturm aus Harpunenschwertern attackiert. Die Menschen zerrten ihre Klingen immer wieder gewaltsam zurück. Da sie dabei auch Fleischbrocken mitrissen, verwandelte sich Sudy Kalib bald in nichts weiter als einen zerfetzten Klumpen. Es ist nicht klar, ob sie, von ihrer nicht enden wollenden Migräne erlöst, nun endlich zufrieden war.

Doch Sudy Kalibs Zufriedenheit war keine Priorität auf dem Schlachtfeld.

Gros und die Hüter-Generäle, die sämtliches Wasser vom Schlachtfeld hatten heranziehen müssen, um Shiuse aufzuhalten, bemerkten, dass sie so unabsichtlich den idealen Kampfplatz für die Lekons erschaffen hatten, und waren zu erzürnt, um Worte zu finden. Die Lekons wüteten in den Reihen der Kriegselefanten, doch die Hüter-Generäle konnten ihre Wasserkräfte nicht gegen sie einsetzen. Solange Shiuse sich durch die Mitte der Naga-Soldaten brannte, war er das größere Problem. Die Hüter-Generäle suchten nach Wasseradern und wandten sich sogar dem Himmel zu, da das Wasser aus dem Boden bereits aufgebraucht worden war. Seine Farbe schien sich nach und nach zu verändern, als die Hüter-Generäle sämtliche Feuchtigkeit zu sich zogen.

Nach der ersten Schlacht, in der die Inkarnation des Gottes, der sich selbst tötet aufgetaucht war, hatten die Nagas – zumindest diejenigen, die überlebt hatten – einen ungefähren Plan entwickeln müssen, wie mit Shiuse am besten umzugehen war. Die erste Regel dabei lautete: Nie direkt angreifen! Doch nun, da die skrupellose Strategie, die Rasu Gyuriha vier Monate lang geplant hatte, aufgegangen war, fanden sich die Hüter-Generäle Auge in Auge mit Shiuse und mussten diese erste Regel schnell vergessen und sich blitzschnell eine neue Taktik überlegen. Ihr Ansatz war, möglichst viel Flüssigkeit heranzuschaffen und Shiuse »abzukühlen«, während die Soldaten die Ungläubigen ringsum angreifen sollten.

Die wohl verblüffendste Tatsache über Shiuse war, dass seine Fähigkeiten die gleichen waren wie die eines gewöhnlichen Dokebis. Die Dokebi-Flammen, die er heraufbeschwor, konnten andere Dokebis ebenfalls nutzen. Allerdings gab es zwischen Shiuse und den Dokebis einen beträchtlichen Unterschied, wenn es um den Einsatz dieser Flammen ging: Während Letztere schon ein erhebliches Trauma erlitten, wenn sie nur die Schnitzerei eines Nagas verbrannten, konnte Shiuse die Nagas wie Feuerholz einäschern.

Als die Nagas das erkannt hatten, war es ihnen so vorgekommen, als würden ihnen reihenweise die Schuppen ausfallen. Hätten die Dokebis auch nur geringfügig andere Werte vertreten, so wären die Nagas samt ganz Kiboren wohl schon vor langer Zeit zu Asche zerfallen. Shiuse ließ keine Vulkane explodieren oder gar Sterne auf die Erde fallen. Er ließ lediglich in aller Ruhe die Desaster der Insel Peshiron und der Akinsrow-Schlucht noch einmal neu geschehen. Das war der Beweis für die Göttlichkeit des Gottes, der sich selbst tötet.

Aus diesem Grund war Gros geradezu lächerlich dankbar, während er Himmel und Erde das Wasser entzog, um es Shiuse entgegenzuschleudern. Ich bin so froh, dass es nur einen Dokebi gibt, der so etwas anrichtet, Göttin. Im Mahagonikorps gab es zwanzig Hüter-Generäle, und das Wasser, das sie nutzen konnten, um Shiuse unter Kontrolle zu halten, war bereits aufgebraucht. Wenn nun auch noch der elende Ryun Pey auftauchte, hätten Gros und die Hüter-Generäle keine Möglichkeit mehr, mit ihm zurechtzukommen.

Aber Ryun Pey tauchte an diesem Tag nicht auf dem Schlachtfeld auf. Gros fragte sich, wieso Gwalhaid Ryun nicht in den Kampf geschickt hatte.

Die Antwort auf Gros’ Frage war zu diesem Zeitpunkt sogar schon ganz nahe. Allerdings konnte Gros sie nicht sehen. So geht es uns wohl mit den meisten Fragen, die das Leben stellt.

Konedo Bilpa war ein Mann, der nur wenig Sinn für Humor hatte, wenn die Witze ihn selbst betrafen. Allerdings waren die Dokebis wahre Meister, wenn es um Scherze und Streiche ging, und so gelang es ihnen sogar, den Humor eines so grimmigen und grausamen Mannes wie Konedo Bilpa aufzuwecken. Er war absolut begeistert, dass er direkt vor seinem Feind stehen, »Hand 7« mit dem Morgenstern heben und ihm winken konnte, während er sagte: »Ich werde dir damit jetzt ein bisschen das Gesicht tätscheln.« Eine lustige Eingebung ließ ihn noch hinzufügen: »Wenn du mir nicht antwortest, werte ich das als Zustimmung.« Natürlich antwortete der Feind nicht, und so nickte Konedo voller Respekt, ehe er gezielt zuschlug.

Das Gesicht des Hüters wurde von unsichtbarer Hand eingedrückt.

Konedo pfiff und strich dabei mit der linken Hand über seinen Gürtel. Sein ältester Sohn, Grom Bilpa, trällerte gerade in einer Tonlage, die an sterbende Schweine in einem Schlachthaus erinnerte. Es war ein gleichermaßen groteskes wie widerliches Lied, das er sang: »Eklige Scheißkerle, Bräutigame, die ihre Braut eingesperrt haben!«

Konedos jüngerer Sohn Tokari Bilpa war aus einer anderen Richtung zu hören, als er den Gesang seines Bruders ausbuhte. Die drei Bilpa-Männer plauderten immer wieder miteinander, während sie den Hütern die Schädel einschlugen. So kannten sie jederzeit die Position des jeweils anderen, doch ihr durchtriebener Charakter und das Wissen, dass sie ungestraft so viel fluchen konnten, wie sie wollten, schien eine nicht minder wichtige Rolle dabei zu spielen. Es war Brutalität ihren Feinden gegenüber, die nicht sahen, wie man direkt vor ihnen die Zunge herausstreckte, und die sie nicht hörten, selbst wenn man ihnen entgegenschrie, dass man ihnen den Kiefer brechen würde. Und das wiederum bedeutete, dass die Bilpa-Männer sich nicht zurückzuhalten brauchten. Es gab nichts, das ihre Brutalität hätte zügeln können. Und selbst wenn es etwas gegeben hätte, so hätte es die drei Männer kaum gekümmert.

Konedo zog einen Eisenpfahl aus der Halterung an seinem Gürtel und schenkte dem gefallenen Hüter ein grausames Lächeln. Seine rechte Hand konnte keinen Hammer mehr halten, aber so, wie sie nun aussah, war sie selbst ein guter Hammer.

Der Eisregen, der auf Shiuse herabfiel, wurde weniger.

Shiuse schickte eine Feuersäule empor, die geradewegs durch den Eiskristallregen brach. Gros, von diesem Anblick vollkommen entsetzt, fuhr zu den Hüter-Generälen herum. Zu seinem noch größeren Entsetzen lagen sie alle auf dem Boden.

[Priat! Kibeyn! Meine Güte, Gruis! Was ist denn nur passiert? Hey, Kokita!]

Hüter-General Kokita, der ungefähr hundert Meter entfernt stand, war ebenso überrascht, als er sich zu Gros umdrehte. Gros gestikulierte wild in seine Richtung und wollte wissen, wieso die Hüter-Generäle auf dem Boden lagen. Doch auch Kokita sah sich nur verwirrt um.

Dann wurde Gros Zeuge eines schuppensträubenden Anblicks.