Der träumende Krieger – Die Legende vom Tränenvogel 2 - Young-do Lee - E-Book

Der träumende Krieger – Die Legende vom Tränenvogel 2 E-Book

Young-do Lee

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Beschreibung

Die Fantasy-Sensation aus Korea!

Naga Ryun, Lekon Tinahan, Dokebi Bihyung und der Mensch Kaygon haben den Hainsha-Tempel erreicht. Dort erfahren sie endlich mehr über die Prophezeiung, die sie hergebracht hat: Die Naga-Priester wollen einen der Götter töten, um ihre eigene Göttin so viel Macht zu verleihen, dass sie die Welt erobern kann. Die Mönche bitten Ryun, Kontakt mit seiner Göttin aufzunehmen, um herauszufinden, wie die Priester vorgehen wollen. Ryun kommt der Bitte nach – und tappt damit geradewegs in eine Falle. Für ihn und seine Gefährten beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit …

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Seitenzahl: 753

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Das Buch

Die drei Abenteurer unter der Führung des Menschen Kaygon Draka haben das Unmögliche geschafft: Sie sind in das Reich der Nagas, telepathisch begabten Echsenwesen, die sich die Herzen entfernen, um unsterblich zu werden, eingedrungen und haben den Naga Ryun Pey durch den Dschungel Kiboren in den Norden gebracht. Ryun soll den Großtempel Hainsha besuchen, denn die Mönche dort glauben, dass er der Schlüssel zu einer uralten Prophezeiung ist. Doch der Weg zum Tempel ist weit und voller Gefahren, und Ryuns Schwester Samo Pey, die ihren Bruder töten will, ist der Gruppe dicht auf den Fersen. Schon bald müssen Kaygon und seine Gefährten – der mächtige Lekon-Krieger Tinahan und das Feuerwesen Bihyung – all ihre Fähigkeiten einsetzen, um Ryuns Leben zu schützen.

In Korea millionenfach verkauft und erfolgreicher als Game of Thrones und The Witcher – mit DIELEGENDEVOMTRÄNENVOGEL hat Lee Young-do Fantasy-Geschichte geschrieben.

Die große Saga DIELEGENDEVOMTRÄNENVOGEL in vier Bänden:

Das Blut der Herzlosen

Der träumende Krieger

Der Feuergeist

Die Suche nach dem König

Der Autor

LEEYOUNG-DO, geboren 1972, studierte Koreanische Sprache und Literatur an der Kyungnam University. Seinen ersten Roman veröffentlichte er zunächst in Fortsetzungen im Internet, ehe er 1998 in Korea als Buch publiziert wurde und den Aufstieg des Autors zum Fantasy-Superstar einläutete. Seither hat Lee Young-do mehrere Romanserien veröffentlicht, darunter DIELEGENDEVOMTRÄNENVOGEL, sein wichtigstes und erfolgreichstes Werk, das derzeit als Videospiel adaptiert wird. Lee Young-do lebt mit seiner Familie in Masan an der koreanischen Südküste.

LEE YOUNG-DO

DIELEGENDEVOMTRÄNENVOGEL

Zweiter Roman

DER TRÄUMENDEKRIEGER

Aus dem Koreanischen vonSun Young Yun, Philipp Haas undAlexandra Schiefert

Titel der Originalausgabe:

눈물을 마시는 새2: 〈숙원을 추구하는 레콘〉

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe 07/2024

Redaktion: Bella Locke

Copyright © 2003 by Lee Young-do

Copyright © 2024 dieser Ausgabe und der Übersetzungby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Published in arrangement with Lee Young-doc/o Minumin Publishing Co., Ltd.,and Casanovas & Lynch Literary AgencyOriginally published in Korea by GoldenBough Publishing Co., Ltd

Umschlaggestaltung: Der gute Punkt, München

Cover Design, Illustration and Map by Yi Suyeon

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN 978-3-641-31517-7V003

Erster Teil

Wegbereiter

Wir bereiten den Weg.

– Schwur der Gilde der Siguriat-Zollstraße

Dunkel. Dunkel. Dunkel], nirmte Hwarit Makerow.

In der Dunkelheit näherte sich ihm die Seele einer anderen Person. Hwarits Seele wich zurück wie ein scheues Tier, das Gewalt fürchtet.

Die Person, die auf Hwarit zukam, fragte jedoch nicht unfreundlich: [Wieso kommst du dann nicht hervor?]

[Verschwinde, Gallotek!]

[Dir wird es dort nicht gefallen.]

[Ich versuche gerade, mich damit anzufreunden.]

Hwarit war gefangen in einem unendlichen Wald, dessen Bäume komplizierte Namen trugen: Schatten einer Erinnerung, die eine andere Erinnerung verdunkelt. Eine gemachte Erfahrung, die unbewusst bleibt. Vergessen, das sich selbst vergisst. Und so weiter. Hwarit schwebte zwischen ihnen in der Unendlichkeit. Jedes Mal, wenn er einen der Äste streifte, fielen verzerrte Erinnerungen wie Tau von ihnen herab.

[Welchen Wert hat der Erfolg, wenn man nichts dafür leisten muss?], nirmte Gallotek. [Was haben wir denn hier? Das ist die Erinnerung eines Menschen, der in Lahochin lebte.]

[Was ist Lahochin?]

[Ach, das ist ein Land im Norden, das für seine gefährlichen Schneestürme und massiven Gletscher bekannt ist. Es heißt, dass man von dort an einem klaren Tag bis ans nördliche Ende der Welt sehen kann.]

Obwohl Hwarit keine Schuppen mehr hatte, glaubte er trotzdem zu spüren, wie sie sich sträubten. Momente später strömten Erinnerungen an eisige Kälte durch den Wald. Unerträglicher Schmerz überrollte Hwarit, und er verlor das Bewusstsein.

Doch eigentlich fühlte es sich nur so an, denn in diesem Wald ohnmächtig zu werden, war eine vorsätzliche Entscheidung. Gallotek, der das wusste, brach in schallendes Gelächter aus. [Oh, Hwarit, du bist schon ein Spaßvogel! Was du da machst, ist reine Selbsttäuschung.]

Das war Hwarit klar. Und gleichzeitig wurde ihm noch etwas anderes bewusst.

[Und wie ist es damit?] Hwarit dachte an den Moment seines Todes und füllte mit diesem Gefühl die gesamte Umgebung aus. Schreiend wich Gallotek zurück, doch Hwarit nirmte grimmig weiter: [Du bist noch nie gestorben, oder? So fühlt sich der Tod an!]

Nur wenige Momente später bereute Hwarit sein Tun bitterlich. Gallotek war ein Seelenwandler; das hieß, er trug die Seelen zahlreicher Verstorbener in sich. Gallotek rief ihre Erinnerungen an den Tod zu sich und ließ sie gebündelt auf Hwarit einprasseln. Daraufhin zog sich Hwarit wimmernd in den dunkelsten Teil des Waldes zurück.

Gallotek hatte zwar vorgehabt, Hwarit so zu überwältigen, doch trafen die zahlreichen Todeserfahrungen auch ihn unerwartet hart. Als er es nicht mehr länger aushielt, schickte er die Erinnerungen an die jeweiligen Seelen zurück, um dann eilig nach vorne zu treten. Er tauschte mit der Seele, die momentan im Vordergrund stand, und dachte: Um Himmels willen! Ich verstehe, wieso die Seelenwandler das immer so machen.

Gallotek glaubte, dass er selbst sich wohl ebenfalls so entscheiden würde. Sofort versuchte er, diesen Gedanken wieder abzuschütteln, doch nun, da er sich bewusst darum bemühte, schien er ihn gar nicht mehr loswerden zu können.

Da sorgte auf einmal eine der Seelen in ihm dafür, dass sich sein Mund bewegte: »Das könnte schon passieren, Gallotek.«

Es dauerte einen Moment, bis Gallotek die Tonlage erkannte. Ein Name kam ihm in den Sinn.

»Zuquedo? Es ist schon eine Weile her. Du hast lange geschlafen.«

»Das habe ich. Wer war der Junge da eben? Ich konnte ihn nicht genau sehen, da er sich zwischen den toten Vergangenheiten versteckte, aber er wirkte sehr jung.«

»Ein Naga, der erst vor Kurzem gestorben ist. Ich habe seine Seele aufgenommen.«

»Verstehe. Warum hast du ihn so erschreckt? Er ist schon einmal gestorben, also wird er es verkraften, aber würde ich so etwas mit dir anstellen …«

»Hör auf!«, schrie Gallotek entsetzt.

Zuquedo fuhr belustigt fort: »Gallotek.«

»Ja?«

»Gallotek.«

»Was ist denn?«

»Wenn der Tag kommt, dann wirst auch du dich nach einer anderen Person umsehen.«

»Niemals! Es ist, wie ich damals sagte, als ich dich und die anderen Seelen aufnahm: Ich werde sterben, wenn meine Zeit gekommen ist. Ihr wusstet das alle und habt es akzeptiert.«

»Ah, der Schwur. Den habe ich schon so oft gehört. Du hast ihn also auch geleistet?«

Der offensichtliche Spott in Zuquedos Stimme ließ Galloteks Schuppen aneinanderreiben. Zuquedo lachte schallend. Dieser groteske Laut wollte Gallotek so gar nicht gefallen. Er liebte es, zu lachen, doch das Lachen, das Zuquedo seinem Körper entlockte, war abstoßend.

»Ich bitte dich, hör auf damit. Ich kann nicht leiden, wie es klingt.«

»Ich auch nicht. Mit dem Körper eines Nagas zu lachen, ist gar nicht so einfach. Grashe allerdings, der hatte einen guten Körper.«

»Grashe?«

»Er war ein Lekon, so groß, dass sogar die anderen Lekons ihn bewunderten. Bist du ihm je begegnet?«

»Nein, nie. Bist du sicher, dass er in uns ist?«

»Bin ich. Und übrigens hat Grashe etwas Ähnliches gesagt wie du. Als wir ihn fragten, ob er uns aufnehmen würde, stimmte er zu, doch sagte auch er, dass er sterben würde, wenn seine Zeit gekommen wäre. Wir erwiderten, dass dies seine Entscheidung wäre. Oh, was hatten wir für einen Spaß, als wir in seinem Körper waren! Dieser Riese schwang einen Morgenstern, dessen Kopf fünfzig Kilogramm wog. Einmal hat er damit auf einen Bullen eingeschlagen, und als er fertig war, war nur noch Haut übrig. Die Knochen darunter waren pulverisiert worden! Ach, das waren wunderbare Tage! Wenn ich mit seinem Körper lachte, hatte ich das Gefühl, einen Tornado heraufzubeschwören.« Zuquedo schwelgte einen Moment in Erinnerungen. »Aber weißt du, was der großartige Grashe tat, als er älter wurde und merkte, dass er dem Tod nahe war? Er bedrohte einen Menschen mit seinem scheußlichen Morgenstern und zwang ihn, alle Seelen in sich aufzunehmen. Das war eine geistige Vergewaltigung! Im Körper eines Menschen zu stecken, frustrierte Grashe. Das ist vielleicht der Grund dafür, dass er inzwischen nur noch schläft. Hey, Gallotek, hör mal! Wie wäre es, wenn du für unseren Freund Grashe einen Lekon als nächsten Körper aussuchst?«

»Zuquedo, ich habe es bereits mehrmals gesagt: Ich werde sterben. Ich kehre zu meiner Göttin zurück. Immerhin bin ich ein Hüter, der von der Göttin einen göttlichen Namen erhalten hat.«

Gallotek meinte seine Worte vollkommen ernst, doch Zuquedo spottete erneut: »Ha, wir haben auch einen Mönch unter uns. Soll ich euch bekannt machen?«

»Bitte, hör auf und verschwinde wieder.«

Zuquedo lachte leise und machte sich davon. Gallotek lehnte sich in seinem Stuhl zurück und versuchte, seinen Unmut zu verdrängen.

Gallotek bereute seine Entscheidung, die Seelenwandler angenommen zu haben, nicht, denn so hatte er sich auf einen Schlag mehr Wissen angeeignet, als in einem ganzen Leben möglich gewesen wäre. Doch hätte er vorher gewusst, dass sich unter diesen Seelen auch der Schuft Zuquedo befand, hätte er seine Entscheidung vermutlich noch einmal überdacht. Der Grund, aus dem ihm Zuquedos Worte so unangenehm waren, war offensichtlich: Sie entsprachen der Wahrheit. Es fiel Gallotek nicht schwer, sich vorzustellen, wie er als alter Mann nach einer Person suchte, die seine Seele und die der anderen aufnahm.

[Nein, so werde ich nie enden!]

Gallotek war kein Naga, dessen Wille leicht zu beugen war. Er war ein Naga, der allen Einwänden und Protesten zum Trotz zwei Jahre damit zugebracht hatte, seiner geköpften Schwester lebendige Tiere in die Speiseröhre zu stecken und darauf zu warten, dass sich ihr Kopf endlich regenerierte. Seit dieser Zeit hielt er nichts mehr für unmöglich. Zwar stimmte es Gallotek traurig, dass seine Schwester sich nun in ein Monster verwandelt hatte, das nur noch Hass für den Menschen empfand, der sie enthauptet hatte, doch ließ er sich nicht entmutigen.

[Ich sollte noch einmal mit ihm sprechen.]

Gallotek versank tief in sich selbst, um Hwarit erneut aufzusuchen.

Die Vergangenheit. Im heimtückischen Siguriat-Gebirge gab es viele Wege, die den Norden und den Süden miteinander verbanden. Einer davon war sogar so prächtig, dass man ihn als eines der Vier Wunder der Königin Pol-Pol bezeichnete. Sie behauptete von sich, die gegenüberliegenden Pole miteinander verbinden zu können, und war auch als Königin Straße bekannt. Als die sorgfältige Pflege der künstlich angelegten Wege nachließ, verschwanden sie mit der Zeit unter Unkraut, Schmutz und Steinschlägen. Die Stürme, die das Siguriat-Gebirge immer wieder heimsuchten, waren ebenfalls ein Unglück für die von Menschenhand geschaffenen Pfade. Heutzutage gab es all diese Wege durch das Gebirge längst nicht mehr, bis auf einen: die Zollstraße von Siguriat.

Ryun verstand nicht, wieso sie für die Benutzung eines Weges bezahlen sollten. »Dann sind das also Banditen oder Diebe?«

»Es sind keine Banditen«, erklärte Bihyung. »Wenn du dich weigerst, einem Banditen Geld zu geben, wird er dich vermutlich umbringen und ausrauben. Die Mitglieder der Gilde der Siguriat-Zollstraße hingegen lassen dich nur nicht passieren, wenn du die Gebühren nicht bezahlst. Das ist doch ein Unterschied, oder?«

»In meinen Augen nicht.«

»Inwiefern?«

»Na ja, in beiden Fällen muss man bezahlen. Es läuft doch aufs Gleiche hinaus: Sowohl die Banditen als auch die Mitglieder der Gilde verdienen Geld, ohne etwas dafür tun zu müssen …«

»Ah, mein Fehler. Ich habe vergessen zu erwähnen, dass die Gildenmitglieder im Gegensatz zu Banditen tatsächlich arbeiten. Sie graben Brunnen entlang der Straße, verjagen gefährliche Tiere, und verletzte Reisende können sich in der Torfestung behandeln lassen. Für einen geringen Aufpreis stellen sie außerdem Unterkunft und Verpflegung zur Verfügung. Und sie reparieren natürlich Schäden an der Straße.«

»Ich verstehe. Aber diese Gebühren … äh, hm … die sehen köstlich aus«, meinte Ryun, als er die grasende Bergziege beobachtete und dabei vom Thema abkam.

»Die nicht, Ryun«, sagte Kaygon, der sich auf einem Felsen ausgestreckt hatte, ohne die Augen zu öffnen.

»Och, ich habe ja nicht gesagt, dass ich Hunger habe. Nur, dass sie köstlich aussieht.«

Kaygon hatte in der Stadt Schrados drei Bergziegen gekauft. Tinahan war überrascht, dass Kaygon so viel Geld ausgab, doch Kaygon erklärte ihm, dass die Jagd auf der Zollstraße von Siguriat verboten sei. Seit sie das Gebirge erreicht hatten, hatten sie bereits zwei der Bergziegen verspeist. Ryun hatte eine mit Haut und Haaren hinuntergeschlungen, während Kaygon und die anderen die zweite brieten. Die letzte Ziege war der Zoll, den sie entrichten würden, weswegen sie nun friedlich grasen durfte.

»Eine Bergziege dürfte für uns alle ausreichen. Hoffe ich zumindest.«

»Können wir nicht einfach mit Geld bezahlen?«

»Das könnten wir, aber die Mitglieder der Gilde verehren Bergziegen. Es wird wahrscheinlich schwierig, die Gebühr für den Drachen festzulegen, also hoffe ich, dass sie von der Bergziege so begeistert sind, dass sie uns passieren lassen.«

»Wie genau meinst du das? Sie verehren Bergziegen? Nur, weil sie gerne Ziegenfleisch essen, sind sie doch keine Verehrer, oder?«

»Sie beten sie an.«

»Sie beten sie an? Wirklich?«

»Das Ganze ist eine alte Geschichte. Die Gildenmitglieder erzählen sich, dass ihr erstes Oberhaupt ein Ziegenhirt war, der im Siguriat-Gebirge nach einem verloren gegangenen Tier suchte. Dabei soll er zufällig einen Weg durch das Gebirge gefunden haben. Deswegen beten sie die Bergziegen an. Ich vermute aber, dass es eher daran liegt, dass Bergziegen zu den wenigen Tieren gehören, die man in dieser Höhe halten kann.«

Ryun sah sich um. An diesem Ort, der noch höher lag als all die anderen Orte des Nordens, die er bisher gesehen hatte, standen nur die hartnäckigsten Bäume verbogen und verdorrt, streckten sich bloß graugrüne Grasbüschel dem schier endlosen Himmel entgegen. Jedes Mal, wenn der Wind über die Hügel strich, kräuselten sie sich wie das Fell eines Tieres. Granitfelsen blitzten durch das Gras hindurch, und Nebelschwaden, so dicht wie Wolken, hingen über dem Tal unter ihnen. Hier oben, weit weg von allem, führten die Berge tiefgründige Gespräche. Für Ryun, der nur den Dschungel von Kiboren kannte, war es ein nahezu unwirklicher Anblick.

Ein lautes Geräusch schallte über den Himmel. Bihyung und Ryun wollten schon aufstehen, doch Kaygon hielt sie zurück. »Bleibt sitzen, der Hang ist steil.«

Also sanken sie wieder auf den Boden. Das Geräusch kam vom heranfliegenden Käfer Nanui. Darauf saß Tinahan. Er hatte die Federn so stark aufgeplustert, dass es auf den ersten Blick wirkte, als hätte er sich verdreifacht. Trotzdem kam es Bihyung und Ryun vor, als müsste sich Nanui mehr anstrengen als sonst. Als der Käfer zum Landeanflug ansetzte, fegte der Wind, den seine Flügel verursachten, gnadenlos über den Berghang, und Bihyung und Ryun verstanden, wieso Kaygon ihnen geraten hatte, sitzen zu bleiben.

Nanui landete in einer Wolke aus Staub und Grashalmen. Tinahan sprang schnaufend von seinem Rücken und starrte den Käfer grimmig an. Bihyung wartete, bis der Wind sich gelegt hatte, dann stand er auf und fragte: »Es hat also nicht funktioniert?«

Tinahan antwortete nicht. Erst als Bihyung seine Frage wiederholte, fuhr er herum: »Bihyung! Hast du den richtigen Befehl gegeben?«

»Ja, natürlich. Absolut und zweifelsfrei. Wieso fragst du?«

»Dreihundert Meter vor dem Ziel ist er plötzlich umgekehrt, verdammte Scheiße!«

Ryun lächelte und blickte in die Ferne. Ein kleiner Schatten glitt über die Gipfel des Siguriat-Gebirges. Es schien fast, als würde er sie berühren. Das war der Himmelsfisch.

Vorhin, als Tinahan die majestätische Kreatur entdeckt hatte, hatte er Bihyung dazu gedrängt, ihm schleunigst beizubringen, wie man auf Käfern ritt. Bihyung hatte Nanui erklärt, was Tinahan vorhatte, doch wie alle Käfer wollte sich Nanui dem Himmelsfisch nicht nähern. Als Bihyung versucht hatte, das Tinahan zu erklären, hatte dieser lautstark losgepoltert: »Jetzt sind wir schon so lange zusammen unterwegs! Vielleicht ist mein feuriger Mut ja inzwischen in das Herz dieses feigen Käfers vorgedrungen! Oder vielleicht ist heute der Tag, an dem Nanui endgültig durchdreht.«

Tinahan war stur geblieben, sodass Bihyung es schließlich aufgegeben hatte, mit ihm zu diskutieren. Er hatte Nanui den Befehl erteilt, und Nanui war mit Tinahan losgeflogen. Doch etwa dreihundert Meter vor dem Ziel hatte der Käfer umgedreht und war zurückgeflogen. Weder Tinahans wilde Drohungen noch seine verzweifelten Bitten konnten ihn zum Umkehren bewegen.

Tinahan schilderte seinen Gefährten, was passiert war, und schrie dann laut auf: »Verdammte Scheiße! Er hat nicht einmal verstanden, was ich gesagt habe! Los, erklär es ihm noch mal mit eurer Zeichensprache!«

»Obwohl es nicht funktionieren wird?«

»Ja! Äh, nein! Wenn er nicht näher als dreihundert Meter heranfliegen will, dann sag ihm, er soll dreihundert Meter über dem Himmelsfisch fliegen, damit ich abspringen kann.«

»Äh, nun … Du kannst das versuchen, was Kaygon am Murun-Fluss gemacht hat, und abspringen, wenn er im Gleitflug ist. Aber den Sprung würdest du doch nicht einmal dann heil überstehen, wenn du aus Eisen wärst!«

»Wenn ich sterbe, dann sterbe ich wenigstens auf dem Rücken des Himmelsfisches!«

Ryun schlug begeistert die Hände zusammen. Bihyung und Tinahan warfen ihm verdutzte Blicke zu, und Ryun versteckte verlegen die Hände hinter seinem Rücken.

»Ähm, macht ihr das nicht so? Klatscht ihr nicht in die Hände, wenn etwas Aufregendes passiert?«

Plötzlich war Gelächter zu hören.

Tinahan wandte sich Bihyung zu, doch der war es nicht, der lachte. Ryun und Tinahan tauschten Blicke, bis sich ihre anfängliche Verwirrung in Entsetzen wandelte, das ihnen einen Schauer über den Rücken jagte. Ryuns Schuppen sträubten sich, als er in die Richtung sah, aus der das Geräusch kam.

Es war Kaygon, der so lachte. Und nicht nur Ryun, Bihyung und Tinahan waren darüber so erschrocken, als hätten sie soeben durch die Risse der Realität gelinst und ein kosmisches Grauen entdeckt, auch Nanui und der Drache Ashwarital, der auf Ryuns Schulter saß, waren entsetzt.

Kaygon, der die Reaktion seiner Gefährten nicht bemerkte, sagte amüsiert: »Josbi, du bist schon ein Witzbold …«, bevor er mitten im Satz plötzlich verstummte. Er lag immer noch auf seinem Felsen, in derselben Position wie bisher, doch die anderen sahen trotzdem, wie er seinen Körper anspannte.

Bihyung und Tinahan blickten einander mit geneigtem Kopf an, während Ryun aufgeregt wissen wollte: »Du hast gerade an meinen Vater gedacht, oder? Er kann sogar ein Eisenblut wie dich zum Lachen bringen?«

Kaygon erhob sich schweigend von seinem Platz, dann sagte er: »Na ja … hm. Lasst uns aufbrechen.«

Kaygons Worte frustrierten Ryun, und Bihyung beschlich eine unangenehme Vorahnung, die nur allzu bald Realität wurde: Eineinhalb Tage lang ließ Kaygon sie ohne Rast durchmarschieren, wie damals in Kiboren. Der lange Marsch über den schroffen Bergrücken war so brutal, dass selbst Tinahan seinen Eisenspeer nur noch kraftlos über den Boden schleifte und sich, zur großen Überraschung aller, nicht einmal darüber beschwerte. Als in der Ferne endlich die Torfestung von Siguriat in Sicht kam, waren die Gefährten kurz davor, im Stehen einzuschlafen.

Ryun stützte sich keuchend mit beiden Händen auf seinen wackligen Knien ab. Da trat Kaygon an ihn heran und sagte monoton nur ein einziges Wort: »Ja.«

Es ist überraschend, dachte Ryun, wie schnell man Mordgelüste entwickeln kann.

Glücklicherweise stellte sich heraus, dass Kaygon ihnen diesen Gewaltmarsch nicht nur aufgezwungen hatte, um über Ryuns Frage nachzudenken.

»Warum, verflucht, mussten wir so rennen? He! Ich finde, wir …«, ächzte Tinahan, der als Einziger noch die Kraft hatte zu sprechen, mit zitterndem Kamm.

»Ich habe gesehen, dass sich ein Sturm zusammenbraut. Ich dachte, es wäre das Beste, wenn wir uns beeilen, damit wir nicht nass werden.«

»… hätten schneller laufen sollen!«, stieß Tinahan entsetzt hervor. Ryuns Mordlust legte sich wieder. Nur Bihyung bedauerte, dass er nicht sehen würde, wie ein Lekon auf einem Berggipfel, wo es keinen Unterschlupf gab, von einem Gewitter überrascht wurde. Nun beeilte sich die Gruppe noch mehr, um zur Torfestung zu gelangen, Tinahans drängende Worte immer im Hinterkopf.

Die Struktur der Torfestung von Siguriat erinnerte an einen Tunnel, der durch natürliche Felswände – mehrere Dutzend Meter hoch und beinahe hundert Meter breit – geschaffen worden war. Beide Enden waren jeweils durch ein schweres Eisentor versperrt. Darüber thronte die Torfestung.

Das erste Oberhaupt der Gilde der Siguriat-Zollstraße hatte die riesige Felswand, die damals als das schwierigste Hindernis auf der Zollstraße galt, mit einer Strickleiter überwunden. Zu seiner Zeit war die Festung lediglich eine Hütte auf einer Steinmauer gewesen, von der eine Strickleiter für zahlende Reisende heruntergelassen wurde. Doch nachdem genug Geld zusammengekommen war, veranlasste das Oberhaupt, dass zunächst ein Aufzug und schließlich ein Tunnel durch die Felswand gebaut wurden. An den Enden des Tunnels wurden Zollstellen errichtet, um die Gebühren zu erheben. Dort saßen Zöllner mit einer Preisliste, die ihnen vom Oberhaupt diktiert worden war. Aufgrund dieser sorgfältig geführten Liste kam es nur selten zu Streitigkeiten zwischen Zöllnern und Reisenden, weswegen die Zöllner mit ihrer Aufgabe im Großen und Ganzen sehr zufrieden waren.

Doch an diesem Nachmittag, an dem in der Ferne ein Sturm aufzog, bereuten die Zöllner zum ersten Mal ihre Berufswahl.

»Schnell! Schneller! Könnt ihr uns nicht einfach reinlassen?« Tinahans Stimme wurde immer schriller, je näher das Donnergrollen kam.

Der Leiter der beiden Zollstellen blickte mit blassem Gesicht durch ein kleines Fenster nach draußen. »Nur einen Moment, bitte. Wie ich schon sagte, ist diese Preisliste hier … Na ja, sie berücksichtigt die außerordentlichen Umstände nicht. Ich habe jemanden nach oben geschickt, damit er nachfragt. Er ist bestimmt gleich zurück.«

Der Hauptzöllner schien kurz davor, in Tränen auszubrechen. Die Gebühren für Menschen und Lekons waren auf seiner Liste genau angeführt. Und zum Glück hatte er auch den Punkt zu Dokebis in einem Abschnitt der Liste gefunden, der nicht allzu oft verwendet wurde. Aber nirgends gab es einen Vermerk zu Käfern. Ganz zu schweigen von Drachen! Und hätte der Hauptzöllner gewusst, dass die Person, die den Drachen auf der Schulter trug, kein Mensch, sondern ein Naga war, wäre er wohl wirklich schluchzend zusammengebrochen. Aber Ryun hatte sich zum Schutz vor dem Wind einen Umhang übergezogen und sein Gesicht mit einem Tuch verdeckt. So glaubten der Hauptzöllner und die anderen Anwesenden – wohl auch aufgrund von Ryuns wohlklingender Stimme und seiner schlanken Statur – es mit einer menschlichen Frau zu tun zu haben.

Bihyung, der gerade die Warnung las, die an der Außenwand der Zollstelle angeschlagen war und sich eindeutig an Lekons richtete – KLETTERERWERDENAUSNAHMSLOSMITWASSERBESPRITZT! –, konnte seine Neugier nicht länger zügeln und fragte: »Wie kann es sein, dass Ihr Dokebis auf der Liste habt, aber keine Käfer?«

Der Leiter der Zollstellen schüttelte den Kopf. »Das ist doch ganz logisch. Ein Dokebi muss zu Fuß passieren, wenn er keinen Käfer dabeihat. Aber wenn ein Dokebi einen Käfer dabeihat, würde er doch wohl fliegen, oder etwa nicht? Lasst mich Euch also stattdessen etwas fragen: Ihr habt einen Käfer, also warum fliegt Ihr nicht?«

»Äh, wir haben jemanden in der Gruppe, der das nicht so gut verträgt. Habt Ihr vielleicht Pferde auf Eurer Liste? Könnt Ihr für einen Käfer nicht genauso viel verlangen wie für ein Pferd?«

»Das kann ich nicht willkürlich entscheiden. Bitte, wartet noch einen Moment.«

Unglücklicherweise hatte die ruhige Bitte des Hauptzöllners keine Chance gegen Tinahans aufbrausendes Temperament. »Verdammte Scheiße! Da kommt ein Sturm auf uns zu! Wie wär’s, wenn du dem sagst, dass er warten soll?«

Die Angst in Tinahans Stimme war nicht zu überhören, weswegen Kaygon nachfragte, ob sie nicht in der Zollstelle auf die Rückkehr des Mannes warten könnten. Zwar war dem Hauptzöllner nicht allzu wohl bei dem Gedanken, immerhin wurden dort die Gebühren aufbewahrt, doch letzten Endes erlaubte er es.

Von außen wirkte die Zollstelle nicht allzu groß, doch da sie wie eine Höhle in die dicke Felswand hineinragte, war sie überraschend geräumig. Tinahan konnte seinen Eisenspeer allerdings nicht mit hineinnehmen, sondern musste ihn davor abstellen. Auch Nanui musste draußen bleiben.

Im Inneren, wo der Leiter und die anderen Zöllner arbeiteten, gab es einige Tische und Stühle, die für Tinahan allesamt zu klein waren. Doch der war nur froh, dem Regen entkommen zu sein, und setzte sich kurzerhand auf den Boden. Kaygon warf ihm einen Blick zu, woraufhin sich der Lekon ein wenig nach vorne lehnte, um Ryun vor den Blicken der Menschen abzuschirmen.

»Oh! Ich verstehe jetzt, wieso Ihr meint, dass Ihr das nicht willkürlich entscheiden könnt«, rief Bihyung vergnügt, während er die große Preisliste an der Wand studierte. »Für Maultiere, Pferde und Esel werden unterschiedliche Gebühren erhoben! Wie ist es nur möglich, dass auf einer so sorgfältig geführten Liste keine Preise für Käfer stehen?«

»Darüber habe ich noch nie nachgedacht, aber jetzt wüsste ich das auch nur zu gerne. Vielleicht findet sich dazu etwas im Großen Tarifbuch, das oben in der Festung aufbewahrt wird. Aber sagt, wo habt Ihr diesen Drachen gefunden? Es ist doch ein echter Drache?«

Bihyung blickte Hilfe suchend in Kaygons Richtung. Genau in diesem Moment begann es zu regnen. Es prasselte in so starken Strömen vom Himmel, dass es klang, als trommelten Millionen von Hagelkörnern auf die Erde. Ein dichter Nebel schob sich wie ein Vorhang vor die Berggipfel in der Ferne und verdeckte sie fast vollständig, sodass sie nur noch als schwache Umrisse zu erkennen waren.

Ryun, der auch sonst kaum auffiel, verschwand vollständig hinter Tinahans Federn, die sich beim Klang der Regentropfen sträubten. Die anderen hatten bei diesem Anblick das Gefühl, dass die Luft im Inneren der Zollstelle dünner wurde. Wegen des starken Regens wurde es rasch dunkel, und so holte einer der Zöllner eine Öllampe, die Bihyung mit einem Lächeln bedachte, ehe er mit den Fingern schnippte. Ein Flammenschmetterling erschien in seiner Hand und flatterte unter den Augen der gebannten Zuschauer auf die Lampe zu, um sich darauf niederzulassen. Ein Blinzeln später gingen seine Flügel in Flammen auf, woraufhin die Zöllner bewundernd aufschrien.

Kaygon, der bis jetzt den Regen durch ein kleines Fenster beobachtet hatte, deutete auf einen Kessel neben dem Tisch und fragte: »Darf ich?«

»Das ist aber kein Wasser oder Tee.«

»Ich weiß, was es ist.«

Der Hauptzöllner musterte Kaygon mit skeptischem Gesichtsausdruck, dann nickte er. Kaygon goss etwas von der klaren Flüssigkeit in eine Schale, die neben dem Kessel stand, nahm einen Schluck und reichte sie an Tinahan weiter. »Trink etwas davon und gib die Schale dann an Bihyung weiter. Aber nicht an Ryun.«

Tinahan öffnete verwundert seinen Schnabel und trank einen Schluck. Es war ein recht mild schmeckender Alkohol.

Kaygon sagte zum Leiter der Zollstelle: »Sind vor dem Torzoll nicht alle Reisenden gleich? Es ist schon lange her, aber ich weiß, dass nicht einmal Könige passieren durften, ohne zu bezahlen. Und ich weiß, dass Ihr König Autorität mit den Worten ›Mensch. Erwachsener Mann. Zehn Silberlinge.‹ begrüßt habt. Sogar Zuquedo Sarmak hatte keine andere Wahl, als sich an die Regeln zu halten.«

Als der Hauptzöllner die Geschichte der Festung hörte, breitete sich ein stolzes Lächeln auf seinem Gesicht aus. Kaygon fuhr fort: »Wie gesagt, wir bezahlen den Preis, den Ihr für den Drachen vorgeschlagen habt. Deswegen denke ich, dass es Euch nicht beleidigen wird, wenn wir seine Herkunft nicht preisgeben.«

»Nun, Ihr werdet Eure Gründe dafür haben. Auf jeden Fall spielt es für uns keine Rolle, wer Ihr seid, solange Ihr bezahlt. Ach so, etwas anderes, schmeckt es Euch denn?«

»Es ist ein guter Arkhi.«

Tinahan nickte heftig, um Kaygons Worten zuzustimmen. »Das ist also Arkhi! Wird der nicht aus Pferdemilch hergestellt?«

»Aus Ziegen- oder Schafsmilch. Aber hatte ich dich nicht darum gebeten, die Schale weiterzugeben?«

Tinahan blinzelte ein paarmal und blickte auf die Trinkschale hinunter. Sie war leer. Auf Bihyungs Gesicht machte sich ein mürrischer Ausdruck breit. Doch bevor Tinahan etwas dazu sagen konnte, füllte der Hauptzöllner eine frische Schale mit Arkhi und reichte sie Bihyung.

»Wir teilen gerne mit Gästen, die unseren Arkhi zu schätzen wissen. Was ist mit ihr dort drüben, will sie nichts?« Der Hauptzöllner nickte in Ryuns Richtung, doch Kaygon schüttelte den Kopf.

»Verzeiht bitte, das ist aus gesundheitlichen Gründen nicht möglich«, erklärte er. »Und Tinahan, pass besser auf mit dem Arkhi. Am Anfang ist er schön mild und würde sogar jungen Mädchen gut schmecken, aber zu viel davon zieht selbst dem stärksten Shirem-Kämpfer die Beine weg.«

Tinahan ignorierte Kaygons Warnung und streckte die Hand nach dem Kessel aus. »Hast du je einen betrunkenen Lekon gesehen?«, wollte er wissen, woraufhin Kaygon nur leicht den Kopf neigte.

In diesem Moment öffnete sich eine Tür in der Felswand, und der Mann, der vor einiger Zeit zur Festung hochgestiegen war, um die Gebühren zu erfragen, erschien mit einer Lampe in der Hand. Er schien kurz verwundert zu sein, die Gruppe im Inneren der Zollstelle vorzufinden, doch dann wandte er sich direkt an den Hauptzöllner, um Bericht zu erstatten. »Der Berater meinte, dass er den Drachen selbst sehen müsse, um zu entscheiden.«

»Steht denn nichts im Großen Tarifbuch?«, fragte der Hauptzöllner verwirrt.

»Ich weiß es nicht, ich konnte nicht selbst nachsehen. Der Berater wollte wissen, wieso ich das Große Tarifbuch einsehen müsse, also habe ich ihm die Situation erklärt. Er fragte, ob er den Drachen sehen könne, und ich erwiderte, dass dies wohl möglich sein sollte, da der Drache klein wäre. Nun bittet er darum, dass ich den Drachen zu ihm nach oben bringe.«

Der Hauptzöllner warf Kaygon einen Blick zu. Sie hatten keine andere Wahl, als der Bitte des Beraters nachzukommen. Also nickte Kaygon und erhob sich. »Dann gehen wir wohl besser mal nach oben.«

Dies war leichter gesagt als getan, denn die Architektur der Festung erwies sich als überraschendes Hindernis: Die Passage, die die Zollstelle mit der Festung verband, stellte für einen Menschen kein Problem dar, doch für den beleibten Bihyung war sie schlicht und ergreifend zu eng. Und Tinahan passte noch nicht einmal durch die Tür – abgesehen davon hätte er auch die angrenzende Treppe, die nach oben führte, nicht benutzen können. Dokebi und Lekon mussten also zurückbleiben. Als Bihyungs Blick auf die Lampe des Zöllners fiel, schüttelte er sanft den Kopf, erschuf eine kleine Dokebi-Flamme und reichte sie Kaygon. Der befestigte sie an seiner linken Schulterklappe.

So waren es nur Kaygon und Ryun, die dem Zöllner hinauf in die Festung folgten. Immer wieder passierten sie Korridore, die seitlich abgingen und zu Vorratslagern oder zu anderen Räumen der Festung führten. Doch der Zöllner stieg unbeirrt weiter nach oben. Draußen prasselte der Regen hernieder, doch im Inneren der Felswand drangen die Geräusche nicht mehr zu ihnen durch. Nur einmal, als sie an einem Fenster oder Lüftungsschacht vorbeigingen, konnten sie den Regen hören. Kaygon wusste, dass die Sturmsaison gerade erst begonnen hatte.

Der Weg durch die schier endlose Dunkelheit fand an einer großen Tür ein abruptes Ende. Der Zöllner bedeutete ihnen einzutreten, dann machte er sich wieder auf den Weg nach unten. Ryun warf Kaygon einen Blick zu, doch der betrachtete nur Ashwarital, der auf Ryuns Schulter saß, bevor er die große Tür aufschob.

Helles Licht und das Rauschen des Regens strömten ihnen entgegen. Ryun sah, dass sie einen geräumigen rechteckigen Raum betreten hatten, der ungefähr zehn Meter breit und etwa zwanzig Meter tief war. Links neben der Tür, durch die sie soeben eingetreten waren, befanden sich noch zwei weitere. Die mittlere war so groß, dass sogar ein Dokebi und ein Lekon sie problemlos hätten benutzen können. Rechts und links entlang der Wände entdeckte Ryun noch weitere Durchgänge, die zu diesem Raum führten. Ihnen gegenüber, auf der anderen Seite, schien sich eine Art Balkon zu befinden. Ryun war sich nicht ganz sicher, denn ein großer Vorhang teilte den Raum. Das Licht, das darunter hervorblitzte, legte diese Vermutung jedoch nahe. Ein paar Stufen deuteten darauf hin, dass der Teil des Raumes, den sie wegen des Vorhangs nicht sehen konnten, etwas höher lag als der Rest.

In der Mitte des Raumes stand ein langer Tisch. Es gab zahlreiche Stühle, doch am Tisch saß nur ein alter Mann mit Glatze, den Ryun für den Berater hielt. Kaygon ging auf ihn zu, Ryun folgte ihm langsam. Der alte Mann bedachte die Dokebi-Flamme an Kaygons Schulter mit einem amüsierten Lächeln, dann deutete er auf die Stühle ihm gegenüber. Ryun und Kaygon ließen sich dort nieder.

Noch während sie sich setzten, senkte der alte Mann den Blick erneut auf den Tisch. Ryun war erstaunt, als er bemerkte, was der Mann vor sich hatte: Platten aus Metall, je einen Meter lang und einen Meter breit, lagen aufeinandergestapelt da. Sie waren in Leder gesäumt, und auf ihnen waren Gravuren zu erkennen. Die Gebührenliste für Reisende und Waren.

Schweigend beobachteten Kaygon und Ryun den alten Mann dabei, wie er eine der Metallplatten, die sehr groß und offensichtlich schwer war, anhob. Er drehte die Platte, die mit Eisenringen an den übrigen befestigt war, mit viel Mühe um, und obwohl der Lederrand den Aufprall dämpfte, ertönte trotzdem ein lautes metallisches Geräusch. Der alte Mann schien sich daran jedoch nicht zu stören, denn er überflog unbeirrt die Zeilen auf der Platte.

Nach einiger Zeit blätterte der Mann zur nächsten Seite weiter. Rumms!

Kaygon wartete geduldig, ohne ein Wort zu verlieren, doch Ryun wurde es bald langweilig. Sein Blick wanderte über die Objekte, die auf dem Tisch lagen, und er entdeckte etwas, das ihn an Schreibutensilien und Stoffballen erinnerte. Einige Zeit lang betrachtete er beides ruhig, dann wurde ihm klar, dass es sich um Dokebi-Papier handelte, von dem er bisher nur in Nirms erfahren hatte. Ein unbehagliches Gefühl stieg in ihm auf, als er den Leichnam des Baumes betrachtete. Schnell wandte er den Blick ab und richtete ihn stattdessen auf den Vorhang.

Etwas erregte Ryuns Aufmerksamkeit, und so konzentrierte er sich auf das, was sich hinter dem Vorhang befand. Es war eine Person mit warmem Blut. Sie saß zurückgelehnt in einem Sessel, der leicht schräg in Richtung des Balkons zeigte. Beobachtete sie von dort aus den Regen? Aber wieso sollte man sich etwas so Deprimierendes ansehen? Erst nach einiger Zeit erinnerte sich Ryun daran, dass der Regen in den Augen der Ungläubigen anders aussah.

In diesem Moment sagte der Berater: »Hier ist es.«

Trotz seiner schmalen Statur war seine Stimme überraschend kräftig. Ryun lenkte seine Aufmerksamkeit zurück auf den alten Mann, der auf eine Zeile auf einer der Platten deutete. Im Vergleich zu den anderen Metallplatten war auf dieser hier nur sehr wenig eingraviert.

»Käfer. Fünfzehn Silberlinge«, las der Alte laut vor.

Kaygon nickte langsam und fragte: »Und der Drache?«

»Einen Moment, bitte.« Der Mann begann erneut zu blättern. Es war ermüdend, und Ryun sank ein wenig in sich zusammen, als seine Aufmerksamkeit wieder zu schwinden drohte. Da sagte der Mann plötzlich: »Hier steht es. Drache: Bauchschleifer, übellaunig. Zehn Goldstücke. Drache: Bodengräber, fröhlich. Hundert Goldstücke.«

Während Ryun den alten Mann mit einem undefinierbaren Gesichtsausdruck ansah, meinte Kaygon trocken: »Kurz gesagt, Drachen sind ziemlich teuer.«

»Ja, weil sie die Straße beschädigen, wenn ihr Bauch darüber schleift oder sie den Boden umgraben.«

Die Erklärung des alten Mannes ließ Ryun mutmaßen, dass solche Drachen – Bauchschleifer und Bodengräber – wohl früher einmal die Zollstraße von Siguriat passiert haben mussten.

»Was ist, wenn sie fliegen können?«, fragte Kaygon.

»Über fliegende Drachen steht hier nichts. Wenn der Drache fliegen kann, wie Ihr sagt, dann werde ich eine angemessene Gebühr festlegen und das Buch um einen Eintrag erweitern. Auf diese Art wurde das Große Tarifbuch einst erstellt. Kann der Drache denn fliegen?«

Kaygon blickte zu Ryun und sagte: »Zeig ihm, dass er fliegen kann.«

Ryun löste behutsam Ashwaritals Schwanz von seinem linken Arm. Doch Ashwarital weigerte sich mitzumachen und wand seinen Schwanz stattdessen um Ryuns Hände. Einen Moment rangen die beiden miteinander, bevor Ryun den Drachen endlich mit beiden Händen zu fassen bekam. Ashwarital wehrte sich zappelnd gegen Ryuns Griff, konnte jedoch nicht verhindern, dass Ryun ihn hoch in die Luft warf. Anders als erwartet, breitete der sture Drache seine Flügel aber nicht aus, sondern plumpste geradewegs nach unten. Hastig fing Ryun ihn auf.

Der alte Mann, der die Szene beobachtet hatte, sagte unverblümt: »Nun, wenn Ihr ihn bis auf die andere Seite der Gebirgskette werfen könnt, werte ich das als Flug.«

Ryun glaubte, ihm würden vor Scham die Schuppen ausfallen, während er Ashwarital finster anfunkelte. Doch der Drache lag nur wieder bequem in seinen Armen und schlang den Schwanz um Ryuns Oberkörper. Kaygon musterte ihn mit einem durchdringenden Blick, dann entfernte er die Dokebi-Flamme von seiner Schulterklappe. Langsam schwenkte er sie vor Ashwaritals Augen hin und her. Ryun wusste sofort, dass Ashwarital nur so tat, als interessierte ihn das nicht, er in Wirklichkeit aber kaum die Augen von dem Licht abwenden konnte. Urplötzlich warf Kaygon die Flamme nach oben in Richtung der Decke.

Und Ashwarital schoss pfeilschnell hinterher. Mit allen vier Beinen umfing er die Flamme, um stolz damit durch den Raum zu fliegen. Dabei war er so schnell, dass Ryun und der alte Mann ihm kaum folgen konnten.

»Fliegt, oder?«, meinte Kaygon ruhig.

Der alte Mann nickte und nahm das Dokebi-Papier sowie einen Pinsel zur Hand. Feierlich verkündete er, während er schrieb: »Drache: fliegt, verspielt wie ein Kätzchen.«

Ryun hatte erneut das Gefühl, vor Scham ein paar Schuppen zu verlieren. Nachdem der alte Mann alles aufgeschrieben hatte, legte er Papier und Tintenstein beiseite und erhob sich.

»Das Oberhaupt wird die Gebühren festlegen. Es ist schon sehr lange her, seit dem Großen Tarifbuch ein neuer Eintrag hinzugefügt werden musste.«

Kaygon nickte. »Dann seid Ihr also der Berater.«

»So ist es. Bitte wartet hier.«

Ryun vermutete, dass die Person auf der anderen Seite des Vorhangs das Oberhaupt war. Und tatsächlich schob der Berater den Vorhang zur Seite und verschwand dahinter. Kaygon und Ryun warteten eine Weile. In dieser Zeit flog Ashwarital zurück in Ryuns Arme, und Ryun versuchte, Kaygon die Dokebi-Flamme zurückzugeben, doch der Drache weigerte sich, sie loszulassen. Kaygon zwinkerte ihm kurz zu, um zu bedeuten, dass Ashwarital sie ruhig behalten dürfe.

Ein Flüstern drang hinter dem Vorhang hervor, doch das Prasseln des Regens sorgte dafür, dass Kaygon nichts verstehen konnte. Erst als der Berater die Stimme erhob, konnte Kaygon etwas hören.

»Oberhaupt! Wacht auf!«

Das Oberhaupt muss wohl eingenickt sein, dachte Kaygon. Und Ryun, der sehen konnte, was hinter dem Vorhang passierte, beobachtete, wie sich eine Person aufrichtete. Erneut war Flüstern zu hören, danach wurde der Vorhang auseinandergeschoben.

Wie Ryun vermutet hatte, befand sich auf der anderen Seite eine Art Balkon. Tatsächlich handelte es sich um einen leicht vorspringenden Raum, der nach außen hin offen war. Nur wenige Säulen stützten die Decke, und obwohl es schien, als wäre der Raum den Witterungen vollständig ausgesetzt, war es doch nicht windig. Wahrscheinlich hatte man beim Bau darauf geachtet, eine Stelle mit nur wenig Zugluft auszuwählen. Und da auch der starke Regen keinen Weg zu ihnen fand, musste sich darüber so etwas wie ein Vordach befinden.

In der Mitte des Balkons stand ein Sessel, in dem eine kleine alte Dame saß. Ihr zierlicher Körper versank fast vollständig im Polster, und über ihrem Schoß lag eine Decke. Da sie den Kopf auf die Seite gedreht hatte, um den strömenden Regen zu beobachten, sahen Kaygon und Ryun nur ihren Hinterkopf.

Als sie sich ihnen zuwandte, erkannte die alte Frau zunächst nicht viel, da sie im erhellten Teil des Raumes saß. Trotzdem konnte sie Ashwarital, der in Ryuns Armen lag und mit der Dokebi-Flamme spielte, ausmachen.

Mit einer für eine ältere Person typischen brüchigen Stimme sagte sie: »Ein kleiner Drache. Es ist wirklich ein Drache.«

Ryun wusste nicht, wieso ihre Stimme so zitterte, doch er erhob sich, um der alten Dame entsprechend der Tradition der Nagas seinen Respekt zu erweisen. Aber dann erinnerte er sich, dass er eigentlich so tat, als wäre er ein Mensch, und hielt inne. Die alte Dame sprach erneut, und die Falten um ihre Augen schienen dabei noch tiefer zu werden: »Ja, kommt ruhig her. Ich würde euch gerne aus der Nähe sehen.«

Ryun warf Kaygon einen fragenden Blick zu. Kaygon erhob sich ebenfalls und ging zum Balkon, dicht gefolgt von Ryun, der Ashwarital im Arm hielt. Als sie vor den Stufen standen, sagte die alte Frau erneut: »Kommt nur!«

Sie stiegen zum Balkon hinauf und blickten auf die Frau hinunter, die ihrerseits Ashwarital bewundernd betrachtete. »Erstaunlich. Was für ein faszinierendes Geschöpf. Ich bin schon so lange am Leben, und trotzdem habe ich noch nie einen Drachen gesehen. Kaum zu glauben, dass es sie immer noch gibt.«

Als er die Reaktion der alten Dame sah, stahl sich ein sanftes Lächeln auf Ryuns immer noch verhülltes Gesicht. Aus der Nähe konnte er ihr fliehendes Kinn erkennen und bemerkte außerdem, dass sie keine Zähne mehr hatte. Vermutlich zog sie es deswegen vor zu flüstern, um ihre schlecht gewordene Aussprache zu verbergen. Auch ihre Haare, die auf dem Kopf zusammengebunden waren, hatten ihren Glanz längst verloren und erinnerten an ein Knäuel Spinnweben. Nur die Augen in der Mitte ihres faltigen Gesichts waren noch reich an Emotionen. Es war verblüffend, dass eine so alte Person noch dermaßen überfließende Gefühle besaß.

Die alte Dame richtete ihren Blick auf Ryun. »Warum verbirgst du dein Gesicht?«

»Ähm …, das liegt daran, dass ich so scheußlich aussehe«, erwiderte Ryun, der mit der Frage nicht gerechnet hatte.

»Oho. Du zwitscherst aber hübsch mit deiner Stimme. Nur kann ich nicht sagen, woher dein Akzent kommt. Trotzdem ist er mir nicht gänzlich fremd. Du sagst, dein Gesicht wäre scheußlich? Du musst verletzt worden sein, das tut mir leid. Aber wenn dir der Drache folgt, dann wirst du wohl gut und vor allem gütig sein. Es ist schon lange her, seit ein Drache gefunden wurde, also musst du dich sehr gut um ihn kümmern. Wie lautet dein Name?«

»Mein Name ist Ryun Pey.«

»Ein seltsamer Name für ein Mädchen. Ich bin Bonui. Wie die ältere Schwester der legendären Schönheit Nanui. Als mein Vater mir diesen grandiosen Namen gab, dachte er wohl nicht daran, dass seine niedliche Tochter einmal als hundertjähriges Weib enden würde. Also, bitte, vergiss den unangemessenen Namen und nenn mich einfach Oberhaupt.«

Ryun lächelte wieder, und auch Oberhaupt Bonui lächelte, ehe sie sich Kaygon zuwandte und dann den Kopf langsam von der einen auf die andere Seite neigte.

»Und du … Du wirkst so vertraut. Wie ein Junge, den ich früher kannte. Wie heißt du?«

Auch Ryun blickte zu Kaygon und bemerkte, dass er einen seltsamen Ausdruck im Gesicht hatte. Er schien gleichermaßen bedrückt und verängstigt. Es war das erste Mal, dass Ryun so viele Emotionen in Kaygons Gesicht sah, und es verwunderte ihn.

»Kaygon Draka«, sagte Kaygon schließlich leise.

Oberhaupt Bonui wiederholte den Namen einige Male. Dann richtete sie die Augen plötzlich schockiert auf Kaygon. Sie zitterte wie bei einem Krampfanfall, und der Berater, der bisher nur ausdruckslos neben ihr gestanden hatte, beugte sich zu ihr. »Oberhaupt?«

Oberhaupt Bonui starrte Kaygon geradewegs ins Gesicht, fast so, als hörte sie die Stimme des Beraters gar nicht. Unerwartet schrie sie auf: »Hinaus mit euch beiden!«

Ihre Stimme war so schroff, dass Ryun nur schwer glauben konnte, dass sie aus einem so kleinen, alten Körper kam.

»Hinaus mit euch!«, rief Bonui wieder, immer noch heftig in ihrem Sessel zitternd.

Kaygon drehte sich schweigend um und stieg die Stufen nach unten. Unschlüssig, was er tun sollte, folgte Ryun ihm.

»Schließ die Vorhänge!«, befahl Bonui dem Berater.

Der Berater tat, wie ihm geheißen. Ryun beobachtete, wie der Stoff vorgezogen wurde, dann blickte er zu Kaygon, der sich einen Stuhl heranzog. Er ließ sich darauf nieder und bedeutete Ryun, es ihm gleichzutun, also setzte auch Ryun sich hin. Ryun hatte so viele Fragen, die er Kaygon stellen wollte, doch so wie Kaygon dasaß, mit den Ellbogen auf den Tisch gestützt, die Stirn an die gefalteten Hände gelegt, wirkte er nicht so, als würde er Fragen beantworten wollen. Daher hielt Ryun Ashwarital fest an sich gedrückt und wartete nervös ab. Auch Ashwarital schien zu spüren, dass etwas nicht stimmte, denn er ließ von der Dokebi-Flamme ab und sank ruhig in Ryuns Schoß zusammen. Ryun griff nach der Flamme und legte sie auf den Tisch.

Es verging eine lange Zeit, bis die schwache Stimme des Oberhauptes wieder von der anderen Seite des Vorhangs zu hören war. »Es ist lange her, Kaygon.«

Ihre Stimme zitterte wieder heftig. Diesmal lag es jedoch nicht an ihrem Alter. Sie schien fassungslos zu sein.

Kaygon legte die gefalteten Hände auf den Tisch und blickte zum Vorhang. »Das ist es.«

»Warum hast du dich nicht angekündigt? Sollte dein Besuch eine Überraschung sein?«

»Nein. Ich dachte nicht, dass Ihr noch am Leben seid. Aber natürlich bin ich froh, dass es so ist.«

»Ah … ja. Ich lebe schon so lange. Hundert Jahre! Es war mein Fehler. Ich hätte es wissen müssen, als ich hörte, dass Reisende einen Drachen dabeihaben.«

»Was meint Ihr?«

»Es waren die Kuttenträger vom Berg Parem, die diese absurde Bitte an dich gerichtet haben, oder? Einen Drachen zu finden, meine ich. Und wie immer hast du deinen Auftrag ausgeführt.«

»Nein, so ist es nicht. Ryun hat den Drachen gefunden. Großmeister Jutagi bat mich lediglich darum, Ryun zum Großtempel Hainsha zu bringen und ihm als Lotse zu dienen.«

»Ist der Junge ein Drachenmensch? Gibt es auf dieser Welt überhaupt noch Drachenmenschen?«

»Ich denke nicht. Außer vielleicht in einem Seelenwandler. Ryun stieß zufällig auf die aufgeblühte Drachenblume.«

»Unglaublich.«

Danach verfiel das Oberhaupt wieder in Schweigen. Alles, was von hinter dem Vorhang hervordrang, war das Prasseln des Regens. Kaygon wartete.

Nachdem erneut eine lange Zeit vergangen war, fuhr das Oberhaupt Bonui fort: »Du bist der Lotse?«

»Ja, das bin ich.«

»Dann gibt es also auch einen Zauberer und einen Verteidiger? Es muss so sein, immerhin sehe ich die Dokebi-Flamme.«

»Sie sind hier, ja. Ein Dokebi und ein Lekon. Sie waren nur zu groß, um mitzukommen.«

»Zu dritt gegen einen … Der Junge, den du Ryun nennst, ist also ein Naga.«

Ryun blickte Kaygon mit vor Überraschung aufgerissenen Augen an, doch Kaygons Tonfall änderte sich kaum, als er bejahte.

»Nagas haben die schönsten Stimmen. Josbis Stimme war auch wunderschön.«

Als Josbis Name fiel, wäre Ryun beinahe von seinem Platz aufgesprungen. Wie gebannt richtete er den Blick auf Kaygon. Doch Kaygon starrte stur den Vorhang an und linste noch nicht einmal aus den Augenwinkeln zu Ryun hinüber. Daher konzentrierte sich Ryun wieder angestrengt auf sein Gehör und blickte ebenfalls zum Vorhang.

Oberhaupt Bonui fuhr fort: »Ich erinnere mich noch gut an die Zeit, als du Josbi das Singen beigebracht hast. Man kann wirklich nicht behaupten, dass Josbi musikalisches Talent besessen hätte. Nicht einmal dann, wenn man beide Augen zudrückt. Aber seine Stimme war so schön … Ich kann nicht für andere sprechen, aber ich habe es immer sehr genossen, ihn singen zu hören.«

Ryun konnte sich nicht mehr zurückhalten. »Oberhaupt, Ihr kennt meinen Vater?«

Kaygon drehte den Kopf zu Ryun, und die Stimme, die durch den Vorhang drang, klang irritiert. »Vater? Bist du etwa Josbis Tochter? Aber die Nagas kennen ihre Väter eigentlich nicht …«

Ryun spannte sich an. Er war fest davon überzeugt, Kaygon würde ihn zurückhalten, doch der tat nichts dergleichen. Er blickte Ryun nur schweigend an.

»Ich bin sein Sohn«, sagte Ryun zum Vorhang. »Und ich weiß, wer mein Vater ist. Aber, Oberhaupt, bitte. Kennt Ihr meinen Vater wirklich?«

»Sein Sohn! Wie erstaunlich. Ich weiß nicht, ob die Person, von der du sprichst, auch die ist, an die ich mich erinnere, aber ja, ich habe Josbi getroffen. Er hat einmal meine Festung besucht. Bis zu diesem Zeitpunkt habe ich nie etwas so Verrücktes und gleichzeitig so Mutiges erlebt. Er war so gut wie erfroren, als Kaygon ihn auf seinem Rücken hierhertrug. Ich dachte, er würde nicht überleben, doch Kaygon erklärte mir, dass Nagas nicht so schnell sterben. Da fällt mir auf, wenn ich dich so ansehe … Du wirkst gar nicht so, als hättest du ein Problem damit, hier zu sein. Haben die Nagas etwa gelernt, dem kalten Wetter zu trotzen?«

»Nein. Ein Dokebi hält meinen Körper mit einer Flamme warm, die nur Wärme spendet, kein Licht. Aber verzeiht, ich habe eine andere Frage. Wie war mein Vater so?«

»Du willst wissen, wie dein Vater war? Wieso redest du in der Vergangenheit von Josbi?«

Kaygon, der bei Oberhaupt Bonuis Frage leicht zusammenzuckte, blickte zu Ryun, der soeben mit Ashwarital in den Armen aufgestanden war. Er zerrte sich das Tuch vom Gesicht und erwiderte Kaygons Blick.

»Mein Vater ist tot«, beantwortete Ryun die Frage. »Es ist vor elf Jahren passiert, als ich elf Jahre alt war.«

Regen prasselte auf die Felsen nieder und zerstreute die Dunkelheit in alle Richtungen. So sah es zumindest in Samo Peys Augen aus.

Wasser verschlang Hitze. Die Naga stieß einen Seufzer aus, während sie dieser undurchsichtigen, fast beängstigenden Dunkelheit entgegenblickte. Als sie so neben dem Riesentiger Marunare stand, den Blick nach unten gerichtet, bemerkte Samo erst, wie durchnässt und aufgewühlt sie war. Sie wusste nicht, was sie fühlen sollte, als ihr Blick auf die Duokxinis fiel, die sich am Fuße des Berges, allerdings auf der anderen Seite des reißenden Stroms, befanden.

[Sie sind an den Städten der Menschen vorbeimarschiert.]

Schon in Schrados – eine Stadt, die von den Ungläubigen so genannt wurde, für Samo jedoch eine Menschenstadt wie jede andere war – hatte sie bemerkt, dass die Duokxinis ihr folgten. Doch sie hatten keine der Städte angegriffen, weder Zaboro noch Schrados. Unter den entsetzten Augen der Menschen waren die Duokxinis an ihnen vorbei- und weitergerannt. Samo wusste nicht, was sie davon halten sollte, doch sie beschloss, erleichtert zu sein. Es war nicht so, als hätte sie eine besondere Zuneigung für die Ungläubigen gehegt, nein. Doch wenn sie die Wahl zwischen den Duokxinis und den Menschen hatte, so tendierte sie zu den Letzteren. Der Große Expansionskrieg der Nagas gegen die Menschen war bereits vor dem Untergang der Kitalzer Jäger zu Ende gewesen, und die Nagas hatten ihn gewonnen. Nun, Hunderte Jahre später, empfand Samo den Menschen gegenüber keinen Hass mehr.

Ebenso schwer fiel es ihr allerdings, die Duokxinis zu hassen.

[Was ist so wichtig, dass ihr eure elende Gestalt so offen zeigt?]

Die Duokxinis antworteten nicht. Sie versuchten angestrengt, den reißenden Strom – der Fluss im Tal war aufgrund des Regens deutlich angestiegen – zu überqueren. Samo, die auf einem Felsen stand, der aus dem steilen Bergabhang hervorragte, beobachtete sie mitleidig. Die ersten Duokxinis waren ins Wasser gesprungen und von der Strömung mitgerissen worden, also verzichteten die anderen darauf, es ihnen nachzumachen. Die Lösung, die sie fanden, ließ Samo traurig lächeln.

Sie versuchten, den Fluss zu teilen, indem sie einen Weg durch das Wasser gruben. Immer wieder brüllten sie bedeutungslose Worte und wollten sich mit beiden Händen, oder, falls sie keine Hände hatten, mit ihrem Maul, durch das Wasser pflügen. Hätten sie es mit festem Boden zu tun gehabt, hätte ihr Plan vielleicht funktioniert. Doch natürlich blieb diese Methode in den Stromschnellen vollkommen wirkungslos. Die Duokxinis erkannten das ebenfalls und waren gleichermaßen verwundert und erzürnt.

Sie hörten jedoch nicht auf. Hunderte von ihnen strömten ans Flussufer, um mehr Wasser auszuschöpfen, während Hunderte weitere um sie herumliefen und mit sinnlos aneinandergereihten Worten einen großen Tumult veranstalteten. Die Duokxinis investierten unendlich viel Mühe in ein aussichtsloses Unterfangen. Es war ein Anblick, bei dem man nicht wusste, ob man lachen oder weinen sollte. In Samos Fall war es Trauer, die in ihr aufstieg. Das tragische Schicksal der Geschwister Samo und Ryun Pey, die durch das Shozain-te-Shiktol, das Recht auf Ernennung einer Attentäterin, aneinandergebunden waren, konnte mit dem erbärmlichen Anblick der Duokxinis nicht mithalten.

So öffnete Samo ihren Geist und entsandte ein Nirm: [Bitte, hört auf damit!]

Die Duokxinis reagierten nicht. Und plötzlich wurde es Samo klar. Im Gegensatz zur Schlange aus Körperresten, die Samos Nirm verstanden hatte, waren diese Duokxinis dazu nicht in der Lage. Samo packte Marunare fest an der Mähne und übermittelte ihm eine Idee.

Der Riesentiger brüllte.

Die Berge erzitterten unter dem Schrei der Bestie. Und Samo erhielt das gewünschte Ergebnis: Die Duokxinis hörten auf, den Fluss leerschöpfen zu wollen, und blickten hinauf zu dem Felsen, auf dem Samo stand.

Samo schrie, so laut sie konnte: »Hört auf! Bitte! Seht ihr denn nicht, dass das nichts nützt?«

Im strömenden Regen blickten die Duokxinis stumm zu ihr empor. Samo hörte ihre eigene Stimme als Echo zu ihr zurückkehren.

Die Duokxinis, die Samo bislang nur schweigend angeblickt hatten, fingen plötzlich ihrerseits an zu schreien: »Specht Algenwurzelsalat? Blau riecht wie Dreieck!«

»Nieser in der Farbe springender Hasen, wirf drei Paare rüber!«

Danach begannen die Duokxinis erneut, diesmal jedoch deutlich eiliger, sich durch den Fluss zu graben. Samo wandte den Blick von der deprimierenden Szene ab. Sie vergrub ihre rechte Hand in Marunares Mähne und wandte den Duokxinis den Rücken zu. So blieb sie für lange Zeit stehen.

»Hast du gerade gesagt, dass Josbi tot ist?«

Ryun nickte, und Kaygon fragte erneut: »Seit elf Jahren?«

»Ja.«

»Wie … Wie?!«, schrie Kaygon und schlug mit beiden Fäusten fest auf den Tisch. Die metallenen Seiten des Großen Tarifbuchs vibrierten, und der Stapel Dokebi-Papier glitt auseinander und verteilte sich auf dem Tisch. Ryun blickte Kaygon verwundert an, überrascht von dessen heftigem Gefühlsausbruch.

»Wie kann ein Naga in seinem Alter sterben? Haben eure Frauen ihn verbrannt?«

»Es war eine Herzzerstörung.«

»Haben eure Hüter ihn getötet?«

Ryun wollte antworten, doch er bemerkte Kaygons seltsamen Tonfall – und begriff erst danach die Bedeutung seiner Worte. Kaygon hatte nicht gefragt, was die Herzzerstörung war. Natürlich kannte Kaygon die Nagas sehr gut, trotzdem war es nur schwer vorstellbar, dass er wusste, was das war. Nicht einmal die Nagas selbst wussten es genau. Ryun war so erschrocken, dass ihm leicht schwindlig wurde.

»Wie … Aber … Woher? Woher weißt du von der Herzzerstörung?«

»Verdammt, beantworte meine Frage! Haben die Hüter Josbi getötet?«

»Sogar … Sogar unter uns Nagas ist es ein Geheimnis …«

»Jetzt sag schon!«

»Ja!«, schrie Ryun endlich und spürte dabei, wie sich alle Schuppen seines Körpers auf einmal sträubten. Sein Umhang zitterte wie ein sterbendes Tier. Ashwarital flüchtete überrascht aus Ryuns Armen, doch der kümmerte sich nicht darum. »Ja, die Hüter haben meinen Vater getötet! Diejenigen, die den Nagas die Unsterblichkeit verleihen, brachten ihm den Tod! Diejenigen, die den Tod fernhalten sollen, sind schuld an dem seinen!«

Kaygons Gesicht war zu Stein erstarrt. Genau diesem Gesicht brüllte Ryun nun entgegen: »Vielleicht haben sie sein Herz ja mit einem erlesenen Mörser auf ihrem heiligen Altar zerstoßen? Oder vielleicht haben sie es auch nur auf den Boden geworfen und zertreten, darauf bedacht, sich nicht die Füße schmutzig zu machen? Verdammt, ja, sie waren es! Die Hüter haben meinen Vater getötet! Deswegen habe ich mich geweigert, ebenfalls Hüter zu werden oder mir das Herz entnehmen zu lassen. Mein Vater, der vor meinen eigenen Augen gestorben ist …«

»Genug!«

»Was?«

»Ich sagte, es reicht. Ich wollte nur wissen, ob Josbi tot ist. Ich habe nicht nach deiner Lebensgeschichte gefragt.«

Ryuns Schuppen sträubten sich erneut.

Kaygon interessierte sich nicht für Ryuns Gefühle, und er wollte auch seinen Schmerz über Josbis Tod nicht teilen. Kaygon hatte keinerlei Interesse an Ryun. Doch Ryun stand unter Kaygons Schutz. Kaygon würde alles in seiner Macht Stehende tun, um Ryun zum Großtempel Hainsha zu bringen. Das hatte Kaygon so beschlossen.

Ryun lehnte sich gegen den Tisch und spürte, ganz unbewusst, wie etwas seine Hand berührte. Als er erkannte, dass es Dokebi-Papier war, breitete sich blankes Entsetzen auf seinem Gesicht aus, und er schlug es eilig mit der Hand von sich. Die weißen Papiere, hergestellt aus zerkleinertem Holz, flatterten durch die Luft. Es war ein grauenvoller Anblick.

Ryun stieß einen genirmten Schrei aus, dann stürmte er aus dem Raum. Kaygon machte Anstalten aufzustehen, doch dann sah er, wie Ashwarital noch einen Moment in der Luft kreiste und Ryun anschließend folgte. Also ließ Kaygon sich wieder zurücksinken.

Eine dünne Stimme erklang, die vom Rauschen des Regens fast übertönt wurde: Ich mag das nicht.

Kaygon drehte sich langsam zum Vorhang. »Was mögt Ihr nicht?«

Du bist kaum gealtert.

»Ich war doch immer schon so.«

Darum geht es nicht. Alt und Jung sind gleich. Das gleiche Gesicht.

Kaygon verstand, was Oberhaupt Bonui meinte, und schwieg. Sie fuhr in der Sprache der Arasit fort: Ich nehme es dir nicht übel. Einsamkeit war oft der einzige Freund einer alten Dame wie mir. Doch nun, da ich dich wiedersehe, scheinen die Tage meiner Jugend gar nicht so fern.

»Ich erinnere mich ebenfalls.«

Auf der anderen Seite des Vorhangs wurde es wieder still. Kaygon wartete, während er dem Prasseln der Regentropfen lauschte.

Ein Leben allein, wie strömendes Wasser. Ich habe immer alles hinausgezögert, und dann bin ich zu alt geworden. Es ist sinnlos, den vergangenen Tagen nachzutrauern.

»Ihr seid ein großes Oberhaupt, damals wie heute.«

Durch das Rauschen des Regens war ein Lachen zu hören, das eher an ein Seufzen erinnerte. Ein Flüstern folgte Sekunden später, doch Kaygon verstand die Worte nicht.

Komm näher, flüsterte Oberhaupt Bonui erneut, Du wunderschöne Bestie.

Kaygon erhob sich von seinem Platz und trat an den Vorhang heran. Dieser wurde aber nicht zur Seite geschoben, also blieb Kaygon stehen und wartete. Schließlich bewegte sich ein Teil des Stoffes, und eine Hand erschien.

Die Hand zitterte, als sie näher kam und Kaygons Gesicht berührte. Kurz zuckte sie zurück, doch dann begann sie, behutsam über Kaygons Wange zu streicheln.

Kaygon schloss die Augen und verharrte in dieser Position.

Nachdem Oberhaupt Bonui wieder eingeschlafen war, kehrte der Berater zurück. Er achtete sorgfältig darauf, dass Kaygon nicht auf die andere Seite des Vorhangs blicken konnte, als er hervortrat, doch da Kaygon ohnehin in die andere Richtung sah, war die Vorsichtsmaßnahme überflüssig.

Kaygon setzte sich wieder und legte die gefalteten Hände an die Stirn. Der Berater trat an ihn heran und sagte mit gedämpfter Stimme: »Zehn Silberlinge.«

Kaygon hob langsam den Blick.

»Die Gebühr für einen Naga beträgt zehn Silberlinge. Für einen Menschen ebenso.«

»Was ist mit dem Drachen?«

»Der Drache kann gebührenfrei passieren, da er die Straße ohnehin nicht nutzen wird.«

Kaygon stand auf und verbeugte sich vor dem Berater. Als er sich zum Gehen wenden wollte, richtete der Mann erneut das Wort an ihn. »Ihr seid ebenfalls befreit.«

Kaygon hielt inne und blickte den Berater an, der einen Pinsel aufnahm und etwas auf ein Blatt Dokebi-Papier schrieb. Eine Gebührenbefreiung für Kaygon. Es dauerte einige Momente, bis die Tinte getrocknet war, danach versah der Berater das Dokument mit seinem Siegel und reichte es Kaygon.

»Zeigt dieses Dokument unten vor. Und verwahrt es gut, damit Ihr es auch das nächste Mal nutzen könnt, wenn Ihr auf der Durchreise seid.«

»Die Gilde der Siguriat-Zollstraße ist nicht dafür bekannt, so großzügig zu sein«, erwiderte Kaygon direkt.

»Natürlich nicht. Wir machen keine Ausnahmen und ändern auch die Regeln nicht willkürlich. Wir gehen immer streng nach dem Großen Tarifbuch vor.«

»Warum werden mir dann die Gebühren erlassen?«

Mit viel Mühe blätterte der Berater durch die metallenen Seiten des Großen Tarifbuchs, dann wies er auf einen bestimmten Abschnitt hin. Kaygon las ihn leise für sich, nickte und sagte dann: »Ihr wusstet es also.«

»Natürlich.«

Kaygon sah den Berater abwartend an. Der Mann erwiderte den Blick mit sanften Augen, schüttelte allerdings den Kopf, als Kaygon etwas sagen wollte. Kaygon schloss den Mund wieder. Der Berater sammelte schließlich das Papier, den Pinsel und den Tintenstein auf und sagte, ohne Kaygon noch einmal anzusehen: »Ihr könnt jetzt gehen.«

Daraufhin nahm Kaygon die Dokebi-Flamme an sich und verließ den Raum.

Allein stieg er die lange Treppe wieder nach unten. Dabei waren es nicht die Gedanken an Josbis Tod, von dem er erst elf Jahre später erfahren hatte, oder das unerwartete Wiedersehen mit Oberhaupt Bonui und ihrem Berater, der von Kaygon wusste, aber nichts gesagt hatte, die ihm durch den Kopf gingen. Er überlegte stattdessen, ob sie nicht in der Festung bleiben und ein Quartier mieten sollten, denn der Regen schien nicht nachlassen zu wollen. Und gleichzeitig dachte er darüber nach, wie ihre Reise weitergehen würde, sobald sie die Berge hinter sich gelassen hatten.

Denn er, Kaygon Draka, war der Lotse.

Auf einmal bemerkte Kaygon, dass seine Hände ein wenig schmerzten. Er hob die rechte Hand vor seine Augen. Sie war so fest zur Faust geballt, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten und er die Abdrücke seiner Fingernägel in seiner Handfläche erkennen konnte, als er sie wieder öffnete. An manchen Stellen waren kleine Blutstropfen hervorgetreten. Kaygon starrte seine verletzte Hand ausdruckslos an, dann leckte er das Blut ab und setzte seinen Weg nach unten fort.

Als Kaygon die Zollstelle erreichte, entdeckte er zuerst Tinahan, der halb ohnmächtig auf dem Boden lag, nachdem er zu viel Arkhi getrunken hatte. Bihyung, ebenfalls betrunken, hing im Fenster der Zollstelle und erzählte Nanui allerlei Unsinn. »Für dich kostet es nur einen Silberling, weil du eine Schönheit bist! Oha?! Was meinst du? Du trägst nur den Namen der legendären Schönheit?«