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Wie findet unser rastlos arbeitendes Gehirn zu mehr Fokus und Gelassenheit? Welche positiven Einflüsse können künstlerische und handwerkliche Betätigungen auf unser Wohlbefinden ausüben? Und gibt es Übungen und Methoden, die Glücksmomente in uns auslösen und zu mehr Gelassenheit, zu spürbarer Stressreduktion führen? Ja, sagt die Neurowissenschaftlerin und Bestsellerautorin Dr. Julia F. Christensen. Ihr Buch ist gespickt mit neuesten neurowissenschaftlichen Erkenntnissen und praktischen Übungen, die unser Gehirn ausgeglichener und produktiver machen – und negative Gedankenspiralen, sinnlose Grübeleien, Sorgen und Ängste verbannen. Durch kreative Betätigungen werden Gehirnsysteme aktiviert, die wohltuende Prozesse in Körper und Seele anregen. Seit jeher tanzen Menschen, musizieren und erzählen sich Geschichten – und regulieren dadurch mühelos ihre Herzrate, ihren Hormonspiegel, ihr Immunsystem und ihre Stimmung. Julia F. Christensen präsentiert neueste Studien zu diesem Forschungszweig. Das Flow-Geheimnis ist: Einfach loslegen, aber gewusst wie! Sehr wichtig ist es dabei, dem Perfektionismus zu entkommen und nicht zu versuchen, wie ein Profi zu agieren. Folgen Sie dem Flow-Kompass und entdecken Sie in sich die Ruhe selbst.
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Der Flow-Kompass
Dr. Julia F. Christensen ist eine dänische Psychologin und Neurowissenschaftlerin, Rednerin und ehemalige Profi-Balletttänzerin. Seit 2019 forscht und arbeitet sie am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik in Frankfurt am Main. Davor arbeitete Dr. Christensen zum Thema Tanz und Gehirnam renommierten Warburg-Institut für Kulturgeschichte in London, an der City, University of London (mit einem Newton International Research Fellowship von der Britischen Akademie der Wissenschaften), und am University College London. 2018 veröffentlichte sie gemeinsam mit Dong-Seon Chang den Sachbuch-Bestseller Tanzen ist die beste Medizin.
Ob beim Spielen eines Instruments, beim Kochen, Zeichnen, Tanzen oder Basteln – wenn wir »im Flow« sind, fühlen wir uns besser. Und die Forschung zeigt, dass schon 15 Minuten Kreativität pro Tag unser Leben positiv verändern können. Durch kreative Betätigungen werden Gehirnsysteme aktiviert, die wohltuende Prozesse in Körper und Geist anregen. Seit jeher tanzen Menschen, musizieren und erzählen sich Geschichten – und regulieren dadurch mühelos ihre Herzrate, ihren Hormonspiegel, ihr Immunsystem und ihre Stimmung. Julia F. Christensen präsentiert neueste Studien und inspirierende Geschichten zu diesem Forschungszweig. Das Flow-Geheimnis ist: Einfach loslegen, aber gewusst wie!Sehr wichtig ist es dabei, dem Perfektionismus zu entkommen und nicht zu versuchen, wie ein Profi zu agieren. Wenn wir dem Flow-Kompass folgen, entdecken wir die Ruhe in uns selbst.
Julia F. Christensen
Ein wissenschaftlicher Wegweiser zu mehr Gelassenheit und Glücksmomenten
Aus dem Englischen von Anne Flückiger und Sebastian Vogel
Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de
Die englische Originalausgabe erschien erstmals 2024 unter dem Titel Pathway to Flow. The New Science of Harnessing Creativity to Heal and Unwind the Body & Mind bei Square Peg, einem Verlag der Penguin Random House UK. © 2024 der deutschen Ausgabe: Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin© 2024 by Julia F. ChristensenAlle Rechte vorbehalten.Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.Covergestaltung: semper smile, MünchenFoto der Autorin: © Hans Scherhaufer
E-Book powered by pepyrusISBN: 978-3-8437-3185-0
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Titelei
Das Buch
Titelseite
Impressum
Vorbemerkung
Einleitung: Warum sich unsere Gedanken im Kreis drehen – neu erforscht
TEIL 1Der unruhige GeistDie Neurowissenschaft hinter Gewohnheiten und Grübeln
Kapitel 1Hab-Acht!-samkeit
Dein Körperorchester
Goldene Fäden: Wie Gehirn und Körper verbunden sind
Denk drüber nach
Gedankenkontrolle
Unterdrückung
Vermeiden
Ablenkung
Dein Arbeitsspeicher
Kapitel 2 Fallstricke des Geistes
Fluten von negativen Gedanken
Die zwei Nervensysteme der Entscheidungssteuerung
Drei Dinge, an denen dein Geist sich aufhängt
Der erste Fallstrick: Konkurrenzkampf
Der zweite Fallstrick: Das Streben nach hohlem Vergnügen
Der dritte Fallstrick: Nervenkitzel und Risikolust
Kapitel 3Das Ballett der rosaroten Elefanten
Belohnungen, Gewohnheiten, Zwänge und Sucht
Spaßsucht
Die Gewohnheitsschleife
Die Wissenschaft des Grübelns
Psychische Gesundheit
Meister der Selbsttäuschung
»Vergnügenplus«-Verhaltensweisen
Kapitel 4Das Stachelschwein-Dilemma
Das soziale Gehirn
Der Trauma-Abdruck in unserem Gehirn
Deine Auslöser erkennen
Die Macht der Kunst, unser soziales Gehirn zu beruhigen
Kapitel 5Wie und wann man Grenzen setzt
Grenzen für deine Sinne
Grenzen im Job
Den Menschen in deinem Leben Grenzen setzen
Schlüpfe in deinen Zufriedenheitskokon
TEIL 2Den Kreislauf durchbrechenLösungen für das Problem des ruhelosen Geistes Der Ausgangspunkt: unser Gehirn Das Mittel: Kunst und Kreativität
Kapitel 6Erweiterung des Geistes: Ruf deine Gefühle durch dein Tun hervor
Wie Gefühle gemacht werden
Ein anderes Erleben schaffen
Gesunder Ausdruck
Kapitel 7Sechs Strategien, um sich zu entspannen
Strategie 1: »Koche es dir zurecht«: Situationsauswahl und -veränderung
Strategie 2: »Expecto Patronum!«: Strategien der Aufmerksamkeitslenkung
Strategie 3: Betrachte es aus einem neuen Blickwinkel – Problemlösung
Strategie 4: »Suche nach dem Silberstreif« – kognitive Veränderung
Strategie 5: »Sei ein Chamäleon«: Reaktionsveränderung
Strategie 6: »Mit Gold einfassen« – kognitive Umstrukturierung
Kombiniere nach Herzenslust
Kapitel 8Fortschreiten statt Fortschritt: Wie wir eine neue Fertigkeit erlernen
Babyschritte
Alles ist Bewegung
Sei die Bewegung, statt sie auszuführen!
Nutze deine Fantasie, um neue Fertigkeiten zu lernen
Ein überraschender Lernfaktor: Die neuronalen Wahrnehmungs-Handlungs-Kopplungen
Fließen
Stell dich den Hindernissen auf dem Weg zum Fortschritt
Kapitel 9Moderne Probleme, alte Lösungen?
Erste Anzeichen für symbolisches Denken
Kunstverbot
Kapitel 10Auf die Plätze, fertig, Flow
Die acht Prinzipien des Flow
Sieben Sterne und der Kompass zum Flow
Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne
Ganz einfach anfangen
Und jetzt: drei Schritte
Der Kreislauf des Phönix
Fazit: Kunst ist wichtig
Kann man Kunst wissenschaftlich erforschen?
Danksagung
Anhang
Anmerkungen
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Vorbemerkung
Für meine Eltern
Ein kleiner Hinweis, bevor wir loslegen: Das Gehirn und wie es mit dem Körper, unserem Verhalten und unserer Umwelt verknüpft ist, ist sehr komplex. Es ist ein System im anderen, alle sind miteinander verbunden, greifen ineinander, können sich wieder loskoppeln und auch mal gegenseitig blockieren. Über die genauen Vorgänge gibt es Tausende wissenschaftliche Arbeiten – und sehr vieles wissen wir auch einfach noch gar nicht. Auf das alles hier genauer einzugehen würde dieses Buch sprengen und wäre auch nicht sehr spannend. Deshalb gebe ich mein Bestes, mich für diese praktische Anleitung nicht zu sehr am wissenschaftlichen Jargon zu bedienen. Ich gebe kurze und bündige Informationen statt langer Abhandlungen. Das bedeutet aber natürlich, dass meine Kolleginnen und Kollegen aus der Wissenschaft die genauen Details und die Terminologie ungenau finden werden. Ich hoffe, es wird mir verziehen, aber ich will verschiedene Wege zum Flow so beleuchten, dass es für möglichst viele Leserinnen und Leser praktisch, leicht zu merken und nützlich ist.
Dieses Buch ersetzt keine medizinische oder therapeutische Behandlung, und es ist wichtig, im Kopf zu behalten, dass dieses Forschungsfeld noch in den Kinderschuhen steckt. Falls du unter großer psychischer Belastung stehst oder an medizinischen oder psychischen Problemen leidest, solltest du mit deinem Arzt, deiner Ärztin oder einem Psychotherapeuten bzw. einer Psychotherapeutin sprechen und deren Rat befolgen.
Dass du dieses Buch in den Händen hältst, ist eins dieser verrückten Beispiele dafür, wie uns das Leben manchmal in unvorhersehbare Richtungen katapultiert. Ich bin eine ehemalige Profi-Tanzschülerin aus Dänemark, die in Frankreich, Spanien und Großbritannien zur Neurowissenschaftlerin wurde. Als mir eine ernste Rückenverletzung vor Jahren jede Aussicht auf eine Tanzkarriere zunichtemachte, musste ich mein Leben komplett neu aufgleisen. Ich möchte hier aber kein Salz in die Wunde streuen, sondern lieber erzählen, wie ich mit dieser schwierigen Zeit fertigwurde.
Kurz nachdem ich meine Spitzenschuhe an den Nagel gehängt hatte, musste ich feststellen, dass ich meine Gedanken nur schwer stillhalten konnte und dieses Gefühl der Verbindung und des Ausdrucks vermisste, das mir das Tanzen gegeben hatte – immer wieder, ohne dass es mir bewusst gewesen war. Also beschloss ich, eine wissenschaftliche Karriere in Angriff zu nehmen, um herauszufinden, was wir eigentlich über unser Gehirn wissen, und um dieses Gefühl besser zu verstehen. Als kreatives Ventil begann ich, zu zeichnen und zu schreiben, und das wurde zu meinem Mittel gegen die Rastlosigkeit. In diesem Buch möchte ich erzählen, wie ich einen eigenen, neuen Weg zum Flow gefunden habe, und wie auch dein Kompass dich dahin führen kann.
Möchtest du eine ruhige, ausgeglichene Konzentration erreichen, einen Zustand, in dem du ganz und gar absorbiert und produktiv bist, mühelos und wann immer du es benötigst? Dann ist dieses Buch für dich. Es vermittelt dir einen Überblick über die wissenschaftlichen Erkenntnisse, mit denen auch du diesen Flow-Zustand erreichen kannst. Erinnerst du dich, wie du als Kind stundenlang gemalt hast, selig versunken? Das ist Flow. Oder auch, wie du dich in einem guten Buch verlieren kannst oder gedankenlos und unbeschwert bist beim Joggen, Tanzen, im Kampfkunst- oder Yogatraining, beim Musikmachen oder wenn du beim Kochen dein Lieblingsalbum hörst? Was auch immer es für dich ist, das ist deine Me-time. Auf diese Weise absorbiert, merkst du vielleicht nicht einmal, wie die Zeit vergeht, und vergisst möglicherweise sogar diesen einen dringenden Punkt auf deiner To-do-Liste, den du unbedingt noch vor dem Wochenende erledigen wolltest. Das ist die Macht des Flow-Zustandes – überwältigend, beruhigend und völlig befreiend!
Der verstorbene ungarische Wissenschaftler Mihaly Csikszentmihalyi, von dem dieses Konzept ursprünglich stammt1, bezeichnet Flow als einen sehr schätzenswerten, angenehmen Zustand physischer und geistiger Erholung und Entspannung, welcher das Gehirn auf einzigartige Art und Weise aktiviert. Dieser Zustand kann sich einstellen, wenn wir lesen2, völlig in eine Geschichte abtauchen34, wenn wir Musik hören oder Musik machen56, tanzen7, fotografieren, Kunst schaffen, einen Film machen oder uns ein Hörbuch anhören. Seit Jahrhunderten, wenn nicht Jahrtausenden, berichten Künstlerinnen und Künstler über die Vorteile dieses tranceartigen Zustandes, und jetzt tauchen auch erste Forschungsresultate auf, dass regelmäßiger Flow möglicherweise mit besserer Gesundheit zusammenhängt – nicht zuletzt, weil es unserem Geist zuverlässig eine Auszeit verschafft.
Es gibt aber viele Gründe, die es schwierig machen, diese Konzentration zu erreichen. Zum Beispiel, dass wir in einer sich rasant entwickelnden modernen Welt leben, das Betriebssystem unseres Gehirns aber etwa 300.000 Jahre alt ist und über keinen USB-Anschluss verfügt, um Updates für die moderne Welt zu installieren. Wir können nur so viel wie möglich darüber lernen, wie es funktioniert und wie wir damit arbeiten können – und dafür ist dieses Buch da.
Unser Gehirn ist in einer harten prähistorischen Welt entstanden und hat sich entwickelt, um möglichst sensibel eventuelle Gefahren und Vergnügungsmöglichkeiten wahrzunehmen – dieser Radar hat uns am Leben erhalten. In der heutigen Welt sind wir aber ständig und immer irgendwelchen Reizen ausgesetzt. Unsere Umwelt wimmelt nur so von Signalen, die uns Vergnügen versprechen, und wir leben in einer großen, stark vernetzten Gesellschaft, in der uns Konflikte und Gefahren (egal, ob echt oder eingebildet) quasi im Minutentakt begegnen, sowohl im echten Leben als auch auf unseren allgegenwärtigen Bildschirmen. Egal, ob unser Gehirn uns befiehlt, uns möglichst schnell einer Futterquelle, Sex oder einer Benachrichtigung auf dem Handy zuzuwenden oder sofort zu kämpfen, zu flüchten oder zu erstarren, neurobiologische Prozesse lösen einen Zustand der erhöhten Alarmbereitschaft im Körper aus. Das wiederum aktiviert die Gedächtnissysteme in unserem Gehirn, welche Informationen über frühere Erfahrungen hervorholen. Diese Systeme haben sich entwickelt, um uns zu beschützen, indem sie uns Informationen über frühere Gefahren- oder Belohnungsquellen schnell ausspielen, aber tatsächlich holen sie heute eher schlechte Erinnerungen, Ängste, Sorgen und Ablenkungen hervor.
Wenn all diese negativen Gedanken hochkommen und wir nicht wissen, wie wir unserem Körper helfen können, wieder ins Gleichgewicht zu finden, kann unser Geist in eine Grübelspirale geraten. Die gute Nachricht: Genau dieser Mechanismus ist auch der Schlüssel, um unseren Geist zu befreien und positive Gedanken zu bilden. Wir können unseren Körper in einen Entspannungs- und Gelassenheitszustand führen, der in unserem Gehirn ruhige, freudige und positive Erinnerungen aktiviert.
Wissen über unser Sondereditions-Gehirn in unserer Werkzeugkiste stattet uns im Alltag mit einfachen Strategien aus, um uns zu entspannen, Probleme zu lösen und Verhaltensweisen zu vermeiden, die uns das Gefühl geben, unser Potenzial nicht auszuschöpfen. Und damit können wir uns unseren Weg zum Flow-Zustand bahnen.
Heute erforsche ich als Wissenschaftlerin die Zusammenhänge zwischen Kunst, Kreativität und dem Gehirn, aktuell am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik in Frankfurt am Main. Und was machen wir in der Wissenschaft? Experimente. Also fangen wir doch gleich mal mit einem kleinen Experiment an:
Stell dir einen rosaroten Elefanten vor. Male ihn dir so richtig aus, sieh ihn vor deinem inneren Auge tanzen …
Hast du ihn vor dir?
Gut.
Und jetzt versuche bitte, sechzig Sekunden lang nicht an diesen rosaroten Elefanten zu denken.
Na los, versuch es.
Hast du es geschafft? Oder nicht?
Eins will ich verraten – wenn du es nicht geschafft hast, bist du damit nicht allein. Es ist sogar quasi unmöglich. Du kannst gar nicht aufhören, daran zu denken.
Warum nicht? Weil wir niemals nicht denken. Tatsächlich will unser Geist ständig etwas zu denken haben. Wir können unsere Gedanken nicht loswerden, indem wir beschließen, sie nicht mehr zu denken. Das ist kein Zeichen für fehlende Willenskraft, sondern eine ganz grundlegende Ausstattung unseres Gehirns. Solange das Gehirn lebt, ist es mit Eindrücken aus unserer Umwelt beschäftigt, mit Sinneswahrnehmungen von unserem Körper und mit Gedanken in unserem Kopf. Diesen Prozess können wir nicht stoppen, und evolutionär gesehen ist er auch vollkommen notwendig.
Die Neurowissenschaft hat gezeigt, dass es in unserem Gehirn Systeme gibt, welche blitzschnell und automatisch arbeiten und die dafür sorgen, dass wir das Gehirn nicht mit unserem Bewusstsein, unserem Willen anhalten können. Der Grund dafür scheint zu sein, dass uns das schaden würde. Stell dir vor, dein Gehirn würde plötzlich aufhören, alles zu verarbeiten, oder würde sich plötzlich und ohne Vorwarnung leeren. Katastrophal. Also keine Sorge, wenn es dir noch nie gelungen ist, deine Gedanken zu leeren – so wie man den Stöpsel der Badewanne zieht, wie es im Meditationsunterricht so schön heißt. Es bedeutet schlicht, dass dein Gehirn wie vorgesehen funktioniert.
Aber was, wenn unsere Gedanken zum mahlenden Folterwerkzeug werden, uns stressen, den Schlaf und den Frieden rauben und selbst Achtsamkeit und Meditation nichts mehr helfen? Was können wir tun, wenn wir uns auf nichts mehr konzentrieren können? Wir haben ungefähr 4000 Wochen auf der Erde, sagt Oliver Burkeman in seinem gleichnamigen Bestseller. Wie wollen wir sie verbringen? Grübelnd?
Meine Verwandlung von einer Tänzerin zur Wissenschaftlerin trimmte meinen neugierigen Geist darauf, neue Lösungen für altbekannte Probleme zu finden und daraus etwas zu machen, was wir anwenden können, um in unserem Gehirn und im Leben glücklicher und produktiver zu sein. Ich bin überzeugt, dass wir genau wie beim Kintsugi (金継ぎ, »goldene Verbindung«), dem japanischen Kunsthandwerk, bei welchem aus zerbrochener Keramik etwas schönes Neues entsteht, aus unserer Rolle in unserer persönlichen Tragödie ausbrechen können, indem wir unsere Ecken und Kanten mit golddurchsetztem Lack zusammenfügen – mit kreativer Energie. Wer du auch bist, ob es ein lebensveränderndes Trauma ist, das deine Gedanken außer Kontrolle geraten lässt, oder »nur« alltägliche Sorgen, ich bin überzeugt, dass wir unseren Gedanken und Handlungen Schönheit und wertvolle kreative Energie geben und uns selbst dadurch heilen können. Zahlreiche Künstlerinnen und Künstler verarbeiten mit ihrem Schaffen traumatische Kindheitserlebnisse, Neurodiversität, psychische oder Identitätsprobleme und so weiter. Genau wie unsere Vorfahren, die sich von Natur aus der Kunst zuwandten, um mit einer harten Welt fertigzuwerden, so viel härter als diejenige, in der die meisten von uns heute leben.
Meine eigenen vergeblichen Versuche, kreisende unproduktive Gedanken im Zaum zu halten, ließen mich wissenschaftliche Erkenntnisse aus der ganzen Welt erforschen, um herauszufinden, warum Flow so schwierig zu erreichen ist, warum Achtsamkeitsmeditation nicht für alle Menschen funktioniert und vor allem, um eine Alternative zu finden für all diejenigen, deren Geist wie meiner andauernd überfüllt ist. Dabei habe ich herausgefunden, dass in der modernen Neurowissenschaft die Erklärung liegt, warum so viele von uns damit kämpfen und warum das nicht nur eine Willensfrage ist. Außerdem habe ich eine wissenschaftlich erklärbare, zuverlässige Abkürzung gefunden, mit der wir den flüchtigen Zustand der friedlichen Konzentration jederzeit erreichen können. Gönnen wir uns eine regelmäßige kreative Freizeitaktivität, sei das nun tanzen, malen, nähen, kochen, zeichnen, Gitarre spielen oder Schmuck basteln, aktiviert das Systeme in unserem Gehirn, die uns ein umfassendes Gefühl der Ruhe und Gelassenheit geben. Regelmäßig ausgeübt, kann das tiefschürfend verändern, wie wir arbeiten, denken und uns fühlen, und unsere Konzentration, Produktivität und unsere Geduld verbessern.
Aber dazu musst du wissen, wie.
Als Kompass auf deinem persönlichen Weg zum Flow und um dir die ersten Schritte auf diesem Weg zu erleichtern, werde ich dir zeigen, wie du Prompts, also konstruktive Anreger und Auslöser, für deine Nervenbahnen nutzen kannst (Kapitel 8).
Es gibt jede Menge Forschung zu diesen ständigen Gedanken, die unseren Geist besiedeln und uns die Konzentration, den Schlaf und den Frieden rauben. Leider schlummert das Wissen über diese ungebetenen Gedanken, warum wir sie haben und was wir dagegen tun können, in wissenschaftlichen Publikationen, verborgen hinter einer Mauer aus wissenschaftlichem Jargon.
Mit diesem Buch möchte ich dieses Wissen für dich übersetzen und dir eine Alternative bieten zum ständigen Grübeln und dem Frust von ewigen Gedankenspiralen, die du nicht unterbrechen kannst. Mithilfe hochaktueller neurowissenschaftlicher Forschung und einem genauen Blick auf die künstlerischen Impulse, denen sich der Mensch schon immer hingegeben hat, lernen wir, unsere herumirrenden Gedanken zu gesunden, friedlichen und nachhaltigen Gedankenmustern zu begleiten, um ruhiger und produktiver zu werden – und auf andere Menschen sympathischer zu wirken. Regelmäßige kreative Beschäftigung konditioniert den Geist, den Flow leichter zu finden, und ermöglicht es uns, uns den Weg dahin sogar dann zu bahnen, wenn wir gerade keinen Pinsel in der Hand halten. Du brauchst lediglich ein Element deines kreativen Hobbys zu sehen, zu hören, zu riechen, zu schmecken oder zu spüren, und schon fließt dein Geist, und hinterher tauchst du erfrischt und voller Energie wieder auf. Das hier ist eine leicht lesbare wissenschaftsbasierte Anleitung mit wirklich umsetzbaren Ratschlägen. Für mich hat es funktioniert, und ich hoffe, dass mindestens Teile davon auch dir helfen.
Zu verstehen gilt es den wichtigen Punkt, dass unser Körper ein System aus vielen miteinander verknüpften Organen, Gewebe und Nervenbahnen ist. Meistens bilden sich unsere Gedanken nicht bewusst, aber es gibt neurokognitive Prozesse, durch die sie mit den Abläufen im Körper verbunden sind. Wir bemerken das, wenn unser Gehirn eine Belohnung oder eine Gefahr entdeckt oder uns befiehlt, uns zu bewegen.
Uns einen zuverlässigen Weg zum Flow zu bahnen heißt nicht, dass wir in perfekter yogischer Harmonie leben und alle Hochs und Tiefs vermeiden müssen. Unser Gehirn und unser Körper werden gerne genutzt. Sie wollen Aufregung und Begeisterung empfinden und genauso auch Ruhe und Besänftigung. Dadurch bleiben sie in der Übung, genau wie unsere Muskeln, die nur durch regelmäßiges Training stark bleiben. Die beste Tätigkeit, um das alles an einem sicheren Ort erleben zu können, ist in meinen Augen ein regelmäßiges kreatives Hobby. Die Neurowissenschaft zeigt, dass eine künstlerische Beschäftigung uns am besten zum Flow führt – egal, ob wir selbst Kunst schaffen oder sie uns anschauen. Tatsächlich gibt es archäologische Hinweise, dass Menschen das, was wir heute Kunst nennen würden, bereits seit den frühesten Anfängen der Zivilisation praktiziert haben. Warum? Weil sie so viele mächtige Möglichkeiten bietet, der Welt ein Gesicht und eine Bedeutung zu geben, sich selbst auszudrücken und sich mitzuteilen. Finden wir die für uns passende Kunstform, verwandelt sie unseren grübelnden Geist und ermöglicht uns Flow. Dann können wir in Gedanken versinken – aber mit einem hilfreichen, guten Richtungsgeber.
Vielleicht denkst du jetzt, dass du keine Künstlerin, kein Künstler bist und das alles deshalb nichts für dich ist. Aber solange du ein menschliches Gehirn hast, kann eine passende künstlerische Tätigkeit auch dich zu einem friedlich ruhigen Geist führen. Regelmäßiger Flow durch eine kreative Tätigkeit scheint einen Zusammenhang mit größerer Kreativität, Produktivität und sogar Sympathie zu haben. Und je öfter wir das Hobby ausüben, umso einfacher wird es, diesen Flow zu erreichen. Der Schlüssel dieser Herangehensweise ist eine kreative Tätigkeit, die wir gerne ausüben und bei der uns kein Perfektionismus oder Wunsch, ein Meisterwerk zu produzieren, im Weg stehen. Es sollte sich in allererster Linie um eine persönliche kreative Tätigkeit handeln, welche bei der Ausübung fast schon nebenbei gesunde Verbindungen im Gehirn aktiviert (und dadurch auch im ganzen Körper). Das bedeutet, dass das Werk, das bei unserer Tätigkeit entsteht, völlig unwichtig ist. Wenn wir am Schluss ein Objekt, ein Gemälde, einen Tanz oder einen Text produziert haben, welche einem Kunstkritiker nicht standhalten würden, egal. Es kommt auf die neurobiologischen Veränderungen in unserem Gehirn und Körper an, welche entstehen, wenn wir uns der künstlerischen Tätigkeit voll hingeben.
Also los, machen wir uns auf die Reise zum Flow.
Der Flow-Kompass besteht aus zwei Teilen, wovon einer auf die Theorie und der zweite auf die praktische Ausübung eingeht. Im ersten Teil sehen wir uns die neurowissenschaftliche Forschung zu unseren Gewohnheiten und dem ewigen Grübeln an – das wird dir helfen, die wichtigsten Prozesse zu verstehen, durch die dein Gehirn ständig in Alarmbereitschaft ist und wieso dir das manchmal im Weg steht, wenn du etwas bewusst machen willst, zum Beispiel produktiv sein oder dich entspannen.
Im zweiten Teil gehen wir auf wissenschaftsbasierte, kunstfokussierte Lösungen für das ständige Grübeln ein, von praktischen Tricks, die du bei deiner Arbeit anwenden kannst, bis zu Fallbeispielen von Menschen und Gemeinden, die künstlerische Tätigkeiten anwenden, um eine ganze Bandbreite von persönlichen oder systemischen Herausforderungen zu meistern, von Ängsten über Depressionen bis hin zu schwerem Trauma. Wir werden die Filmemacherin Susana kennenlernen, die auf ihrem Instagram-Kanal Fotografie nutzt, um ihren Flow zu finden, Jamie Oliver, der Flow beim Kochen findet und es auch als Auszeit von dem belastenden Gefühl nutzt, neurodivers zu sein in einer Welt, die es nicht ist, und Nazanin Zaghari-Ratcliffe, die völlig willkürlich in einem iranischen Gefängnis eingesperrt wurde und dort ein Freiheitskleid für ihre Tochter Gabriella strickte, das es ihr erlaubte, immer wieder in einen Kokon aus Farbe, Textur und Bewegung zu fliehen, der ihre Zeit ausfüllte und ihren Gedanken eine positive Richtung gab, bis sie endlich wieder frei war. Und wir werden noch viele andere antreffen, darunter auch eigene kleine Beispiele, wie das Zeichnen und der Tango Argentino zu meinem persönlichen Flow-Kompass wurden.
Schon bald wirst du auch dazugehören und durch deine Kunst deinen eigenen Flow finden. Ich hoffe, dass dieses Buch uns daran erinnert, was unsere Vorfahren vor all dieser Zeit bereits wussten: Einen Weg zu finden, sich selbst Ausdruck zu verleihen, ist nicht schöngeistig – es ist der Kern unserer Menschlichkeit und ein Schlüssel zur Selbstheilung.
Solange du lebst, hast du ein Gehirn. Ein ganz besonderes Gehirn, einzigartig im Tierreich. Es verfügt über ganz grundlegende Nervensysteme, die es dir ermöglichen, in der Wildnis zu überleben, aber auch solche, die Gedichte und Märchen schreiben, Ballett in Spitzenschuhen tanzen, auf einem Saxofon improvisieren und als Liebesbeweis leckere Pasta kochen können. Merkwürdiger- oder wunderbarerweise überlappen diese beiden Systeme auch. Das können wir uns zunutze machen, um unseren Flow zu finden.
Tatsächlich wissen wir aber nur sehr wenig über unsere Sonderedition eines Gehirns – wie es funktioniert, wie wir es stimulieren oder besänftigen können. Um zu lernen, wie wir zuverlässig in einen Flow-Zustand finden und mit unserem Gehirn arbeiten können, um uns besser zu fühlen, müssen wir zunächst einmal besser verstehen, wie das alles eigentlich funktioniert.
Denk dir deinen Körper als Orchester. Lege eine Hand auf deine Brust, und stell dir vor, dass sich genau dort ein Orchestergraben befindet. Kannst du es sehen? Deine Organe, dein Gewebe und deine Muskeln als Instrumente. Die Streicher schlagen sanft den Bogen an und bringen das Blut in deinem Körper zum Fließen. Geigen, Cellos und Gitarren spielen deine Melodie. Und es gibt auch Blechbläser wie Trompeter und einige Becken, die für ein starkes, vielschichtiges Wummern sorgen, wenn Hormone aus Milz und Leber ins Blut übergehen. Manche Instrumente gibt es in deinem Körperorchester nur ein- oder zweimal: ein Herz, eine Milz, zwei Lungenflügel. Stell sie dir als Instrumente vor, von denen auch ein Orchester nur wenige hat und die wichtige Akzente setzen: eine große Trommel, eine Harfe, zwei Ziehharmonikas. Und irgendwie rasseln zwischen den Taktschlägen immer ein paar Maracas. Cha Cha Cha … das sind die Botenstoffe, zum Beispiel Endorphine oder Bindungshormone, die durch den Körper wandern, wenn es aufregend und dann wieder ruhiger wird.
Warum sollst du dir Organe, Gewebe und biochemische Transmitter in unserem Körper wie Instrumente in einem Orchester vorstellen?
Genau wie Instrumente sind unsere Organe wertvoll, teils unersetzlich, und haben die beste Pflege verdient.
Ich möchte dir klarmachen, dass du wesentlich mehr Vorgänge in deinem Körper dirigieren kannst, als du vielleicht denkst.
Kurzum: Du kannst mitbestimmen, welche Musik dein Körperorchester spielt – ein bisschen so, wie du aussuchen kannst, ob du dir Brahms anhörst oder zu einem Metallica-Konzert gehst. Je nach deinen persönlichen Vorlieben kann es sein, dass das eine dich zu Tode langweilt, während dich das andere vielleicht gleichzeitig beflügelt und beruhigt – dich vielleicht sogar in den Flow versetzt. In deiner Kindheit und Jugend wirst du entdeckt haben, was unterschiedliche Arten von Musik bei dir auslösen, und dass du entscheiden kannst, welches Album du abspielst oder welche Spotify-Playlist du anklickst. Je nachdem, was du wählst, setzt die Musik eine ganze Fülle biochemischer Prozesse zwischen deinen Ohren und deinem Gehirn in Gang, bevor es dir überhaupt bewusst wird.
Es beginnt mit den physiologischen Prozessen, die es dir überhaupt ermöglichen, Musik zu hören. Kleine Härchen in deinen Ohren vibrieren im Rhythmus des Stücks und »übersetzen« die Musik in kleine elektrische Impulse in den auditiven Kortexen deines Gehirns. Diese Impulse wandern dann bis zu den umfassenderen neuronalen Schaltkreisen, die im limbischen System Gefühle entstehen lassen. Diese Prozesse gehen automatisch und unmittelbar vonstatten, wenn du Musik hörst, und beeinflussen, wie du dich fühlst. Die neuronale Aktivität spricht auch die Gedächtnissysteme hinter deinen Schläfen an. Die dort abgespeicherten Erinnerungen verleihen der Musik eine ganz besondere Note, ein spezielles, tief verwurzeltes »Ich«-Gefühl. Und wenn die Musik so richtig einfährt, kann es sein, dass sie dich zum Weinen bringt oder zum Tanzen – oder beides gleichzeitig. Wir alle kennen das: Unterschiedliche Musik in verschiedenen Formaten und verschiedenen Momenten löst, wer hätte es gedacht, unterschiedliche Gefühle aus.
Für dieses Buch kannst du dir deinen Körper also so vorstellen: als Orchester, das aus verschiedenen wertvollen Instrumenten besteht und bei dem du mitbestimmen kannst, was es in dir drin spielt. Seine »Musik« spürst du dann durch biochemische Prozesse (»biochemische Prozesse« bedeutet, dass in dir drin chemische Reaktionen mit biologischen Zutaten aus deinem Körper stattfinden). Indem du entscheidest, wie sich dein Körper in der Welt verhält, kannst du diese Prozesse bis zu einem gewissen Grad anregen und so beeinflussen, wie du dich fühlst.
Aber wie funktioniert dieses Körperorchester? Die Instrumente spielen sich selbst, und zwar die ganze Zeit. Zum Glück arbeiten unsere Organe genauso; solange alles in Ordnung ist und alle Verbindungen zwischen dem Dirigenten (dem Gehirn) und dem Orchester funktionieren, müssen wir nicht daran denken, jedes einzelne von ihnen zu spielen. Dank automatischer Systeme in unserem Gehirn schlägt unser Herz, füllt sich unsere Lunge ungefähr alle vier Sekunden mit Luft und müssen wir nicht ständig bewusst daran denken, im Takt zu bleiben.
Würden alle Instrumente einfach drauflosspielen, klänge das bald sehr chaotisch. Deshalb stellt die Natur mittels neurobiologischer Mechanismen sicher, dass unser Körperorchester die richtige Symphonie im Einklang spielt. Um diese grundlegenden Mechanismen kümmert sich unser Stammhirn, ein Nervensystem, das tief im Gehirn sitzt, direkt über dem Rückenmark. Es gehört zu den ältesten Strukturen unseres Gehirns – die wir sogar mit den meisten Tieren gemeinsam haben. Das Stammhirn funktioniert komplett automatisch und instinktiv. Balle die Hand zur Faust, und halte sie dir so vors Gesicht, dass der Daumen zu dir schaut. Jetzt kannst du dir den Arm als Rückenmark vorstellen, das in deinen Körper hinunterreicht, und dann liegt das Stammhirn mit seinen zahlreichen weichen Lappen in deiner Faust. Das Stammhirn sitzt direkt über dem Genick und etwas weiter vorne, etwa 2,5 Zentimeter in Richtung der Nase. Im Laufe der menschlichen Entwicklung kamen in einer Lage nach der anderen neue Gehirnsysteme zu dieser grundlegenden Struktur dazu, bis sich schließlich unser heutiges Gehirn gebildet hatte, aber angefangen hat alles mit dem instinktgesteuerten, automatisch arbeitenden Stammhirn.
All diese verschiedenen Lagen des Gehirns sind miteinander verknüpft, das ist sehr wichtig. Sie liegen nicht einfach übereinander. Hältst du noch einmal die Hand hoch und legst jetzt die andere Hand um deine Faust, kannst du dir vorstellen, dass Nervenbahnen diese Lagen – die beiden Hände – miteinander verbinden und der einen Hand mitteilen, was die andere tut. Diese Nervenbahnen sind ein bisschen wie Autobahnen mit mehreren Spuren, über die Informationen effizient hin und her rauschen. Diese Verbindung dient dazu, dass die verschiedenen Gehirnsysteme miteinander kommunizieren können. Das Stammhirn funktioniert also automatisch, steht gleichzeitig aber auch in ständigem Austausch mit allen anderen Gehirnsystemen. Es tauscht Informationen mit Gehirnstrukturen aus, die phylogenetisch gesehen sogar noch älter sind (das bedeutet, dass bereits Lebewesen über diese Strukturen verfügten, die weit vor dem Homo sapiens gelebt haben), zum Beispiel mit dem Gedächtnis und all den Sinnessystemen, mit denen wir sehen, hören, riechen, fühlen und schmecken können, sowie mit einigen etwas neueren Teilen des Gehirns, die wir mit anderen Säugetieren gemeinsam haben. Dazu gehören der sogenannte Inselkortex und das limbische System, die soziale Informationen, Gefühle und Informationen zur Homöostase (also Sinneseindrücke über Dinge wie die Körpertemperatur, mit denen unser Gehirn unsere Körperumgebung möglichst konsistent hält) verarbeiten.
Natürlich gibt es auch Verbindungen zum jüngsten Teil des Gehirns, dem präfrontalen Kortex, der direkt hinter unserer Stirn liegt und für Vernunft, Denk- und Vorstellungsvermögen sowie die Fähigkeiten, Pläne für die Zukunft zu schmieden und komplexe Entscheidungen zu treffen, verantwortlich ist. Diese Gehirnregion ist ziemlich einzigartig im Tierreich, aber vergiss nicht: Alles baut auf den elementaren Überlebensmechanismen des Stammhirns auf.8 Selbst der modernste Teil des Gehirns, der präfrontale Kortex, der uns so eindeutig menschlich macht, wird durch Übermittlungsstationen im ganzen Gehirn mit Informationen aus diesem grundlegenden automatischen System versorgt.91011
Wir nehmen kaum wahr, was diese fundamentalen Überlebensmechanismen dem präfrontalen Kortex einflüstern, bevor es von dort in unser Bewusstsein gelangt.12131415 Aber diese uralten Strukturen beeinflussen unser Verhalten1617, darunter auch die Fähigkeit, Flow zu finden – also wollen wir uns dieses Geflüster etwas genauer ansehen.
Die Hauptaufgabe des Stammhirns ist es, die grundlegenden Konstanten unseres Körpers zu steuern, zum Beispiel den Herzschlag, die Atmung oder den Hormonhaushalt. Wir können uns das Stammhirn vorstellen wie eine Jukebox mit im Voraus aufgenommenen Platten. Es kümmert sich um biologische Prozesse, die genetisch vorprogrammiert sind, zum Beispiel Atmung, Herzfrequenz und die hormonellen Veränderungen für den Tag-Nacht-Rhythmus. Wir können diese Musik nicht bewusst steuern, und jedes der im Voraus aufgenommenen Stücke löst jeweils bestimmte Gefühle aus. Diese lebensrettenden Platten sind bereits in den Genen abgespeichert, aus denen das Gehirn nach der Zeugung entsteht. Es gibt eine Platte für jedes Grundbedürfnis: Schlaf, Nahrung, Wasser, Luft, Unterschlupf und Sicherheit, Fortpflanzung und so weiter. Stören wir diese automatischen Funktionen wiederholt mit unserem gewählten Verhalten, macht das unseren Geist unruhig. Eine Disziplin namens Psychoneuroendokrinologie untersucht diese Zusammenhänge zwischen unserem Verhalten und unserem Inneren.1819 »Psycho« steht dabei für psychologisch, also alles, was wir denken, fühlen oder was mit unserem »Geist« zusammenhängt. »Neuro« steht für das, was im Gehirn passiert. »Endokrine« ist ein anderes Wort für Hormone. Die Psychoneuroendokrinologie ist also die Wissenschaft, die sich damit beschäftigt, wie unser Gehirn, unsere Hormone, unser Verhalten und unsere Gefühle zusammenhängen.
Wir fühlen uns zum Beispiel müde, wenn unsere innere Jukebox ein Schlaflied statt eines Popsongs spielt. Dieses Stück – das mit dem Anstieg des Schlafhormons Melatonin im Blut beginnt – lässt unseren ganzen Körper herunterfahren.2021
Wir können zwar die Lieder auf diesen Platten nicht ändern, manchmal können wir aber mitbestimmen, welches Stück gespielt wird. Merken wir, dass unser Herz wie wild schlägt und wir Angst haben, wütend oder gestresst sind, ist es gut zu wissen, dass unser Körper dieses Lied oft gerade spielt, weil wir selbst etwas Bestimmtes tun oder uns etwas aussetzen. Das kann eine ganz bestimmte Tätigkeit sein oder auch nur stressige oder bedrohliche Gedanken, zu langes Stillsitzen oder ein Austausch mit einem anstrengenden Kollegen. In all diesen Situationen führen wir ein Verhalten aus oder ermöglichen eines. Sobald wir unser rasendes Herz und sich überschlagende Gedanken bemerken, haben wir aber die Macht, ein anderes Verhalten zu wählen, uns in eine andere Umgebung zu begeben oder die aktuelle Umgebung zu verändern. Dank des präfrontalen Kortex im Gehirn können wir bewusst entscheiden, was wir tun wollen und was wir nicht tun wollen. Durch die Verbindung von Körper und Gehirn hilft uns ein neues Verhalten, eine andere Platte in die Jukebox zu laden – und dadurch die Herzfrequenz zu beruhigen, damit wir uns weniger ängstlich, wütend oder gestresst fühlen.
Eine solche Entscheidung kann verändern, wie wir uns körperlich fühlen, weil Körper und Gehirn eng miteinander verbunden sind22, 23. Berührst du den Haaransatz in deinem Nacken und streichst mit den Fingern den Hals hinab, kannst du dir das Rückenmark vorstellen, geschützt durch die Wirbel, jene harten Knochen, die du im Nacken spürst. Durch das Rückenmark erstrecken sich lange Nervenzellen, sogenannte Ganglien, bis in deinen Körper hinab. Wie lange Goldfäden verbinden sie die Nervensysteme deines Gehirns mit den Organen, Muskeln und dem Gewebe in deinem ganzen Körper, damit diese ihren Beitrag zum Orchester leisten können, sobald sie gebraucht werden242526. Diese goldenen Fäden reichen bis in die äußersten Fingerspitzen und in die Haut unserer Zehen, damit wir auch spüren können, was wir berühren – und als Ballerina auf Zehenspitzen tanzen können. Über diese Verbindungen zwischen Gehirn und Körper strömen Informationen, hin und zurück. Das geschieht mittels neuronaler Übertragung, wie es wissenschaftlich heißt.272829 Dabei handelt es sich um einen komplexen biochemischen Prozess, den wir uns hier jetzt nicht genauer anschauen – wichtig ist, sich zu merken, dass Informationen vom Gehirn zum Körper fließen können, aber auch vom Körper zum Gehirn.
Noch einmal zusammengefasst: Zwischen unserem Gehirn und unserem Körper gibt es Kommunikationskanäle, und mit unserem Verhalten und unseren Körperbewegungen können wir bis zu einem gewissen Grad einige der Vorgänge in unserem Gehirn verändern, sowohl zum Guten wie zum Schlechten. Es gibt spezielle im Voraus aufgenommene Symphonien für verschiedene Grundbedürfnisse, etwa zum Einschlafen oder wenn wir Hunger haben. Schauen wir uns diese zwei Beispiele genauer an.
Mit der Abenddämmerung spielt die Jukebox des Stammhirns automatisch die Schlafsymphonie. Rezeptoren in den Augen und unserer Haut nehmen das schwindende Licht wahr und teilen den verschiedenen Hirnsystemen mittels Botenstoffen mit, dass Schlafenszeit ist.14 Diese Symphonie wurde während unserer Evolution komponiert, aufgenommen und in unseren Genen abgespeichert. Vom Stammhirn dirigiert, lässt sie uns nach einem fixen Muster einschlafen. Die beruhigenden Klänge aus der Zirbeldrüse (einem Teil des Stammhirns) streuen das Hormon Melatonin in unser Blut. Wir reiben uns die Augen, werden schläfrig und gleiten langsam ins Traumland hinüber, wobei unsere Herzfrequenz sich verlangsamt und der Blutdruck absinkt. Das alles geschieht automatisch – wenn wir es durch unser Verhalten auch zulassen. Erlauben wir unserem Körper vor dem Einschlafen zum Beispiel, sich beim Lesen, Stricken oder Musikhören zu entspannen, spielt die Schlafsymphonie ungestört. Setzen wir unseren Körper aber beispielsweise blauem Licht aus, treiben intensiven Sport oder schauen uns etwas an, was uns beängstigt oder erzürnt, sei es ein spannender Thriller, Social Media oder Kriegsnews, kann die Schlafsymphonie nicht richtig aufspielen. Blaues Licht, Angst oder Wut lassen unsere Jukebox Platten auflegen, die einen ganz anderen Cocktail an Hormonen und Botenstoffen in unser Blut schütten.303132 Und der hat so gar nichts mit Einschlafen zu tun. Stattdessen hält er uns wach oder aktiviert Kampf- oder Fluchtbereitschaft. So kann keiner einschlafen.
Im schlimmsten Fall wiederholen wir dieses Verhalten regelmäßig (schauen zum Beispiel immer vor dem Schlafengehen fern oder scrollen durch Social Media), wodurch die Platte mit der Schlafsymphonie so zerkratzt wird, dass es einer Reparatur bedarf. In der Medizin nennt man das ein gestörtes Schlafmuster.
Der präfrontale Kortex des menschlichen Gehirns ist eine im Tierreich einzigartige Maschine. Er erlaubt es uns, durch bestimmte Entscheidungen die Kontrolle über unser Verhalten zu gewinnen. Wir können uns zum Beispiel entscheiden, fernzusehen oder stattdessen etwas anderes zu tun, was dem Einschlafen zuträglicher ist. Wenn es doch nur so einfach wäre, oder? Wir kommen später noch dazu, warum es manchmal so schwierig ist, uns richtig zu entscheiden …
Kommen wir zum zweiten Beispiel. Die Platte mit der Hungersymphonie wird automatisch in die Jukebox unseres Stammhirns geladen, sobald Rezeptoren im Darm, der Bauchspeicheldrüse und den Fettreserven unseres Körpers einen niedrigen Nährstoff- oder Energiestand verzeichnen. Im Vergleich zur Schlafsymphonie entlassen die Organe, die bei Hunger im Spiel sind, einen ganz anderen Cocktail an Botenstoffen ins Blut, um die Systeme des Stammhirns über die niedrigen Energiereserven zu informieren. Das Appetithormon Ghrelin – immer schlecht gelaunt und aggressiv – schießt ins Blut und macht uns hungrig. Und verzieht sich erst wieder, wenn wir etwas gegessen haben. Die Hungersymphonie klingt manchmal vielleicht etwas unharmonisch, aber sie stellt sehr effektiv die Energieversorgung unseres Körpers sicher.
Auch diese prähistorische Melodie kann durch unser Verhalten entgleisen. Essen wir zum Beispiel etwas mit Süßungsmitteln, lassen bestimmte Botenstoffe unseren Darm wissen, dass gleich jede Menge Zucker kommt. Die Geschmacksknospen in unserem Mund senden diese Signale über das Stammhirn an den Darm, durch die Ganglien im Rückenmark. Im Falle von künstlichen Süßungsmitteln lässt diese Information unseren Magen viel zu viele Verdauungssäfte produzieren. Bleiben diese ungenutzt, was sie in diesem Fall tun, da Süßungsmittel anders als natürlicher Zucker keine echte Energie enthalten, wird dem Gehirn wiederum signalisiert, dass weitere Nährstoffe und Energie gebraucht werden, um die Menge an Verdauungssäften auszugleichen. Dann haben wir immer noch Hunger und überessen uns logischerweise.
Grundsätzlich gilt es zu verstehen, dass das wechselseitige Prozesse sind. Unsere automatischen Gehirn- und Körpersysteme lassen unsere Organe von innen heraus funktionieren, unser Verhalten da draußen in der Welt und die Welt selbst, der wir uns aussetzen, können unsere inneren Systeme und Organe aber ebenso beeinflussen. Wir haben große Macht darüber, welche guten oder schlechten Abläufe wir in unserem Körper und unserem Gehirn auslösen. Haben wir erst einmal verstanden, welche Platten es in der Jukebox des Stammhirns gibt und wie wir unser Verhalten modifizieren können, um unser Körperorchester zu unterstützen, statt es disharmonisch aufheulen zu lassen, befinden wir uns auf dem Weg zum Erfolg.
Geht es um unsere Gefühle, scheint alle Wissenschaft in die gleiche Richtung zu deuten: Wie wir uns fühlen, hängt von unseren Entscheidungen ab, denn zwischen unserem Gehirn und unserem Verhalten besteht eine symbiotische Beziehung. Unser Verhalten kann unsere Laune beeinflussen. Leg mal deine Hand an deine Stirn, als müsstest du sehr fest über etwas nachdenken. Unter deinen Fingerspitzen, hinter deiner Stirn, liegt der präfrontale Kortex. Diese Hirnlappen aus grauen und weißen Hirnzellen verleihen uns eine im Tierreich einzigartige Fähigkeit: Wir können denken, uns Dinge vorstellen, symbolische Verbindungen schaffen, kreativ sein, Vernunft walten lassen, Entscheidungen treffen, bewusst und zielgerichtet aktiv werden und Einfluss darauf nehmen, was mit uns geschieht. Anders als die Platten in der Jukebox des Stammhirns, die jeweils nur ein Stück spielen, reagiert die Musik, die wir durch unser Verhalten in unserem Gehirn abspielen, viel empfindlicher auf Veränderungen und Fehler, kann uns aber auch richtig guttun. Wir können das Stück in unserem Kopf – unsere Gedanken – durch unser Verhalten komponieren.
Wie wir wissen, gehört auch unser Verhalten zu jenen Mechanismen, welche die Abläufe im Gehirn, dem Herzen, der Lunge, Milz, Leber und in all den anderen Organen steuern, die wiederum die Botenstoffe und Hormone in unserem Blut dirigieren. Das alles geschieht zusätzlich zu den grundlegenden Melodien und dem Takt, den die Jukebox in unserem Stammhirn vorgibt. Und manchmal ist unser Verhalten sogar mächtig genug, um wohl oder übel selbst diese fundamentalen Prozesse zu beeinflussen. Je nachdem, was für ein Stück wir durch unser Verhalten anstimmen, schlägt unser Herz schneller oder langsamer und spielen die Schilddrüsen eine Hormonmelodie, die unser Befinden beeinflusst. Manchmal ist das gut, manchmal aber auch schlecht. Schauen wir uns noch ein paar weitere Beispiele an.
Sitzen ist ein Verhalten. Selbst wenn wir uns dabei gar nicht bewegen. Sind wir voll bewegungsfähig, ist Sitzen eine Anweisung an unseren Körper. Die meisten von uns sitzen sehr viel. Bei der Arbeit, vor dem Fernseher, wenn wir Videospiele spielen, Social Media durchstöbern und so weiter. Eine Studie zeigt, dass Menschen mittleren Alters etwa 597 Minuten pro Tag sitzen (plus/minus 122 Min./Tag) – das sind fast zehn Stunden. Dieses Verhalten kann unsere Organe eine Symphonie mit verheerenden Folgen spielen lassen, sowohl für unseren Körper als auch für unseren Geist. Wenn wir sitzen, ist unser Blutdruck zum Beispiel höher, als wenn wir stehen33, was zu einem Gesundheitsrisiko werden kann. Die Forschung zeigt, dass es im Allgemeinen den Blutdruck bedeutend senken würde, wenn wir verteilt über einen 8-Stunden-Arbeitstag zwischendurch 2,5 Stunden stehen oder uns leicht bewegen würden.3435 Sich nur zweimal die Woche körperlich zu betätigen senkt das Risiko für eine koronare Herzkrankheit um 41 Prozent.36 Und dennoch bleiben die meisten von uns sitzen. Vielleicht weil uns gar nicht klar ist, dass unsere ewig kreisenden, dicht gedrängten Gedanken zumindest teilweise neurobiologische Auslöser haben, wie zum Beispiel so viel zu sitzen.
Zu langes Sitzen kann in unserem Körper eine ausgewachsene Stressantwort auslösen. Das bedeutet, dass der Körper einen Cocktail bestimmter Hormone und Botenstoffe ins Blut ausschüttet, die ihn in Kampfbereitschaft versetzen (Cortisol, Adrenalin, Dopamin und so weiter).
Als ich auf diese Zusammenhänge stieß, wurde mir klar, warum meine Gedanken plötzlich wild geworden waren, wie ich das als Tänzerin nie gekannt hatte. Als Tänzerin saß ich nicht sehr oft. Jetzt, als Wissenschaftlerin, sitze ich ständig. Natürlich sind diese Botenstoffe nicht per se schlecht; müssen wir vor einem Löwen fliehen, sind sie genau das, was wir brauchen. Bleiben sie aber zu lange im Blut und werden nicht gebraucht, kocht der Körper quasi in seiner eigenen Brühe. Die Botenstoffe machen die Blutgefäße durchlässig und schwächen die körpereigene Abwehr, anstatt ihn zu beschützen. Natürlich sind beim Profitanz auch mehr als genug Stresshormone im Spiel. Tänzer haben dabei aber einen Vorteil: Sie tanzen sie aus. Bewegung hilft, Stresshormone loszuwerden (denn um Bewegung auszulösen, waren diese Hormone ja ursprünglich gedacht). Beim Sitzen verbrauchen wir den Stresshormoncocktail aber nicht. Bleibt dieser über längere Zeit bestehen, belastet die Stresssymphonie nachweislich die Organe unseres Körperorchesters. Unter größter Anstrengung spielen sie ihre Instrumente, um den Körper auf einen unmittelbar bevorstehenden Sprint oder Kampf vorzubereiten – der dann aber nie kommt. Wir sitzen einfach nur da.
Diese Forschungsresultate haben mich so aufgerüttelt, dass mich mittlerweile ein Timer stündlich daran erinnert, vom Schreibtisch aufzustehen und mich zu bewegen.
Das sagt die Wissenschaft dazu: Halten wir die Wirbelsäule über längere Zeit unverändert in einer Position, belastet das die Hüften, die dabei unnatürlich nach vorne gebeugt sind. Auch auf die Schultern und den Nacken wirkt es sich negativ aus. In unserem ganzen Körper gibt es Rezeptoren, die feststellen, ob und wo im Körper Verletzungsgefahr herrscht, und unser Gehirn informieren, wenn etwas nicht stimmt. Erhält das Gehirn diese Information, signalisiert es verschiedenen Körperteilen über die Ganglien im Rückenmark, das Problem zu lösen: Es schlägt zum Beispiel die Saiten der Nebenniere an (welche hinter der Gürtellinie liegt), um das Stresshormon Cortisol ins Blut zu entlassen. Cortisol ist ein aktionsauslösendes Hormon. Es rauscht durch unseren still sitzenden Körper und singt dabei lauthals: Bewegung, los, beweg dich! Vielleicht werden wir jetzt etwas unruhig. Bleiben wir immer noch sitzen, meint unser Gehirn, dass es uns nicht richtig beschützt, und schon driften unsere Gedanken ab in gefährliche Gewässer. Aber wie können wir unser Körperorchester überzeugen, richtig zusammenzuspielen? Zunächst müssen wir verstehen, warum die Stresssymphonie so funktioniert.
Die Stresssymphonie wurde während unserer Entwicklung komponiert, um uns in der gefährlichen Welt unserer Vorfahren vor Urzeitlöwen und anderen Bedrohungen zu beschützen. Sie ist die lebensrettende Platte in der Jukebox des Stammhirns. Sie sendet Botenstoffe aus, die in Höchstgeschwindigkeit durch unsere Adern schrillen, und lässt das Blut bis in die Extremitäten des Körpers, in die Arme und Beine, brausen, damit die großen Muskeln über genug Sauerstoff verfügen, falls wir vor einem Löwen davonrennen oder einen Feind bekämpfen müssen. Die Atemfrequenz der Lungen erhöht sich, die Nebenniere schüttet Cortisol aus, und das Herz hämmert. In diesem Zustand wird unsere Aufmerksamkeit eng wie ein Tunnel und ist nur noch auf die Gefahr fokussiert. Unser Gedächtnis und das Denkvermögen sind beeinträchtigt, und es fällt uns vielleicht sogar schwer, ganze Sätze zu bilden. Unser Körper befindet sich in einem biologischen Alarmzustand.
Das alles ist dazu da, uns zu beschützen, aber dieser Zustand ist für den Körper sehr kräftezehrend, und ist der Stress vorbei, brauchen wir Erholung.
Der »Vorteil«, wenn unsere Organe die Stresssymphonie wegen eines echten Löwen spielen, ist, dass wir aufspringen und entweder wegrennen oder kämpfen. Davonrennen, ebenfalls ein Verhalten, hat ganz spezifische Auswirkungen auf den Körper. Aufgrund des höheren Energieverbrauchs, des Sauerstoffverbrauchs und der Ermüdung, die es im ganzen Körper auslöst, bauen wir den Stresshormoncocktail wieder ab. So hat die Natur es eingefädelt. Dafür sind diese Hormone da: Bewegung. Action. Haben sie ihren Zweck erfüllt und uns zum Handeln getrieben, lösen sich die Hormone wieder auf. Am Ende der Stresssymphonie werden Endorphine ausgeschüttet, das ist ebenfalls vorprogrammiert. Sie geben uns ein wohliges Gefühl der Erleichterung. Das ist Balsam für den Körper, der jetzt in die Erholungsphase gleitet, angeleitet von den letzten Strophen der Stresssymphonie. Diese Endorphinantwort ist auch der Grund für das sogenannte Läuferhoch37, einen Zustand der Euphorie, den manche Menschen empfinden, wenn sie ihren Körper beim Laufen an seine Grenzen bringen. (Nicht alle Läufer und Athletinnen erleben ein Läuferhoch; Studien zeigen, dass es nur bei etwa zwei Dritteln eintritt38 und auch seine Nachteile hat, dazu aber später mehr.)
Neuroendokrinologische Forschungsresultate zeigen, dass unser Körper die Stresssymphonie aus vielen verschiedenen Gründen anstimmen kann. Vielleicht haben wir wirklich einen Löwen oder einen Feind in der Wildnis angetroffen. Es passiert aber auch, wenn wir zu lange vor unserer immer volleren Mailbox still sitzen, wegen eines aggressiv auftretenden Kollegen oder durch anstehende Aufgaben.
Den meisten von uns hilft es nicht, mit hohen Cortisolwerten im Blut weiterhin sitzen zu bleiben, wenn unser Körper eigentlich bereit wäre, davonzurennen, die Lungen mit Luft gefüllt, die Beine mit Sauerstoff versorgt. Selbst wenn wir in diesem Moment eine Achtsamkeitsmeditation durchführen. Du musst wissen, dass Stresshormone wie Cortisol neurotoxisch (also ungesund für unsere Nerven) sind, wenn sie zu lange im Körper verbleiben. Der Körper greift sich dann nach einer Weile quasi selbst an und lässt unsere Gedanken noch mehr außer Rand und Band geraten.
Das Gehirn zwischen deinen Ohren ist nicht nur ein brillanter Dichter, sondern auch ein brutaler Überlebenskünstler. Vergiss das nicht. Der junge, empfindliche, vielschichtig gefaltete präfrontale Kortex beschäftigt sich mit symbolischem Denken, Kreativität, Abstraktion und Ideen, aber er hängt von uralten Überlebensmechanismen ab, die auf grundlegenden binären Prinzipien basieren: Belohnung oder Bestrafung, Zu- oder Abneigung, Ja oder Nein, Freund oder Feind, Gefahr oder Sicherheit, Kampf oder Flucht.
Was unsere Sinne aufnehmen, sortieren diese grundlegenden Sinnessysteme unseres Gehirns und Stammhirns sehr schnell in solche binären Kategorien.39 Das lässt sich nicht umgehen. Abhängig vom Resultat dieser ersten, schnellen und unbewussten Einordnung wird die Information dann für die Weiterverarbeitung weitergeschickt.4041
Bei diesen schnellen grundlegenden Systemen geht es um nichts als »ich, ich, ich«. Um Sicherheit und Überleben – zuerst handeln, dann denken. Das hat uns in einer schwierigen, gefährlichen Welt durch unsere ganze Entwicklungsgeschichte gerettet. Vielleicht siehst du die Vorteile, in unserer modernen Welt des Überflusses zuerst zu denken, aber weil diese grundlegenden Systeme nun einmal so funktionieren, schaffen wir das nur, indem wir unser Verhalten ändern. Unser Stammhirn sortiert schlicht zu schnell, als dass wir es mit unserem Bewusstsein einholen könnten.
Das bringt uns zur Frage, warum die Aktivierungsmuster in unserem Körper und das, was in unserem Kopf vorgeht, zusammenhängen. Über die enge Verbindung zwischen Kopf und Gehirn haben wir bereits gesprochen. Aber wo kommt unser Geist ins Spiel? In der Psychologie ist mit dem Geist das bewusste Erleben gemeint. Was wir denken und fühlen: unsere Wahrnehmung, Erinnerung, was wir glauben. Sehr schwer zu fassen und ähnlich flüchtig wie der Begriff der Seele. Ganze Forschungsfelder von der Philosophie über die Anthropologie, Psychologie und Neurowissenschaften bis zu den Computerwissenschaften tun sich mit dem Begriff des Bewusstseins schwer. Um eine praktische Lösung zu finden, vereinfachen wir es mal. Kurz gesagt entstehen unsere Gedanken zumindest teilweise durch die Musik des Körperorchesters. Vielleicht tanzen sie anmutig zu dieser Musik, vielleicht aber auch nicht. Das hängt davon ab, ob das Orchester sanft und harmonisch vor sich hin summt oder eine Stresssymphonie anspielt. Erinnerst du dich noch an die rosaroten Elefanten, diese Gedanken, die wir einfach nicht loslassen können? Die Stresssymphonie löst mit großer Wahrscheinlichkeit genau solche Gedanken aus und lässt die rosaroten Elefanten ihre Pirouetten drehen und unsere Konzentration stehlen. Spätestens jetzt möchten wir unbedingt und ganz dringend einfach mal abschalten und an gar nichts mehr denken.
Es beschäftigte mich selbst sehr, dass ich es einfach nicht schaffte, unerwünschte Gedanken abzustellen, als ich eine Studie über das sogenannte Ruhezustandsnetzwerk im Gehirn entdeckte. 2001 nutzten Marcus Raichle und sein Team von der Washington University School of Medicine in St. Louis funktionale Magnetresonanztomografie, um die Gehirne von Studienteilnehmenden zu scannen.4243 Sie taten dabei aber etwas eher Untypisches in der Neurowissenschaft. Normalerweise wird die Gehirnaktivität analysiert, während die Teilnehmenden eine bestimmte Aufgabe ausführen. Raichle und sein Team analysierten sie stattdessen bei gar keiner Aufgabe, sondern während sie zwischen zwei Aufgaben Pause machten.
Die Ergebnisse waren erstaunlich.
Während die Teilnehmenden scheinbar gar nichts taten, waren ihre Gehirne alles andere als unbeschäftigt. Die Ergebnisse dieser Hirnscans zeigten, dass das Ruhen selbst ebenfalls ein Verhalten ist und unsere Gehirne dabei sehr aktiv sind. Das Forschungsteam entdeckte, dass im Ruhezustand ein ganz spezifisches Netzwerk verschiedener Hirnregionen bemerkenswert aktiv ist.
Sie tauften dieses Netzwerk das Ruhezustandsnetzwerk des Gehirns, weil weitere Nachforschungen ergaben, dass dieses Netzwerk immer »an« ist, selbst wenn die Teilnehmenden aufgefordert wurden, Pause zu machen.
Stell dir das Ruhezustandsnetzwerk wie eine Art glitzerndes Netz aus Nervenzellen in deinem Gehirn vor. Ein Netz, das verschiedene Gehirnregionen miteinander verbindet und vor Aktivität pulsiert, während wir uns ausruhen und unsere Gedanken schweifen lassen. Raichles Team und seither auch viele weitere Studien haben gezeigt, dass dieses Netzwerk sowohl Gehirnregionen umfasst, welche aktiviert sind, wenn wir über uns selbst nachdenken, als auch solche, die aktiviert sind, wenn wir an andere denken. Außerdem leuchten auch Regionen aktiviert auf, mit denen das Gehirn Bilder erzeugt, die es für das Ich-Empfinden benötigt und damit wir uns an die Vergangenheit erinnern und die Zukunft planen können. Weißt du noch, als du zuletzt dein Lieblingslied gehört hast? Beim Zuhören warst du fest im gegenwärtigen Augenblick verankert, gleichzeitig bist du in Gedanken aber auch vor und zurück durch die Zeit gereist, hast dir verschiedene Situationen, Menschen und dich selbst vorgestellt, alles miteinander. Das ist die Arbeit deines Ruhezustandsnetzwerks.444546 Und jetzt pass mal auf: Die Forschung hat herausgefunden, dass das Ruhezustandsnetzwerk auch dann eingeschaltet ist, wenn wir Kunstwerke betrachten, die wir sehr gerne mögen.
Unser Gehirn ist niemals aus, selbst dann nicht, wenn wir uns ausruhen. Zu versuchen, »unsere Gedanken einfach abzuschalten«, ist also von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Die ganze Zeit hallt eine wunderschöne Musik durch den Körper, durch das Gehirn – und deshalb auch durch unsere Gedanken.
Aber was macht das Gehirn dabei? Wir wissen, dass unser Gehirn ungefähr 20 Prozent des gesamten Energieverbrauchs unseres Körpers ausmacht. Selbst im Ruhezustand sinkt sein Energieverbrauch nur um gerade 5 Prozent. Es ist dann also nicht bloß noch aktiv, es verrichtet dabei immer noch sehr viel Arbeit.
Wahrscheinlich ist es damit beschäftigt, das herzustellen, was wir als »Bewusstsein« wahrnehmen. Aber das ist noch nicht alles. 2008 gab eine Studie von einem Team um Fei Du an der University of Minnesota Medical School eine weitere vorsichtige Antwort auf diese Frage: Es räumt auf.47 Große Mengen Energie benötigt das Gehirn für die neuronale Kommunikation – also um während seiner verschiedenen Funktionen durch komplizierte biochemische Abläufe Signale durch die Nerven zu senden –, aber auch für seinen Unterhalt. Gemäß den Autoren dieser Studie fließt ein Drittel des Energieverbrauchs des Gehirns in seine eigene Instandhaltung. Die Forschung zeigt, dass es einen Großteil der Energie dafür braucht, Toxine zu eliminieren, beschädigte Nervenzellen zu reparieren, Zellabfall zu entsorgen und so weiter. Erlauben wir unserem Gehirn diesen Zustand, ist das vielleicht wie Frühjahrsputz im Haus oder wie im Winter ein Fenster zu öffnen, um durchzulüften.
Diese Ergebnisse sind noch sehr jung, aber es könnte sein, dass das Ruhezustandsnetzwerk für unser Gehirn auch eine regenerative Funktion hat. Das scheinen Ergebnisse zu bestätigen, die zeigen, dass das Ruhezustandsnetzwerk bei Menschen mit Depression, Alzheimer, Parkinson, Schizophrenie oder Epilepsie nicht richtig zu funktionieren scheint. Bei einigen dieser Krankheiten ist das Ruhezustandsnetzwerk hyperaktiv, während es bei anderen wiederum nicht aktiv genug ist. Bei Menschen mit Depression oder Angstzuständen ist die Aktivität des Ruhezustandsnetzwerks unbeständig oder weicht von der Norm ab, und oft sind einige Interaktionen in den Untersystemen des Netzwerks gestört. Diese klinischen Ergebnisse lassen vermuten, dass unser Gehirn auf ein regelmäßig und auf richtige Art und Weise aktiviertes Ruhezustandsnetzwerk angewiesen ist, um gesund zu funktionieren. Und es bedeutet, dass es eine richtig dumme Idee wäre, unser Gehirn »abzuschalten«.
Aber wenn wir unsere Gehirne nicht abschalten können, was sollen wir denn dann tun, wenn unsere Gedanken nur noch kreisen? Wie wir jetzt wissen, ist der Grund dafür, dass wir unser Körperorchester Stücke wie die Stresssymphonie zu lange spielen lassen. Die gute Neuigkeit ist, dass wir der Folter ein Ende setzen können, indem wir uns für das richtige Verhalten entscheiden. Es geht darum, ein Verhalten zu wählen, das die Platte in der Jukebox wechselt, statt die Gedanken durch pure Willenskraft »abschalten« zu wollen.
Die ganze Menschheitsgeschichte hindurch kamen immer wieder neue Techniken auf, die wild gewordenen rosaroten Elefanten zu zähmen, und verschwanden wieder. Ähnlich wie beispielsweise das Achtsamkeitstraining gehen diese Techniken davon aus, dass wir vom Körper losgelöst allein an unseren Gedanken arbeiten können. Für viele von uns ist das aber, als würden wir versuchen, einem rosaroten Elefanten ein Halfter anzulegen, um ihn unserem Willen zu unterwerfen. Rosarote Elefanten lassen sich aber nicht zähmen. Versuchen wir es doch, entrinnen sie uns wie Rauch zwischen den Fingern, denn genau das sind sie: der rosafarbene Rauchnebel unserer Gedanken. Ohne das richtige Verhalten, das unsere Gedanken in eine andere Richtung lenken kann, sind Versuche, unseren Geist zu kontrollieren, meist erfolglos.
Betrachten wir drei Klassiker solcher Techniken zur Gedankenkontrolle und sehen uns an, warum sie aus Sicht der Neurowissenschaft nicht funktionieren. Anders als Achtsamkeit (die bei manchen Menschen klappt und bei anderen nicht) können diese Techniken gar nicht funktionieren, weil unser Gehirn nun einmal ist, wie es ist. Merk dir: Wir suchen ein Verhalten, das Körper und Geist die so wichtige Regeneration ermöglicht, ohne dabei anderweitige Effekte auszulösen, die die Ruhe stören könnten – und die nachfolgend aufgeführten Methoden helfen dabei nicht.
In dem Film Ghostbusters –Die Geisterjäger aus dem Jahr 1984 gibt es eine Szene, in der Gozer, der Gott der Zerstörung, auf die Erde kommt, um sie – zu zerstören. Allerdings hat der Gott der Zerstörung eine Schwäche: Er ist darauf angewiesen, dass seine Opfer ihn sich zuerst einmal ausmalen. Er kann keine Menschen vernichten, die ihn sich nicht klar vorstellen können, sie müssen ihn zuerst visualisieren. Deshalb erscheint der Gott der Zerstörung zunächst nur als körperlose Stimme, die den Geisterjägern befiehlt, die »Form ihres Zerstörers« zu wählen. Das Publikum weiß natürlich, wie die Vernichtung verhindert werden kann: einfach an nichts denken! Aber alle, die dieses Buch lesen, wissen es jetzt besser; es ist unmöglich, an nichts zu denken. Ist ein Gedanke erst einmal in unseren Geist gedrungen – egal, ob der an den rosaroten Elefanten oder an den Gott der Zerstörung –, werden wir ihn nicht mehr los. Als Ray also an das Michelin-Männchen aus seiner Kindheit denkt, nimmt Gozer ganz einfach die Form eines riesengroßen Michelin-Männchens an und richtet mit jedem Schritt Verwüstung an.
Der Sozialpsychologe Daniel Wegner und sein Team von der Trinity University in San Antonio haben eine Reihe Experimente zur Kontrolle von Gedanken durchgeführt.4849 Sie haben die Teilnehmenden gebeten, an gar nichts zu denken. Es überrascht vielleicht nicht, dass ihnen das nicht gelungen ist. In den letzten 30 Jahren hat die Sozialpsychologie jede Menge Hinweise aufgedeckt, dass es sogar noch schwieriger ist, an nichts zu denken, wenn man gesagt bekommt, woran man nicht denken soll.
Ich habe in der Einführung zwar die rosaroten Elefanten als Beispiel genommen, in der Sozialpsychologie ist dieses Phänomen allerdings als das Eisbär-Problem bekannt.5051 Die Forschung ließ sich dabei von einer Geschichte des russischen Schriftstellers Fjodor Dostojewski inspirieren, der als Jugendlicher seinem kleinen Bruder einen Streich spielte. Weil er es leid war, auf den Bruder aufzupassen, wies er ihn an, eine Hand in die Höhe zu strecken. Er forderte ihn auf, die Hand erst wieder zu senken, wenn er es schaffte, nicht mehr an einen Eisbären zu denken.52 Der arme Junge hielt die Hand stundenlang oben. Er senkte sie schließlich nur aus Erschöpfung. Dieser Eisbär hat Dostojewskis armen kleinen Bruder bis an das Ende seiner Tage verfolgt. Schwirren also beängstigende, schmerzhafte oder sonstige unerwünschte Gedanken durch deinen Kopf, macht es allein die Tatsache, dass du dir dieser Gedanken bewusst bist, unmöglich, sie nicht mehr zu denken. Befehlen wir unserem Gehirn, nicht mehr an etwas zu denken, wird es alles tun, um uns zu gehorchen. Dazu teilt es sich quasi in zwei Teile. Ein Teil denkt tatsächlich nicht mehr »daran«. Das Problem ist, dass der andere Teil ständig kontrolliert, ob der erste Teil auch wirklich nicht »daran« denkt. Im Fall von Dostojewskis kleinem Bruder aktivierte die Anweisung, nicht an einen Eisbären zu denken, das Muster für Eisbär in den Sprachsystemen seines Gehirns. Gleichzeitig erinnerte ihn sein Gedächtnis, wie ein Eisbär aussieht. Auf der anderen Seite wurden die Kontrollsysteme seines Gehirns (der präfrontale Kortex) und vielleicht die Entscheidungssysteme (Hirnregionen, bekannt als orbitofrontaler Kortex und ventromedialer präfrontaler Kortex) aktiviert und erhielten den Befehl, den Eisbären zu unterdrücken.