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Let's dance! Gesundheit und Tanzen sind zwei Seiten derselben Medaille: Zu tanzen lindert nachweislich die Symptome von Parkinson und Depression; es schult den Gleichgewichtssinn, die Koordination, hilft gegen Demenz besser als jedes Gehirnjogging, kurz, es macht uns zu einfühlsameren, geduldigeren, glücklicheren und anziehenderen Menschen. Tanzen kann sogar Beziehungen retten, denn: Liebe geht durch die Beine. Die Autoren verraten, warum wir überhaupt tanzen, dass Tanz Ausdruck von Gefühlen sein kann, warum er als gesellschaftlicher Kitt dient, als Symbol für Schönheit und Verführung gilt und zur Heilung von Körper, Geist und Seele beiträgt.
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Seitenzahl: 360
Julia F. Christensen • Dong-Seon Chang
Tanzen ist die beste Medizin
Warum es uns gesünder, klüger und glücklicher macht
Ihr Verlagsname
Let's dance!
Gesundheit und Tanzen sind zwei Seiten derselben Medaille: Zu tanzen lindert nachweislich die Symptome von Parkinson und Depression; es schult den Gleichgewichtssinn, die Koordination, hilft gegen Demenz besser als jedes Gehirnjogging, kurz, es macht uns zu einfühlsameren, geduldigeren, glücklicheren und anziehenderen Menschen. Tanzen kann sogar Beziehungen retten, denn: Liebe geht durch die Beine. Die Autoren verraten, warum wir überhaupt tanzen, dass Tanz Ausdruck von Gefühlen sein kann, warum er als gesellschaftlicher Kitt dient, als Symbol für Schönheit und Verführung gilt und zur Heilung von Körper, Geist und Seele beiträgt.
Dr. Dong-Seon Chang studierte Biologie an der Uni Konstanz, Kognitionswissenschaft an der Rutgers University und promovierte am MPI für biologische Kybernetig, Tübingen. Er ist Gewinner mehrerer Science-Slams.
Dr. Julia F. Christensen studierte Neurowissenschaften und Psychologie u.a. in Spanien, Frankreich und England. Sie hat in ihrem Forschungsgebiet mehrere Stipendien und Preise gewonnen. Inzwischen lebt und forscht sie in London an der City University.
Wir wollen die gesamte Nation zum Tanzen bringen. Wir? Erlauben Sie uns, dass wir uns vorstellen. Wir, das sind Dr. Julia F. Christensen und Dr. Dong-Seon Chang, Neurowissenschaftler von Beruf, Tänzer aus Leidenschaft und Autoren dieses Buches.
Ich komme aus Dänemark, und mein großer Traum war es, Tänzerin zu werden. Wie so viele Mädchen begann ich mit fünf Jahren, Ballett zu tanzen, und träumte den Traum der großen Bühnen. Ich setzte alles daran, dass dieser Traum wahr wurde, und trainierte jeden Nachmittag nach der Schule, um nach dem Abitur eine Ausbildung zur professionellen Tänzerin in Frankreich zu beginnen. Mein ganzes Leben war auf Tanz ausgerichtet. Doch es kam anders, als ich es mir erträumt hatte. Bei einem Unfall verletzte ich mich am Rücken so sehr, dass ich meinen Traum aufgeben musste. Das war hart. Also musste ich meine Pläne ändern und studierte schließlich Psychologie und Neurowissenschaften in Frankreich und Spanien und promovierte an der Universität der Balearischen Inseln. Mit Tanz hatte ich nach meinem Unfall nichts mehr am Hut. Zu schmerzhaft war die Erinnerung an meinen geplatzten Traum. Bis ich merkte: Wer sich mit Neurowissenschaften und der menschlichen Psyche beschäftigt, landet sehr schnell beim Thema Bewegung. Und was ist Tanz anderes als komplexe und wunderschöne Bewegungsabläufe? Er wurde zu meinem Forschungsgebiet. Schnell stellte ich fest, dass Tanz, der von vielen ja lediglich als eine Art Balzritual mit Spaßfaktor gesehen wird, so viel mehr ist und viele positive Auswirkungen auf Körper, Geist und Seele hat.
Heute lebe ich in London, forsche und publiziere tagsüber an der Universität zum Thema Gehirn und Tanz, und nachts tanze ich argentinischen Tango. Mein Traum von damals und mein Beruf von heute lassen sich wunderbar verbinden!
Ich bin in Heidelberg geboren und habe koreanische Wurzeln. Nach dem Abitur studierte ich Biologie in Konstanz und Kognitionswissenschaft in New Jersey (USA). Für meine Promotion in Tübingen beschäftigte ich mich mit der Frage, wie Menschen die Handlungen anderer wahrnehmen und miteinander interagieren. Bewegung stand in meiner Forschung im Vordergrund. In meiner Freizeit war vor allem Musik mein Ausgleich. Ich spielte seit meinem fünften Lebensjahr Klavier und besuchte Konzerte.
Als junger Erwachsener, ehrgeizig und auf der Suche nach dem, was mich im Leben einmal ausfüllen soll, gab es auch eine Zeit, in der ich unter einer ausgewachsenen Depression litt. Und ich entdeckte für mich das Tanzen als Heilmittel! Ein guter Arzt und der Swingtanz brachten mir wieder Lebensfreude und Energie, und ich erkannte, dass ich durch das Tanzen eine Brücke spannen konnte zwischen den beiden Dingen, die mich ausfüllten: Musik und Bewegung. Und was dabei in Kopf und Körper passiert, spürte ich an mir selbst! Heute arbeite ich in Korea an einem Zukunftsinstitut, wo ich neue Technologien entwickle, bringe als Science-Slammer neueste Forschungsergebnisse aus den Neuro- und Verhaltenswissenschaften auf die Bühne und bin ab und zu auch als Hobby-Musiker und DJ tätig. Außerdem bin ich Familienvater und Ehemann einer wunderbaren Frau, die aber leider nicht mit mir tanzen will. Vielleicht überzeuge ich sie ja mit diesem Buch?
Doch nun genug über uns. Kommen wir zum Thema! Wussten Sie, dass der Gott Apollo der Gott des Tanzes und gleichzeitig auch der Gott der Musik und des Heilens ist? Und wussten Sie, dass das für viele Mythologien gilt und der Gott oder die Göttin des Tanzes immer auch mit Musik, Heilung und Gesundheit verbunden wird? Ob in der ägyptischen Mythologie die Göttin Bast, der semitische Gott Baal in der heutigen syrischen Region oder der Gott Shiva in der hinduistischen Mythologie – sie alle sind zuständig für Tanz, Gesundheit und Heilung. Tanz ist in vielen Kulturen immer schon ein Teil von Heilungsritualen gewesen. Im brasilianischen Regenwald, in der Kalahari-Wüste von Botswana, im ostasiatischen Buddhismus und Schamanismus, in klassischen indischen Tänzen – und eben auch in der griechischen Mythologie, mit Apollo.
«Apollo» ist auch ein Hotel auf der griechischen Insel Ägina. In diesem Hotel findet jedes Jahr eine wissenschaftliche Konferenz zum Thema soziale Neurowissenschaften statt. Dort haben wir, die Autoren dieses Buches, uns kennengelernt. Ein Wink des Schicksals? Hotel Apollo?
Wohltemperiert an der Hotelbar stehend, begegneten wir uns zum ersten Mal, und in unserem ersten Gespräch ging es gleich um Tanz. Während wir die ausgelassen tanzenden Menschen auf der Hoteltanzfläche beobachteten, fragten wir uns: Warum macht Tanzen eigentlich so glücklich? Kann Tanzen uns gesünder machen? Schlauer? Und als wir genug geredet hatten, stürzten wir uns selber in die Menge und tanzten bis in die Morgenstunden, um nach einem kurzen Schlaf am Morgen die Vorträge der Konferenz zum Thema «Das soziale Ich» zu besuchen. Acht Tage und acht Nächte wechselten wir zwischen wissenschaftlichen Debatten und Tanz hin und her, bis schließlich alles eins wurde. Aus den Themen unserer Gespräche und den Tänzen aus jenen acht Tagen und acht Nächten sind die acht Hauptkapitel dieses Buches hervorgegangen.
Viel Spaß beim Lesen! Und wenn Sie damit fertig sind, oder auch zwischendurch: Tanzen Sie doch mal eine Nacht lang drüber nach!
«Rhythmus ist kein Luxus. Die Leute brauchen ihn. Wie die Luft, die sie atmen.»
Sir Simon Rattle
Wir stehen an der Freiluftbar unseres Kongresshotels, aus den Boxen klingen mitreißende Sommerhits, und wir atmen tief durch. Der erste Tag eines Wissenschaftskongresses ist immer sehr aufregend. Vor allem, wenn er in einem fremden Land stattfindet. Die Anreise, das Hotel, die Kollegen aus aller Welt – das ist viel Input in kurzer Zeit. Und dann geht es auch schon los mit Fachvorträgen, Diskussionsrunden und dem Wissensaustausch. Wann hat man schon einmal die Möglichkeit, mit so vielen Kollegen, die sich mit ähnlichen Themen beschäftigen, zu sprechen? Zu Beginn gibt es bei solchen Konferenzen immer eine Vorstellungsrunde, für die sich die Veranstalter gerne etwas überlegen, um das Ganze lockerer zu gestalten. Dieser Tag begann mit einem kleinen Contest: «Wessen Thema hat die meisten Google-Treffer?» war die Eingangsfrage. «Social Neuroscience» – das Thema des Kongresses, kam nur auf schlappe 8730000 Treffer. «Empathie» war da schon besser, mit über 50 Millionen Einträgen. Aber Julias Forschungsthema hat haushoch gewonnen: Das Wort «Dance» hat 1820000000 Treffer auf Google.
Im Mai des Jahres 1927 flog der amerikanische Pilot Charles Lindbergh allein und nonstop von New York über den Atlantik und landete sicher in Paris. Während Lindbergh mit seiner einmotorigen Spirit of St. Louis durch die Wolken über dem stürmischen Meer tanzte, wurde in den Clubs von Harlem ebenfalls getanzt, und zwar nicht weniger stürmisch! Tanzstile wie Charleston, Jazz und Breakaway waren die damaligen Favoriten. Gleichzeitig eroberte ein neuer Tanzstil gerade das Parkett. Es war eine Mischung aus allem. Die neue Schrittfolge kam durch Zufall zustande: Mattie Purnell and George Snowden tanzten eigentlich gerade den Breakaway, einen Swing-Tanzstil, der ursprünglich aus der afro-amerikanischen Community stammte. Die beiden ließen sich von der Musik tragen, und der neue Schritt kam wie aus dem Nichts! Und nochmals, und immer wieder. Als hätte der Rhythmus die Kontrolle über ihre Beine übernommen. Die anderen Tänzer auf der Tanzfläche bildeten neugierig einen Kreis um die beiden. Sie konnten ihre Augen nicht von ihnen lassen und jubelten ihnen zu. Als man am frühen Morgen den verschwitzten Snowden schließlich fragen konnte, wie dieser neue Tanz denn heiße, fiel sein Blick auf eine Zeitung, die von Lindberghs Transatlantikflug berichtete. Der Titel lautete «Lindy hops the Atlantic», und Snowden antwortete nonchalant und mit einem breiten Lächeln: «Lindy Hop.» Lindberghs Tanz in den Wolken wurde zum Tanz auf dem Parkett. Ein neuer Held und ein neuer Tanzstil waren geboren: Lindbergh und der Lindy Hop. (Es gibt verschiedene Versionen, wie genau der Lindy Hop entstanden ist. Auf jeden Fall spielten Mattie Purnell, George Snowden, Frankie Manning und Norma Miller eine zentrale Rolle darin.)
Das Tolle an diesem neuen Tanz war, dass man ihn sowohl allein wie auch als Paar tanzen konnte. Allein mit den Elementen und sich selber – das ist ein starkes Erlebnis. Und für viele ist das Überqueren der Tanzfläche eine genauso nervenaufreibende Angelegenheit, wie es wohl für Lindbergh die Überquerung des Atlantiks war. Tanzen ist ein aufregendes Gefühl. Es ist fast immer Neuland, je nach Partner, Tanzsaal und der Musik, die gerade läuft. Tanzen kann ein Ritual sein, Sport, Kunst, Beruf, Leidenschaft oder Therapie, doch vor allem ist Tanzen eines: ein Gefühlsausdruck. Ob Kinder zum Katzentanzlied oder die Oma zu Volksliedern im Seniorenheim, der langhaarige Metaler auf Wacken oder die Ballerina im rosa Tutu: Alle tun es – sie tanzen!
Zu tanzen ist tief in uns Menschen verwurzelt: Sobald ein vertrauter Rhythmus erklingt, wollen wir uns bewegen, und sei es nur mit Kopfnicken. Als Neurowissenschaftler wollen wir sogar so weit gehen und behaupten: Unser Gehirn will tanzen. Tanzen ist fest in unserem Gehirn verankert! Der Tanz ist wahrscheinlich so alt wie die Menschheit selbst. Ein kurzer Blick in die Vergangenheit verdeutlicht, wie wichtig das Tanzen in der menschlichen Entwicklung sein muss, denn evolutionär betrachtet scheint diese rhythmische Bewegung auf den ersten Blick ziemlich sinnlos. Die Menschen lebten in einer harten Welt voller Entbehrungen und Bedrohungen. Es kostete viel Zeit und Energie, ausreichend Nahrung herbeizuschaffen und die Feinde, ob Mensch oder Tier, im Griff zu behalten. Langeweile wird in diesen Zeiten jedenfalls nicht aufgekommen sein, und wenn es dunkel wurde, war man wahrscheinlich rechtschaffen müde. Das wirft unweigerlich die Frage auf, warum unsere Vorfahren harterworbene Energiereserven beim Tanzen «verschwendeten». Denn: Auch sie tanzten.
Der Urmensch tanzte in Trauer, vor Freude, für den Regen, um die Götter milde zu stimmen oder den Zorn gegen die Feinde noch anzufachen. Wie wichtig das Tanzen schon für unsere Vorfahren war, kann man an ihren Felsmalereien erkennen – Steinzeitgraffiti, wenn man so will. Es gibt vier Themen, die sich in prähistorischen Felsmalereien wiederholen: Tier- und Jagdszenen, Familie und Besitz, Sex – und Tanz. Das macht den Stellenwert klar: Tanzen muss sehr, sehr wichtig gewesen sein. Und wahrscheinlich ist Tanzen noch viel älter und wurde lange vor den ersten menschlichen Aufzeichnungen praktiziert. Der Musikkognitionsforscher Gunter Kreutz von der Universität Oldenburg bezeichnet Tanzen in einem Spiegel-Interview als ein «Nebenprodukt des aufrechten Gangs», das uns sehr geholfen habe, die kognitiven Fähigkeiten zu verbessern: «Vielleicht hat sich die Menschheit nur durch den Tanz so weit entwickelt.»
Wenn wir unsere Evolutionsgeschichte betrachten, so spricht vieles dafür, dass es nur die Menschen waren, die irgendwann zu musizieren begannen. Unsere Vorfahren lagen natürlich nicht entspannt in der Höhle, um über Kopfhörer dem Requiem von Mozart zu lauschen, sondern für sie war Musik gleichzeitig auch immer aktiv. Sie war Bewegung und die Auseinandersetzung damit, was ihnen durch den Kopf ging und am Herzen lag. Schon seit Urzeiten nutzen also die Menschen die Bewegung zu einem Rhythmus oder zur Musik als körperlichen Ausdruck für die Dinge, die ihr Leben und ihren Alltag bestimmen.
Es sind uns leider keine Choreographien aus den Anfängen der Menschheit übermittelt, denn Tanz fossilisiert ja nicht und bleibt erhalten wie Musikinstrumente und andere Kulturartefakte, die wir heute in kulturhistorischen Museen bewundern können. Tanz vergeht im selben Moment, in dem er getanzt wird – er bleibt nur im Gedächtnis der Tänzer und der Zuschauer. Zum Teil findet man noch heute bei Naturvölkern rituelle Tänze, die uns erahnen lassen, welchen Stellenwert das Tanzen für unsere Vorfahren hatte.
Der Kultur- und Kunsthistoriker Aby Warburg beschrieb die Schlangentänze der Pueblo-Indianer Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Männer des Stammes wollten mit diesen Tänzen dem Regen auf die Sprünge helfen. Sie nahmen giftige Schlangen in den Mund, bissen zu und hielten die lebendigen Reptilen zwischen den Zähnen, während sie tanzten. Die Logik dahinter: Die Erde braucht Wasser. Da die Schlange mit der Erde – und damit mit den Naturkräften – verbunden ist, kann sie besser mit den Wolken kommunizieren als der Mensch. Darum nahmen sie die Schlange in den Mund, damit sie die Botschaft des Menschen an die Wolken übermitteln kann: Wir brauchen Regen.
Wir wissen natürlich heute, dass diese Tänze keinen Einfluss auf den Regen hatten. Doch Menschen, die keine naturwissenschaftliche Erklärung für die Phänomene ihres Alltags hatten, wussten nicht, warum es manchmal regnet und manchmal nicht. Warum es Jahreszeiten gibt. Kommt der Sommer wieder? Und wenn nicht? Kommt nach der Nacht immer der Morgen? Und warum gibt es manchmal so schrecklich laute Gewitter? Sind es Botschaften der Götter, die erzürnt sind?
Für die Urvölker lag im Tanz eine Möglichkeit, die Mystik ihres unerklärbaren Alltags zu bezwingen. Sie hatten nur wenig oder gar keine Kenntnisse von den Naturgesetzen und waren diesen oft schutzlos ausgeliefert. Führt man sich diese Unsicherheiten vor Augen, ist es wohl nicht verwunderlich, dass unsere Vorfahren Strategien entwickelten, um wenigstens das Gefühl zu haben, sie könnten aktiv etwas für das Fortbestehen ihrer Sippe tun. Viele Völker entwickelten unabhängig voneinander Tänze, um ihre Götter zu ehren und zu besänftigen, sich auf die Jagd oder den Kampf einzustellen und sich mit dem Wetter und der Ernte auseinanderzusetzen. Tanz war für sie ein wichtiges Ritual.
Dass tanzende Körper damals wie heute eine große Faszination ausüben, belegen prähistorische Felsmalereien, Julias unzählige Treffer bei Google zum Suchbegriff «Tanz» und die hohen Einschaltquoten bei Fernsehformaten wie «Let’s dance». Menschen bewegen sich rhythmisch zur Musik. Von klein auf und bis ins hohe Alter, egal, welcher Herkunft, überall auf der Welt, denn Tanz ist eine Bewegung wie keine andere. Tanzen kann ein einfaches Wippen sein oder eine hochkomplexe Kunstform wie das klassische Ballett.
Tanz ist einzigartig, weil die Tanzbewegungen einen ganz anderen Grund und Effekt haben als jegliche andere Bewegung. Die meisten Bewegungen sind zielgerichtet. Im Alltag bewegen wir uns, um von A nach B zu kommen, um Arbeit zu verrichten oder in der Welt eine Form von Eindruck zu hinterlassen und zu kommunizieren. Wir nicken oder schütteln den Kopf, schließen eine Tür, winken oder zeigen auf etwas, damit der andere uns versteht. Auch Sportbewegungen verfolgen ein bestimmtes Ziel: Wir überwinden eine bestimmte Distanz in einer bestimmten Zeit, oder wir schießen einen Ball in ein Tor. Meist geht es darum, sich mit anderen zu messen und gegen sie zu gewinnen. Tanz unterscheidet sich von allen anderen Bewegungen: Die Tanzbewegung kommt von innen, und es ist ihr egal, was sie in der Welt bewirkt. Ihr primärer Grund ist der Selbstzweck. Sie ist der Ausdruck eines inneren Zustands. Per Definition ist Tanzen die spontane Bewegung des Individuums zu einem Rhythmus. Der Reiz, dem Rhythmus zu folgen, kommt von innen, und jeder Mensch wird dem Rhythmus auf seine Weise folgen. Um einen Ball zu werfen, vollführt man Bewegungen, die überall auf der Welt ähnlich sind, da es eben nur wenige Varianten gibt, um einen Gegenstand möglichst weit zu werfen. Um zu einer bestimmten Musik zu tanzen, gibt es so viele Möglichkeiten sich zu bewegen, wie es Menschen auf der Welt gibt. Einige mögen bei einem starken Beat hüpfen und zucken, andere suchen fließende Bewegungen, wieder andere bewegen mehr die Arme, andere die Beine. Einige schließen die Augen, andere nicht. Diese Freiheit des Ausdrucks ist einzigartig. Das beschreibt zum Beispiel Wolfram Fleischhauer wunderbar in seinem Buch «Drei Minuten mit der Wirklichkeit»: Eine Balletttänzerin sucht in Buenos Aires einen bestimmten Tangotänzer, in den sie sich in Deutschland verliebt hat, der aber nach einer kurzen leidenschaftlichen Begegnung Hals über Kopf das Land verlassen hat. Sie sucht diesen Mann, indem sie andere Tänzer beobachtet und jene anspricht, die sich so ähnlich bewegen wie er. Sie glaubt, diese Tänzer könnten das Tanzen von ihm gelernt haben. Über die Art der Tanzbewegungen sucht sie nach seiner Identität, und so beginnt eine spannende und faszinierende Geschichte.
So schwer eine genaue Definition des Wortes Tanz ist – sobald man ihn sieht, weiß man, dass es Tanz ist. Tanzen mag ein nach Regeln festgelegtes Ritual sein, eine präzise Kunstform oder eine schweißtreibende Sportart, doch es ist vor allem eines: ein Gefühl, das zuerst etwas mit uns selbst zu tun hat.
Der erste Tag neigt sich dem Ende zu. Wir haben heute schon spannende Vorträge gehört, und es ist schön, so viele Menschen kennenzulernen, die sich mit den gleichen oder ähnlichen Gedanken beschäftigen: Was macht uns als Menschen aus? Was macht uns so einzigartig? Und was passiert dabei in unserem Kopf? In diesem glibberigen Organ, das noch nicht einmal 1,5 Kilo wiegt, schneller arbeitet als die meisten Computer und uns Menschen wahrscheinlich immer ein Rätsel bleiben wird, egal, wie viel wir darüber forschen.
Langsam wird es dunkel. Wir bestellen noch ein Getränk und reden über das Tanzen, während es andere einfach tun. Immer mehr Menschen befinden sich inzwischen auf der Tanzfläche, und der DJ gibt alles, um auch die letzten Tanzmuffel zu bewegen. Die Musik ist mittlerweile so laut, dass man sich nur schwer unterhalten kann. Der Beat nimmt auch Besitz von uns, wir wippen mit den Füßen, und unsere Köpfe nicken im Takt.
«Dong, glaubst du, dass es Menschen gibt, die sich dem Rhythmus völlig entziehen können?»
«Nein. Unser Gehirn will tanzen! Wir haben gar keine Wahl!»
Viele Kognitions- und Evolutionsforscher sind sich einig, dass unsere Unterteilung in verschiedene Kunstformen wie Musik, Tanz und Gesang eine sehr moderne Erfindung ist und dass in der Menschheitsgeschichte sehr lange alle Künste in der Mitte der Gesellschaft zu Hause waren und nicht unterschieden wurden. Das kann man auch daran erkennen, dass es heute noch Sprachen gibt, die nur ein gemeinsames Wort für Musik und Tanz haben. Auch das griechische Ursprungswort für Musik, «Mousike», bedeutete eigentlich Musik und Tanz zusammen, während das Wort «Rhythmus» im Griechischen eigentlich ein Wort war, das sich auf eine Bewegung bezog und nicht nur als Charakteristikum in der Musik gesehen wurde. Das macht viel Sinn, denn die Forschung zeigt, dass Musik und Tanz, also Hören und Bewegen, in unserem Gehirn fest verbunden sind. Die Aufteilung ist eher eine Art Gewaltakt, den unsere aufgeklärte strukturierte Gesellschaft erst vor kurzem eingeführt hat.
Als ich anfing, in London als Wissenschaftlerin zu arbeiten, besuchte ich die Royal Albert Hall, ein imposantes, weltberühmtes Theater. Daniel Barenboim, ein bekannter Dirigent und Pianist, spielte Klavier. Es war atemberaubend. Die Musik drang in mich ein, durchfloss meinen Körper, und ich saß auf meinem Sitz in diesem altehrwürdigen Konzertsaal und musste mich sehr zusammennehmen, um nicht mit der Musik mitzuschwingen. Einige Male konnte ich mich nicht beherrschen, wurde aber gleich durch böse Blicke meiner Sitznachbarn daran erinnert, «dass man das nicht tut». Ich war erstaunt über die Disziplin des Publikums, die trotz dieser wunderbaren Musik keinen Mucks von sich gab und nur in den Pausen zwischen den Stücken klatschte, hustete oder sich räusperte.
Eine ganz andere Erfahrung machte ich, als der persische Künstler Adib Rostami in der Royal Albert Hall spielte. Das Publikum ließ sich vollkommen mitreißen, und keiner saß still. Es wurde mitgefiebert, gelacht und sogar geweint. Manche standen auf und tanzten in den Gängen.
In beiden Fällen verstand mein Gehirn den Rhythmus, ohne dass ich nachdenken musste. Doch das, was wir mit unserem Körper anstellen, wenn wir Rhythmus hören, hängt vor allem davon ab, was wir lernen, während wir aufwachsen, und was zu unserer Kultur gehört. In unserer westlichen Kultur erlernen wir durch unser soziales Umfeld die Spaltung von Musik und Tanz. Wir lernen, stocksteif im Konzert oder im Ballett zu sitzen (und das sogar normal zu finden!), anstatt das zu tun, was unser Gehirn normalerweise ganz automatisch tun würde – nämlich mitzumachen.
Wenn wir Musik hören, können wir oft gar nicht anders, als uns zu bewegen. Bestimmt haben Sie schon einmal mit dem Fuß einfach mitgewippt, ohne dass Sie es eigentlich vorhatten. Das kommt daher, weil in unserem Gehirn die Nervenzellen, die für das Hören und die Bewegungssteuerung zuständig sind, miteinander gekoppelt sind. Geräusche aus unserer Umwelt werden über unsere Ohren direkt als Bewegungsimpulse in die Beine geschickt. Studien haben gezeigt, dass man starke Rhythmen sogar als minimale Muskelkontraktionen in den Armen und Beinen messen kann. Wir werden mit diesen Verknüpfungen schon geboren, und sie werden in den ersten Lebensjahren durch das Verhalten unserer Umwelt noch verstärkt: Wir werden als Babys in den Schlaf gesungen und dazu im Takt gewiegt, wir singen Lieder und klatschen und stampfen. Töne übersetzen sich im Gehirn sozusagen in Bewegungsimpulse. Die Schallwellen unserer Lieblingsmusik übernehmen das Kommando und drängen unsere Muskeln in Bewegung.
Und doch ist der Drang, sich zur Musik zu bewegen, sehr individuell. Mancher mag den Walzer beim Tanztee, ein anderer die Höllenglocken von AC/DC, und es gibt Menschen, die tanzen sogar zu Musik von Justin Bieber. Forscher haben herausgefunden, dass jeder einen ultimativen, individuellen Groove bevorzugt. Je besser uns die Musik gefällt, je klarer wir den Rhythmus heraushören können, umso deutlicher spüren wir unseren persönlichen Groove.
Um zu tanzen, benötigen wir nicht zwangsläufig eine Melodie, aber einen Rhythmus brauchen wir immer. Dabei reicht es nicht, dass einfach irgendwelche Töne erklingen. Sind sie zu schrill und laut oder chaotisch, springen in unserem Gehirn Detektoren an, die Gefahr signalisieren. Wir brauchen einen angenehmen Ton und eine Abfolge von Tönen und Pausen: den Rhythmus. Von Musik sprechen wir meist erst dann, wenn ein Rhythmus und eine Melodie zusammen gespielt werden. Der Rhythmus gibt dem Musikstück so etwas wie eine zeitliche Ordnung, denn er wiederholt sich in regelmäßigen Abständen. Wir erkennen ihn wieder, auch wenn die Melodie etwas völlig Neues aufgreift. Dieser Abstand, in dem die Rhythmusfigur stattfindet, wird in der Musik Takt genannt. Das klingt jetzt komplizierter, als es ist, denn jeder von uns hat den Takt schon einmal gespürt. Die meisten von uns wahrscheinlich in einem Bierzelt, auf dem Schützenfest oder beim Karneval, rechts und links eingehakt zum fröhlichen Schunkeln. Vielleicht haben Sie noch nie im Kopf mitgezählt, aber beim Schunkeln geht es sehr leicht: 1-2-3, 1-2-3 … – ein Dreivierteltakt wie beim Walzer oder «An der Nordseeküste». Es gibt sehr viele andere Taktarten, doch bei uns sind der Vierviertel- und der Dreivierteltakt am gebräuchlichsten. Und in diesen Takten findet der Rhythmus statt. Meist wird er vom Schlagzeuger gespielt und von Percussion und Bass noch betont. Doch Rhythmus ist nicht gleich Rhythmus. Rock ’n’ Roll hat zum Beispiel einen völlig anderen Rhythmus als Rumba, obwohl beide im Viervierteltakt gespielt werden. Tanz und Rhythmus bilden eine unzertrennliche Einheit, und der Rhythmus ist das verbindende Element zwischen Musik und Tanz. Sir Simon Rattle sagte einmal während seines berühmten Projekts Rhythm is it: «Rhythmus ist kein Luxus. Die Leute brauchen ihn. Wie die Luft, die sie atmen.» Vielleicht denken Sie jetzt: «Also ich habe überhaupt kein Rhythmusgefühl!» Doch wir versprechen Ihnen, dass das nicht sein kann. Denn unser ganzes Leben folgt einem Rhythmus. Er ist etwas sehr Natürliches. Wir finden ihn in den Minuten, den Stunden, dem Tag und der Nacht, dem Mond und in den Gezeiten des Meeres. Auch in unserem Körper finden ständig rhythmische Vorgänge statt: Unser Herz schlägt in einem bestimmten Rhythmus, wir atmen ein und aus, wir schlafen und wachen in einer bestimmten zeitlichen Abfolge, und sogar unser Gehirn hat einen Rhythmus: Der Neurowissenschaftler György Buzsaki von der New York University hat festgestellt, dass unsere Nervenzellen im Gehirn rhythmische Schwingungen erzeugen. Um solche komplexe Aufgaben wie Kognition, Emotionen und Sprache zu meistern, müssen unsere Neuronen gewissermaßen zum gleichen Rhythmus tanzen.
Vieles von dem, was wir tun, geschieht in einem unbewussten Rhythmus, und das ist auch gut so. Stellen Sie sich vor, unser Gehirn wäre nicht in der Lage, Regelmäßigkeiten in unserer Umwelt festzustellen. Dann wäre jedes Ereignis ein Novum und müsste neu eingeordnet werden, denn alles könnte potenziell gefährlich sein und müsste beobachtet werden. Das wäre ganz schön anstrengend. Daher hat unser Gehirn von Geburt an auch die Fähigkeit, Regelmäßigkeiten als «Rhythmus» einzuordnen. Es wird hell und dunkel – Tag und Nacht, ungefähr alle 12 Stunden. Wir müssen also nicht ständig erschrecken, wenn es dunkel wird. Sobald wir einen Rhythmus ein paarmal gesehen oder gehört haben, erkennt unser Gehirn ihn wieder, kann ihn voraussehen, und er wird als «ungefährlich» eingestuft.
Der Takt, den wir am besten kennen, ist der Rhythmus unserer Füße, wenn wir gehen: eins-zwei – eins-zwei – eins-zwei. In Spielmannszügen kann man gut beobachten, wie Parademusik den natürlichen Takt der Füße nutzt.
Als die Menschen im 18. Jahrhundert das erste Mal einen Walzer hörten, war der Dreivierteltakt für das Gehirn ein Novum: eins-zwei-drei – eins-zwei-drei … Das war neu und aufregend! Doch auch hier galt und gilt: Sobald unser Gehirn einen neuen Rhythmus ein paarmal gehört hat, wird dieser in unserem Gehirn gespeichert. Es ist also immer eine gute Idee, einem neuen Rhythmus einen Moment lang zu lauschen und ihn vielleicht mit den Händen nachzuahmen. Folgen Sie dem Takt eines Walzers in Wellenlinien vor sich, oder klatschen Sie den Rhythmus. Sobald es mit den Händen klappt, wird es auch mit den Beinen einfacher. Also, Rhythmus, das können Sie schon mal – und zwar von klein auf!
Der Psychologe Istvan Winkler von der Ungarischen Akademie der Wissenschaften in Budapest spielte für eine Studie im Jahr 2009 vierzehn Neugeborenen im Schlaf über Kopfhörer eine Komposition aus Trommel und Bass vor. Ließ er den ersten betonten Schlag im Rhythmus weg, reagierten die Kleinen mit veränderten Hirnströmen. Schon Neugeborene erkennen also eine Struktur im Rhythmus und reagieren auf Veränderungen in der Musik.
Viele Forschungsergebnisse zeigen, dass es unserem Gehirn gefällt, wenn ein Rhythmus vorhersehbar ist. Wir mögen die Regelmäßigkeit. Und dennoch … die meisten Hits und Ohrwürmer brechen an einigen Stellen sehr deutlich aus der Regelmäßigkeit aus: Wenn es zu monoton wird, wird es irgendwann langweilig, und wir hören nicht mehr hin.
Der amerikanische Neurowissenschaftler und Musikprofessor David Huron hat ein ganzes Buch zu diesem Thema geschrieben. Schon der Titel «Süße Erwartung» (Sweet Anticipation) macht klar, dass wir Menschen wiederkehrende Elemente, die unser Gehirn in eine Erwartungshaltung versetzen, lieben. Bricht das Musikstück mit dieser Erwartung, etwa durch andersartige Betonungen, sogenannte Synkopen, dann wird unser Gehirn quasi überrumpelt. Das ist deutlich bei Messungen der Hirnströme zu erkennen, sie verändern sich. Verantwortlich dafür ist der Neurotransmitter Dopamin.
Evolutionär ist diese Reaktion unseres Gehirns gut zu erklären, denn jede Abweichung von der Regelmäßigkeit verdiente die besondere Aufmerksamkeit unserer Vorfahren, schließlich konnte sie Gefahr bedeuten. Das Dopamin motiviert uns bis heute dazu, Veränderungen in einem Rhythmus Beachtung zu schenken. Zu viel Unvorhergesehenes ist allerdings nicht für jedes Gehirn etwas – darum ist auch komplexe Jazzmusik nicht jedermanns Geschmack. Auf die richtige Mischung kommt es an. Der kanadische Psychologe und Philosophieprofessor Daniel Berlyne erforschte diese Mischung und stellte fest, dass die meisten Leute in dieser Hinsicht einen moderaten Level von Komplexität und Abweichung vorziehen: nicht zu viel und nicht zu wenig.
Genau das ist die Kunst, die einen guten DJ ausmacht. Man muss sich unweigerlich fragen: «Was bringt die Menschen eigentlich zum Tanzen?» Leider gibt es da keine Zauberformel, die für alle funktioniert. Je nach Abend, je nach Stimmung, je nach Publikum muss man unterschiedliche Musik auflegen, um die Menschen auf die Tanzfläche zu locken. Als ich nach Berlin zog, lernte ich einige bekannte DJs kennen, durfte ihnen über die Schulter schauen und konnte in aller Ruhe beobachten und experimentieren. Eine meiner wichtigsten Beobachtungen: Es gab doch so etwas wie eine Gemeinsamkeit in den Songs, die die Menschen auf die Tanzfläche bringt. Man braucht Lieder, die viele Leute kennen und deren Beat so eindeutig ist, dass sie mitnicken können. Sobald man es geschafft hat, dass sich mehr als drei bis vier Leute im Takt bewegen, ist das schon der erste Schritt. Doch dann braucht man «funky Beats»: Takte, die nicht regulär schlagen, sondern mit einer leichten Verschiebung, den Synkopen. Dann schlägt die gute Stimmung oftmals in Begeisterung um, und die Tanzfläche füllt sich.
Dr. Maria Witek und ihre Kollegen von der Universität Århus in Dänemark wollten dieses Phänomen 2016 etwas genauer untersuchen. Sie entwarfen 50 kurze Schlagzeug-Breaks im Viervierteltakt mit unterschiedlich vielen dieser Synkopen, um rhythmische Spannung zu erzeugen. Diese Breaks wurden von den Versuchsteilnehmern als unterschiedlich komplex empfunden und unterschiedlich angenehm bewertet. Witek nutzte außerdem den Bewegungssensor einer Wii-Box, um die Oberkörperbewegungen der Probanden während der Breaks zu messen. Und? Was meinen Sie? Konnten die Probanden das Grooven lassen? Natürlich nicht. Immer dann, wenn ein Break gespielt wurde, der die richtige Mischung aus Erwartung und Überraschung hatte, groovten die Probanden los. Einige machten nur minimale, andere eher größere Bewegungen, aber still sitzen konnte keiner!
Die Magie der Synkopen kann man auch auf einem YouTube-Video beobachten, auf das wir bei unserer Recherche gestoßen sind: Drei Italiener sitzen in einem Auto. Die Kamera nimmt sie von vorne auf. Sie lassen sich mit explosiver italienischer Gestik über den neuesten Sommerhit «Despacito» aus. Sie können ihn nicht ausstehen! Sie hassen es, dass der Song ständig und überall läuft, und sie hassen es, wie alle Leute bei dem Song lostanzen, sobald er ertönt. Sie sind sich einig: Dieser Song ist ein Desaster. Dann läuft der nächste Song im Radio an. Es ist … Despacito. Während sich die Italiener noch darüber beschweren, fangen sie doch immer wieder zwischendurch an, mitzusingen, mit dem Kopf zu wippen und zu grooven – sie können sich dem Song nicht entziehen, obwohl sie ihn eigentlich doof finden wollen.
Jedes Jahr gibt es einen Sommerhit, den wir alle irgendwann nicht mehr hören können. Aber wenn er dann zum x-ten Mal im Radio läuft, erwischen wir uns doch dabei, dass wir mitgrooven.
In unserer Hotelbar erklingen die ersten Takte von «Uptown Funk» von Mark Ronson und Bruno Mars. Wenn das kein funky Beat ist! Die Tanzfläche ist brechend voll. Der DJ scheint sein Handwerk zu beherrschen und weckt bei seinem Publikum aus Urlaubern und Wissenschaftlern offensichtlich genau die richtigen Erwartungen. Sogar unsere Professoren, die sonst immer so ernst schauen, tanzen alle.
«Gibt es eigentlich ein Publikum, das du als DJimmer auf die Tanzfläche bekommst?» Dong muss keine Sekunde nachdenken: «Meinen Sohn!»
Theo wollte als Baby immer genau dann Action, wenn wir Eltern völlig erschöpft waren. Er schrie und weinte, zappelte und quengelte und verlangte unsere komplette Aufmerksamkeit. Dann funktionierte ein Trick immer besonders gut: Swing tanzen! Das Baby im Arm, das passende Lied: «Dream a Little Dream of Me», oder «On the Sunny Side of the Street», zusammen mit Lindy-Hop-Schritten, war die magische Mischung für Theo. Er hörte auf zu weinen, schaute freudig überrascht, beruhigte sich schließlich, atmete wieder gleichmäßig und ließ sich so in den Schlaf tanzen. Theo war glücklicherweise nicht wählerisch, auch Jive, Jitterbug oder Rock ’n’ Roll funktionierten gut – Hauptsache, der «Schritt-Schritt-Wiege-Schritt» war da. Ich weiß nicht, wie viele Nächte ich mit ihm durch unsere Wohnung tanzte, um ihn zum Einschlafen zu bringen …
Als er etwas größer war, liebte er den Soundtrack des Films «Sing», ein animierter Kinderfilm, in dem Tiere einen Gesangswettbewerb bestreiten. Am liebsten mochte er Bamboleo, gesungen von einer Horde Schweinen. Aber auch «Don’t Stop Me Now» von Queen. Das ist noch immer sein Lebensmotto, und sobald er stehen konnte, hüpfte, klatschte und headbangte er, was sein kleiner Körper hergab, sobald dieser Song ertönte. Es ist so einfach, ihn zum Tanzen zu bringen!
Das kennen wahrscheinlich die meisten Eltern von ihren Kindern. Doch was auf den ersten Blick so selbstverständlich erscheint, ist im Tierreich ziemlich einzigartig. Kaum ein anderes Lebewesen außer dem Menschen scheint in der Lage zu sein, auf einen Sinnesreiz von außen spontan mit rhythmischen Bewegungen zu reagieren. Und dieses Phänomen ist überall auf der Welt gleich. Ein Embryo reagiert bereits im Mutterleib mit Bewegungen auf Musik. Und das bleibt durch die ganze Kindheit so, egal, ob der zweijährige Leon zu den wummernden Bässen von Metallica headbangt oder die zehnjährige Charlotta gedankenverloren zu Chopin durchs Wohnzimmer tanzt. Es funktioniert bei Dongs Sohn mit asiatischen Wurzeln genauso gut wie bei Julia mit ihren nordischen Genen.
Mein Vater hört schon immer gerne Musik. Und er hört sie gerne laut. So laut, dass meine Mutter ständig um meine Ohren besorgt war und mir zum Schutz ein Paar Ohrschützer in Form von rosa Kaninchen kaufte. Ich war ungefähr zwei Jahre alt, als wir zusammen auf einer Hi-Fi-Messe waren. Die Bässe wummerten, und die Füße und Köpfe der Messebesucher wippten im Takt. Ich war mit meinen Kaninchen auf den Ohren in meinem Kinderwagen – und mein Vater in seinem Element. Meiner heute noch bestürzten Mutter zufolge ließ ich die rosa Kaninchen tanzen. Eine ganz besonders schnittige Hi-Fi-Anlage hatte die Aufmerksamkeit meiner Eltern gänzlich eingenommen. Als sie sich mir wieder zuwandten, hatte ich mich in Tanzposition begeben. Im Kinderwagen kniend und mit den rosa Kaninchen in der Hand (nicht auf den Ohren), wippte ich zur Musik: Mein Kopf, mein Körper, die Kaninchen und mein ganzer Kinderwagen bewegten sich im Takt auf und ab. Die Federung des Kinderwagens verstärkte den Rhythmus noch und gab dem Ganzen den richtigen «Wumms». Ein kleiner Zuschauerkreis hatte sich auch schon gebildet. «Sieh mal, wie die Kleine tanzt!», riefen die Leute. Niemand hatte es mir beigebracht, niemand hatte mich dazu aufgefordert – das Wummern der Bässe aus den Boxen hatte gereicht, dass die Kaninchen und ich tanzten. Für die umstehenden Erwachsenen war völlig klar, was ich da tue. Sie sagten nicht, ich würde hüpfen, wippen oder springen, sondern: Die Kleine tanzt! Da gab es keinen Zweifel.
Die Musik hatte also von Klein Julia Besitz ergriffen. Sie konnte nichts dafür! Und die Wissenschaft gibt ihr recht: Mehrere Studien zeigen, dass Babys und Kleinkinder den Drang zu tanzen nicht unterdrücken können. Man kann und sollte es Kindern also nicht verbieten zu tanzen. Und wenn sie dabei in einem wackeligen Kinderwagen sitzen, sollte man sie eben herausheben …
Wenn wir geboren werden, fehlen unserem Gehirn viele wichtige Fähigkeiten, die sich erst durch aufwendige Lernprozesse entwickeln, was oft Jahre braucht. Doch der Impuls, einem Rhythmus mit einem Tanz zu folgen, ist schon im Gehirn eines Neugeborenen voll ausgereift, fanden Wissenschaftler der Universität York gemeinsam mit Kollegen der finnischen Universität Jyväskylä heraus. Natürlich sind Neugeborene motorisch noch nicht so auf Zack, dass sie komplexe Tänze aufs Parkett legen könnten. Deshalb spricht man bei Babys schon von «Tanzen», wenn sie ihre Bewegungen spontan, und ohne dass sie ihnen jemand zeigt, zu einem Rhythmus synchronisieren. In einer Studie mit 120 Kindern im Alter zwischen fünf und 24 Monaten stellten die Wissenschaftler fest, dass sich die Kleinen, sobald Musik oder Trommelschläge erklangen, dazu bewegten und ihre Bewegungen umso stärker wurden, je klarer der Rhythmus erklang. Die Babys wippten mit den Armen und Beinen und trafen dabei so häufig den Takt, dass es kein Zufall sein konnte. Das klappte allerdings nur mit rhythmischen Geräuschen. Hörten die Babys Töne in chaotischer Abfolge oder nur Sprache, dann reagierten sie nicht.
Das Gefühl für Bewegungen zur Musik ist uns also angeboren. Das ist sehr erstaunlich, denn Menschenbabys sind, im Gegensatz zu vielen Tierbabys, völlig hilflos nach der Geburt – doch tanzen können wir sofort. Die Wissenschaftler haben übrigens noch etwas anderes festgestellt: Die Babys lächelten, wenn sie tanzten. Die Bewegung zur Musik scheint also von Geburt an mit einem Gewinn an Freude gekoppelt zu sein.
Wir beobachten einen Kollegen, der am Rande der Tanzfläche an der Wand lehnt, ein Glas Wein in der Hand, und die Tanzenden beobachtet. Er hat heute einen spannenden Vortrag über Koordination und Kommunikation gehalten und wie wichtig es für soziale Bindungen ist, an gemeinsamen Aktionen teilzunehmen.
«Guck mal, Julia! Komisch, dass nun ausgerechnet er hier so alleine und verloren am Rande steht. Auf mich machte er so einen kontaktfreudigen und offenen Eindruck!»
«Ich glaube nicht, dass er introvertiert ist. Und ich glaube auch, dass er sehr genau weiß, wie viel Spaß er mit den anderen haben könnte. Er ist schließlich sogar Spezialist auf diesem Gebiet. Vielleicht traut er sich einfach nicht?!»
Andrés aus Kolumbien und Kurt aus Deutschland trafen sich als Austauschstudenten an der Universität der Balearischen Inseln auf Mallorca. Bei den nächtlichen Ausflügen stand Kurt am liebsten mit seiner Bierflasche an der Theke und schaute in die Gegend, während Andrés das Tanzbein schwang. Ob Salsa, Samba, Mambo oder Tango – der Kolumbianer war nicht zu stoppen. Ich traf die beiden in einer Tanzbar an der Hafenpromenade in Palma. Das coole Rumgestehe von Kurt kam mir sehr bekannt vor: Deutschland und Dänemark belegen in der Disziplin «Männer an der Bar» die vordersten Ränge. Ich fragte Andrés nach seinem Tanzgeheimnis: «In Kolumbien bist du einfach der letzte Idiot, wenn du nicht tanzen kannst. Kein Mädchen guckt dich an. Und wenn du Freunde haben und auf Partys eingeladen werden willst, lernst du lieber tanzen, sonst stehst du ganz schön allein da.»
Eine Umfrage der Zeitschrift «Men’s Health» hat ergeben, dass in unseren nordischen Gefilden nur 10 Prozent der Männer gerne tanzen, allerdings 90 Prozent der Frauen. Dieses Missverhältnis kann man in jeder Tanzstunde sehen, wo längst Mädchen mit Mädchen tanzen, weil zu wenig Jungs im Tanzkurs auftauchen. Die logische Konsequenz daraus ist, dass viele Jungen nicht tanzen lernen. Und das wiederum ist der Grund, warum sie es als Männer nicht tun: Die meisten Männer, die nicht tanzen, begründen das damit, dass sie schlechte Tänzer seien. Eine Katze, die sich selbst in den Schwanz beißt! Irgendwie scheinen viele Männer zu befürchten, sie könnten nicht souverän wirken, sondern peinlich. Statt sich zu bewegen, halten sie sich also am Bierglas fest und beobachten die anderen, die sich offensichtlich amüsieren. Bei vielen Jungen gilt Tanzen als extrem uncool. Warum das so ist, scheint ein komplexes Thema zu sein. Tatsache ist, liebe Männer, dass Frauen tanzende Männer sehr attraktiv finden. Es lohnt sich also, einen Tanzkurs zu machen! Sie haben Angst, sich zu blamieren? Beginnen Sie mit einem Anfängerkurs, dort sind schließlich alle Anfänger. Ihre Tanzpartnerin wird froh sein, dass sie einen männlichen Partner zum Tanzen hat, und alle anderen sind mit ihren eigenen Füßen so sehr beschäftigt, dass sich keiner nach Ihnen umdrehen wird. Und ehe Sie sich’s versehen, können Sie es plötzlich.
Als ich Kurt und Andrés ein halbes Jahr später zur Abschlussparty ihres Austauschjahres traf, hatte Kurt das große Latinum im Hüftschwung. Sein lateinamerikanischer Kommilitone grinste breit, als er meine überraschte Miene bemerkte: «Ich habe ihm Angst gemacht, dass er keine Frau abbekommen wird. Bei allen Stammesritualen dieser Welt muss der Mann erst einmal einen Tanz hinlegen, bevor die Dame ihn eines Blickes würdigt. Letztlich seid ihr Mädels doch selber schuld. Ihr müsst euch Tänzer aussuchen! Wenn ihr die Männer ohne Tanz akzeptiert, bringt ihr die Naturordnung durcheinander!», sagte er augenzwinkernd. «Wer eine Frau will, muss sich dem Untier Angst gestellt haben, auch der Angst, sich lächerlich zu machen. Wenn ein Kerl sich noch nicht mal der Tanzangst stellen kann, wie soll das dann erst in anderen Bereichen werden?»
In Kolumbien nimmt man offensichtlich kein Blatt vor den Mund, und wenn es eher peinlich ist, nicht zu tanzen, als zu tanzen, dann tanzt man. Da passt auch das japanische Sprichwort: «Wir sind Narren, egal, ob wir tanzen oder nicht, also können wir auch genauso gut tanzen.»
Wenn Sie mich fragen, was das beste Geschenk ist, das ich jemals jemand anderem gemacht habe, dann wäre meine Antwort: «Ich habe meinen Freund zum Tanzen gebracht!» Und tatsächlich haben mir mehrere Freunde und Freundinnen schon mal gedankt, dass ich sie mit meiner Tanzleidenschaft angesteckt habe. Sie haben dabei Freunde fürs Leben gewonnen und ein Hobby gefunden, das sie bis zum Ende ihres Lebens mitführen werden.
Aber nicht alle von uns haben einen Freund, der sie auf die Tanzfläche zerrt. So sitzen wir also auf Barhockern, trinken das dritte Bier in Folge und bestaunen die Menschen auf der Tanzfläche. Sie lachen, haben Spaß, bewegen sich, flirten – und wir sitzen an dieser Bar und denken: «Ich kann das nicht!»
Dabei gibt es nur sehr wenig Menschen, die es wirklich nicht lernen können. Es sind nur 1,5 Prozent der Bevölkerung, und die Wahrscheinlichkeit, dass ausgerechnet Sie dazugehören, ist dementsprechend sehr, sehr gering. In der Forschung ist «Mattieu», wie er genannt wird, dafür bekannt. Obwohl seine Ohren völlig in Ordnung sind, kann er keine Tonfolgen oder einen Rhythmus erkennen. Geschweige denn eine bekannte Melodie nachsingen. Oft kann er noch nicht einmal zwei verschiedene Melodien voneinander unterscheiden. «Die meisten Menschen hören falsche Töne. Das kann ich nicht. Für mich klingt alles gleich!», gibt Mattieu zu. Diese angeborene Störung wird «Amusia» genannt. Menschen, die an ihr leiden, können weder Rhythmen klassifizieren noch ihre Körperbewegungen einem vorgegebenen Rhythmus anpassen. Sie können einem Metronom problemlos folgen, aber eben nicht Rhythmen, die in einer Melodie vorkommen. Sie sind also nicht farbenblind, sondern musikblind – und daher eben auch tanzblind. Menschen wie Mattieu empfinden jegliche Form von Musik als eine Art Hämmern oder zufälliges nerviges oder gar schmerzhaftes Gedudel.
Die Mehrheit der Menschen ist allerdings, wie gesagt, nicht tanzblind. Es sind Unsicherheit und Scham, die viele von uns vom Tanzen abhalten. Scham ist eine Emotion, die wir bei unserer Geburt noch nicht haben. Lara, die Tochter einer Kollegin, tanzte letzten Sommer noch frei und selbstverloren zur Gitarrenmusik im Zeltlager. Im Sommer darauf stand sie stocksteif am Rand, und keine zehn Pferde hätten sie dazu bringen können, mit den anderen zu tanzen. «Aber letztes Jahr hast du doch noch so gern getanzt!», sagte ihre Mutter ratlos, während sie versuchte, Lara von ihrer Seite auf die Tanzfläche zu scheuchen. Was war geschehen?
Scham ist dem Menschen zwar angeboren – jeder schämt sich irgendwann –, doch sie kommt erst zum Tragen, wenn wir in der Lage sind, uns selbst aus der Perspektive der anderen zu sehen. Der Moment in der Kindheit, in dem Kinder aufhören, spontan zu tanzen, stimmt mit dem Moment überein, in dem das Kind anfängt, sich selbst als soziales Wesen inmitten anderer sozialer Wesen wahrzunehmen. Im Alter von fünf bis sieben Jahren wird es plötzlich wichtig, was andere denken. Dann tauchen Schamgefühle auf, denn wir vergleichen den «Ist-Zustand» mit dem, was wir gerne wären. Und wenn das nicht übereinstimmt (oder wir meinen, dass es das nicht tut), beginnen wir, uns zu schämen. Den Höhepunkt dieser Empfindungen erreichen wir in der Pubertät, denn jetzt sind alle Augen auf uns gerichtet. Alle – wirklich alle – beobachten uns, und nur uns. Der Busfahrer, die Nachbarin, der nette Junge aus der Zehnten und dieses Mädchen, das nie ein Wort mit mir spricht.
Das ist natürlich nicht wirklich so, aber während der Pubertät reifen verschiedene Hirnregionen langsamer als andere, und dieses unreife Gehirn sorgt für komische Gefühle. Wir sind in dieser Zeit physisch und psychisch eine einzige Baustelle und dadurch sehr mit uns selbst beschäftigt. So sehr, dass wir das Gefühl haben, der Mittelpunkt der Welt zu sein und von jedem beobachtet und bewertet zu werden.
Und nicht nur das. In der Pubertät glauben wir, dass auch unsere Gedanken, Gefühle und Ängste für andere völlig offensichtlich sind. Wir denken, wir leben ein Leben auf dem Präsentierteller. Je nach Persönlichkeit ist das für einige ein angenehmes Gefühl, andere wollen sich deshalb am liebsten den ganzen Tag verstecken. Und mit diesem (Irr-)Glauben, wir seien der Mittelpunkt der Welt, stehen wir nun plötzlich auf einer Tanzfläche. Aus den