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**Ein dunkles Rätsel für die neue Herrscherin** Als neu gekrönte Königin von Melidiya ist Shanini fest entschlossen, ihrem Volk eine gute Herrscherin zu sein und das gespaltene Land wieder zu einen. Doch als es in der Hauptstadt zu rätselhaften Morden kommt, muss sie sich erneut der dunklen Vergangenheit ihres Reiches stellen. Zusammen mit dem geheimnisvollen Geisterjäger Lycian, der ihr schon seit ihrer ersten Begegnung nicht mehr aus dem Kopf gehen will, begibt sie sich auf eine Reise, die Grauenhaftes offenbart: Ein uralter Fluch droht die gesamte Welt in Gefahr zu bringen. Erstmalig werden beide Seiten des Landes zur Zielscheibe eines perfiden Plans, während alle Fäden zurück zu Shaninis schicksalhaften Kleidern laufen … Lass dich von der Magie der Stoffe bezaubern und begib dich in eine orientalische Welt, in der nichts ist, wie es scheint und eine uralte Prophezeiung über Krieg oder Frieden bestimmt! //Dies ist der zweite, in sich abgeschlossene Band der magischen Dilogie »Woven Magic«. Alle Bände der Fantasy-Liebesgeschichte bei Impress: -- Die Magie der Mitternachtsrobe (Woven Magic 1) -- Der Fluch der Schicksalsrobe (Woven Magic 2) Jeder Roman der Serie ist in sich abgeschlossen und kann eigenständig gelesen werden.//
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Impress
Die Macht der Gefühle
Impress ist ein Imprint des Carlsen Verlags und publiziert romantische und fantastische Romane für junge Erwachsene.
Wer nach Geschichten zum Mitverlieben in den beliebten Genres Romantasy, Coming-of-Age oder New Adult Romance sucht, ist bei uns genau richtig. Mit viel Gefühl, bittersüßer Stimmung und starken Heldinnen entführen wir unsere Leser*innen in die grenzenlosen Weiten fesselnder Buchwelten.
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Marit Warncke
Der Fluch der Schicksalsrobe (Woven Magic 2)
**Ein dunkles Rätsel für die neue Herrscherin**
Als neu gekrönte Königin von Melidiya ist Shanini fest entschlossen, ihrem Volk eine gute Herrscherin zu sein und das gespaltene Land wieder zu einen. Doch als es in der Hauptstadt zu rätselhaften Morden kommt, muss sie sich erneut der dunklen Vergangenheit ihres Reiches stellen. Zusammen mit dem geheimnisvollen Geisterjäger Lycian, der ihr schon seit ihrer ersten Begegnung nicht mehr aus dem Kopf gehen will, begibt sie sich auf eine Reise, die Grauenhaftes offenbart: Ein uralter Fluch droht die gesamte Welt in Gefahr zu bringen. Erstmalig werden beide Seiten des Landes zur Zielscheibe eines perfiden Plans, während alle Fäden zurück zu Shaninis schicksalhaften Kleidern laufen …
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Vita
© privat
Marit Warncke, geboren 1995 in Hamburg, liebt es, sich in kreative Projekte zu stürzen. Nach ihrem Abschluss in Modedesign gründete sie ihre Firma »Make Ma!«, eine Onlineplattform für Näh- und Stickbegeisterte mit großer YouTube Community. Nebenbei produziert sie Imagefilme für Unternehmen, illustriert und schreibt leidenschaftlich. Romane zu veröffentlichen war von Kindheit an ihr größter Traum.
Alles, woran man glaubt, beginnt zu existieren.
— Ilse Aichinger
Liebe*r Leser*in,
dieser Roman enthält potenziell triggernde Inhalte. Aus diesem Grund befindet sich hier eine Triggerwarnung. Am Romanende findest du eine Themenübersicht, die demzufolge Spoiler für den Roman enthält.
Entscheide bitte für dich selbst, ob du diese Warnung liest. Gehe während des Lesens achtsam mit dir um. Falls du während des Lesens auf Probleme stößt und/oder betroffen bist, bleib damit nicht allein. Wende dich an deine Familie, Freunde oder auch professionelle Hilfestellen.
Wir wünschen dir alles Gute und das bestmögliche Erlebnis beim Lesen dieser besonderen Geschichte.
Marit Warncke und das Impress-Team
Der Geruch von Tod hing in der Luft. Auf dem Boden der alten Scheune lag ein Teppich aus Menschen. Ihre Körper waren erschlafft, leblos. Sie hatten nicht einmal mitbekommen, wie ihre Füße sie hierhergetragen hatten, und auch nicht, wie wenig später jeder Lebensgeist aus ihnen gewichen war.
Nun lagen sie da und ein erster Teil des großen Ganzen war geschafft. Der erste Schritt in Richtung vollkommener Erlösung.
In der Mitte des Raumes stand eine knochige Gestalt. Obwohl der Kopf unter einer dunklen Kapuze verborgen war, konnte man den Hochmut und Stolz darunter beinahe pulsieren sehen. Nur der verkniffene Mund blitzte unter dem Stoff hervor und offenbarte ein siegessicheres Grinsen.
Plötzlich beugte die Person sich hinab zum Menschenteppich und wählte eine hübsche junge Frau mit brustlangem schwarzem Haar. Mit einer blitzschnellen Bewegung zog sie ein Messer aus ihrer Manteltasche, die andere Hand packte die Leiche am Schopf und zog sie zu sich heran. Als die Gestalt die eiserne Hand kurz löste, pendelte der Kopf schlaff zur Seite.
Der Vermummte zischte kaum hörbar, wickelte das Haar fester um die Faust. Einen kurzen Augenblick verharrte er, doch dann schoss seine bewaffnete Hand hinab zum Kopf des leblosen Körpers. Es knirschte leise, als die Klinge durch die Haare schnitt. Mit akribischer Genauigkeit wiederholte die dunkle Gestalt ihr Vorgehen, schnitt wieder und wieder durch das feine Haar, bis eine Strähne nach der anderen sich löste und auf den dreckigen Boden fiel. Erst als der Kopf gänzlich kahl geschoren war, ließ die Kapuzengestalt von der jungen Frau ab und ihr Kopf fiel mit einem dumpfen Geräusch in den Schmutz.
Shanini
Der Winter hatte sich wie ein feuchtes Tuch über Melidiya gelegt. Es war kühl geworden, die Sonne hatte nicht mehr so viel Strahlkraft und ein starker Wind fegte durch die Stadt. Eine Brise streifte mein Gesicht. Es roch nach aufgewirbeltem Sand, Regen und Rasierwasser.
Ich schlang den Mantel enger um meinen Körper und ließ meinen Blick durch die Arena schweifen. Sie war das älteste Bauwerk von Arada und hatte die Form eines Us. In der Mitte lag eine längliche Bühne aus Pflastersteinen, darum bog sich eine Rennstrecke. Die prall gefüllten Zuschauerränge rahmten die Arena ein und schlossen ganz oben mit einem Saum aus Steinsäulen ab. Die königliche Loge lag an der Stirnseite, genau so, dass man von hier aus den besten Blick auf Bühne, Start- und Zielpunkt hatte.
Normalerweise wurden hier Pferderennen ausgetragen, eine der begehrtesten Sportarten des Landes. Heute aber waren wir aus einem anderen Grund hier. Heute war der Tag der Manat, der Göttin des Schicksals. Diesen verbrachte man traditionellerweise im Kreise der Familie, doch ich hatte mich dafür eingesetzt, in diesem Jahr eine öffentliche Festivität zu veranstalten. Die düsteren Ereignisse der letzten Zeit hingen vielen Menschen noch immer nach und umso wichtiger hatte ich es gefunden, ein Fest zu veranstalten, das die ganze Stadt etwas aufheitern würde.
Auch wenn der Vorschlag bei einigen konservativen Hofmitgliedern Skepsis und Unmut hervorgerufen hatte, war der sehr viel größere Teil der Stadt begeistert von meinem Vorhaben gewesen. Das wiederum machte mich glücklich und gab mir Auftrieb. Ich musste noch immer in meine Rolle als Königin hineinwachsen. Bei meiner Krönung hatte ich dem melidischen Volk versprochen, es mehr einzubeziehen, sowohl in politische Entscheidungen als auch ins gesellschaftliche Miteinander. In den seither vergangenen Wochen hatte ich alles darangesetzt, dieses Versprechen einzuhalten, auch wenn sich das oft als überraschend schwierig erwiesen hatte.
»Es geht los!«, rief Zoe und riss mich aus meinen Grübeleien.
Sie trug ein orange gemustertes Kleid mit gebauschten Ärmeln, die mich ein wenig an Hähnchenkeulen erinnerten. Genau wie meine Freundin begann auch ich zu applaudieren, als das Orchester, das rings um die Bühne positioniert war, einsetzte und die Arena mit einer epischen Melodie füllte. Im gleichen Atemzug entbrannte auf der Bühne ein Feuerwerk und goldene Funken stoben in die Luft. Die vollen Ränge brachen in Jubel aus, woraufhin sich ein Lächeln auf mein Gesicht stahl. Die Stimmung war ausgelassen, die Musik schaffte es, dass all die Fremden in der Arena plötzlich zu einer Einheit verschmolzen.
Das hier ist sogar noch besser als in meiner Vorstellung, dachte ich und applaudierte lauter.
Kurz darauf öffneten sich die Tore und ein Meer aus Tänzerinnen stürmte die Rennbahn. Sie waren in luftige rote Kleider gehüllt, mit Ketten aus kleinen goldenen Plättchen, die sich um ihre Körper wanden und bei jeder Bewegung klirrten. Perfekt synchron breiteten sie die Arme aus und zirkelten durch die Luft, elegant wie Pfauen, die jeden Moment in die Luft entschwinden würden. Mit grazilen Schritten bewegten sie sich durch die Arena, kreiselten umeinander und ergaben dabei ein eingespieltes Bild. Ihre Körper schienen von der Musik gelenkt zu werden, jede Bewegung schwebte im Takt, als wären die Klänge aus Wasser und die Tänzerinnen mit der Fähigkeit gesegnet, darin zu baden. Ich realisierte, dass ich vor lauter Bewunderung aufgehört hatte zu klatschen.
Laute Pauken setzten ein und ein Zug aus Musikern marschierte hinter den Tänzerinnen auf die Rennbahn. Sie schlugen die zitternden Laute im Takt der Musik an und machten das Spektakel nur noch gewaltiger. Hinter ihnen stürmte plötzlich ein Pulk Turner in die Arena, einige machten Handstände und Saltos, andere trugen Bänder und Ringe mit sich, jonglierten und verbogen sich auf fast surreale Art und Weise. Mit erhellten Gesichtern schoben sie sich zwischen den Tänzerinnen hindurch, die weiter in ihren Tanz vertieft umherwirbelten. Es passierte so vieles gleichzeitig, dass ich gar nicht wusste, wo ich zuerst hinsehen sollte. Ich hatte meine Berater gebeten, die besten Artisten des Landes zu engagieren, aber das hier überstieg all meine Erwartungen.
Zoe kreischte begeistert und wiegte sich zur Musik, während ich meinen Blick starr auf die Mitte der Arena gerichtet hielt, um ja keinen Moment zu verpassen.
Immer weiter wurde die Menge ergänzt und brachte die Zuschauerreihen dazu, sich in ihrem Beifall zu überschlagen. Die Kinder in der ersten Reihe streckten ihre Arme aus, als könnten sie die Tänzerinnen und Musiker so mit ihren Fingerspitzen berühren.
Als ein Gefühl von Wärme durch meinen Körper schoss, riskierte ich einen Blick zu den anderen, die neben mir in der königlichen Loge saßen. Tarik stand schräg hinter mir in ruhiger und aufrechter Haltung, in seinen Augen erkannte ich jedoch ein vergnügtes Blitzen. Berk, mein engster Berater, der normalerweise starr wie ein Baumstumpf war, wippte mit einem Fuß, und sogar Zaim, einer meiner schärfsten Kritiker, wirkte zum ersten Mal sprachlos.
Zufrieden wandte ich mich wieder dem Schauspiel zu. Gedanklich schwor ich mir, häufiger auf mein Bauchgefühl zu hören, denn so falsch hatte ich mit dieser Idee offenbar nicht gelegen.
In rasender Geschwindigkeit rauschte die Vorstellung an mir vorbei. Erst als das Finale mit großem Feuerwerk einsetzte und die Künstler sich verbeugten, fand ich wieder zurück in die Realität.
Jetzt kam der wirklich überraschende Teil der Veranstaltung und leichte Nervosität stieg in mir auf. Kaum waren die Tänzerinnen und Turner verschwunden, marschierte ein Teil der königlichen Garde ein. Die Menge stieß bei ihrem Anblick überraschte Laute aus und fiel in zaghaften Applaus.
Die Garde ließ sich nichts anmerken und marschierte im Gleichschritt weiter. Der Großteil von ihnen war schon viele Jahre im Einsatz, aber es waren auch einige Neue dabei. Mehrere junge Männer und Frauen aus niederen Rängen hatten sich im Widerstand so engagiert, dass sie nun bis zur königlichen Garde aufgestiegen waren.
Bald war die Hälfte der Rennbahn mit Soldaten gefüllt, dann teilte sich die Formation unter den dröhnenden Anweisungen von Oberbefehlshaber Lorik in perfekt synchronem Schritt auf und die Männer und Frauen positionierten sich in gleichmäßigem Abstand vor den Zuschauerrängen.
»Los, Majestät, gleich kommt Euer Einsatz«, raunte mir Berk zu und fixierte mich mit einem ernsten Blick.
Der ehemalige Berater meiner Mutter unterstützte jetzt mich, und so dankbar ich auch dafür war, nicht ganz allein mit allen Regierungsgeschäften zu sein, machte mich Berks Art doch häufig nervös. Er war der Krone mehr als treu ergeben und wähnte überall Gefahr. So gab er mir bei allem, was ich tat, und wenn es nur das Grüßen eines Bekannten im Vorbeigehen war, das Gefühl, gerade eine Entscheidung für ganz Melidiya zu treffen.
Auch jetzt begann mein Herz augenblicklich schneller zu schlagen. Ich hatte die Tatsache, dass ich heute noch einen Beitrag leisten musste, während der Aufführung überraschend gut verdrängt. Umso heftiger holte mich die Erkenntnis jetzt wieder ein. Öffentliche Auftritte waren noch immer alles andere als meine Leidenschaft, auch wenn ich nun, wo ich Königin war, andauernd zum Mittelpunkt aller Feierlichkeiten gemacht wurde.
Zaghaft nickte ich Berk zu, der einen kleinen blauen Kasten unter seinem Sitz hervorholte und anschließend auch Tarik einsammelte. Gemeinsam gingen wir zum Ausgang der Tribüne, wo Adem und ein weiterer Leibgardist uns in ihre Mitte nahmen. Eine schmale Treppe führte hinab in den abgeschirmten Teil der Arena. Hier war es voll von Menschen, die das Spektakel organisiert hatten, und freiwilligen Helfern. Dazwischen die vielen Künstler, die gierig tranken und nach Atem rangen, während sie sich ihre warmen Umhänge um die verschwitzten Körper legten. Im Hintergrund entdeckte ich drei Tänzerinnen, die laut diskutierten, doch ich konnte nicht erkennen, worum es ging.
Berk schob mich an ihnen vorbei bis zu einer hohen Tür, die wieder nach draußen führte, geradewegs auf die schmale Bühne in der Mitte. Meine Beine waren plötzlich butterweich und am liebsten hätte ich mich an Adems Arm festgekrallt. Doch ich ließ mir nichts anmerken und folgte seiner Handbewegung, die mich nach draußen in die grelle Sonne wedelte. Von irgendwoher erklang eine Ansage:
»Verbeugt euch vor Ihrer Majestät, Königin Shanini Duran, und ihrem Stellvertreter, Zauberer Tarik Duran! Ehret die Königin! Ehret Zauberer Tarik!«
Die Menge wiederholte die Worte und ein Chor schwoll an, der mir beinahe die Luft abschnürte.
Im ersten Moment konnten meine Augen nicht scharf stellen, dann sah ich die vielen Ränge, die über und über mit Menschen besetzt waren, welche wie Puppen in tiefe Verbeugungen zusammenfielen. Von hier unten wirkten die unzähligen Sitzreihen und die Augenpaare noch übermächtiger als von der Tribüne aus.
Wacklig wanderte ich den länglichen Steg entlang. Tarik und Berk folgten mir, bis wir genau in der Mitte vor einem silbernen Sprechrohr ankamen. Allein beim Anblick dieses Geräts wurde mir schummrig. Glücklicherweise schob sich Berk voran und ergriff als Erster das Wort.
»Danke!« Seine Stimme wurde so blechern verstärkt, dass ich zusammenzuckte. »Im Namen Ihrer Majestät und des Zauberers, Tarik Duran, danke ich euch für den großzügigen Empfang. Wir haben uns heute nicht ausschließlich versammelt, um den Tag der Manat gemeinsam zu verbringen – nein, Ihre Majestät, die Königin, hat auch etwas Wichtiges zu verkünden.«
Obwohl Berk schon älter und ausgemergelt aussah, war sein Sprachorgan so dominant, dass er problemlos gegen die tosenden Ränge ankam.
In meinen Ohren rauschte das Blut. Ich hatte meine Rede sorgfältig geprobt. Mehr als das. Zur Sicherheit hatte ich sogar jedes einzelne Wort auswendig gelernt, die Begrüßung und meinen eigenen Namen gleich mit. Und doch hatte ich jetzt, wo ich in einer prall gefüllten Arena stand, immer noch die Sorge, keinen Ton herauszubringen.
Berk sah mich auffordernd an und machte eine Kopfbewegung in Richtung Sprechrohr.
Schwer schluckend rührte ich mich und trat etwas näher. Ich räusperte mich und der kehlige Laut wurde in alle Richtungen verstärkt. Mist. Ich biss mir auf die Unterlippe. Aus dem Augenwinkel erhaschte ich einen Blick von Tarik, der wohlwollend nickte. Ich erwiderte die Geste und straffte die Schultern.
»Liebes Volk von Melidiya, ich, Königin Shanini Duran, danke euch allen, dass ihr den Tag der Manat mit mir verbringt, und hoffe, euch hat das Schauspiel ebenso gefallen wie mir«, ratterte ich los.
Aus dem Publikum kam leises Gejubel zurück, was mich etwas beruhigte.
»Wie Efendi Berk bereits erwähnte, möchte ich diesen Tag für ein weiteres Anliegen nutzen«, fuhr ich fort. »Im Kampf gegen Kaplan hätten wir beinahe unser höchstes Gut verloren: die Freiheit. Die Freiheit, unsere Zukunft selbst zu wählen, die Freiheit, in Frieden zu leben. Doch viele von euch haben Selbstlosigkeit walten lassen und ihr Leben aufs Spiel gesetzt, und dafür sind wir …«
»Sprecht etwas langsamer«, brummte Berk von der Seite und brachte mich völlig aus dem Konzept.
»Dafür sind wir …«, setzte ich erneut an, doch in meinem Kopf herrschte plötzlich Chaos. Ich blinzelte, suchte krampfhaft nach dem Faden, den ich verloren hatte, doch je mehr ich nachdachte, umso weniger bekam ich auch nur ein einziges Wort zu fassen.
»Dafür sind wir euch zu ewigem Dank verpflichtet«, sprang Tarik für mich ein.
Obwohl er damit den Verlauf der Rede rettete, breitete sich ein Gefühl des Scheiterns in mir aus. Ich biss mir so stark auf die Zunge, dass es wehtat.
Tarik übernahm nun seinen Teil der Ansprache und verkündete, dass wir den Helden des Krieges Ehrenmedaillen ausstellen würden, die sie im Rang aufsteigen ließen. Ich ärgerte mich dabei so über mich selbst, dass ich kaum etwas von seiner Rede mitbekam.
»Bitte tretet vor, wenn Ihre Majestät euren Namen vorliest«, schloss Tarik ab und überreichte mir eine Liste.
Eigentlich war auch das sein Part, doch wahrscheinlich wollte er mir die Möglichkeit geben, meinen Patzer wiedergutzumachen. Ich lächelte dankbar und nahm die Liste an.
»Für seinen selbstlosen Einsatz beim Sturm auf den Palast, Iyan Cok«, las ich laut vor.
Ein gewaltiger Applaus brach aus und nach einer Weile trat ein älterer Mann mit zerschlissener Kleidung vor. Seine Augen waren vor Rührung gerötet. Berk klappte den blauen Kasten auf und Tarik holte die oberste Medaille heraus. Sie war aus reinem Gold geschmiedet und blitzte im Sonnenlicht. Der ältere Mann befasste das Edelmetall mit zittrigen Fingern, kaum dass Tarik ihm die Medaille um den Hals gehängt hatte.
»Danke für den Dienst unserem Königreich gegenüber«, sagte Tarik und klopfte ihm auf die Schulter.
Der Mann stammelte etwas, bevor er zur Seite trat.
Im gleichen Prozedere las ich weitere Namen vor und die Menschen aus Arada beklatschten haltlos all die Heldinnen und Helden, die in letzter Zeit tollkühn, genial oder ein bisschen von beidem gehandelt hatten.
Als einer der letzten Namen an der Reihe war, musste ich schmunzeln.
»Eine Frau, die wesentlich dazu beigetragen hat, den Widerstand zu mobilisieren.« Pure Anerkennung schwang in meiner Stimme mit. »Zoe Gould.«
Ich konnte das Quietschen meiner besten Freundin bis hier unten hören und musste mir ein Lachen verkneifen.
Wenige Augenblicke später kam Zoe auf die Bühne gestürzt, das Gesicht leuchtend vor schönem Stolz und die Lippen zu einem breiten Grinsen verzogen, sodass Grübchen auf ihre Wangen traten.
Sie nahm die Medaille dankend an und winkte der aufgeregten Menge zu.
Mich machte es im Herzen glücklich, dass Zoe nun einmal die volle Aufmerksamkeit bekam. Die meiste Zeit standen meine Freunde zwangsläufig in meinem Schatten, obwohl sie doch so viel mutiger waren als ich und so viel mehr zum Sieg über Kaplan beigetragen hatten.
Und Zoe hatte dieses pulsierende Selbstbewusstsein, um das ich sie oft beneidete. Sie war immer ganz im Moment, hatte kein Problem damit, sich zu präsentieren oder Menschen kennenzulernen. Bei ihr sah Leben ganz einfach aus. Sogar in der düsteren Zeit des Aufstandes hatte sie es geschafft, sich noch mehr Freunde zu machen.
Ich wartete den nicht abklingenden Geräuschpegel ab und ließ den Blick über die Ränge gleiten, die voller Bewegung waren. In meinem Kopf ging ich schon die folgenden Worte durch. Auch der nächste Mensch, der geehrt werden würde, lag mir sehr am Herzen.
Langsam verstummten Gemurmel und Applaus und ich neigte mich wieder dem Sprechrohr zu.
Als ich gerade den Mund öffnete, um fortzufahren, nahm ich aus dem Augenwinkel etwas Merkwürdiges wahr. Eine der Tänzerinnen, die einen blauen Umhang über ihrem roten Kleid trug, stolperte auf der Zuschauertribüne die Stufen empor. Sie rannte so schnell, dass ihre hellblonden Haare hin- und herschwangen. Wahrscheinlich fiel ihre Bewegung nur auf, weil die Menge um sie herum sich wieder beruhigt hatte. Hektisch erklomm sie eine Stufe nach der anderen, als wäre sie auf der Flucht. Aber warum war sie so in Eile?
»Majestät? Wollt Ihr nicht den nächsten Geehrten verkünden?«, presste Berk ungeduldig zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
»Ja, ich …«, setzte ich an und versuchte mich wieder zu fokussieren.
Die unangenehm abwartende Stille, die die Arena inzwischen erfüllte, nahm ich nur am Rande wahr. Die junge Frau war ganz oben angekommen.
»Wir haben noch einen Mann zu ehren …«, ergriff nun Tarik das Wort und sah mich auffordernd an.
Er erstarrte, als ich ein ersticktes Keuchen von mir gab. Ich spürte, wie auch meine Leibgardisten sich reflexartig versteiften, dabei war nicht ich es, die in Gefahr war.
»Stopp!«, stieß ich hervor und meine Worte wurden blechern verstärkt. »Bleib sofort stehen!«
Nervöses Geraschel brach unter den Zuschauern aus, doch alles, was ich wahrnahm, war die Tänzerin, die sich mit aller Kraft auf den steinernen Absatz emporgestemmt hatte und nun hoch oben stand, am Rande der Tribüne, gefährlich nah am Abgrund. Ihr blauer Umhang flatterte im kalten Wind, während sie die Arme ausbreitete.
»Jemand muss sie aufhalten«, schrie ich, wobei sich meine Stimme überschlug.
Die ganze Menge kam in Bewegung, nur die Tänzerin hoch oben über der Manege nahm meine Rufe nicht wahr.
Keuchend stolperte ich von der Bühne. »Helft ihr, ihr müsst sie …«
Doch noch bevor ich den Satz beenden konnte, noch bevor sich jemand zu ihr umdrehen und die Frau stoppen konnte, machte diese einen Schritt und ließ sich fallen.
Shanini
Ich hatte das Gefühl, neben mir zu stehen, oder viel mehr über mir. Meine Wahrnehmung dehnte sich aus, stülpte sich aus meinem Körper heraus und waberte ziellos umher. Es fühlte sich an, als blickte ich von oben auf die Szene hinab. Auf die Soldaten, die ungehalten versuchten, die Schaulustigen zu bändigen, die sich an den Eingängen herumdrückten, als wäre ein Blick auf den Tod etwas Erstrebenswertes.
Noch bevor die meisten verstanden hatten, was geschehen war, war ich aus der Arena gestürzt. Ganz so, als bestünde noch eine Möglichkeit, dem Unausweichlichen zu entgehen, wenn ich nur schnell genug rannte. Tatsächlich war ich als eine der Ersten bei ihrem Körper angekommen und das schreckliche Bild waberte noch immer vor meinem inneren Auge.
Inzwischen hatten die Wachen die Tänzerin in einen Nebenraum gebracht, um sie vor den gierigen Blicken zu schützen.
»Eure Majestät, Ihr solltet jetzt wirklich in die Kutsche steigen«, drang Berk irgendwann zu mir durch. Er wich hektisch den herumwimmelnden Menschen aus, die von allen Himmelsrichtungen herbeiströmten.
»Ich warte noch auf den Doktor«, erklärte ich ungehalten, auch wenn ich selbst wusste, dass es dafür aller Wahrscheinlichkeit nach zu spät war.
Berk murmelte etwas vor sich hin, aber ich beachtete ihn nicht. Stattdessen wanderte mein Blick zu den anderen Tänzerinnen, die zitternd im Winterwind standen und leise wimmerten. Ich starrte sie an, ohne meine Gedanken sortieren zu können. Eben noch waren sie wie Göttinnen durch die Arena geschwebt, ausgelassen und strahlend. Und jetzt war eine von ihnen tot. Eiseskälte bohrte sich in meine Knochen.
Plötzlich huschte ein Gedanke in meinen Kopf und ich erkannte zwei der Tänzerinnen, die eben diskutiert hatten. Und die dritte? War es etwa sie gewesen?
Ich kämpfte die Übelkeit in meiner Kehle herunter und lief zu den beiden jungen Frauen. Als sie mich erkannten, machten sie große Augen und verbeugten sich eilig.
»Ich habe euren Streit mitbekommen«, sagte ich ohne Umschweife. »Was ist passiert? Worum ging es?«
Ich spürte, dass ich damit ins Schwarze getroffen hatte, denn beide Frauen begannen heftiger zu schluchzen.
»Sie war völlig verändert!«, brach es aus einer von ihnen hervor. »Sie hat wirres Zeug geredet und gesagt, dass alles vorbei sei. Und dann ist sie …«
Ich schluckte schwer. »Ging es ihr schon länger schlecht?«
»Nein! Zumindest haben wir das nicht mitbekommen. Sie war relativ still, aber eigentlich immer gut gelaunt!«
Als ich gerade nach den passenden Worten suchte, entdeckte ich den Doktor mit einer großen Ledertasche. Er schob sich durch die Menge in Richtung der abgetrennten Räume.
»Es tut mir sehr leid um euren Verlust«, flüsterte ich und wandte mich ab.
»Majestät!«, fing mich Berk ab, als ich gerade vor der schweren Holztür, die zum hinteren Bereich der Arena führte, angekommen war. »Majestät, Ihr solltet Euch das wirklich nicht noch mal antun.«
»Ich muss. Ich will wissen, ob es noch Hoffnung gibt«, sagte ich mit schwacher Stimme und schob mich an ihm vorbei nach drinnen.
Unendliche Traurigkeit durchströmte mich, als ich die schmale Gestalt sah, die meine Wachen auf dem Boden abgelegt und deren Körper sie mit einigen Umhängen bedeckt hatten. Der Doktor kniete bereits mit seiner Tasche neben ihrem Haupt.
»Und?« Vorsichtig trat ich ein paar Schritte näher. »Bitte sagt mir …«
Ich schaffte es nicht, den Satz zu beenden, und schlug mir die Hand vor den Mund. Etwas war anders. Etwas, das überhaupt keinen Sinn ergab.
»Ihre Haare«, stammelte ich.
Ihr Kopf war kahl geschoren, nur ein heller Flaum benetzte noch ihren Schädel. Wie konnte das sein? Vor meinem inneren Auge spulte sich das Bild ab, wie sie mit flatternden weißblonden Haaren die Stufen hinaufgestürmt war.
Nur vage nahm ich wahr, wie mich der Doktor anstarrte. »Wollt Ihr damit sagen, Majestät …«
»Jemand muss ihre Haare abgeschnitten haben. Gerade eben«, rief ich hysterisch.
»Aber warum, bei allen Göttinnen, sollte jemand so etwas tun?«, empörte sich der Doktor. »Das ist Leichenschänderei!«
Mein ganzer Magen verkrampfte sich und ich brachte kein weiteres Wort zustande. Das war doch unmöglich.
Ich spürte, wie jemand an mich herantrat und zaghaft die Finger auf meinen Rücken legte.
»Majestät. Shanini. Komm.« Ich erkannte Adems Stimme. Mein Leibgardist wies mich mit einem sanften und doch bestimmten Druck an, ihm zu folgen. »Wir bringen dich hier weg.«
Meine Füße folgten ihm bereitwillig. In meinem Kopf herrschte Leere. Einerseits wollte ich bleiben und helfen, andererseits wusste ich, dass es nichts mehr gab, was ich hätte tun können. Die Machtlosigkeit dehnte sich zu einem großen mulmigen Nichts aus. Dankbar ließ ich mich von Adem aus dem ganzen Wirrwarr leiten und in meiner Kutsche verstauen. Er nahm schweigend gegenüber von mir Platz und ich war froh, dass er nichts sagte.
Kurz darauf folgte mein Berater Berk und setzte sich keuchend neben Adem.
»Wie konnte das nur passieren?«, jammerte er und fuhr sich über die Stirn. »Wir wollten doch neue Hoffnungen verbreiten und dann so ein Skandal! Das Schicksalsfest, die Ordensverleihung! Und was machen wir denn nun mit unserer angeschlossenen Feierlichkeit im Palast, Majestät?«
Ich starrte ihn an. »Jemand hat ihr die Haare abgeschnitten.«
Adem und Berk wechselten einen Blick. »Wovon sprecht Ihr da?«
»Jemand hat ihr das komplette Haar abgeschnitten!«, wiederholte ich. »Es muss gerade eben passiert sein, als sie ein paar Minuten unbeaufsichtigt war!« Meine Stimme endete in einem erstickten Ton. »Wer tut denn so was?«
»Seid Ihr sicher?«, fragte Berk stirnrunzelnd.
Ich schnaubte. »Hundertprozentig sicher! Ich habe es doch gesehen, ich habe …«
»Wir werden der Sache nachgehen«, erklärte Adem. »Wir finden heraus, was es damit auf sich hat.«
Stumm nickte ich und einen Augenblick herrschte Schweigen, bis sich Berk wieder aufrappelte und mich eindringlich ansah.
»Aber Majestät, noch mal zu der anderen Sache. Was machen wir denn nun mit der Feier? Es ist alles organisiert und die Gäste, sie sind bereits angereist …«
»Es wird doch jetzt niemandem nach Feiern zumute sein!«, rief ich, etwas schneidender als beabsichtigt.
Berk sah mich blinzelnd an. Dann nickte er, während es in seinem Kopf unübersehbar ratterte.
»Also gut, ich werde sehen, was ich tun kann.« Er holte einen Moment mit geschlossenen Augen Luft, ehe er sich wieder hochstemmte und die Kutsche verließ.
»Die arme Frau«, flüsterte ich in die folgende Stille. »Wie muss sie nur gelitten haben.«
»Die Garde wird alles unternehmen, um die Hintergründe aufzuarbeiten«, erklärte Adem.
»Ja. Aber das macht es nicht besser.«
»Nein.«
Wieder schwiegen wir eine ganze Weile, bis sich die Kutsche irgendwann in Bewegung setzte und holpernd zurück in Richtung Palast rollte. Mein Blick fiel auf die kleine Schachtel, die Berk mit in die Kutsche gebracht und auf der Sitzbank hatte liegen lassen.
»Für dich«, sagte ich matt und machte eine Kopfbewegung in Richtung Schatulle. »Du solltest auch noch eine Medaille bekommen.«
Über Adems makellose Züge huschte Überraschung. »Was?«
»Vor ein paar Wochen wärst du beinahe gestorben, um mich zu retten. Natürlich haben wir das auch honoriert.« Ich rang mir ein Lächeln ab. Die Orden fühlten sich auf einmal so schrecklich unwichtig an.
Schweigend zog Adem das Kästchen zu sich heran und öffnete den Deckel. Eine letzte blitzende Medaille kam zum Vorschein und ein leichtes Lächeln wanderte auf seine Lippen.
Auch wenn dieser Moment nichts Feierliches mehr an sich hatte, sah ich, wie wertvoll er für Adem war. Ich kannte ihn schon mein ganzes Leben und wusste, wie sehr er sich immer gewünscht hatte, irgendwann zum General aufzusteigen. Und die Medaille zog diese Beförderung auf den heutigen Tag vor.
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, murmelte er.
»Du musst nichts sagen. Du hast sie dir verdient.«
Adems Augen glänzten vor Rührung, als sich unsere Blicke trafen.
»Weißt du, was das heißt? Ich bin jetzt ein General.«
»Ich weiß.« Ich lehnte meinen Kopf an die kühle Scheibe der Kutsche. »Damit bist du auf dem gleichen höfischen Niveau wie ein Efendi.«
»Ja«, sagte Adem und es klang irgendwie lang gezogen.
Ich legte meinen Kopf schief. »Was ist?«
»Nichts.« Adem versteifte sich plötzlich und ließ abrupt die Medaille los. »Das ist nur ein großer gesellschaftlicher Aufstieg.«
»Wie gesagt, du hast es verdient.«
Adem wollte noch etwas sagen, doch klappte den Mund wieder zu. »Danke, Shanini«, murmelte er dann und lächelte mich an.
Wenige Augenblicke später erreichten wir den Palast. Mehrere Diener eilten herbei und öffneten die Tür, doch ich blieb sitzen.
»Brauchst du etwas?« Adem musterte mich, als wäre ich eine Porzellanpuppe, die er auf Bruchlinien untersuchte.
»Nein, alles in Ordnung. Es fühlt sich nur an, als wäre alles schiefgegangen.« Als wäre ich verantwortlich für das, was passiert ist, fügte ich in Gedanken hinzu und biss mir auf die Unterlippe.
Adem sah mich nachdenklich an. »So ist es aber nicht. Das Fest war eine großartige Idee. Du warst großartig.« Er schluckte. »Komm erst mal wieder zu Kräften. Ich störe dich nicht länger.«
Mit einem Nicken verabschiedete er sich, die Medaille an sein Herz gedrückt. Ich blieb noch eine Weile sitzen, bis ich mich endlich überwinden konnte auszusteigen. Gedankenversunken stromerte ich durch die Gänge des Palasts. Adem hatte recht, das Fest war ein Erfolg gewesen. Aber der Tod der jungen Frau überschattete jedes Glück. Auch wenn mein Kopf wusste, dass ihr Tod nicht meine Schuld war, fühlte ich mich in meinem Herzen doch für sie verantwortlich. Für jeden in diesem Königreich. Eine klamme Sorge breitete sich in mir aus, niemandem auf der Welt gerecht werden zu können.
Ich lief an den aufwendigen Dekorationen für das Fest der Manat vorbei. Überall standen leuchtende Laternen und Gestecke aus Pampasgras und getrockneten Blumen. Daneben hatten auch einzelne Gäste die abgesagte Feier noch nicht mitbekommen und wanderten in bester Laune in Richtung Ballsaal.
Seufzend machte ich mich auf zu meinem Zimmer, da holte mich Berk ein. Er war inzwischen so verschwitzt, als wäre er den ganzen Weg von der Arena bis hierher gerannt.
»Majestät«, sagte er nach Atem ringend. »Das Festmahl wird gleich serviert.«
»Aber …«, protestierte ich.
»Majestät, es wäre doch Verschwendung, die Speisen schlecht werden zu lassen?« Berk machte große Augen. »Wir wandeln es in ein Traueressen um, das hat sogar eine noch viel bessere Außenwirkung.«
Leise grummelnd stimmte ich ihm zu, wenngleich mir nach dieser Tragödie noch weniger als sonst nach einem oberflächlichen gesellschaftlichen Mahl war.
Meine Befürchtungen bestätigten sich schon in den ersten Minuten des Abendessens. Viele der höfischen Gäste waren so unsensibel, dass sie nicht einmal während Berks kurzer Ansprache auf die zu Tode gekommen Frau Mitgefühl zeigten. Stattdessen eroberten schnell die nichtsagenden Themen der gehobenen Gesellschaft den Tisch. Alles drehte sich um Schmuck und Tratsch und mir wurden sogar beiläufig gute Heiratspartien vorgeschlagen.
Wenigstens waren Zoe, Tarik und Adem auch dabei, und so schotteten wir uns so weit wie möglich vom Rest der Veranstaltung ab und gingen flüsternd die Umstände des schrecklichen Vorfalls durch. Es fühlte sich erleichternd an, mit meinen Freunden darüber zu reden und den Anblick so wenigstens ein bisschen zu verarbeiten. Schnell drehten wir uns jedoch im Kreis und wussten nichts mehr hinzuzufügen.
»Ich verstehe einfach nicht, warum jemand so etwas Geschmackloses tun sollte«, murmelte Tarik.
»Welche Haarfarbe hatte sie denn?«, fragte Zoe.
»Weißblond«, erwiderte ich. »Aber was soll das für eine Rolle spielen?«
Zoe überlegte. »Gibt es selten hier in der Gegend. Im Osten sind helle Haare weiter verbreitet.«
»Und weil jemand so versessen darauf ist, schneidet er einer toten Frau die Haare ab?«, schnaubte Adem.
»Nein. Ich weiß nicht.«
»Es ergibt einfach keinen Sinn«, schloss Tarik und wir anderen nickten betreten.
»Wann kommt Naima zurück?«, unternahm ich einen schwachen Versuch, das Thema zu wechseln.
»Sie ist doch gestern erst aufgebrochen«, antwortete Tarik. »Sie kommt frühestens in einer Woche wieder.«
»Mh«, machte Zoe. »Meint ihr, sie hat wegen der Ehrenmedaillen die Flucht ergriffen? Sie hätte doch sicher auch noch eine Medaille bekommen? Schließlich war sie die wahre Heldin im Kampf gegen Kaplan.«
»Hätte sie«, bestätigte ich. »Aber ich hatte auch den Eindruck, dass sie Wind davon bekommen hat.«
»Sie hat es sozusagen selbst herausgefunden!«, rechtfertigte Tarik sich, als wir ihn mit hochgezogenen Augenbrauen ansahen. »Und außerdem hat sie wegen ihres Geburtstags das Weite gesucht. Ihr wisst doch, wie sie ist. Sie mag es nicht, im Mittelpunkt zu stehen.«
»Die Ehrenmedaille wird sie aber trotzdem noch bekommen, ob sie will oder nicht«, sagte ich lächelnd.
Tarik setzte gerade an, etwas zu erwidern, da räusperte sich jemand so dicht hinter mir, dass ich vor Schreck meinen Saft verschüttete.
»Eure wunderschöne Majestät«, begrüßte mich ein mittelalter Mann, der direkt hinter meinem Stuhl in die Knie gegangen war. Er war spindeldürr, hatte schwarzgraues Haar und trug einen reich bestickten Kaftan. »Würdet Ihr mit mir tanzen, Majestät? Ich bin ein hervorragender Tänzer, Majestät.«
Ich sah ihn einen Moment lang ratlos an, sodass er auf seine glänzenden Schuhe wies, als würde das seine Leichtfüßigkeit untermalen.
»Ich, ähm …«, setzte ich an und spürte, wie ich rot wurde. Ich hasste es, Menschen abwimmeln zu müssen, auch wenn ich das in letzter Zeit immer häufiger tun musste. »Bei allem Respekt, Efendi, aber an diesem tragischen Tag sollten wir alle nicht tanzen.«
»Verstehe, Majestät.« Er nickte betrübt. »Also ein anderes Mal?«
»Mhm?«, machte ich und biss mir auf die Zunge, als ich sah, wie seine Augen leuchteten.
»In zwei Wochen bin ich wieder in der Stadt. Dann habt Ihr schon etwas, auf das Ihr Euch freuen könnt, Majestät«, sagte er mit einem lasziven Blick. »Ich bin eine gute Partie. Heute sieht man es nur noch auf den zweiten Blick, aber mein Leben lang haben mir die Frauen eindeutige Angebote gemacht.« Er lachte und verschränkte tiefenentspannt die Arme vor der Brust.
»Man sieht es wirklich nicht mehr so richtig«, schaltete sich Zoe ein und legte den Kopf schief.
Der Mann runzelte die Stirn, ehe er begriff und sich endlich verabschiedete. Kaum hatte er sich wieder zu seinem Teil der Tafel zurückbegeben, atmete ich tief durch.
»Du bist viel zu nett«, befand Zoe und steckte sich ein Stück Baklava in den Mund. »Sag diesen Männern doch einfach, sie sollen sich zur Hölle scheren.«
»Ja, aber ich bin so neu in der Position … ich will mir keine Feinde machen.«
»Du machst dir keine Feinde, nur weil du nicht jede Tanzaufforderung annimmst«, murmelte Adem, der heute zum ersten Mal mit uns am Tisch saß, anstatt den Raum von einer Ecke aus zu beobachten.
»Ich weiß«, seufzte ich.
Seit ich ledig den Thron bestiegen hatte, wurde mir beinahe täglich der Hof gemacht. Männer aller Altersklassen brachten mir Geschenke, überhäuften mich mit Komplimenten und forderten mich in unpassendsten Momenten zum Tanz auf. Vielleicht wäre ich ihren Avancen gegenüber weniger abgeneigt gewesen, wenn ich das Gefühl gehabt hätte, es ginge dabei wirklich um mich und nicht um den Thron, den ich mitbrachte. Bei keinem einzigen Gespräch hatte ich den Eindruck, jemand würde mich kennenlernen wollen. Stattdessen listete jeder der Männer nur auf, was er mir anbieten konnte. Von mehreren Morgen Land, Ziegenherden oder einer Schwiegermutter, die backen konnte, war alles dabei. Je mehr Argumente sie dabei nannten, umso mehr fühlte ich mich wie auf einem Viehmarkt. Gleichzeitig schien der Rest der melidischen Bevölkerung nur darauf zu warten, dass ich endlich einen Partner vorstellte. Ganz so, als wäre ich erst vollständig ernst zu nehmen, wenn neben mir ein Mann saß.
Seufzend schüttelte ich die Gedanken ab und wandte mich wieder meinem üppig beladenen Teller zu.
Naima
Die Wellen schwappten gegen den Schiffsrumpf und langsam wurde mir übel. Ich wusste nicht, ob das am gleichmäßigen Schaukeln lag oder daran, dass die Landschaft am Horizont Form annahm. Das unendliche Meer verschmolz in der Ferne mit einer Landzunge. Am äußersten Rand erkannte ich das Gebiet aus schlammigen Salzbecken. Jedes davon war unterschiedlich groß und von der Natur geformt. Gemeinsam ergaben sie eine Struktur, die fast an ein Mosaik erinnerte. Ein Stück weiter löste eine Wiesenlandschaft das Bild ab, weiter dahinter einzelne karge Büsche und Bäume, die trostlos und ohne Blätterkleid dastanden.
Ich fuhr nervös mit den Fingern über die Reling, während wir immer näher an die Landschaft herantrieben. Die Luft war salzig und der Geruch warf mich zurück in eine andere Zeit.
Als schließlich ein kleiner Ort vor uns auftauchte, musste ich schlucken. Ich erkannte sofort den Hafen und den Marktplatz, dahinter die kleinen ruhigen Gassen. Es hatte sich nichts verändert, nicht das geringste Detail. Alles sah noch genauso aus, wie ich es zurückgelassen hatte. Und doch war alles anders.
Die Matrosen machten das Schiff bereit zum Anlegen. Ich rührte mich nicht vom Fleck. Ich konnte nicht. Ich stand einfach nur da und starrte geradeaus. Was hatte ich erwartet? Es war meine Entscheidung gewesen, hierher zurückzukehren. Wieso riss es mir dann beinahe den Boden unter den Füßen weg?
Das Holz knarzte, als wir Stück für Stück zum Festland aufschlossen. Schneller als mir lieb war, legten wir auch schon im winzigen Hafen an. Die Matrosen sprangen an Land und machten das Schiff mit schweren Tauen neben einem Fischerboot fest. Ein paar Passanten reckten neugierig die Hälse, versuchten einen Anhaltspunkt dafür zu finden, was ein Schiff aus der Hauptstadt hier, am Ende der Welt, suchte. Dann wurde scheppernd eine Holzrampe heruntergeklappt und ich war da.
»Tuzol.«
Ich zuckte zusammen, als jemand neben mich trat. Es war ein älterer Soldat, der zur königlichen Leibgarde gehörte.
»Ihr habt nicht übertrieben, es ist wirklich ein winziges Dorf.« Er hatte einen amüsierten Zug um den Mund. »Wollen wir?«
»Ich denke immer noch, dass es besser wäre, wenn ich erst mal allein gehe …«
»Es war der ausdrückliche Wunsch Ihrer Majestät«, schnitt mir der Soldat das Wort ab. Sein Gesichtsausdruck war gutmütig, doch die Stimme entschlossen. »Ihr hattet hier ein gefährliches Leben und Ihre Majestät will Euch in Sicherheit wissen.«
»Na ja«, murmelte ich. Damals war alles anders. Ich verkniff mir einen weiteren Kommentar und nickte nur. »Dann gehen wir.«
Ich wanderte über die Planke an Land. Mein erster Blick fiel auf die Schneiderei. Sie hatte noch geöffnet, obwohl es schon früher Abend war, und ein warmes Licht fiel von innen auf den Gehweg. Im Vorbeigehen entdeckte ich den alten Schneider mit dem gebogenen Rücken, den ich jahrelang beobachtet hatte. Ich atmete leise aus und ging weiter. Der ältere Soldat folgte mir mit einem seiner Kollegen.
Wie anders wäre mein Leben verlaufen, wenn ich damals eine Stelle beim Schneider bekommen hätte?
Meine Beine wanderten wie von selbst weiter, führten mich durch die Stadt, in der ich den größten Teil meines Lebens verbracht hatte. Ich passierte den kleinen Marktplatz, lief durch die Gassen, die wie ausgestorben waren, und ging weiter bis zum Ortsrand.
Und dann sah ich es. Am Ende der Welt stand das schiefe Haus mit der trostlosen Fassade. Daneben der kleine morsche Schuppen, davor die rissigen Treppenstufen.
Gedankenversunken strich ich meinen Rock glatt. Ich trug mein bestes Kleid. Durch Shaninis großzügige Bezahlung hatte ich mir die schönsten Stoffe aus ganz Melidiya aussuchen können, um mir selbst daraus Kleider zu nähen. So trug ich jetzt ein hellrotes Gewand, das von einem eleganten goldschimmernden Ornament durchzogen war. Es hatte schmale Träger und am Rücken ein Detail aus dünnen Bändern. Auch die Säume hatte ich mit einem Besatz aus den gleichen goldenen Fäden verziert.
Hamdan sagte zwar, das alles wäre zu viel Firlefanz, aber mir gefiel der moderne Schnitt. Und sicher war es auch kein Zufall, dass ich mir dieses Kleid für den heutigen Anlass ausgesucht hatte. Es war ein wenig übertrieben. Aber ich hatte etwas zu beweisen.
Ich biss mir auf die Unterlippe und ehe ich es mir anders überlegen konnte, marschierte ich los, lief die Steintreppen hinauf und donnerte meine Faust gegen die schwere Holztür.
Eine Weile geschah nichts, dann hörte ich ein genervtes Murmeln, begleitet von stampfenden Schritten. Die Tür wurde aufgezogen und da stand sie. Die Frau, die mir mein Leben all die Jahre zur Hölle gemacht hatte. Die Frau, die ihre Schützlinge ausbeutete, um sich selbst zu bereichern.
Ihr Gesicht war verkniffen. Im ersten Moment erkannte sie mich nicht. Sie setzte schon zu einem gehässigen Kommentar an, doch dann traten ihre stierenden Augen hervor und alles fiel ihr aus dem Gesicht.
»Hallo, Herda«, sagte ich.
Shanini
Kaum, dass der Tee ausgeschenkt worden war und die Menge sich etwas zerstreut hatte, erklärte ich, dass ich mich zurückziehen würde. Augenblicklich erstarben alle Gespräche und die Gäste standen ebenfalls auf, um sich zu verbeugen.
»Ich danke Euch für Euer Kommen.«
Während ich mich noch von Adem, Tarik und Zoe verabschiedete, verteilte sich die Gesellschaft im Raum und einige brachen ebenfalls auf. Es fühlte sich noch immer ungewohnt an, dass ein einziges Wort von mir den ganzen Hof in Bewegung setzte. Ich schob mich an den Grüppchen vorbei, rang mir hier und da ein Lächeln ab und tauchte durch die Torbögen, die den Festsaal einrahmten. Dabei wehten einzelne Gesprächsfetzen zu mir herüber. Sofort erkannte ich Zaim, einen meiner Minister, der mit zwei mir unbekannten Männern vor mir in Richtung Ausgang schlenderte.
»Die Menschen stürzen sich lieber in den Tod, als ihre Ideen zu ertragen.«
Die Worte schnürten mir die Luft ab und abrupt kam ich zum Stehen. Das konnte nicht sein Ernst sein!
»Mich wundert das nicht«, schob Zaim selbstgefällig hinterher. »Unsere Anführerin ist für den gesamten Frieden verantwortlich, wir brauchen jemanden mit Erfahrung. Seht Ihr das nicht auch so?«
Ich konnte die Antworten der anderen kaum verstehen, so sehr rauschte die Wut in meinen Ohren. Sofort schossen mir heiße Tränen in die Augen, wie immer, wenn ich mich ärgerte. Am liebsten wäre ich zu den alten Männern hinübergestürmt und hätte eine Szene gemacht. Flackernde Bilder des Zorns loderten vor meinem inneren Auge auf. Doch stattdessen versteckte ich mich hinter einer Säule und lehnte meinen Kopf an den Stein.
»Ihr müsst das anders sehen, Efendi Zaim«, murmelte einer der unbekannten Männer. »So junges Fleisch ist formbar. Ihr seid Minister der Königin, Ihr könnt ihre Unerfahrenheit ausnutzen und sie Euch zum Vorteil machen.«
»Natürlich, das sowieso«, murrte Zaim. »Dennoch gefällt es mir nicht, dass sie Königin ist. Wir brauchen jemanden an der Spitze, der Eindruck macht, der Entschlossenheit zeigt. Warum sind es überhaupt immer Frauen, die uns beherrschen?«
Jetzt hörte ich ein scharfes Zischen. »Aber, Efendi Zaim, Ihr wollt doch nicht die Göttinnen verärgern? Manat selbst hat es so gewollt. Frauen sind nun mal das magische Geschlecht, das die Fähigkeit hat, Leben zu schenken. Das macht sie zu den Mächtigsten unserer Welt. Weil die Göttinnen es so entschieden haben, ist es so. Wir können das nicht infrage stellen.«
Eine kurze Pause entstand. »Hättet Ihr etwa Kaplan als Herrscher gewollt?«
»Aber nein«, schnauzte Zaim. »Natürlich nicht, diesen Südlichen … Nein. Ich denke nur, dass die Königin zu unerfahren ist, um unsere Werte zu erhalten. Das ist alles.«
»Das ist eine andere Sache. Und ich verstehe Euch, Efendi Zaim. Warten wir ab, wie sie sich in der nächsten Zeit schlägt. Sollte sie sich wie ihre Mutter entwickeln, wäre doch alles in Ordnung, nicht wahr?«
»Ja, Königin Esme war eindrucksvoll, da habt Ihr recht.«
Ich schloss die Augen und zwang mich, tief durchzuatmen. Lass die Worte nicht an dich heran, mahnte ich mich. Der heutige Tag war ein Erfolg.
Aber so sehr ich es auch versuchte, ihre Kommentare hallten weiter in meinem Kopf nach und bohrten sich wie Messerspitzen in meinen Bauch. Warum schafften es Männer wie Zaim immer wieder, meine Selbstzweifel laut werden zu lassen?
Das Gespräch der Männer wanderte zu anderen Themen, während sie sich langsam entfernten. Ich malte mir aus, wie ich mich von der Säule abstieß, um erhobenen Hauptes an ihnen vorbeizustolzieren. Genau wie Zoe es an meiner Stelle getan hätte. Oder meine Mutter. Aber ich traute mich nicht. Ich hasste Konfrontationen und in meinem Kopf fühlte sich die Tatsache, dass ich ihr Gespräch mit angehört hatte, wie eine Niederlage an und nicht wie ein Triumph.
Ich wartete also, bis sie weit genug weg waren, dann trollte ich mich, tappte im Dunkeln an den Säulen vorbei und verschwand im leeren Flur. Hier war es prompt stiller. Die schweren Holztüren dämpften die Musik und das Gerede aus dem Festsaal, sodass nur noch Fragmente der aufbrechenden Gesellschaft übrig blieben.
Gedankenverloren schlenderte ich durch den fast gänzlich leeren Palast. Hin und wieder kam ich an eine paar Wachen oder einem Diener vorbei, davon abgesehen waren die Gänge verlassen. Wer im Palast lebte, war entweder noch im Speisesaal oder hatte sich schon in seine Räume zurückgezogen. Ich wanderte in Richtung meines Zimmers, machte dann jedoch einen spontanen Abstecher nach draußen.
Wie von selbst führten mich meine Beine in den Innenhof und dann zum kleinen Tempel in der Mitte der Palastanlage. Wie immer bewachten zwei Männer der Garde den Eingang. Als sie mich sahen, huschte leichte Überraschung über ihre Gesichter, doch sie sagten nichts und ließen mich kommentarlos eintreten.
Das Innere des Tempels war mit einem goldenen Mosaik ausgekleidet, das nahtlos von den Wänden in die Decke überging. Es ergab ein verschlungenes Bild, das mich wie immer etwas schummerig machte. Insbesondere jetzt, da nur einzelne Kerzen im Raum brannten und die kleinen Fliesen zum Flackern brachten. In der Mitte stand die Skulptur einer Göttin, die eine Sonne als Krone trug. Ich ging an ihr vorbei und hinüber in den hinteren Teil des Tempels. Dort schloss ich eine schmale Tür auf, für die nur Tarik und ich einen Schlüssel besaßen, und sah auf die dahinterliegende Treppe. Auch sie war schmal und aus blankem Stein und führte hinab in eine drückende Dunkelheit. Mir wurde eng ums Herz, trotzdem schnappte ich mir einen Kerzenständer und ging hinab in die Grotte.
Mit jedem Schritt wurde es stiller und dunkler. Erst als ich tief unter der Erde angekommen war und die hier unten angebrachten Fackeln entzündete, flackerte das Innere der weiträumigen Höhle auf. Da es keine Lüftung gab, war die Luft schwer und rauchig. Der Geruch erinnerte mich an die düstersten Momente meines Lebens. Als Kind war ich das erste Mal hier unten gewesen, als mein Vater beerdigt worden war. Und dann, vor ein paar Wochen, zum zweiten Mal, als wir im engsten Kreis meine Mutter verabschiedet hatten.
Stumm wanderte ich durch die Steingänge, die ein Netz aus Gräbern und Mausoleen ergaben. Ich gruselte mich ein wenig, auch wenn ich wusste, dass keiner außer mir Zugang zu diesem heiligen Ort hatte. Meine Schritte hörten sich dumpf an und plötzlich wuchs in mir das Bedürfnis, selbst Geräusche von mir zu geben, um die drückende Stille zu durchbrechen. Ich stimmte ein Summen an, das schwach durch die finsteren Gänge hallte. Ich sang die melidische Hymne, weil mir nichts anderes einfiel, und tappte vorbei an den Gräbern meiner Vorfahren. Als ich vor den großen schwarzen Steinplatten angekommen war, die mein Ziel waren, verstummte ich genauso plötzlich, wie ich begonnen hatte.
Der dunkle Marmor war mit goldenen Ornamenten verziert. Hinter den Steinplatten stand eine aufwendige Skulptur, die meine Eltern zeigte, die Hände zusammen um den Knauf eines Schwertes geschlungen. Auf dem Schwert stand in goldenen Lettern: Esme und Aslan, Frieden für Melidiya.
Ich schluckte und sank auf die Knie, sodass sich mein Ballkleid raschelnd um mich herum ausbreitete. »Hallo, Mutter, hallo, Vater«, flüsterte ich.
Mein Herz schmerzte vor Trauer und ich fühlte mich plötzlich völlig allein. Eine Träne rollte mir über die Wange und fiel mir in den Schoß.
Zaghaft fuhr ich mit den Fingern über die großen Steinplatten, die beide Gräber versiegelten. Die Platte meines Vaters war mit der Zeit verstaubt, die meiner Mutter noch beinahe unversehrt.
Ein großer Kloß bildete sich in meinem Hals und noch mehr Tränen schossen mir in die Augen.
»Ich wünschte, wir hätten noch ein bisschen mehr Zeit gehabt«, gestand ich der drückenden Dunkelheit. »Wenn ich doch nur geahnt hätte, wie begrenzt sie war. Dann hätte ich dir vielleicht besser zugehört, Mutter.« Ein schluchzendes Lachen brach aus meiner Kehle. Ich betrachtete die Skulptur meiner Eltern, so als würde sie sich rühren und mir antworten, so als würden meine Eltern noch einmal zu mir zurückkommen. Doch der glatt geschliffene Stein blieb starr, genau wie die Stille um mich herum.
Eine Weile saß ich einfach da und dachte über Zaims Worte nach, stellte mir vor, wie Mutter an meiner Stelle reagiert hätte. Unwillkürlich schüttelte ich den Kopf. Das war es ja gerade. Sie wäre gar nicht in diese Situation geraten. Zaim hatte es selbst gesagt: Er hatte meine Mutter respektiert, ihr vertraut. Sie hatte es immer geschafft, die Menschen einzunehmen. Ich wollte werden wie sie, ich wollte alles richtig machen, doch die Aufgabe wog schwer auf meiner Brust.
»Ich werde dich nicht enttäuschen.« Ich wusste nicht, ob ich es zu meiner Mutter sagte oder zu mir selbst, aber ich klammerte mich an den Entschluss. Ich würde mich nicht vom ersten Gegenwind umpusten lassen.
Flüchtig kam mir in den Sinn, was meine Mutter kurz vor ihrem Tod zu mir gesagt hatte: Ich habe mich in den letzten Jahren den Lauten gewidmet. Aber du hast einen Blick für die Leisen. Auch die müssen gehört werden. Ihre Zeit wird kommen, gemeinsam mit deiner.
Ich versuchte mich an den Worten festzuhalten und an der Hoffnung, dass sie ihr genauso viel bedeutet hatten wie mir. Kurz vor Mutters Tod war so vieles passiert, was ich nicht verstanden hatte. So vieles, das ich gerne mit ihr geklärt hätte. Langsam stand ich wieder auf. Mir war plötzlich kalt.
Nach ein paar Augenblicken riss ich mich los und wanderte durch die Gänge zurück zur Treppe. Ich passierte die Gräber vieler anderer Königinnen, die alle mit ähnlich verzierten Marmorplatten versiegelt waren. Kurz vor dem Treppenaufgang lag der Eingang zur größten Grabstätte hier unten. Sie sah beinahe aus wie ein Haus, hatte eine Tür mit goldenen Knäufen und einen Vorbau aus vier eleganten Säulen. Als Kind hatte ich es gruselig gefunden und nicht verstanden, dass ein Mausoleum dahinter lag. Das war mir erst bei Mutters Beerdigung vor ein paar Wochen klar geworden. Als ich die dunkle Tür jetzt passierte, verlangsamte ich meinen Schritt. Über der Tür war der Name der hier ruhenden Person eingearbeitet: Halbgöttin Manat, Bringerin der Magie, Bringerin der Güte.
Ich stutzte. Warum hatte ich nicht gewusst, dass diese Grabkammer für sie errichtet worden war? Dass neben den verstorbenen Herrschaftsfamilien auch eine Halbgöttin lag? Und warum realisierte ich das ausgerechnet heute?
»Am Tag der Manat«, raunte ich.
Unwillkürlich ließ ich mich in eine Verbeugung fallen. Es fühlte sich wie Fügung an, wie ein Wink des Schicksals …
Kaum hatte ich meinen Kopf dem Boden zugewandt, hörte ich auf einmal ein Rascheln. Mein Herz setzte einen Schlag aus und in meinem Nacken breitete sich ein unruhiges Kribbeln aus, ganz so, als würde sich jemand an mich heranschleichen.
Erschreckt fuhr herum – doch es war niemand da. Die Gänge waren noch immer gespenstisch leer, ihr Ende verlor sich in der Dunkelheit. Plötzlich überlief mich eine Gänsehaut. Ich hatte mir das nicht eingebildet. Oder doch? Hastig sah ich mich um, leuchtete mit meinem Kerzenhalter in alle Richtungen. Noch immer hatte ich das Gefühl, jemand wäre hier, jemand, der nicht erwünscht war.
Schnell wandte ich mich ab und rannte zur Treppe, nahm zwei Stufen auf einmal und verriegelte mit zitternden Fingern die Tür hinter mir.
Mein Herz hämmerte gegen meinen Brustkorb und ich beeilte mich, auch den Tempel hinter mir zu lassen, genau wie die leeren Gänge. Erst in meinem Zimmer spürte ich wieder ein Gefühl von Sicherheit.
»Was, bei der Sonne, war das?«, stöhnte ich. Das Rascheln hatte so nah geklungen! Ich schüttelte den Kopf. »Niemand außer mir und Tarik hat den Schlüssel für die Grotte«, sagte ich zu mir selbst. Ich wiederholte es so oft, bis sich mein Puls etwas beruhigt hatte und die Erschöpfung des Tages zurückkehrte.
Naima
Ich saß im Büro der Heimleiterin. All die Jahre meiner Kindheit war das hier verbotenes Terrain gewesen. Nie hatte ich auch nur einen Fuß über die Schwelle gesetzt.
Schon mit der kleinen Diele vor ihrem Büro war es ein heikles Spiel gewesen. Nur in den mutigsten Momenten hatte man sich in den Vorraum gewagt, um einen Blick in den einzigen Spiegel des Hauses zu werfen. Aber das war auch schon die höchste Errungenschaft gewesen. Denn in einem waren sich alle Heimkinder ziemlich sicher gewesen: dass man mit nicht weniger als einem umgedrehten Hals zu rechnen hatte, wenn man auch nur einen Fuß in Herdas Privaträume gesetzt hätte.
Nun saß ich völlig entspannt an ihrem Schreibtisch und wippte mit dem Fuß. Herda klapperte derweil in einem Nebenraum und kam schließlich mit zwei Teegläsern wieder. Ein kleiner Teil von mir genoss es, die Heimleiterin so verunsichert zu sehen. Immer wieder warf sie den Soldaten, die sich zu beiden Seiten der Tür positioniert hatten, Blicke zu. Ich hatte den Eindruck, dass die beiden extra grimmig zurückschauten, und ich würde sie sicher nicht bitten, damit aufzuhören.
»Ich dachte nicht, dass ich dich noch mal wiedersehe«, brummte Herda irgendwann. Klimpernd stellte sie die Teegläser ab und schob mir eines zu. »Hast reich geheiratet, was?«
»O nein, ich habe mir eine Arbeit gesucht«, entgegnete ich, ohne sie aus den Augen zu lassen. »Eigentlich ist es sogar ziemlich lustig, denn ich bin jetzt Schneiderin.«
»Aha«, brummte Herda. Ihr Blick zuckte wieder zu den Soldaten.
»Schade, dass du mir diese Möglichkeit damals verbaut hast. Aber deshalb bin ich nicht hier. Ich habe Post mitgebracht.« Ich grinste und zog einen gefalteten Brief aus meiner Tasche. Es war elegantes Briefpapier, das mit einem goldenen Wappen versiegelt war. Ich reichte Herda den Umschlag. »Für dich.«
Herdas Augen quollen nun so aus ihren Höhlen, dass ich schon befürchtete, sie könnten ganz herausfallen. Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück, während Herda den offiziellen Brief aufriss und überflog. Am Ende schaute sie entsetzt auf.
»Das verstehe ich nicht.«
»Du stehst unter Beobachtung«, schaltete sich der alte Soldat ein. »Ihre Majestät reformiert das soziale System. Du hast die aufgelisteten Anforderungen umzusetzen oder das Heim wird geschlossen.«
»Kinderarbeit ist ab sofort verboten«, sagte ich. Plötzlich spürte ich, wie mir Tränen in die Augen stiegen, doch ich kämpfte sie zurück. »Kinder bekommen zwei Mahlzeiten am Tag und sie werden unterrichtet.«
»Das geht nicht!«, protestierte Herda. »Wie soll das funktionieren?«
»Indem die Zuschüsse für genau diesen Zweck genutzt werden«, erwiderte ich. »Und nicht für die eigene Garderobe.«
Herda warf mir einen vernichtenden Blick zu. Ich sah, wie es in ihrem Kopf arbeitete. Doch dann passierte etwas, womit ich nicht gerechnet hatte.
Herda legte den Brief behutsam auf dem Tisch ab und auf ihre Lippen wanderte ein Grinsen. Ich kannte diesen Ausdruck nur zu gut, weshalb es in mir augenblicklich zu brodeln begann.
»Aber selbstverständlich, das ist eine gute Idee«, sagte Herda mit zuckersüßer Stimme. »Ich werde alles genauso machen, wie die Königin es von mir verlangt. Ich finde schon einen Weg.« Ihre Augen blitzten.
»Ihre Majestät wird die Einhaltung der neuen Beschlüsse regelmäßig überprüfen. Insbesondere bei den Heimen, die schon jetzt im Fokus Ihrer Majestät stehen«, zischte ich eindringlich.
Doch an Herdas Miene veränderte sich nichts. Ihr höhnischer Gesichtsausdruck war schlimmer als jeder Wutausbruch. Sie glaubte mir nicht. Sogar jetzt, da ich mit Soldaten in ihrem Büro stand, fühlte sie sich noch überlegen.
»Wer widerrechtlich handelt, wird sich vor Ihrer Majestät und vor dem Gericht verantworten müssen«, fügte ich hinzu. Aber meine sorgfältig zurechtgelegten Worte hatten keine Schlagkraft mehr.
»Aber nein, dazu wird es nicht kommen. Ich kümmere mich um alles. Versprochen.« Sie funkelte mich an. »Noch Tee?«
Die Wut in meinem Herzen erreichte den Siedepunkt, sodass ich aufsprang und den Stuhl hinter mir umstürzte.
Die Hände zu Fäusten geballt rannte ich nach draußen. Ein leises Lachen wehte hinter mir her: »Das war dann wohl ein Nein.«