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Eitelkeit, Betrug und List sind Zutaten, die den Untergang des stolzen Adelsgeschlechts der Herren von Montfort besiegeln. Der Krimi führt uns im Jahr 1753 nach Tettnang, wo das gerade fertig gestellte Schloss aus ungeklärten Ursachen niederbrennt. Noch Jahrhunderte später beschäftigt dies die Geschichtsschreibung. Nach dem Fund eines mysteriösen Brieffragments macht sich der Biberacher Historiker Pfeiffer auf die Suche und stößt auf ungeheuerliche Behauptungen, Vorwürfe und Tatsachen. Packend erlebt der Leser durch Rückblenden, Briefe und Aktenfunde den verhängnisvollen Niedergang der Grafen von Montfort. Die Idee zu seinem Krimi kam dem Autor, als er in Tettnang auf zahlreiche Ungereimtheiten stieß: Münzfälschung, Bauwut, Todesfälle und Insolvenz ergeben eine brisante Melange, die durch die Hofchroniken des Grafen Ernst von Montfort belegt sind.
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Seitenzahl: 188
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Andreas Kreißig
Andreas Kreißig ist als Bibliothekar an der Landesmusikakademie BW tätig, die in einem ehemaligen Kloster in Oberschwaben untergebracht ist. Das Klostergebäude, dessen Geschichte er in kunsthistorischen Führungen lebendig werden lässt, regte ihn zum Schreiben historischer Krimis an. Für sein zweites Buch entwarf er die Figur des Historikers Pfeiffer und lässt aus dessen Perspektive den Leser in die Geheimnisse der Vergangenheit eintauchen. Der Autor ist verheiratet und lebt mit seiner Familie im Landkreis Biberach.
Andreas Kreißig
Historischer Kriminalroman
Oertel+Spörer
Dieser Kriminalroman spielt an realen Schauplätzen. Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden.Sollten sich dennoch Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen ergeben, so sind diese rein zufällig und nicht beabsichtigt.
© Oertel + Spörer Verlags-GmbH + Co. KG 2024Postfach 16 42 · 72706 ReutlingenAlle Rechte vorbehalten.Titelbild: © Achim MendeGestaltung: PMP Agentur für Kommunikation, ReutlingenLektorat: Bernd WeilerKorrektorat: Sabine Tochtermann Satz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-96555-184-8
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FÜR SABINE
Grauer Nebel bedeckte den Boden, Nacht hatte sich über Felder und Wiesen gelegt. Blass stand der Mond am Horizont und tauchte die Landschaft in ein mystisches Licht. Der Wind hatte merklich aufgefrischt und die Kronen der hohen Bäume, hinter denen sich die Kulisse einer Kapelle und eines Schlosses abzeichnete, schwankten bedrohlich. Wolkenfetzen jagten über den Himmel und bildeten bizarre Figuren. Mit vorgebeugtem Oberkörper, den Kopf tief gebeugt, kämpfte sich eine hagere Frau mit eingefallenen Wangen, einem verhärmten Gesicht und zerzaustem, langem, aschblonden Haar mühsam bergan. Sie keuchte und ächzte, Schweiß rann ihr von der Stirn. Obwohl sie die gefährliche Argenschlucht mit ihren hohen Felswänden, glitschigen Pfaden und halsbrecherischen Brücken längst hinter sich gelassen hatte, schlug ihr das Herz bis zum Hals. Nach einer scharfen Biegung hob sie den Kopf und blieb abrupt stehen. Vor ihr lag das Schloss. Stimmengewirr drang an ihr Ohr, in den hell erleuchteten Fenstern waren die Konturen herausgeputzter Adeliger sichtbar, festliche Musik war zu hören. Die Frau war an ihrem Ziel angelangt, mit neuer Kraft steuerte sie zielstrebig auf den Eingang der Schlossanlage zu.
Ein Blick durch das Schlosstor zeigte den mit Fackeln hell erleuchteten Vorplatz einer Residenz, wo elegant gekleidete Tanzpaare rhythmisch zur Musik einherschritten. Der Graf saß sichtbar vergnügt neben seiner Gattin auf einer Tribüne und applaudierte, als am Eingang Tumult losbrach.
»Oh nein, nein, nein, lasst mich durch. Warum haltet ihr mich auf? Ihr habt kein Recht dazu!«
Am Eingang hatten Soldaten die hagere, laut gestikulierende Frau aufgehalten.
»Wer seid Ihr und von wo kommt Ihr? Nur geladene Gäste können passieren.«
Doch die Frau hatte sich schnell umgedreht und war hinter dem Rücken der überraschten Wachen auf den Vorplatz des Schlosses geschlüpft. Unmittelbar vor der Tribüne blieb sie stehen.
»Graf Johann?«, hörte man sie mit fragender, unsicherer Stimme, »so sehe ich Euch endlich.«
Und mit zunehmender Festigkeit, aber monoton, als habe sie sich den Text schon tausendmal in ihrem Innersten vorgesagt, fuhr sie fort.
»Ihr werdet mich nicht kennen, doch ich erkenne Euch als unseren Peiniger. Eure Schuld wiegt schwer.«
Langsam und überrascht hatte sich der Graf dem Weib zugewendet. Da erschienen Wachen, packten sie und versuchten, sie in Richtung Ausgang zu ziehen. Das Weib aber wehrte sich, tobte und schrie mit zunehmendem Zorn, der ihren gesamten Körper erfasste und erbeben ließ.
»Sagt an, hoher Herr, wer gab euch das Recht, uns das anzutun? Nicht nur meinen Mann habt ihr mir genommen, heute früh verschied unser Kleinster an den Kindsblattern, die sich in den Hütten der Tagelöhner wie ein Lauffeuer ausbreiten.«
Und dann schrie sie, in völliger Ekstase, mit glasigen Augen und verzerrtem Gesicht: »Zur Hölle sollt ihr fahren. Euer Geschlecht sei verflucht auf immer und ewig. So wahr der Himmel über der Erde ist, sollt Ihr büßen für alle die Untaten, die Ihr uns angetan habt. Nie soll die Sonne des Glücks scheinen über Eurem Geschlecht, es sei dem Untergang geweiht. Alles, was Ihr tut, mit Worten oder mit Werken, sei verflucht. Dieser Fluch treffe nicht nur Euch, all Eure Nachkommen sollen büßen für die Schande, die Ihr über Tettnang gebracht habt.«
Völlig erschöpft hielt sie inne. Entsetzt angesichts dieses Fluchs war die gesamte Festgesellschaft erstarrt, die Soldaten verharrten. Es wurde totenstill. Wie in Zeitlupe erhob sich der Graf, mit unsicherem Blick schaute er um sich. Erst jetzt realisierte er die Worte des Weibs, das ihn mit hasserfülltem Blick aus dunklen Augen anstarrte. Er kannte die Frau nicht, doch er erschauderte. So etwas hatte er noch nie erlebt. Ein Fluch!? Dann kam wieder Leben in ihn.
»Worte sind Schall und Rauch, dein Geschwätz interessiert uns nicht«, herrschte er mit arroganter Stimme das Weib an. Dann gab er den Wachen ein Zeichen. Bevor die Frau sich umwenden konnte, durchbohrte eine Lanze ihr Herz und sie brach tot zusammen.
Tettnang, im März 2018
Erregt steuerte er seinen Wagen mit hohem Tempo auf der B 30 in Richtung Tettnang. Es regnete in Strömen und die Sichtverhältnisse waren denkbar schlecht. Bei diesem Wetter jagt man nicht einmal einen Hund vor die Türe, schimpfte er und schaltete in den fünften Gang. Gerne wäre er zu Hause in Biberach geblieben und hätte sein Exposé über die Nachnutzung sakraler Gebäude und deren Herausforderung aus der Sicht des Denkmalschutzes beendet. Doch ein Anruf hatte alles über den Haufen geworfen.
»Wir dürfen keine Zeit verlieren, kommen Sie so schnell wie möglich. Es handelt sich um eine dringende Angelegenheit von höchster Wichtigkeit.«
Hatte er den Amtsleiter von Staatliche Schlösser und Gärten falsch verstanden? Nein, ausgeschlossen. Klar klang dessen Stimme in seinen Ohren: »Im Zuge der Inventur in Schloss Tettnang ist meinen Damen ein sonderbares Schriftstück in die Finger gekommen. Es ist sehr alt, vergilbt und an den Rändern eingerissen. Und stellen Sie sich vor, was geschah, als wir es auseinanderfalteten.«
Der Amtsleiter hatte eine bedeutungsvolle Pause gemacht, bevor er weitersprach.
»Das Papier begann vor unseren Augen zu zerbröseln. Meine Mitarbeiterinnen wollten es gerade wegwerfen, als mir am Rand das Bruchstück eines Wappens auffiel. Rot und weiß. Allerdings verblasst es zunehmend. Das ist doch sonderbar. Gibt es Farbe, die sich auflöst? Zaubertinte? Ich kenne das aus Märchen. Mit viel Fantasie konnten wir eine Jahreszahl entziffern, 1750 oder so. Ich befürchte, dass diese mit der Zeit auch verschwindet. Kommen Sie also so rasch wie möglich.«
Als Heimatforscher Georg Pfeiffer beim Neuen Schloss in Tettnang eintraf, kam ihm ein erregter Amtsleiter auf der Treppe entgegen. Noch im Gehen begann er zu reden.
»Vielen Dank, dass Sie es einrichten konnten und so rasch hergekommen sind, wir erwarten Sie sehnlichst. Schauen Sie, hier liegt unser Sensationsfund.«
Mitten im Bacchussaal lag das Schriftstück auf einem hölzernen Tisch, umringt von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Museums, die ehrfurchtsvoll Abstand zu dem Brieffragment hielten.
»Meine Damen und Herren, darf ich Ihnen unseren Experten, Historiker Pfeiffer, vorstellen. Er wird den Fund begutachten und bald sehen wir klarer. Herr Pfeiffer, darf ich Sie bitten.«
Erwartungsvolle Blicke lagen auf dem Heimatforscher, während er sich setzte und vorsichtig die Papierfetzen begutachtete. Möglichst unauffällig, aber doch nicht zu übersehen, steckten zwei der Damen die Köpfe zusammen und begannen zu tuscheln. Der Amtsleiter war nahe zu Pfeiffer getreten und blickte ihm neugierig über die Schulter. Plötzlich erstarrte der Heimatforscher. Am unteren Rand einer Seite hatte er das Wappen entdeckt, das ihm der Amtsleiter geschildert hatte. Es war stark beschädigt, doch er konnte es mit ein wenig Fantasie zu einer roten, dreilatzigen Fahne ergänzen. Voller Freude rief er:
»Schauen Sie, dies ist das Wappen der Grafen zu Montfort. Der Brief muss daher aus dem Schloss oder deren Kanzlei stamme. Sprachen Sie nicht von einer Jahreszahl? Damit könnte ich den Fund rasch einordnen.«
Die Aktenlage des Geschlechts der Grafen zu Montfort war ihm vertraut, denn er forschte seit Längerem zu den Adelsgeschlechtern Oberschwabens. Und nun lag ein Schriftstück vor ihm, welches vermutlich niemand vor ihm gesehen hatte. Das war unglaublich, ihn schwindelte. Sofort begann er sorgfältig mit einer Pinzette das historische Schriftstück zusammenzufügen.
»Schade, dass Sie das Exponat nicht fotografiert haben. Dann könnten wir die inzwischen verschwundenen Details noch einordnen. Mit einem Handy wäre das doch kein Problem gewesen.«
Leicht verstimmt wendete er sich um und blickte den Amtsleiter an.
»Verstehen Sie bitte, dass wir daran nicht gedacht haben. Es war so aufregend, als eine aufmerksame Reinigungskraft die verschmutzte, mit Jagdszenen verzierte Porzellandose in einem alten Schrank im Keller fand. Darin lag ein verstaubtes Bündel von Briefen, das nun vor Ihnen liegt. Stellen Sie sich vor, es war von einer kunstvoll gearbeiteten Kordel zusammengebunden. Das ist doch ungewöhnlich! Den vergilbten Papieren hätten wir keine Aufmerksamkeit geschenkt, aber die farbige Kordel fiel ins Auge. Doch dann passierte das Unglück. Als ich das Band öffnete, zerbröselte der Brief vor unseren Augen.«
Das hauchdünne, fast durchsichtige Papier war zudem an mehreren Stellen verkohlt und zerbrach, als Pfeiffer es berührte. Fieberhaft setzte er die restlichen Teilchen zusammen, kombinierte und zog im Geiste die Linien der Schrift nach.
Und tatsächlich entzifferte er bald einige Worte: »Geschätzte Freundin, verehrte Gräfin, Katastrophe, Freud und Leid, Fluch, außerdem Schicksal entgehen, und nie nie nie. Diese letzten drei Worte waren unterstrichen. Was hatte dies zu bedeuten? Die Aktenlage zu Tettnang galt als abgeschlossen und war durch den berühmten Historiker Dr. Keilbert publiziert worden. Doch diesen Brief hatte er sicher nicht gekannt. Ob dieses geheimnisvolle Schriftstück neue Rückschlüsse in der Regionalgeschichte erlauben würde? Heimatforscher Pfeiffer begann zu träumen. Bis heute wusste niemand, wie es den Grafen aus Tettnang gelungen war, nach einem knapp abgewendeten Bankrott und zahlreichen Finanzskandalen solch eine feudale Residenz zu bauen. Auch lag die Ursache für einen verheerenden Schlossbrand im Dunkeln. Vielleicht kann dieses Schriftstück neue Hinweise dazu geben? Das wäre eine Sensation! Er, der bisher erfolglose und vom Pech verfolgte Heimatforscher würde den halb verkohlten Brief entziffern und publizieren. Und die gesamte Fachwelt müsste neidlos anerkennen, dass er, Georg Pfeiffer, nicht umsonst Archive durchwühlt, Akten durchforstet und auf Dachböden und in Kellern vieler oberschwäbischer Klöster und Schlösser verschollene Dokumente gesucht hatte. Darum musste der Fundort unverzüglich und gründlich durchsucht werden. Hoffentlich waren weitere Spuren noch erhalten. Erregt erhob er sich.
»Verehrter Herr Amtsleiter, könnten Sie mir den Raum und den Schrank, in dem der Brief gefunden wurde, zeigen?«
Tettnang, im Oktober 1753
Es war Nacht, ein kalter Wind pfiff um die Schlossmauern und es zog fürchterlich durch die Ritzen der Fenster. Der Ofen, der am Abend noch eine wohlige Wärme in seinem Gästezimmer verbreitet hatte, war erloschen und Jakob fröstelte. Wie ungeschickt war er gewesen, das Angebot weiterer Bettdecken auszuschlagen. Dabei war die junge Zofe bemüht gewesen, ihm alles recht zu machen. »Darf ich dem Hohen Herren noch eine Kanne heißen Tee ins Gemach stellen? Es wird heute Nacht kalt, benötigen Sie vielleicht noch weitere Decken? Wünschen Sie morgen früh geweckt zu werden? Ich könnte Ihnen eine Tasse Kaffee ans Bett bringen.«
Dabei hatte sie verschmitzt gelächelt und Jakob war rot geworden, als sie ihm direkt in die Augen geblickt hatte. Was für ein hübsches Gesicht sie doch hatte. Er schätzte ihr Alter auf gut zwanzig Jahre. Ihre blütenweiße Bluse und das schwarze, mit Spitzen bestickte Gewand machten einen besseren Eindruck als die üblichen, höfischen Uniformen. Ob sie die Kammerzofe der Gräfin sein mochte? Gerne hätte er mehr über sie erfahren, doch das erschien ihm unpassend. Was mochte sich dieses Frauenzimmer denken, wenn er, ein älterer Mönch im Habit eines Dominikaners, des Nachts eine Konversation beginnen würde? Also hatte er ihre Angebote höflich, aber bestimmt abgelehnt.
Heute früh erschien ihm das töricht. Das reizende, rundliche und von Sommersprossen gezierte Gesicht der jungen, rothaarigen Bediensteten stand ihm deutlich vor Augen. Obgleich er es sich nicht eingestehen wollte, hatte er sich am gestrigen Abend hoffnungslos in das Mädchen verliebt. Als Mönch und Priester unterlag er dem Zölibat und hatte keinen Umgang mit Frauen. Doch diese Zofe hatte in ihm ein Feuer erweckt, wie er es noch nie erlebt hatte. Darum musste er sie wieder sehen. Bei nächster Gelegenheit wollte er sie um weitere Decken und vor allem Papier und Tinte zum Schreiben erbitten. In seinem vornehmen Gästezimmer, das an der Decke mit Stuckaturen verziert war und das »Weiße Zimmer« genannt wurde, stand ein zierlicher Holzsekretär neben dem Bett. Hier würde er die wichtige Korrespondenz mit dem päpstlichen Hofe zu Rom fortsetzen.
»Als Zeichen unserer festen Freundschaft erlauben wir uns, euch, edler Freund, im vornehmsten Gästezimmer unseres Schlosses unterzubringen«, hatte ihm Graf Maximilian am Abend zuvor eröffnet und ihn in den prachtvollen, mit Bildern der gräflichen Familie ausgestatteten Raum geführt. Das feudale Bett wirkte nur auf den ersten Blick klein. Es entpuppte sich als angenehmes, modernes Möbel.
Da er trotz seiner Erinnerungen an den letzten Abend noch fror, zog er seine Decke über die Schultern und rollte sich in seinem Bett zusammen. Er hatte auf der weichen Matratze schlecht geschlafen und sein Kopf schmerzte. Dazuhin drückte das trübe Wetter auf sein Gemüt. Am Vorabend hatte das Wetter umgeschlagen.
»So ein rascher Wetterumschwung ist nicht ungewöhnlich für den Bodensee«, hatte ihm der Graf erklärt. »Leider könnt ihr morgen früh keine Bergsicht genießen. Dieses Zimmer zählt zu den schönsten im Neuen Schloss, der Seeblick von hier fasziniert alle unsere Gäste. Auch wir sind vom Blick auf den nahen Säntis mit dem davor liegenden Bodensee hingerissen.«
Der Fürst war ins Schwärmen gekommen und berichtete stolz vom Ausbau seiner Residenz.
»Ihr könnt euch vorstellen, warum mein Urahn gerade hier den Grundstein für das Neue Schloss legen ließ. Die Lage ist es wert, nicht wahr?«
Am letzten Abend war, von Ochsenhausen kommend, der Mönch Jakob in Tettnang bei dem befreundeten Adelsgeschlecht der Herren von Montfort eingetroffen. Kennengelernt hatten sich der Gelehrte und Professor der Theologie Jakob von Soest und Graf Maximilian vor mehreren Jahren in Köln beim Studium. Seither pflegten sie losen Briefkontakt. Der Einladung auf das gräfliche Schloss hatte Jakob in den vergangenen Jahren nie folgen können, nun lag Tettnang auf seiner Reiseroute nach Rom.
Zusammen mit seinem gräflichen Freund hatte er den Abend im Fürstenzimmer mit einem langen und tiefschürfenden Gespräch über den Sinn des Lebens verbracht.
»Als Theologe und Philosoph müsst Ihr, werter Freund, mir doch erklären können, was ein Leben lebenswert macht«, hatte der Graf seinen Freund gefragt und darauf eine umfassendere Antwort erhalten, als er es gewünscht hatte.
Erst nach einem minutenlangen Vortrag konnte der Graf den Redefluss des Gelehrten unterbrechen. »Ich sehe schon, aus Euch spricht immer noch der Professor und Ihr könnt es nicht lassen, zu dozieren. Darf ich Euch noch ein Glas Wein einschenken? Ihr ahnt, dass meine Frage einen ernsten, nein bitteren Hintergrund hat. Ich hatte euch geschrieben, dass meine gute Schwester Anfang des Jahres von uns geschieden ist. Das war tragisch, doch sie war ansehnliche 58 Jahre alt. Aber meine jüngste Tochter war mein Augenschein, so schlank, hübsch, artig und fromm. Sie feierte im Februar noch ihren 20. Geburtstag, bevor sie vor einigen Wochen an den Kindsblattern starb.«
Ein tiefer Seufzer entrang sich seiner Brust, dann erzitterte sein Körper und er begann hemmungslos zu schluchzen.
»Sie war mir die liebste unter meinen Kindern, mir zerspringt das Herz, wenn ich an die Qualen denken muss, die sie in den Tagen vor ihrem Tod erleiden musste. Zwei Monate später sollte meine Schwiegertochter niederkommen. Die Geburt ihrer Tochter war kompliziert. Doch, dass sie und ihr neugeborenes Töchterlein den kommenden Tag nicht erleben würden, hatte niemand gedacht. Bester Freund, seht Ihr meine Frage nach dem Sinn des Lebens nun in einem anderen Lichte?«
Das alles schoss Jakob durch den Kopf, während er sich mühsam erhob. Sein Kopf und seine Glieder schmerzten. Frische Luft wird mir guttun, sagte er zu sich. Daher entschloss er sich zu einem frühmorgendlichen Spaziergang durch den Schlossgarten. Der kühle Wind blies durch seine Kleider, sodass er erneut fröstelte. Er schritt rasch aus und bald fühlte er sich besser. Entspannt schlenderte er durch die gepflegte und in barockem Stil angelegte Gartenanlage, die von einer kleinen Mauer umgeben war. In Richtung Bodensee wurde der Garten durch ein kleines Kavalierhäuschen mit eleganten Rundbogenfenstern abgeschlossen. Eben wollte er den Rückweg antreten, als er einen schmalen Pfad entdeckte. Neugierig folgte er dem Weg und gelangte unterhalb des Schlosses in einen verwilderten Teil des Gartens. Der Pfad war von Dornen und Flechten überwuchert und immer wieder musste er über umgestürzte Bäume steigen. Ihn störte das nicht, vielmehr erinnerte ihn dieses naturbelassene Stückchen Erde an so manchen Klostergarten, den er auf seiner Reise besucht hatte. Gedankenversunken folgte er dem Weg. Da verfing sich sein Fuß plötzlich in einer Brombeerranke und er drohte zu stürzen. Gerade noch rechtzeitig konnte er sich an einem Ast festhalten. Keuchend und laut schimpfend befreite er sich aus den Dornen. Seine Hände waren zerkratzt und ein Arm schmerzte. Als er seinen Weg fortsetzen wollte, stolperte er erneut. Verärgert blickte er sich um und stellte fest, dass er über einen überwucherten Stein gefallen war, der tief im Gras eingesunken, umgekippt, von Moos bedeckt und Efeu überrankt war.
Neugierig ging Jakob in die Hocke. Die Form des Steins erinnerte ihn an einen Findling. Als er Schriftzeichen entdeckte, begann er vorsichtig mit seinen Fingernägeln das Moos abzukratzen. Schriftzeichen und ein Kreuz wurden sichtbar, ebenso Zahlen. Sollten dies Lebensdaten sein? Lag vor ihm ein Grabstein? Befand sich hier früher ein Friedhof? Warum war er nicht gepflegt? Wer mochte hier begraben liegen? Sicherlich keine Angehörigen des Grafengeschlechts. Eher könnte es sich um Vaganten oder Leibeigene handeln. Aber stellte man für einfache Leute Grabsteine auf? Oder stand hier vormals ein Galgen? Nein, ein Grab an einer Hinrichtungsstätte wäre ungewöhnlich. Außerdem wäre ein Galgenberg kein geeigneter Ort für ein Schloss gewesen. Während er darüber nachgrübelte, fiel ihm die rhetorische Frage des Grafen zum Bauplatz des Neuen Schlosses wieder ein: »Ihr werdet mir zustimmen, dass die Lage es wert ist.« Was das zu bedeuten hatte?
Mittlerweile hatte er den größten Teil des überwucherten Namens auf dem Stein freigelegt und begann, ihn zu entziffern. JOANX. Sonderbar, der Name klang nach einem Adeligen oder einem Geistlichen. Bald stieß er auf Kerben, die sich nach und nach als ein Wappen entpuppten. Jakob stutzte. Fieberhaft versuchte er sich zu erinnern, wo er die Form bereits gesehen hatte. Dabei neigte er seinen Kopf nach hinten und erblickte die gleiche Form an der Fassade des Schlosses: Es war das Wappen der Grafen von Montfort! Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Warum lag in einem überwucherten und vergessenen Grab ein Vorfahre des gräflichen Geschlechts begraben? Wer war dieser Joan? Eilig schabte er weiteres Moos ab und bald lag die Inschrift komplett vor ihm: JOHANN X., 1548 – 1582. Vermutlich Graf Johann X. zu Montfort. Jakobs Augen begannen zu leuchten und in ihm erwachte sein Jagdinstinkt. Wer war dieser Johann? Dies galt es herauszufinden. Allerdings würde er behutsam vorgehen und nicht sofort den regierenden Grafen fragen. Seine Erfahrung sagte ihm, dass es sich um ein Familiengeheimnis handeln könnte.
Beschwingt kehrte er ins Schloss zurück. Seine Niedergeschlagenheit war einer gespannten Neugierde gewichen. Bevor er das Gespräch auf Urahn Johann lenken würde, wollte er sich im Schloss umschauen. Vorstellbar wäre, dass er anderen Stellen Hinweise wie Bilder oder Ahnentafeln zu finden waren.
Der Tag war angebrochen und es herrschte rege Betriebsamkeit, denn unweit des Neuen Schlosses wurde der Wochenmarkt Tettnangs aufgebaut. Während einige Händler und Bauern ihre Stände zwischen Ort und Neuem Schloss schon geöffnet hatten und Waren feilboten, holperte ein schwer mit Getreidesäcken beladenes Pferdegespann Richtung Schlosstor. Der Kutscher war abgestiegen, neben ihm sah Jakob eine junge Magd. Während die graue Kluft sowie der schwarze Hut des Kutschers zum trüben Wetter passten, stachen die weiße Haube und das rote Tuch einer weiteren Bäuerin heraus. Ihr wettergegerbtes Gesicht strahlte Energie, Tatkraft und einen starken Willen aus. Forsch schob sie sich durch die Menschenmenge, grüßte Bekannte und erledigte rasch ihre Besorgungen. Das prächtige Neue Schloss lag zwar unmittelbar vor ihr, dessen höfische Welt schien jedoch meilenweit vom Alltag der Tettnanger Bürger entfernt zu sein.
Kaum hatte Jakob den Innenhof des Schlosses betreten, als ihm die junge Zofe entgegenkam. Er hatte ihre Kontur von Weitem erkannt und ihm wurde warm ums Herz. Erregung überfiel ihn und er spürte sein Herz rascher schlagen. Ob sie ihn erkennen würde? Gerade wollte er sie ansprechen, doch sie kam ihm zuvor.
»So früh schon unterwegs, Hoher Herr? In dem bürgerlichen Gewand hätte ich Sie fast nicht erkannt. Was führt Sie bei diesem kühlen Wetter nach draußen?«
Und mit einer ein wenig bekümmerten Miene fuhr sie fort.
»Sie sehen nicht gut aus, haben Sie schlecht geschlafen? Haben Sie Wetterfühligkeit? Unsere Frau Gräfin leidet auch darunter.«
Mit einem koketten Lächeln ergänzte sie: »Ich werde Ihnen gleich ein Kännchen unseres frisch aufgebrühten Kaffees in Ihr Gemach bringen. Auch unser Graf liebt das schwarze Gebräu, es wird Ihre Lebensgeister erwecken.«
Jakob räusperte sich. Das Blut war ihm in den Kopf geschossen und er wendete seinen Blick ab. Ob sie seine Verlegenheit bemerkt hatte? Darum erwiderte er betont gelassen: »Vielen Dank, es wird bald zu essen geben, das Frühstück möchte ich mit Herrn Graf und Frau Gräfin zusammen einnehmen.«
Da erschallte das helle und verschmitzte Lachen der Zofe.
»Da müssen der Hohe Herr noch lange warten. Vor zehn Uhr bequemt sich unsere Hoheit nicht, aufzustehen. Mönche pflegen einen anderen Lebenswandel, nicht wahr?«
Er wollte antworten, als eine strenge Stimme ertönte: »Susanna, wirst du wohl ins Haus kommen. Was erlaubst du dir überhaupt. Der Hohe Herr ist Gast unseres Herren Grafen und du weißt genau, dass wir keine Konversation im Hof pflegen.«
Schlagartig verfärbte sich das Gesicht der Zofe puterrot, höflich machte sie einen Knicks. »Entschuldigen Sie mein vorlautes Mundwerk edler und hoher Herr.«
Sie drehte sich um und verschwand im Dienstboteneingang. Schade, dass dieses nette Gespräch so abrupt unterbrochen worden war. Die reizende Zofe war eine aufgeweckte Person. Er wollte sie bald wieder treffen, von ihr könnte er zudem allerhand Nützliches über den Tettnanger Hof erfahren.
Er steuerte den schweren Eingangstüren des Schlosses zu, als er Glockengeläut vernahm.
»Gibt es hier eine Kirche«, fragte er einen vorbeieilenden Diener.
»Aber sicher doch, werter Herr, unser Graf ist sehr fromm. Wenn Sie sich nach rechts wenden, kommen Sie zur Kapelle.«