Der fremde Passagier - Louise Candlish - E-Book

Der fremde Passagier E-Book

Louise Candlish

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Beschreibung

Gestern lebst du noch deinen Alltag. Heute wirst du von der Polizei des Mordes verdächtigt …

Es ging alles so schnell. An einem Tag lebst du höchst zufrieden deinen Alltag, fährst wie immer mit dem Linienboot in die Londoner city, zusammen mit deinem sympathischen Nachbarn Kit. Am nächsten Tag wird Kit als vermisst gemeldet. Als du aus dem Boot aussteigen willst, wartet bereits die Polizei. Ein anderer Passagier hat gesehen, wie du mit Kit am Abend zuvor gestritten hast. Die Polizei geht davon aus, du hättest ein Motiv für einen Mord. Du bist entsetzt, protestierst. Kit und du, ihr seid Freunde, das weiß doch jeder. Doch wer genau ist dieser andere Passagier, der mit dem Finger auf dich zeigt? Was weiß er über dein Leben? Was hat er noch alles beobachtet? Aber das ist egal, denn du bist ja komplett unschuldig. Oder?

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Seitenzahl: 509

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Zum Buch

Es ging alles so schnell. An einem Tag lebst du höchst zufrieden deinen ­Alltag, fährst wie immer mit dem Linienboot in die Londoner City, ­zusammen mit deinem sympathischen Nachbarn Kit. Am nächsten Tag wird Kit als vermisst gemeldet. Als du aus dem Boot aussteigen willst, ­wartet ­bereits die Polizei. Ein anderer Passagier hat gesehen, wie du mit Kit am Abend zuvor gestritten hast. Die Polizei geht sogar davon aus, du ­hättest ein Motiv für einen Mord. Du bist entsetzt, protestierst. Kit und du, ihr seid Freunde, das weiß doch jeder. Doch wer genau ist ­dieser Fremde, der mit dem Finger auf dich zeigt? Was weiß er über dein ­Leben? Was hat er noch ­alles beobachtet? Aber das ist egal, denn du bist ja komplett unschuldig. Oder?

Zur Autorin

Louise Candlish gehört zu den erfolgreichsten britischen Spannungs­autorinnen und hat für ihre Thriller hochkarätige Preise erhalten. Sie ­studierte Englische Literatur und lebt heute mit ihrer Familie in London. Zuletzt erschienen von ihr bei btb die Thriller Liebe deine Nachbarn wie dich selbst und Die Fremden in meinem Haus.

Louise Candlish

Der fremdePassagier

Thriller

Aus dem Englischen von Beate Brammertz

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel The other passenger bei Simon & Schuster, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe August 2024

Copyright der Originalausgabe © Louise Candlish, 2020

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2024 btb Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Umschlagmotiv: Pip Watkins / S&S Art Dept. unter Verwendung von Motiven von © Arcangel & Getty Images

Redaktion: Eva Wagner

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

MA · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-27188-6V002

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/penguinbuecher

Für jeden, der jemals versucht war, sich nach oben zu vergleichen …

1

27. Dezember 2019

Wie alle Horrorgeschichten von Pendlern beginnt meine im trüben Licht des frühen Morgens – oder zumindest die offizielle Version.

Kit ist nicht da, als ich am St Mary’s Pier das 7.20-Boot des ­River Bus nach Waterloo erwische, aber das ist nicht ungewöhnlich. In der Vorweihnachtszeit hatte er mehr als genug selbst­verschuldete Krankheitstage. Eine frühmorgendliche Bootsfahrt erfordert selbst unter normalen Umständen einen starken Magen, doch für die schrecklich Verkaterten unter uns ist sie buchstäblich Folter (glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich rede). So oder so kommt er immer nach mir an. Obwohl wir nur fünf Minuten voneinander entfernt wohnen und er auf dem Weg zum Pier direkt am Prospect Square vorbeimuss, haben wir nach der ersten Woche aufgehört, gemeinsam hinzugehen, nachdem sein notorisches Zuspätkommen – und meine neurotische Pünktlichkeit – sich als unvereinbar herausgestellt hatten.

Nein, Kit taucht lieber genau in letzter Sekunde auf, bevor sie die Gangway schließen, und hebt dann zum Gruß die Hand, in der festen Überzeugung, dass ich unsere Lieblingsplätze ergattert habe, den Vierersitz backbord neben der Bar. In St Mary’s ist der Einstieg vorne, und so kann ich beobachten, wie er den Mittelgang hinabspaziert, während seine Hände an den Metallstangen entlanggleiten – ebenso sehr aus Gründen der Coolness wie fürs Gleichgewicht –, bevor er mit einem unbeschwerten Grinsen neben mir auf den Sitz gleitet. Selbst wenn er bis spät in die Nacht gefeiert hat, riecht er immer toll, wie ein vollmundiges Walnuss-Feigen-Brot (»Kit riecht so millennial«, hatte Clare einmal gesagt, was mit fast hundertprozentiger Sicherheit eine Kritik an mir und meinem Generation-X-Geruch nach, keine Ahnung, abgestandenem Hundekuchen ist).

Schau uns an, sagt er gern, während er träge die anderen Fahrgäste mustert, die gemütlich in ihren cremefarbenen Ledersitzen fläzen. Es ist einer seiner Lieblingssprüche: Schau uns an. Hab Mitleid mit den armen Trotteln, die in überfüllten Regionalzügen zusammengepfercht sitzen oder in der U-Bahn ersticken – wir pendeln auf dem Katamaran. Dort draußen sind Möwen.

Und Abwasser, erwidere ich dann, denn Kit und ich, wir liefern uns gern bissige Wortgefechte.

Nun, zumindest früher mal.

Mit einem Räuspern schlucke ich genau in dem Moment den Kloß in meiner Kehle hinunter, als das Boot ein jähes Dieselgrummeln von sich gibt, fast als wären diese beiden Dinge miteinander verknüpft. Bei unserer Abfahrt gleiten über unseren Köpfen in rascher Folge Informationen über die Bildschirme – Mit Halt in Woolwich, North Greenwich, Greenwich, Surrey Quays –, doch inzwischen kenne ich die Strecke in- und auswendig, sodass ich ihnen wenig Beachtung schenke. Am Beginn durch die silbrig glänzenden Tore der Thames Barrier und am alten Kieswerk und den Lagerhallen vorbei. Dann erreicht man den Yachtclub und kommt in die mit Segelbooten gesprenkelte erste Schleife, mit den Wohntürmen der Halbinsel zur Linken, während man auf die riesige weiße Kuppel der O2-Arena zusteuert. Hoch über dem Fluss ist die Seilbahn gespannt, die die Halbinsel mit den Royal Docks verbindet, doch ich erlaube mir keinen Gedanken an meine bislang einzige Fahrt mit diesem Verkehrsmittel. Daran, was in jener Nacht geschah. Und was gesprochen wurde.

Nun, vielleicht ganz kurz.

Ich wende den Blick vom leeren Platz neben mir ab, als wäre Kit doch hier und könnte meine geheimen, schmutzigen Gedanken lesen.

»Dann bis Freitag«, hatte er am Montagabend auf dem Boot gebrummt, nachdem er sich über die Sturheit seiner Firma beschwert hatte, die auf diesem verwaisten Wochentag zwischen zweitem Weihnachtsfeiertag und dem Wochenende beharrte. »Verfluchte Geizkragen.« Normalerweise schreibe ich ihm eine Nachricht, wenn er das Boot verpasst, meine Solidaritätsbekundung: Lange Nacht? Vielleicht ein paar Bier-Emojis oder, falls ich mit von der Partie war, ein würgendes Gesicht. Doch heute tue ich nichts dergleichen. Seit kurz vor Weihnachten habe ich mein Handy kaum benutzt und muss gestehen, dass mir die Auszeit gutgetan hat. Dieses Old-School-Gefühl der Neunzigerjahre, nicht erreichbar zu sein.

Jetzt preschen wir an den spitzen Glastürmen von Canary Wharf in Richtung Greenwich vorbei, dem einzigen Teilstück, das immer noch die Macht hat, meinen Londoner Stolz zu wecken: die Zwillingstürme des Old Royal Naval College, der smaragdgrüne Park dahinter. Ich beobachte das Servicepersonal, das Weihnachtskekse mit weißem Zuckerguss zu Tee und Kaffee serviert – es ist überraschend, wie viele Menschen solches Zeug gleich morgens essen wollen, insbesondere meine Altersgruppe: weder jung genug, um sich keine Gedanken um ihre Silhouette (auch ein solches Melia-Wort) machen zu müssen, noch nah genug an ihrem Lebensende, um jegliche Gesundheitswarnungen in den Wind zu schlagen. Koffein und Zucker, Koffein und Zucker: So geht es immer weiter, bis endlich die Sonne tief genug steht, dass wir uns einen Schluck genehmigen dürfen, und, nun ja, das können wir besonders gut, nicht wahr? Wir sind doch alle Schluckspechte.

Erst als wir vor der Cutty Sark anlegen, ziehe ich mein Handy hervor und tauche wieder in die Nachrichten von Montagabend und die Nachwehen der kleinen Weihnachtsfeier der Wasser­ratten ein. Ich überfliege meinen Posteingang nach Kits Namen. Meine letzte Nachricht an ihn war völlig spontan gewesen und bezeichnenderweise ohne jegliches Emoji:

Pass lieber DU auf!

Geschickt am Montag um 23.38 Uhr und mit zwei Häkchen, was sie als gelesen markiert, aber keine Antwort. Dafür aber fünf verpasste Anrufe von Melia, ebenso wie drei Sprachnachrichten. Eigentlich sollte ich sie mir wirklich anhören. Doch stattdessen höre ich Clares Stimme von gestern Morgen, das »Erwachsenen«-Gespräch, das wir unter dem metallgrauen Himmel im Norden, 400 Meilen entfernt von hier, geführt haben:

Du musst diese Freundschaft beenden.

Nicht nur die mit ihm, Jamie. Auch die mit ihr.

Irgendwas stimmt mit den beiden nicht.

Und das sagt sie mir erst jetzt. Ich stecke das Handy wieder in die Tasche und erlaube mir noch ein paar Extraminuten der unschuldigen Ahnungslosigkeit.

*

An der Station Surrey Quays steigt Gretchen ein. Die einzige weibliche Wasserratte wirkt steif in ihrem schmalen petrolblauen Wollmantel, einen dieser breiten Bambusbecher mit ihrem Flat White in der Hand. Obwohl ich unseren Stammplatz ergattert habe, wählt sie einen Sitz irgendwo in der Mitte, mehrere Reihen entfernt vor mir. Sonderbar. Ich spaziere den Mittelgang hinab und lasse mich auf den Platz neben ihr fallen. Bei dem Boot um 07.20 hat man normalerweise keine derart freie Platzwahl, aber das Boot ist halbleer – selbst wenn man die Glückspilze außen vor lässt, die erst nach Silvester wieder zur Arbeit müssen, ist der Fluss bestimmt kein Ort, an dem man bei diesen Temperaturen sein will. Es ist einer der kältesten Tage des Jahres, Atemwolken sind vor den Mündern der Menschen am Kai und den Heizungsanlagen der Gebäude sichtbar.

»Jamie, hi«, sagt sie, ohne sich richtig zu mir zu drehen, ohne ein richtiges Lächeln. Ihre Wimpern sind marineblaue Spinnenbeine, und das Weiß ihrer Augen durchzieht ein rosafarbenes Netz.

»Ich dachte schon, du ignorierst mich absichtlich«, sage ich heiter. »Schönes Weihnachtsfest mit deiner Familie verlebt?« Sie war irgendwo in einer Stadt wie Norwich, wenn ich mich recht erinnere. Dort hat sie gesunde, unkomplizierte Eltern, einen Bruder und eine Schwester, eine Schar Nichten und Neffen.

Achselzuckend nippt sie an ihrem Kaffee. »Es dreht sich doch bloß um die Kinder, nicht wahr? Und ich hab keine.«

Es ist wirklich unnötig, dass sie noch deutlicher wird: Uns, unsere kleine Gruppe, verbindet die Kinderlosigkeit, unsere Freiheit, uns wichtiger als alle anderen zu nehmen. Unsere Selbstbezogenheit, unsere Risikobereitschaft. Kein Elternteil würde das tun, was ich dieses Jahr getan habe, oder zumindest nicht so bereitwillig, so bedenkenlos.

»Was ist mit gestern? Warst du auf Schnäppchenjagd?«

Gretchen blinzelt überrascht, als hätte ich angedeutet, sie wäre nackt auf einem Einhorn die Regent Street hinabgeritten. Sie hat reine Haut und eine zierliche Statur, aber von ihrem Temperament her ist sie eine Frau, die besser mit Jungs kann, sich über die Kompliziertheit ihres eigenen Geschlechts beschwert und glaubt, Männer wären zuverlässigere Verbündete (meiner Meinung nach eine gefährliche Verallgemeinerung).

»Alles gut bei dir, Gretch?«

»Ja, nur ein bisschen müde.«

»Ich frage mich, wo Kit heute Morgen steckt. Ich bin sicher, er hat gesagt, er müsste heute arbeiten. Hat er dir was gesagt?«

»Nö.« Ihrer Stimme haftet ein scharfer Unterton an, der mir vertraut ist, ein typisch weibliches Verschnupftsein.

Ab und an habe ich mich gefragt, ob zwischen Kit und ihr etwas läuft. Vielleicht gab es am Montagabend ein Techtelmechtel, vielleicht ist sie besorgt, was ich gesehen haben könnte. Habe ich etwas gesagt, das ich nicht hätte sagen sollen? Meine Güte, die Liste an »hätte nicht«-Dingen wird immer länger: Ich hätte mich nicht so betrinken, hätte mich nicht von ihm so reizen lassen dürfen.

Hätte ihm nicht diese letzte Nachricht schreiben dürfen.

»Was ist da passiert?«, fragt sie, als sie meine verbundene rechte Hand bemerkt.

»Oh, nichts Schlimmes. Ich hab mir bei der Arbeit den Daumen verbrannt. Habe ich ihn dir am Montag denn nicht gezeigt?«

»Ich glaube nicht.« Als Gretchen die Musik auffällt, die durch die Beschallungsanlage trällert – dieselben weihnachtlichen Klänge in Dauerschleife, denen wir seit Anfang Dezember wehrlos ausgesetzt sind –, stöhnt sie laut. »Ich ertrage diesen ›Frohe Weihnachten‹-Scheiß nicht länger, das ist alles so fake. Weißt du, was? Ich glaube, ich buche einfach eine Reise irgendwohin, wo es sonnig ist. Mach ein paar Tage blau und haue von hier ab.«

»Könnte über Silvester teuer werden.«

»Nicht, wenn ich irgendwohin fahre, wo es vom Auswärtigen Amt eine Reisewarnung gibt.«

Ich hebe eine Augenbraue.

»Ach, egal«, fügt sie hinzu, »was macht schon der eine oder andere Tausender mehr aus, wenn man sowieso im Minus ist?«

»Stimmt.«

Doch ich will nicht über Geld reden. In letzter Zeit ist es das Gesprächsthema Nummer eins. Wir kommen an der Polizei­station in Wapping vorbei, ganz knapp vor dem vielbefahrenen Themseabschnitt in der Innenstadt, wo die nach Westen fahrenden Boote genau in dem Moment das Tempo drosseln müssen, wenn die Ungeduld der Passagiere anwächst. Dann erreichen wir das London, das die Welt kennt – Tower Bridge, Tower of London, The Shard –, und während sich die Wahrzeichen vor uns erheben, gleiten Gretchen und Kit und ihre Probleme mit einem flauen Gefühl aus meinem Bewusstsein.

»Viel Spaß in Afghanistan, solltest du dahin fahren«, sage ich, als sie sich anschickt, in Blackfriars für ihren Bürojob in der Nähe von St Paul’s auszusteigen.

Sie lächelt. »Ich hatte eher an Marokko gedacht.«

»Viel besser. Melde dich.« Mein Joker-Grinsen schwindet in der Sekunde, als sich die Türen hinter ihr schließen, ich die Wange an die Kopflehne presse und aus dem Fenster starre. 7.50 Uhr am Morgen, und ich bin bereits völlig erledigt. Das Wasser steht hoch, als wir in Richtung Waterloo fahren, und saugt mit seinem schmutzigen braunen Zahnfleisch an den Mauern, während am Flussufer das Wunderland aus Lichtern, das nach Sonnenuntergang so magisch erstrahlt, nun als ein betrügerisches Netz aus Kabeln demaskiert ist. Es dauert genauso lang, am Westminster Pier auszusteigen und über die Brücke zu spazieren, wie, an Bord zu bleiben und abzuwarten, bis das Boot nach einer Kehrtwende am London Eye anlegt, aber ich sitze es lieber aus. Das Stampfen und Schaukeln, das mich früher in Alarmbereitschaft versetzt hat, fällt mir kaum mehr auf, ebenso wenig das Riesenrad selbst mit seiner ehemals wundersam anmutenden Mechanik.

Beim Aussteigen ignoriere ich die wartenden Ticketinhaber und laufe über den Anlagesteg mit einem jähen Anflug von Traurigkeit darüber, wie schnell das Gehirn das Wunderbare zur Routine verkümmern lässt: Arbeit, Liebe, Freundschaft, die Fahrt zur Arbeit auf einem Katamaran. Oder geht das nur mir so?

Genau in dem Moment, bei diesem Gedanken – direkt im Anschluss an das so – tritt ein Mann auf mich zu und zückt irgendeinen Ausweis.

»James Buckby?«

»Ja.«

Ich bleibe stehen und mustere ihn. Groß, Ende 20, mixed-race. Schick-leger gekleidet, empfindliche Haut, treuherziger Blick.

»Detective Constable Ian Parry, Metropolitan Police.« Er hält mir den Ausweis noch dichter unter die Nase, sodass ich den unverwechselbaren blauen Streifen samt weißem Schriftzug erkenne, und auf einmal pocht mein Herz mit einer grässlichen Saugwirkung, als wäre es mit Tentakeln bestückt, nicht mit Kammern.

»Ist was passiert?«

»Wir halten das für durchaus möglich, ja. Christopher Roper wurde als vermisst gemeldet. Er ist ein guter Freund von Ihnen, nicht wahr?«

»Christopher?« Es dauert einen Moment, bis ich den Namen mit Kit in Verbindung bringe. »Was meinen Sie, als vermisst gemeldet?« Jetzt fange ich an zu zittern. »Ich meine, mir ist aufgefallen, dass er nicht auf dem Boot war, aber ich dachte bloß …« Ich zögere. Vor meinem geistigen Auge sehe ich mein Handy­display, die verpassten Anrufe von Melia. Ihr herzförmiges Gesicht, ihre gemurmelte Stimme, warm in meinem Ohr.

Wir sind anders, Jamie. Wir sind besonders.

Der Typ zeigt zur Flussmauer zu meiner Linken, wo sein Kollege ein Stück entfernt von den Touristen steht und uns beobachtet. Zivilkleidung, also CID, Kriminalpolizei. Irgendwo habe ich gelesen, dass die Polizei nur in Zweierteams auftaucht, wenn mit einer Gefahrenlage zu rechnen ist. Halten sie mich etwa für gefährlich?

»Wahrscheinlich hat Melia Ihnen meinen Namen gegeben?«

Kein Kommentar, doch mein hinterhältiger Überraschungsbesuch will mich von den Gruppen trennen, die sich am Eingang zum Pier versammeln und wieder zerstreuen, Menschen mit Hunderten von Zielen, allesamt angenehmer als meins. »Wir wollen Ihnen keine Umstände bereiten, aber wenn Sie kurz Zeit für uns hätten, Mr Buckby?«

»Natürlich.« Während ich mich zu seinem Kollegen führen lasse, komme ich nicht über die leicht altmodische, gestelzte Formulierung hinweg. Keine Umstände bereiten. Als wären diese Umstände eine Bagatelle, kaum der Rede wert, ein kleiner Spaß am Montagmorgen.

Nun, wie sich noch herausstellen wird, ist das Gegenteil der Fall.

2

27. Dezember 2019

Aber zumindest bringen sie mich nicht auf ihr Revier in Woolwich.

DC Parry schlägt stattdessen meinen Arbeitsplatz vor – »falls Ihnen das besser passt?« Eigentlich hatten sie angepeilt, mich zu Hause abzupassen, bevor ich losfahre, fügt er an, doch dann gerieten sie in den Stau und sind umgekehrt – wobei sie im Grunde dem Boot entlang der Themse nachjagten. Wahrscheinlich sollte ich dankbar sein, dass sie nicht gleich an Bord gekommen sind und mich vor den Augen meiner Mitpendler verhaftet haben.

Beruhig dich, Jamie. Von einer Verhaftung war bisher keine Rede.

»Ich brauche für das hier also keinen Anwalt?«

»Nein, fürs Erste ist es nur ein informelles Gespräch«, sagt der zweite Detective (fürs Erste?). Er hat helle Haut, ist kleiner und schmaler als sein Kollege, einen Tick weniger schick. Auch ein paar Jahre älter – Mitte 30, würde ich sagen. Während Parry den Eindruck vermittelt, dafür geboren zu sein, Verdächtige zu verhaften, kommt der hier meinem Konzept eines Mannes näher. Ein bisschen weniger zielorientiert.

Sei kein Idiot. Was sind Detectives, wenn nicht zielorientiert? Dieses »informelle« Getue ist ein Trick, um Leuten die Art unverhofft ausgeplauderter Geheimnisse zu entlocken, die sie in einem Verhörzimmer im Beisein eines Spaßverderberanwalts, der jeglichen allzu unorthodoxen Fragen einen Riegel vorschiebt, nicht so leicht preisgeben würden.

»Um ehrlich zu sein, würde ich lieber nicht in meine Arbeit gehen. Es ist ein kleines Café, und man kann sich nirgends ungestört unterhalten.« Die Vorstellung, sich mit zwei Detectives von der Metropolitan Police in das Mitarbeiterzimmer zu quetschen, das kaum mehr als ein begehbarer Kleiderschrank ist, während Regan, meine Vorgesetzte mit großem Interesse für örtliche Verbrechen, draußen herumschleicht und vor Neugierde geradezu platzt, ist unerträglich. »Können wir uns nicht einfach irgendwo hier in der Nähe einen ruhigen Ort suchen? Da wäre ich Ihnen sehr dankbar.« Die unterschwellige Botschaft lautet, dass ich dann entgegenkommender wäre, und zu meiner Erleichterung geht mein Plan auf.

»Na klar. Es gibt keinen Grund, warum wir Ihre Kundschaft stören sollten«, sagt der zweite Typ.

Ich darf ihn im Stillen nicht weiterhin so nennen, deshalb bitte ich ihn, seinen Namen zu wiederholen.

»Andy Merchison.« Seine Stimme ist heiter, als würden wir uns auf einer Party oder bei einer Vertriebstagung treffen. Obwohl der Name schottisch klingt, gehört sein Akzent in die Kategorie sanft und neutral, die man unmöglich eindeutig zuordnen kann. »Wie wäre es dort oben?« Er hat eine Ecke der oberen Terrasse der Royal Festival Hall entdeckt, zugleich abgeschieden und menschenleer, da sie noch nicht geöffnet hat.

Herrgott, sie fangen dich so lächerlich früh ab, dass sämtliche öffentlichen Gebäude noch geschlossen sind!

Ruhig bleiben! Das hier ist reine Routine.

»Ja, gern«, sage ich.

Ein freundliches Nicken zu einem vorbeigehenden Wachmann, und wir sind allein und setzen uns an einen Tisch, wo wir vor dem Dezemberwind geschützt sind, der 20 Meter entfernt wie eine Warnung über das Wasser pfeift. Hier kann uns niemand hören.

»Ich muss meiner Vorgesetzten schreiben und ihr sagen, dass ich mich verspäte.« Ich zücke mein Handy und halte das Display aus dem Licht. Aus den Augenwinkeln sehe ich die neueste Nachricht: Eine Benachrichtigung für Melias Mailbox-Anrufe. Melia Roper. Aber in meinem Adressbuch ist sie immer noch unter ihrem früheren Namen gelistet, für mich ist sie immer noch Melia Quinn.

Ich erinnere mich, dass Clare mir gestern Abend erzählt hat, sie habe ebenfalls verpasste Anrufe von ihr, es sei aber keine Mailbox-Nachricht hinterlassen worden. Sollte sie Melia zurückrufen?, wollte Clare wissen, mit sichtlichem Widerwillen.

Lass es bleiben, habe ich geantwortet.

Ich blinzle und spüre bei meinem Zögern die eindringlichen Blicke der Detectives. Gewiss haben sie meinen Verband bemerkt, den ich heute Morgen gewechselt habe, der aber trotzdem schon wieder schmutzig ist. Ich suche die Nummer von Regan heraus, die sich inzwischen wohl längst um die Lieferungen von Milch, Gebäck und Kuchen gekümmert hat und mit dem Mahlen ihrer ersten Kaffeebestellungen beschäftigt ist. Es ist ihre Angewohnheit, eine halbe Stunde zu früh zu kommen, sich selbst einen Matcha Latte de luxe zuzubereiten und im Alleingang aufzu­sperren. Ihre WG hört sich wie ein besseres Hostel an, und diese 30 Minuten, bevor ich auftauche, sind die einzigen am ganzen Tag, die sie allein in einem Raum verbringt.

Komme heute später, sorry. Ich starre aufs Display, als erwartete ich jeden Moment eine Antwort, etwas, was mich retten könnte, aber natürlich hat sie keine Zeit, auf ihr Handy zu schauen. Um 8.30 Uhr reicht die Schlange längst bis vor die Tür.

»Fertig?«, fragt DC Parry mit einem leicht scharfen Unterton in der Stimme, als würde ich ihn verarschen. Offensichtlich ist er nicht so zuvorkommend wie sein Partner, und in dem Moment, als ich das Handy weglege, kommt er auch schon zur Sache: »Nun, laut Mrs Roper ist ihr Ehemann am Montagabend nicht nach Hause gekommen, und Sie sind der Letzte, der ihn … gesehen hat.«

Da ist eine bezeichnende Pause, wo das Wort lebend fallen müsste.

Meine Antwort ist höflich. »Sie meinen, auf dem Boot nach Hause? Streng genommen war Melia nicht dabei, also kann sie nicht wissen, wer das war.«

Doch diese Haarspalterei prallt an ihnen ab. »Crewmitglieder haben beobachtet, wie Sie beide von Bord gegangen sind, und wir haben mit einem weiteren Passagier gesprochen, der Sie allein zusammen gesehen hat. Mrs Roper hat die vergangenen paar Tage damit verbracht, Familie und Freunde zu kontaktieren, und ist sicher, dass ihn seitdem niemand mehr gesehen hat.«

»Ich hatte selbst verpasste Anrufe von ihr«, gestehe ich ein. »Bisher hatte ich nur noch keine Zeit, mich bei ihr zu melden.«

Meine Gedanken gleiten zu diesem anderen Passagier. Ganz offensichtlich nicht Gretchen, da ich sie eben getroffen habe und sie mit keiner Silbe erwähnt hat, dass sich die Polizei bei ihr gemeldet hat. Vielleicht Steve? Abgesehen von Kit die letzte Person an Bord, an die ich mich erinnern kann, aber er ist 15 Minuten vor uns in North Greenwich ausgestiegen. Er hat bis nächste Woche Urlaub, allerdings bin ich ziemlich sicher, dass er mich angerufen oder mir eine Nachricht geschrieben hätte, wenn die Polizei sich mit ihm in Verbindung gesetzt hätte.

Ich bleibe gefasst. »Ich schätze, Sie haben die Videoüber­wachung an Bord bereits überprüft?«

»Das haben wir. Und nun zu Ihren Erinnerungen an den Montagabend …?«, drängt Parry.

»Wir haben zusammen das letzte Boot genommen, das stimmt. Ein paar von uns sind in Blackfriars nach ein paar Weihnachtsdrinks im Henry’s in der Carter Lane an Bord gegangen.«

»Die anderen wären …?«

»Gretchen Miles und Steve Callister. Wir haben uns auf der Fahrt zur Arbeit kennengelernt und ein paarmal ein Bier zusammen getrunken. Wir sitzen immer zusammen.«

Die Namen scheinen ihnen nicht neu zu sein, obwohl Merchison etwas notiert, das ich nicht entziffern kann. Beide Detectives haben große DIN-A4-Blöcke vor sich liegen, doch nur er hat einen Stift gezückt.

»Aber es war nicht sonderlich spät, als wir St Mary’s erreichten haben – das letzte Boot kommt um halb zwölf an. Bestimmt hat noch jemand anderer Kit danach gesehen?«

»Genau das versuchen wir zu eruieren«, sagt Parry stirnrunzelnd. Ich spüre, dass er mich für ungewöhnlich heiter hält, obwohl ein Freund von mir als vermisst gemeldet wurde. »Sind Sie und Mr Roper auf der Straße vom Pier nach Hause irgendjemandem begegnet?«

»Niemandem, an den ich mich im Speziellen erinnern könnte. Allerdings sind wir nicht zusammen gegangen, also wäre es gut möglich, dass er jemandem begegnet ist.«

Sein Blick verengt sich. »Sie sind nicht zusammen gegangen, obwohl Sie nur ein paar Straßen entfernt voneinander wohnen?«

»Nein. Normalerweise schon, aber … Na ja, Sie werden auf dem Video doch wohl gesehen haben, dass wir auf dem Boot eine kleine Auseinandersetzung hatten? Ich bin davongestürmt. Ich wollte keine weitere Minute mehr mit ihm verbringen.« Die Aussage hängt zwischen uns in der Luft. Ich kann sie regelrecht hören, wie sie vom holzvertäfelten Gerichtssaal widerhallt – Ich wollte keine weitere Minute mehr mit ihm verbringen –, und mich überraschen die skeptischen Blicke nicht, die die beiden Detectives tauschen.

»Worum ging es bei dieser Auseinandersetzung?«, fragt Merchison.

Ich seufze. Meine Kehle fühlt sich wund und rau an. »Nichts Besonderes. Wir waren beide angetrunken. Aber ich wollte mich nicht weiterstreiten. Am nächsten Morgen musste ich früh raus, um einen Zug am King’s Cross zu erreichen, und, wie schon gesagt, habe ich angenommen, dass er mir folgt.«

»Kommt es zwischen Ihnen und Mr Roper häufiger zum Streit?«, fragt Parry. Im Gegensatz zu seinem Kollegen, der die ganze Zeit über auf seinem Stuhl hin- und herrutscht, hat seine scharfsichtige Reglosigkeit etwas Eulenhaftes.

»Nein, überhaupt nicht. Wir sind gute Kumpels. Wir waren betrunken, das ist alles.« Unwillkürlich hebe ich die verbundene Hand an mein Gesicht, und natürlich kommt er zu der Schlussfolgerung, die ich lieber verhindert hätte.

»Sie haben sich bei dem Streit mit Ihrem Kumpel verletzt, nicht wahr?«

»Nein. Ich habe mich an der Kaffeemaschine in der Arbeit verbrüht. Apropos, besteht die Möglichkeit, dass wir Kaffee bekommen?« Mein erster, ein doppelter Espresso zu Hause, verliert allmählich seine Wirkung. Normalerweise wäre ich zu dieser Uhrzeit bereits in der Arbeit und hätte mir meinen zweiten gemacht oder wäre mit etwas Glück bei meiner Ankunft von Regan mit einem begrüßt worden. »Hören Sie, da gibt es sicherlich Überwachungskameras zwischen Pier und Hauptstraße. Warum überprüfen Sie die nicht, um festzustellen, dass ich die Wahrheit sage?«

Zufälligerweise weiß ich, dass mich der Weg zurück zum Prospect Square an mindestens einer Überwachungskamera vorbeiführt. »Vielleicht fragen Sie dann auch gleich in der Bar im Royal Way nach? Mariners, so heißt sie, an der Ecke zur Artillery Passage, keine zwei Minuten von der Anlegestelle entfernt. Wir gehen da oft noch etwas trinken, wenn wir das letzte Boot genommen haben. Vielleicht ist er diesmal allein dort eingekehrt.« Ich mache eine Pause, will mich selbst überzeugen. »Ja, ich wette, er ist auf einen Drink reinspaziert, hat jemanden getroffen und, Sie wissen schon, hat den Abend feuchtfröhlich ausklingen lassen.«

Während meines Monologs kratzt Merchisons Stift übers Papier, und als er den Blick hebt, sehe ich einen Anflug von Interesse in seinen Augen. »Wollen Sie damit etwa andeuten, er könnte die Nacht mit jemand anderem als seiner Frau verbracht haben?«

»Vielleicht. Wenn er nicht nach Hause gegangen ist, dann würde ich sagen, dass es eine Möglichkeit ist.«

»Sind mehrere Nächte auch eine Möglichkeit? Die gesamten Weihnachtsfeiertage?«

Den beiden Detectives steht die Skepsis mitten ins Gesicht geschrieben. Ich zucke mit den Achseln. »Hören Sie, ich will damit nicht sagen, dass er als Bigamist durchgebrannt ist. Nur dass er vielleicht weitergefeiert hat und in irgendwas verwickelt wurde und jetzt seinen Rausch ausschläft. Ich meine, die vergangenen paar Tage muss er doch irgendwo gesteckt haben, oder? Er ist kein zurückgezogener Einzelgänger, sondern ein sehr geselliger Typ.«

Einmal im Sommer, ein paar Wochen vor seiner Hochzeit, haben Kit und ich die ganze Nacht durchgemacht. Es war ein Freitag, und wir gingen in North Greenwich von Bord, wo wir in der Nähe der O2-Arena einen Club besuchten, der bis morgens geöffnet hatte. Ich erinnere mich, dass dort ein Charity Walk stattfand, der um Mitternacht anfing, und wie surreal es gewesen war, Tausende Frauen in Sporttights zu beobachten, wie sie mit strahlenden Augen an uns vorbeiströmten, bevor sie sechs Stunden später in einem Miasma der Erschöpfung zurückhumpelten. Melia, die bei einer Freundin am anderen Ende der Stadt übernachtete, war nicht daheim, um unser Verhalten zu missbilligen, aber Clare hatte regelrecht Schaum vor dem Mund, als ich schließlich gegen acht Uhr morgens nach Hause taumelte. »Er ist jung, Jamie, er kann das körperlich wegstecken. Aber du könntest einen Herzinfarkt bekommen!« Und den ganzen restlichen Tag über pingte mein E-Mail-Postfach mit Links zu Artikeln über Männer mittleren Alters, die nach einem Besäufnis tot umgefallen sind.

Nichts davon erzähle ich der Polizei. Stattdessen blicke ich von einem Detective zum anderen und teile meine Integrität gleichmäßig zwischen ihnen auf. »Im Ernst, er wird jeden Moment wiederauftauchen und sich wahrscheinlich nicht mal schuldig fühlen, Ihre Zeit vergeudet zu haben. Deshalb sollte ich jetzt auch lieber zur Arbeit gehen – meine Kollegin kommt allein nicht zurecht. Außerdem ist es kein Job, bei dem man bezahlt wird, wenn man nicht erscheint.«

Es folgt ein kurzer, süßer Moment, in dem ich glaube, ich hätte die Sache ins Lot gebracht und sie würden sagen: Na schön, auf Wiedersehen, entschuldigen Sie vielmals, dass wir überreagiert haben. Doch das tun sie nicht. Vielleicht erinnern sie sich an Melias Gesicht, außer sich vor Angst bei dem Gedanken, ihr frischge­backener Ehemann könnte verletzt oder entführt worden sein, oder Schlimmeres. Sie ist so attraktiv, selbst mit vor Verzweiflung geröteten Augen und laufender Nase, so überzeugend.

Sie hat dich ganz offensichtlich um den kleinen Finger gewickelt, Jamie, hatte Clare vor nicht allzu langer Zeit gesagt.

»Dürften wir Sie bitten, uns noch ein bisschen ins Bild zu setzen?«, sagt Merchison. »Würde es helfen, wenn wir kurz mit Ihrer Vorgesetzten telefonieren?«

»Oder vielleicht ist es doch das Beste, wenn wir aufs Revier fahren«, erklärt Parry. Er wirft Merchison einen besorgten Blick zu, und ich weiß, ich habe recht, dass sie die Vorschriften umgehen, indem sie inoffiziell hier mit mir reden. Wahrscheinlich ist es nicht einmal legal. Aber unter gar keinen Umständen will ich, dass meine Worte aufgezeichnet und durch ein Lügendetektorsystem gejagt werden (gibt es das überhaupt?). Oder dass eine medizinische Untersuchung stattfindet, bei der die hässlichen blauen Flecke an meinem Schlüsselbein zutage gefördert werden, jetzt sicher versteckt unter meinem Rollkragenpullover – der eindeutige Beweis, wie heftig die Rauferei mit Kit tatsächlich war.

»Nein, alles gut.« Ich ziehe die Jacke fester um meinen Oberkörper und verschränke die Finger gegen die Kälte in den Ärmelaufschlägen. »Was auch immer Sie brauchen. Ich muss nur bei der Arbeit Bescheid geben.«

»Vielen Dank, James«, sagt Merchison, »wir wissen Ihre Kooperation zu schätzen.«

»Jamie. Keiner nennt mich James.«

Und keiner nennt Kit Christopher. Der Gebrauch unserer vollen Namen durch die Polizei betont nur den Umstand, dass sie nichts über uns wissen, rein gar nichts.

»Jamie. Wie wäre es, wenn wir die Sache vereinfachen und am Anfang beginnen? Sie erzählen uns alles, was wir über Mr Roper wissen müssen.«

Herrgott! Ausgerechnet sie müssten wissen, dass »alles, was es über jemanden zu wissen gibt« niemals so leicht ist, wie es klingt. Während über unseren Köpfen eine Möwe kreischt, nicke ich zustimmend.

»Wie lang kennen Sie sich schon?«

»Fast ein Jahr«, sage ich. »Wir haben uns Ende Januar kennengelernt.«

»Dieses Jahr im Januar?« Sie wirken beide überrascht. »Also nicht sonderlich lang.«

»Nein.« Und es stimmt, es ist kaum der Rede wert.

Doch andererseits fühlt es sich wie das längste Jahr meines Lebens an.

3

Januar 2019

Bevor ich anfange, möchte ich klarstellen, dass nicht ich uns mit den Ropers verkuppelt habe, sondern Clare. Die Frau, die jetzt die schärfste Kritikerin der beiden ist, war gleichzeitig ihre Ent­deckerin und einst ihr größter Fan. Eine Weile fand Clare sie fabelhaft – sie beide.

Melia tauchte als Erste auf. Egal, welche Schwierigkeiten sich später einstellten, hege ich an einer Sache keinerlei Zweifel: Das Aufeinanderprallen unserer beiden Welten war reiner Zufall. Von allen Maklerbüros in allen Städten der Welt spaziert sie ausgerechnet in das von Clare.

Clare erwähnte sie an einem ihrer ersten Arbeitstage im Januar. »Ich habe mit diesem neuen Mädchen zu Mittag gegessen, das letzten Monat bei uns neu angefangen hat. Sie heißt Melia. Wie es aussieht, wohnt sie gleich hier um die Ecke.«

»Mädchen?«

»Nun ja, sie ist Ende 20. Vielleicht 30. Ganz ehrlich, keine Ahnung.«

Uns, die wir stramm auf die 50 zugingen, fiel es schwer, das Alter jüngerer Erwachsener einzuschätzen. Für uns sahen sie alle wie Zwölftklässler aus.

»Wie dem auch sei, sie ist die neue Juniormaklerin, die Richard eingestellt hat, um mit den Relocation Consultants zu arbeiten. Sie passt richtig gut ins Team, und er bekommt tolles Feedback über sie.«

Der Umzug von gut bezahlten Managern mit ihren Familien aus dem Ausland ist ein nicht zu unterschätzender Bereich im Vermietungsgeschäft, und ich wusste aus Clares Erzählungen, dass einige Kunden unglaublich anspruchsvoll sind.

»Sie ist also umwerfend schön, nehme ich an?«

»Eine solche Bemerkung würde heutzutage in der Personalabteilung gemeldet werden.« Clares Mund kräuselte sich. Uns verband, dass wir ein Übermaß an Political Correctness hassten. »Solltest du jemals hören, dass ich das Wort woke benutze, erschieß mich«, sagt sie gern.

»Wunderschön, ja«, fügte sie hinzu. »Dunkle Haare, Bob, zauberhafte Augen, mit einem leichten lohfarbenen Schimmer. Ihre Haut ist extrem elastisch.«

Ich lachte leise. »Woher zum Teufel willst du das wissen? Mit welcher Skala wird die Hautelastizität überhaupt gemessen?«

»Mit dem menschlichen Auge, Jamie.« Mit einem Ausdruck von angewiderter Faszination zupfte Clare an ihrem Handrücken. »Zumindest weiß ich, dass sie keine solchen Falten wirft, also muss sie viel natürliches Elastin haben. Oder ist es Kollagen?«

In letzter Zeit schwadronierte sie mit stolzer Stimme über Wechseljahresbeschwerden, verwies ganz offen auf sinkende Östrogenspiegel und das Herunterfahren der Gebärmutter. Ich hatte gelernt, mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr mich solche Gespräche anwidern. Wie dem auch sei, Clare sah in meinen Augen immer noch prächtig aus. Sie ist groß und schlank (zumindest einigermaßen, aber ich habe selbst kein durchtrainiertes Sixpack). Das blonde Haar frisierte sie sich für die Arbeit zurück, nach Geschäftsschluss jedoch trug sie es wild und punkig, ein bisschen wie Debbie Harry im Video »Heart of Glass«. Als wohlerzogenes Mädchen aus Edinburgh hatte sie die Vorteile einer exzellenten staatlichen Schulbildung genossen, gefolgt von einem Studium in London, wo sie wegen ihres Freunds weiter wohnen blieb, der jedoch kurz darauf von der Bildfläche verschwand. Nachdem sie meine Wenigkeit mit Ende 30 auf einer Weihnachtsfeier kennengelernt hatte, hatte ihre Karriere im Immobiliengeschäft auf geschmeidige und einträgliche Weise zur Gründung ihrer eigenen Firma mit Richard geführt. (Dabei war es hilfreich, dass sie von jeglichen Unannehmlichkeiten verschont war, die eine Mutterschaft zwangsläufig mit sich brachte und deren Ausbleiben, nur nebenbei bemerkt, eine völlig bewusste Entscheidung und keiner irgendwie gearteten biologischen Fehlfunktion oder einem aufgezwungenen Wunsch ihres aktuellen Partners geschuldet war.)

»Und, worüber hast du dich mit Millennial-Melia unterhalten, abgesehen von der Arbeit?«

»Über alles Mögliche. Leben, Familie, unsere Beziehungen. Oh, ich habe ihr von dem Karrierecoaching erzählt, und sie hält es für ein geniales Geschenk.«

Weil sie keine Ahnung hat, was es in Wirklichkeit bedeutet, dachte ich damals. Mein eindeutig sehr kostspieliges Weihnachtsgeschenk von mehreren Kursstunden mit einer Art Guru oder wem auch immer markierte das Ende von Clares Toleranz für meine nichtexistente Karriere. Während sie nicht bestritt, dass meine Aussichten durch die Diskriminierung von Älteren beeinträchtigt wurden – wie viele ihrer eigenen Neueinstellungen waren über 30, ganz zu schweigen Ende 40? –, kam ihr Geschenk, wenige Wochen nachdem sie mich wieder einmal bearbeitet hatte, ich solle mich selbstständig machen. »Ich bin Freiberufler«, hatte ich ihr geantwortet. »Ein freiberuflicher Cafémitarbeiter.«

»Acht Einzelsitzungen, wow«, sagte ich, als sie mir den Geschenkgutschein überreichte. Ein neues Hemd wäre mir lieber gewesen. »›Traumjob. Mit Erfolgsgarantie.‹ Immerhin muss ich mir jetzt wegen meiner Neujahrsvorsätze keine Gedanken mehr machen. 2019 werde ich endlich einen Weg finden, mit weißen Tigern zu arbeiten.«

Clare lächelte. »Du reißt Witze, aber vielleicht wirst du dich selbst damit überraschen, was du als Nächstes tun willst.«

Vielleicht ja wirklich. »Was ist mit dir? Irgendein Neujahrsvorsatz?«

»Tatsächlich habe ich einen«, sagte sie. »Ich habe mich entschieden, alles Neue mit offenen Armen zu begrüßen. Ich habe gelesen, das sei der Schlüssel, um glücklich alt zu werden.«

»Ich schätze, jegliches Altern ist schlussendlich unangenehm«, sagte ich mit einem Grinsen. »Was genau meinst du mit Neuem?«

»Alles Mögliche. Neue Hobbys, neue Ideen, neue Freunde.« Eindringlich suchte sie nach den richtigen Worten, und ich wusste, dass sie in dieser Hinsicht fest entschlossen war. »Ich bin offen für Anregungen.«

Und voilà, hier tauchte Melia auf, einen oder zwei Schritte hinter ihr Kit, beide mit ihrem anregenden Angebot von Jugend, Spaß, Freiheit. Alles, was Clare bald zu verlieren fürchtete.

Was ich damit eigentlich sagen will, ist nur, dass dies alles, wie man es sich natürlich denken kann, mit einer Midlife-Crisis angefangen hat – aber nicht mit meiner.

*

Sie kamen am dritten Samstag im Januar zum Abendessen. Ich war gerade in der Küche, als sie klingelten, und Clare entführte sie gleich zu einer Hausbesichtigung, weshalb mein erster Eindruck von ihnen der von zwei Köpfen mit glänzend dunklen Haaren war, die an noch keiner einzigen Strähne ihre Pigmentierung verloren hatten, und fremden, verführerischen Düften, die sie umwehten. Als ich den Wein dekantierte, konnte ich ihre Stimmen auf der Treppe hören, wo sie die Dinge sagten, die Menschen bei der Besichtigung unseres vierstöckigen georgianischen Stadthauses immer von sich gaben.

»O mein Gott, das ist wirklich mein absolutes Traumhaus.« (sie)

»Ganz ehrlich, ist es nicht unglaublich schön?« (sie)

»Es ist echt krass.« (er)

»Sieh dir diese Steintreppe an. Sie ist so erwachsen, ich krieg gleich meine Krise.« (sie)

Und Clares entzücktes Gelächter, das nicht zu ihrer gemurmelten Bescheidenheit passte.

Wie schon gesagt, wir waren daran gewöhnt, dass das Haus Quell des Neids war, selbst unter unseren Altersgenossen. Der Prospect Square, keine fünf Minuten fußläufig von der Themse entfernt, ist ein Platz mit einer unversehrten georgianischen Wohnstraße, dessen Gebäude unter Denkmalschutz stehen und die manchmal bei Dreharbeiten für historische Filme benutzt wird, und Nummer 15 hat noch viele ihrer ursprünglichen Schmuckstücke: handgeformte Deckenrosetten, Innenfensterläden, solches Zeug. Vom hinteren Fenster unseres Schlafzimmers, das die gesamte oberste Etage einnimmt, haben wir freie Sicht auf den Fluss, nach vorne gibt es eine private Gartenanlage. Wir konnten uns in jeglicher Hinsicht glücklich schätzen, und gelegentlich überkam mich die Erkenntnis: Ich habe es geschafft. Ich bin ein Glückspilz.

Vielleicht knipste diese lobhudelnde Melia genau in diesem Moment Fotos für ihren Instagram-Account, so beschäftigt mit dem richtigen Winkel, Filter und Hashtag, dass ihr nicht auffiel, wie sie sich ein bisschen zu weit über das geschwungene Geländer beugte. Ein grausiges Bild blitzte vor meinem inneren Auge auf, von einer jungen Frau, die durch den Treppenschacht stürzte und bäuchlings auf den Fliesen der Eingangshalle landete, das blutgetränkte Haar fächerförmig um ihren Kopf ausgebreitet.

Was zum …? Kopfschüttelnd verscheuchte ich den Gedanken.

Als die Gruppe wieder nach unten kam und sich ins Wohnzimmer setzte, verteilte ich große Gläser mit Burgunder. Höflicherweise hatte sich das andere Pärchen entschieden, sich uns gegenüber auf dem kleineren der zwei Sofas niederzulassen, einem hellen antiken Ding mit hoher Lehne, das ihr auffallend zwillingshaftes gutes Aussehen noch unterstrich. Beide waren von schmaler Statur, sie eine wunderschöne, knabenhafte Frau in einer gewagten, wenn auch einnehmenden Kombination aus kurzer Samthose, glänzender Strumpfhose und glitzerndem Oberteil von der Farbe blauer Hortensien, er mädchenhaft hübsch in schwarzer Jeans und hellblauem Hemd. Bei näherer Betrachtung war die Ähnlichkeit natürlich überhaupt nicht mehr so groß. Sie war feingliedrig, eine wahre Schönheit mit großen Augen, die Iris bernsteinfarben wie Pears-Seife, während er weniger makellos war: ungewöhnlich weit auseinanderstehende Augen, asymme­trische Augenbrauen, ein Zinken von einer Nase.

»Was für eine Erleichterung!«, rief Melia und umklammerte das Weinglas mit beiden Händen, als könnte es ihr im nächsten Moment entrissen werden. Ihre Nägel waren dottergelb lackiert. »Alle scheinen einen Dry January zu machen.«

»Wir machen das auch jedes zweite Jahr«, erwiderte Clare, was uns nicht nur als Langweiler deklassierte, sondern als Langweiler mit Ankündigung.

»Augenblick mal, dann wisst ihr jetzt schon, dass der nächste Januar grässlich wird?«, fragte Kit. Lebhaft und geschmeidig rutschte er auf seinem Platz hin und her. »Warum entscheidet ihr das nicht spontan? Und bewahrt euch zumindest einen winzigen Funken Hoffnung?«

»Und was, wenn kurz davor etwas Schreckliches passiert, etwa dass ihr euch trennt und ihr wirklich einen Drink braucht?« Melias Worte sprudelten charmant aus ihr heraus, und augenblicklich folgte die Entschuldigung: »Ich kann nicht glauben, dass ich das gerade gesagt habe! Natürlich werdet ihr euch nicht trennen!«

»Falls das passieren sollte, werden die Pläne für die Abstinenz im Einzelfall neu evaluiert«, versicherte Clare mit übertrieben ernster Stimme.

»Du warst also noch nie versucht, auf Alkohol zu verzichten?«, fragte ich Kit, und er bedachte mich mit einem spitzbübischen Lächeln.

»Ich höre auf, sobald ich tot bin.«

Auch wenn seine Antwort nicht besonders originell war, waren wir alle leicht aufgedreht und prusteten über seine Worte und den spielerischen Klaps, den Melia ihm auf den Hinterkopf verpasste. Mir fiel auf, dass sie sich häufig berührten und seufzten und wild mit den Händen gestikulierten, wie zur Bestätigung der Gegenwart des jeweils anderen.

»Das ist eine erfrischende Haltung für eure Generation«, sagte Clare zu Kit. Sie hatte längst einen Narren an ihm gefressen, das spürte ich. »Wir fürchteten schon, ihr würdet Soja-Hafer-Flat-Whites anstelle des starken Gebräus bevorzugen.«

»Soja oder Hafer«, korrigierte ich sie. »Entweder das eine oder das andere.«

»Jamie arbeitet in einem Café«, erklärte sie.

»Wirklich?«, fragte Kit. »Wo? Hier in St Mary’s?«

»Nein, in Waterloo. Es heißt Comfort Zone, was ein adäquater Name ist, denn die Arbeit fordert einen in etwa so sehr heraus, wie sie Geld einbringt.«

»Es ist nur vorübergehend«, sprang Clare mir loyal zur Seite, »und im Grunde hört es sich tatsächlich anstrengend an.«

»Nun, körperlich ja«, sagte ich, und als Melias Blick an mir hängenblieb, fragte ich mich, was sie wohl sah. Im schmeichelhaft weichen Licht unseres Wohnzimmers hoffte ich, es wäre ein immer noch attraktiver Mann. Groß, gut gebaut, die Haare für mein Alter noch voll, die Kinnpartie immer noch einigermaßen definiert. Mit 48 hatte ich die Blüte meines Lebens doch wohl noch nicht allzu weit hinter mir gelassen, oder?

»Ich kenne diese Jobs«, sagte Kit. »Wir haben beide lang genug hinterm Tresen gestanden, nicht wahr, Me? Das tut man eben, wenn man Schauspieler ist.« Sein Ton wurde scherzhaft. »Im Grunde schauspielert man nie.«

»Ich dachte, Clare hätte gesagt, du arbeitest bei einer Versicherung?« Als sie mich briefte, hatte diese Berufswahl für einen Millennial farblos gewirkt – noch mehr, nachdem ich ihn nun persönlich kennengelernt hatte.

»Tu ich auch. Bei De Warr Insurance. Ich muss Schulden abbezahlen, bevor ich mich etwas Interessantem widmen kann. Aber eine Weile bin ich, du weißt schon, dem Irrglauben aufgesessen, ich könnte der nächste Superstar werden.« Er vollführte das ungezwungene Achselzucken eines Menschen, dem es kein bisschen leichtgefallen war, diese Erkenntnis zu akzeptieren.

»Dort haben wir uns auch kennengelernt«, fügte Melia hinzu. »Auf der Schauspielschule.«

Demnach waren sie beide gescheiterte Schauspieler – das hatte Clare mir verschwiegen. Obwohl ich sie kaum kannte, ergab dieses Detail Sinn und erklärte ihre Körperbetontheit, ihr Selbstvertrauen, ihr Bedürfnis, aufzufallen, wenn nicht gar bewundert zu werden.

»Wie lange habt ihr als professionelle Schauspieler gearbeitet?«, fragte Clare.

»Melia war eine Spielzeit im Ensemble eines Theaters«, sagte Kit. »Ich habe Unmengen unbezahltes Zeug gemacht, aber nach ein paar Jahren habe ich aufgegeben.«

Melia seufzte. »Ich habe noch ein bisschen länger durchgehalten, aber es war jedes Mal dasselbe. Man kam unter die letzten zwei, und dann hat das Mädchen die Rolle bekommen, deren Vater im Showbiz arbeitet.«

»Das Showgeschäft hört sich an, als herrschte dort die reinste Vetternwirtschaft«, sagte Clare.

»Es wandelt sich zu einem der Berufe, den allein die Reichen ausüben können«, sagte Kit. »Sie wohnen mietfrei in den Häusern ihrer Eltern in Hampstead, während man selbst riesige Schuldenberge anhäuft, nur um sich eine stinkende Matratze in Catford leisten zu können. Da hat man keine Chance.«

In seiner Bemerkung steckte mehr als nur ein Hauch von Verbitterung. Obwohl sie wunderschöne Blumen und eine teure Flasche Wein mitgebracht hatten, war das Thema finanzielle Not bereits auf dem Tisch, und sobald wir mit dem Hauptgang fertig waren – Beef vom Teppanyaki-Grill – und Clare ihr Kirsch-Pistazien-Trifle servierte, kamen wir richtig in Fahrt.

»Ich würde buchstäblich mein Blut geben, um an diesem Platz zu wohnen«, seufzte Melia.

»Menschen geben ständig ›buchstäblich‹ ihr Blut«, erwiderte ich mit einem Grinsen. »Man nennt es Blutspende. Aber ich glaube, man bekommt dafür nur 100 Pfund, kein Haus.«

»Okay, aber du weißt, was ich meine. Ich würde dafür ein Organ eintauschen oder sonst was.« Bei diesen Worten schloss sie die Augen, als würde sie sich vor dem Ausblasen der Geburtstagskerzen etwas wünschen. Ihr Lidschatten war ein bronze­farbenes Glitzern, die Wimpern auf wundersame Weise ver­längert. Unter dem Tisch zappelten ihre Beine unruhig. Sie war, das war nicht zu leugnen, unglaublich süß.

»Nun, du hast den richtigen Job, wenn du hier in der Gegend etwas kaufen willst«, sagte ich.

Die Augen wieder geöffnet, leckte Melia den Trifle-Löffel ab, während sie mich nachdenklich musterte. »Von wollen ist hier keine Rede. Wir haben nicht die geringste Chance. Selbst winzige Zweizimmerwohnungen überschreiten schon die Halbe-Million-Marke, zumindest in den Häusern, in denen wir wohnen wollen.«

Sie und Kit ließen erneut den Blick schweifen, ohne die Frage zu stellen, die ihnen wohl unter den Nägeln brannte: Wie viel wir für dieses Haus bezahlt hatten. Wie viel es wert war, stellte kein Geheimnis dar, immerhin war ein ähnliches Haus an dem Platz gerade für 2,3 Millionen Pfund auf dem Markt. In Greenwich oder Camberwell wäre es noch eine Million mehr, in Kensington weitere fünf. Es war alles relativ, aber ich war lang genug auf der Welt, um zu wissen, dass Menschen sich immer nur nach oben vergleichen, nicht nach unten – und das nicht nur in Bezug auf Immobilien.

»Zu unserem großen Glück sind wir so steinalt, dass wir gekauft haben, als St Mary’s noch eine No-go-Area ohne direkte Bahnverbindung in die Stadt war«, sagte Clare.

Ihre Standardantwort, obwohl in Wirklichkeit keiner von uns beiden beim Kauf die Finger im Spiel gehabt hatte. Das Haus war von ihren Eltern erstanden worden, als sie für kurze Zeit in den Achtzigern in London gewohnt hatten, und nur sie stehen im Grundbuch. Als Einzelkind würde Clare als Alleinerbin in den Genuss ihres Besitzes kommen. Das Jahrzehnt, in dem ich mich an den Nebenkosten beteiligt hatte, wurde kompensiert, indem ich mir die Miete sparte. Selbst wenn ich einen Anteil an diesem Haus beanspruchen wollte – was ich nicht tue –, würde kein Anwalt jemals behaupten, dass es etwas anderes ist als das Familienvermögen der Armstrongs.

»Ob ihr es glaubt oder nicht, damals bekam man für ein Haus wie dieses mit nur einem Hauptverdiener ein Darlehen«, fügte Clare hinzu, als würde sie einen pikanten Skandal aufdecken. »Der Durchschnittspreis für ein Haus in London betrug 1986 55 000.«

»Hör auf!«, stöhnte Kit, dessen Verhalten durch den Alkohol eine Spur affektierter geworden war. »Ich mag nicht gesagt bekommen, dass man nur ein paar Jahre früher hätte geboren werden müssen, um das zu bekommen, was man will, ohne auch nur einen Finger zu krümmen.«

»Nun, ganz so kann man es auch nicht sagen«, sagte Clare mit einem Hauch von Zurechtweisung.

»Man hat immer noch ein Näschen für die kommenden In-Viertel gebraucht«, stimmte Melia ihr zu, und ihre professionellen Instinkte erlaubten ihr einen nuancierteren Neid als Kit. »Und man musste unglaublich hart arbeiten, um die Anzahlung zusammenzusparen.«

Bei ihren Worten schnaubte er verächtlich. Seinem Wesen haftete etwas an, das sich nicht ganz greifen ließ. Etwas Kindisches, vielleicht der Hang zum Schmollen. »Ja, aber vergleich das mit heute. Wir könnten Tag und Nacht schuften, ohne jemals auch nur in die Nähe zu kommen. Wir könnten uns nicht mal unsere Mietwohnung in der Tiding Street leisten.«

Die Tiding Street ist eine Straße mit schmalen Reihenhäusern auf der anderen Seite der Hauptstraße, die vor nicht allzu langer Zeit von Quasi-Slums in begehrte Wohnungen umgewandelt worden waren, für Berufsanfänger zum Kaufen jedoch unerschwinglich.

»Hübsche Straße. Wie lang wohnt ihr schon da?«, fragte ich.

»Ein halbes Jahr. Davor in Blackheath. Wir lernen St Mary’s also gerade erst kennen.«

»Was hältst du bis jetzt von uns?«

Er grinste. »Ich finde euch toll – abgesehen von all den Mums mit ihren Babys.«

»Kit!«, protestierte Melia. »Das kannst du doch nicht sagen!«

»Was? Es stimmt doch. Die preschen mit ihren Buggys die Hauptstraße runter und erwarten, dass man ihnen sofort aus dem Weg springt. Ich meine, verdammt noch mal, ihnen wäre es lieber, wenn man von einem Bus überrollt wird, als dass sie auch nur für zwei Sekunden abbremsen.«

»Ich schätze, frischgebackene Eltern bemerken so was nicht immer. Sie ticken einfach anders als wir«, sagte Clare amüsiert.

»Die ticken nicht richtig.«

Es folgte ein Moment der kollektiven Euphorie, wenn eine Gruppe erkennt, dass sie sich auf etwas Fundamentales einigen kann. Als kinderlose 40-plus-Menschen werden Clare und ich jedes Jahr zu einer immer selteneren Spezies, allein gelassen in einer Nachbarschaft, die an Familienfreundlichkeit stetig zunimmt, nun, da die Innenstadt für die meisten unbezahlbar geworden ist. Obwohl Kit und Melia immer noch jung waren, mutmaßlich fruchtbar, und durchaus noch ihre Meinung ändern konnten, waren sie zumindest vorerst in unserem Team.

»Der einzige wirkliche Nachteil ist das Pendeln«, sagte Kit. »Die Bahn ist ein Albtraum, nicht wahr? Ich komme regelmäßig zu spät zur Arbeit, und das auch nur, wenn ich es überhaupt schaffe, mich in den Zug zu quetschen.«

Clare und ich wechselten einen Blick.

»Zur Hauptverkehrszeit ist die Kapazität der Züge mehr als doppelt ausgelastet«, sagte ich. »Sicherlich mehr, als die gesetzlichen Grenzwerte erlauben. Ich habe mich mehrfach beschwert.«

Sie lauschten verblüfft, während ich das Beschwerdeverfahren bis in alle Einzelheiten beschrieb. Anscheinend hatten sie mich nicht für einen Verbraucherrechtler gehalten.

»Ich habe Platzangst«, erklärte ich, »also ist der öffentliche Nahverkehr der Fluch meines Lebens.«

»Die U-Bahn ging überhaupt nicht mehr«, sagte Clare bekräftigend. »Er mag keine Tunnel.«

»Ich mag es nicht, darin steckenzubleiben.« Ich verschwieg, dass das Fahrerlebnis über der Erde nur einen Tick weniger Panik in mir hervorrief. Die Züge besaßen verriegelte Fenster und waren angeblich klimatisiert, doch in Wirklichkeit waren sie überhitzt, die Leiber der Pendler aneinandergepresst wie Liebende. London würde bald diese Schieber wie in Tokio brauchen, die Menschen in U-Bahnen pferchen.

»Er musste eine KVT machen. Kognitive Verhaltenstherapie«, erklärte sie die Abkürzung, doch das war unnötig: Diese Altersgruppe kennt sich mit Therapien weit besser aus als wir.

»Mich regt ja echt auf«, sagte Kit, »dass es immer einen Idioten gibt, der auf die Gleise springt oder sonst was macht. Kürzlich ist einer von einer Brücke gehangen. Konnte sich wohl nicht recht entscheiden. Ich meine, wenn ich allem ein Ende setzen und mich verpissen wollen würde, würde ich es im stillen Kämmerlein tun, ohne den gesamten Bahnverkehr lahmzulegen. Das reicht doch glatt an Egomanie heran, nicht an mangelndem Selbstwertgefühl, wenn ihr mich fragt. Dieser Kerl sollte sich nicht erhängen, sondern bei Britain’s Got Talent mitmachen!«

So viel zum Thema Verständnis für psychische Krankheiten.

»Dein Mitgefühl für die Schutzlosesten der Gesellschaft ist überwältigend«, scherzte Clare, als Kit über seine eigene Bemerkung lachte.

Er war also ein Polemiker, dachte ich. Ein Provokateur – kurz gefasst, ein Mann ganz nach meinem Geschmack.

»Ich hatte mir überlegt, auf den River Bus umzusteigen, wenn mein Monatsticket ausläuft«, sagte ich zu ihm. »Sie haben gerade die Strecke bis nach St Mary’s ausgeweitet, und die Fahrt in die Innenstadt dauert nicht viel länger.«

»Es soll ganz schön teuer sein«, erwiderte er.

Melia zückte ihr Handy, um es zu googeln. »Es gibt einen Einführungsrabatt für Jahrestickets von St Mary’s aus, wenn sie vor Ende Januar gekauft werden. Was sagt ihr, Jungs?«

»Ein Jahr ist eine echte Verpflichtung«, gab Clare zu bedenken.

Kit nahm Melia das Handy aus der Hand und spähte auf den Fahrplan. »Wann fängt deine Arbeit an?«, fragte er mich.

»Viertel nach acht. Montag bis Freitag. Nicht so anders als bei euch Anzugträgern, hm?«

»Dann scheint das Boot um 7.20 Uhr das Richtige zu sein. Kommt fünf nach acht in Waterloo an. Euer Haus liegt auf meinem Weg, ich könnte dich um zehn nach sieben abholen.«

Ich spielte mit. »Fünf nach, sicherheitshalber.«

»Sicherheitshalber! Jetzt zeigt sich dein Alter, Jamie.«

Clare schrie vor Entzücken. »Gib’s ihm, Kit … er wird immer mehr zum alten Knacker!«

Nicht die schmeichelhafteste Bemerkung – der süße, kleine Protest, den Melia erhob, entging mir nicht –, aber ich konnte Clare ihre Hochstimmung nicht verübeln. Sie ließ sich von diesem Pärchen anstecken. Normalerweise hätte sie längst die Segel gestrichen und wäre wohlwollend auf das Gemurmel der Gäste eingegangen, bald ein Uber zu rufen, aber an diesem Abend flehte sie die beiden regelrecht an, noch zu bleiben, und beharrte darauf, sie an ihrer Liebe für Powerballaden aus den Achtzigern teilhaben zu lassen, indem sie feierlich alte Musikvideos abspielte.

»Ihr habt noch nie ›Alone‹ von Heart gehört?« Als die Musik einsetzte, presste sie ihre glühende Wange an meine, und ich spürte ihre Gesichtsmuskeln beim Singen arbeiten.

Stumm formte ich mit den Lippen brav den Text, während unsere Gäste sich über die Frisuren der Band lustig machten und von der Zeit sprachen, als handelte es sich um das Elisabethanische Zeitalter. Sie waren jetzt beide sturzbetrunken und wiegten sich elegant hin und her. Mit anderer Kleidung hätten sie durchaus in Warhols Factory gepasst: erwachsene Kinder, die hinter einer tanzenden Edie Sedgwick ins Bild schwebten.

»Und jetzt etwas, das ihr gerne hört!«, forderte Clare sie auf, als ihre eigenen Lieblingsstücke vorbei waren.

Melia überstimmte Kit und wählte eine einschläfernde Ballade von irgendeinem R&B-Star, die uns schließlich doch noch einen toten Punkt bescherte, und um kurz nach zwei schickten die beiden sich zum Gehen an.

»Es war toll, dich endlich kennenzulernen«, sagte sie an der Tür zu mir, als wüsste sie seit Jahren von meiner Existenz, und nicht erst seit ein paar Wochen.

»Dito. Es war mir ein Vergnügen, die Gelegenheit zu bekommen, deine berühmt-berüchtigte elastische Haut aus der Nähe zu betrachten.«

»Oh!« Sie kicherte. »Clare hat schon gesagt, dass du lustig bist.« Zwischen Umarmungen und Wangenküssen berührten ihre Lippen meinen Mundwinkel.

»Sie sind toll, nicht wahr?«, sagte Clare oben. »Das mit dem alten Knacker habe ich nicht so gemeint.«

»Oh, das stört mich nicht«, erwiderte ich und dachte im Stillen, dass es mich nur ärgern würde, wenn ich wirklich einer wäre.

Dennoch küsste sie mich entschuldigend, und ich schlug die Wiedergutmachung nicht aus. Heutzutage kam Sex weder häufig noch heftig vor und wurde von mir dankbar angenommen, egal aus welchem Anlass.

Doch mittendrin loderte ein grässlicher, unverzeihlicher Gedanke in mir auf, und ich muss gestehen, ich hätte mir fast die Augäpfel an der Flamme verbrannt, bevor ich sie löschen konnte:

Wie schade, dass du es bist und nicht sie …

4

Januar 2019

Am nächsten Morgen erhielt Clare eine Dankes-Textnachricht von Melia, die in Kits Namen nach meiner Nummer fragte. Ein paar Minuten später kam eine SMS von ihm, zusammen mit einem Screenshot der Bestätigung seines Jahrestickets für den River Bus.

Bis morgen im 7.20er?

Mein erster Gedanke war schrecklich kindisch. Das ist meine Idee, nicht deine, obwohl es per Definition unmöglich ist, Besitzansprüche auf ein öffentliches Verkehrsmittel zu erheben. Ich war jedoch – ungewöhnlich für mich – sofort Feuer und Flamme, und während Clare unter der Dusche war, kaufte ich meine eigene Jahreskarte für 1500 Pfund.

»Ich hab’s gemacht«, erklärte ich, als sie wiederauftauchte.

»Was gemacht?«

»Das Jahresticket für den River Bus gekauft. Du musst dir also nie wieder mein Gemeckere über den Zug anhören.«

»Oh, wirklich?« Sie wirkte irritiert und begann, sich mit übertriebenem Nachdruck die nassen Haare trocken zu rubbeln.

»Was? Geht’s ums Geld?« Ich hatte unser gemeinsames Konto benutzt, das wir vor zehn Jahren für Haushaltsausgaben eingerichtet hatten. Getrennte Finanzen hatten uns bis zum Verlust meines sicheren Angestelltendaseins im vergangenen Sommer gute Dienste geleistet, und jegliche Ersparnisse, die ich aufgebaut hatte, waren rasch aufgebraucht gewesen. Jetzt waren wir in einem Graubereich angelangt, den wir nur vage besprochen hatten: Ich könnte »jegliche« gemeinsame Rücklagen benutzen, die ich bräuchte, bis ich wieder »anständig« verdiente.

Clare legte sich das feuchte Handtuch um den Nacken und strich sich das Haar aus der Stirn. Am Haaransatz zeigten sich kleine silberne Würmer. »Diese Aktionsangebote kann man nicht umtauschen, oder?«

»Ist das ein Problem? Den Rest meines Zugtickets bekomme ich ausbezahlt«, fügte ich mit einem gekränkten Tonfall hinzu, der mich selbst überraschte.

»Nein, mir war nur nicht bewusst, dass du diesen Job noch ein weiteres Jahr behalten willst.«

Sie stand vor mir, ihr Gesicht durch das riesige Dachfenster in natürliches Licht getaucht. Ohne Make-up war ihre Haut von tiefen Falten durchzogen, das Abbild eines gelebten Lebens, und mit einem Mal kam mir der Gedanke: Wie sonderbar, dass wir älter werden. Ich verstand genau, warum sie verkündet hatte, sie wäre offen für alles Neue: Uns lief die Zeit davon.

»Ich werde trotzdem reinfahren müssen, egal, was ich als Nächstes mache«, erklärte ich. »Wie wir nur zu gut wissen, gibt es hier in der Nähe keine anständigen Jobs.« Als ich mich zur Überbrückung in der Umgebung nach einem Arbeitsplatz auf die Suche gemacht hatte wie dem, den ich gerade in der Innenstadt innehabe, war es eine düstere Erfahrung gewesen: Bei den zwei Gelegenheiten, an denen ich tatsächlich zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen worden war, wurde ich als überqualifiziert abgelehnt, ausgestochen von Kandidaten, die halb so alt waren wie ich.

Ich bemerkte, dass Clare meine Bemühungen begrüßte, ihr auf halbem Weg entgegenzukommen. Lächelnd nickte sie. »Nun, ich finde es toll, dass du eine Veränderung vornimmst. Keine Zugdramen mehr. Kit ebenfalls?«

Ich weiß, es hört sich verrückt an: Ich kannte ihn erst seit ein paar Stunden, aber einfach so war er der Motor geworden, der neuen Wind in mein Leben brachte. Einfach so hatten wir uns verpflichtet, uns ein-, vielleicht sogar zweimal am Tag, Montag bis Freitag, das restliche Jahr über zu sehen.

»Ja, Kit ebenfalls.«

*

Die Rahmenbedingungen an jenem ersten Morgen passten nicht zur strahlenden Jungfernfahrt zur Arbeit, wie wir sie uns womöglich in Gedanken ausgemalt hatten. Fürs Erste war es tiefster Winter und noch dunkel, als Kit um fünf nach sieben am Prospect Square auftauchte. Der Sonnenaufgang hatte, als er endlich kam, kaum mehr Wirkung als eine Milchglaslampe mit einer schwachen Glühbirne. Und der Geruch des Flusses war leicht widerlich.

Das Boot war mir von der Website vertrauter als in natura. Erstaunlich, wie man jahrelang in der Nähe eines weltbekannten Flusses leben kann und die Schiffe keines Blickes würdigt, die dort stromauf- und abwärts gleiten. Es war ein Hochgeschwindigkeitskatamaran mit 150 Sitzplätzen, der Boleyn hieß (die anderen in der Flotte waren ebenfalls nach misshandelten Tudor-Köni­ginnen benannt) und, verglichen mit dem Zug, wie ein Palast aussah. Viel Platz, große Ledersitze. Eine Bar. Fernsehbildschirme, auf denen die Nachrichten liefen.

»Der erste Tag vom Rest unseres Lebens, hm?«, sagte Kit spöttisch, aber ich spürte, dass er ebenso aufgekratzt wie ich war, eine derart fundamentale Veränderung so überstürzt vorgenommen zu haben. Er sah aus wie aus dem Ei gepellt in einem teuer aussehenden Wollmantel und mit einer ebenso kostspieligen Messenger Bag aus Leder um die Schulter. Neben ihm in Jeans und meiner North-Face-Jacke fühlte ich mich schäbig, wie ein kraftloses Relikt aus den Neunzigern.

»Hoffentlich hält er sich an den Fahrplan«, fügte er hinzu, als der Motor ansprang und wir so geschmeidig losfuhren, dass man es kaum spürte. Erhellt durch die kräftigen Lichter des Boots, hatte der Fluss genau die Farbe von schwarzem Americano. »Ich habe eine neue Chefin, die die Woche gern um Viertel nach acht mit einer ›Motivationsansprache‹ beginnt. Und sie trägt dich in irgendeiner Liste ein, wenn du zu spät bist. Man würde glauben, wir sind immer noch in der Schule.«

Wie ich später erkannte, war Arbeit für Kit ein notwendiges Übel. Er äußerte nie die vielgepriesene »Leidenschaft«, die seiner Generation, wie man ihr eingeredet hatte, zustand – und die von meiner erwartet wurde, wenn man sich mit ihnen messen wollte.

»Es ist eine Versicherungsgesellschaft, nicht wahr? Du musst tolle Vergünstigungen bekommen. Autoversicherung und solches Zeug?«

»Ich habe gar kein Auto, Kumpel«, erwiderte Kit.

»Na schön, dann eine Lebensversicherung?«

»Hm, ja, Melia würde ein Vermögen kassieren. Aber das nützt uns beiden nichts, da ich plane, am Leben zu bleiben.«

»Tun wir das nicht alle? Rente? Lass mich raten, du hast nicht vor, alt zu werden? Schön, wir werden deine Versicherungspakete nie wieder ansprechen.«

Das brachte ihn zum Lachen. Sein Gelächter war eine Schnellfeuerwaffe, die immer noch weiterschoss, wenn man längst erwartete, sie hätte aufgehört. Und als Köpfe sich in unsere Richtung drehten, verspürte ich die Genugtuung eines Schuljungen, der neben dem coolen Kind saß.

Längst hatten wir Woolwich erreicht, wo weitere Pendler zu uns stießen. Das Einsteigen verlief schnell, die Crew war ein eingespieltes Team. Die Passagiere waren allesamt gut betucht: Mir wurde bewusst, dass ich der einzige Geringverdiener an Bord war – abgesehen von dem Typen, der Kaffee servierte –, und genau das sagte ich auch Kit.

»Wie lang arbeitest du schon in …?«

»Der Gastronomie? Noch nicht lang, erst seit vier oder fünf Monaten. Davor war ich im Marketing, Unternehmenskommunikation, aber die Firma, für die ich gearbeitet habe, war in Nordlondon, und die Fahrt eine echte Odyssee. Die Northern Line, wenn du weißt, was ich meine?«

»O ja, deine Klaustrophobie. Wie bekommt man die überhaupt?« Bei ihm klang es, als handelte es sich um Syphilis oder etwas in der Art, das Ergebnis von Promiskuität.

»Könnte etwas Posttraumatisches sein oder vererbt. Der Therapeut, bei dem ich war, hat mir erklärt, dass Menschen mit dem dringenden Bedürfnis, ihre Privatsphäre zu verteidigen, eher darunter leiden.«

Er ließ die Schultern kreisen und zeigte auf die großzügigen Sitzreihen und breiten Gänge. »Keine Ahnung, aber damit dürfte es hier keine Probleme geben.«

An jenem ersten Tag waren Kit und ich Touristen. Nannten die Stadtviertel und Gebäude, die wir bisher immer nur von Land aus gesehen hatten, ließen uns absichtlich von den Flussbiegungen verwirren, die man vergaß, wenn man auf der Straße oder in der U-Bahn fuhr, zählten die Brücken ab, eine nach der anderen.