Liebe deine Nachbarn wie dich selbst - Louise Candlish - E-Book
SONDERANGEBOT

Liebe deine Nachbarn wie dich selbst E-Book

Louise Candlish

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Hinter der Idylle lauert das Verbrechen.

Lowland Way im Süden Londons: ein Vorortparadies. Gepflegte Häuser. Freundliche Menschen. Spielende Kinder auf der Straße. Bis im Haus Nr. 1 neue Nachbarn einziehen.
Sie halten sich nicht an Regeln, ihre Musik ist zu laut, sie parken falsch – und überhaupt!
Dann erschüttert ein schreckliches Verbrechen das Viertel. Und für die Anwohner ist die Sache sonnenklar: Die haben es getan. Die haben ein Leben auf dem Gewissen. Es gibt nur ein Problem. Die Polizei glaubt ihnen nicht…

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 482

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Zum Buch

Hinter der Idylle lauert das Verbrechen …

Lowland Way im Süden Londons: ein Vorortparadies. Gepflegte Häuser. Freundliche Menschen. Spielende Kinder auf der Straße. Bis im Haus Nr. 1 neue Nachbarn einziehen.

Sie halten sich nicht an Regeln, ihre Musik ist zu laut, sie parken falsch – und überhaupt!

Dann erschüttert ein schreckliches Verbrechen das Viertel. Und für die Anwohner ist die Sache sonnenklar: Die haben es getan. Die haben ein Leben auf dem Gewissen. Es gibt nur ein Problem. Die Polizei glaubt ihnen nicht …

Zur Autorin

LOUISE CANDLISH ist preisgekrönte Sunday-Times-Bestsellerautorin, ihre Bücher werden von großen Zeitungen wie der »Washington Post« oder dem »Guardian« gefeiert. Sie studierte Englisch am University College in London, wo sie heute mit ihrem Mann und ihrer Tochter lebt. Louise Candlish arbeitete als Redakteurin und Texterin, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. »Liebe deine Nachbarn wie dich selbst« erscheint bei btb erstmals auf Deutsch.

LOUISE CANDLISH

LIEBE DEINE NACHBARN WIE DICH SELBST

Thriller

Aus dem Englischen von Beate Brammertz

Die englische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »Those People« bei Simon & Schuster, London.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstveröffentlichung Oktober 2021

Copyright © 2019 by Louise Candlish

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021

by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: semper smile, München

Covermotiv: © Arcangel Images/Roy Bishop; © Shutterstock/Ensuper

Autorenfoto: © Jonathan Ring

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

mb · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-25722-4V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

Für meine Lektorinnen Jo und Danielle, in Dankbarkeit.

1 RALPH

Ja, wir sind uns bewusst, dass jemand ums Leben gekommen ist, natürlich. Was für ein grässlicher Tod, absolut entsetzlich. Meine Frau war eine der Ersten vor Ort. Sie ist jetzt drüben in Nummer zwei, bei Sissy Watkins – Naomi Morgan, wahrscheinlich haben Sie schon mit ihr gesprochen?

Ich persönlich war nicht da, nein, ich habe drüben im Club, auf der anderen Seite der Hauptstraße, Tennis gespielt. Wahrscheinlich habe ich das Haus so gegen acht verlassen.

Ja, alles an der Ecke hat normal ausgesehen, als ich los bin. Die übliche Müllhalde. Überall Berge von Schrott, Autos, die wie ein verrücktes 3-D-Puzzle ineinander verkeilt sind. Ein Katastrophengebiet. Hören Sie, ich will Ihnen ja nicht vorschreiben, wie Sie Ihren Job zu erledigen haben, aber Sie würden sich jede Menge Lauferei ersparen, wenn Sie den Rest von uns vergessen und losziehen und ihn fragen, wie das passiert ist.

Darren Booth natürlich, wer sonst? Der Mann, der für diese Tragödie verantwortlich ist! Und wenn Sie schon dabei sind, sollten Sie vielleicht bei der Stadtverwaltung rausfinden, wo die gesteckt haben, als all das passiert ist, ja? Wenn Sie mich fragen, haben die ihre Arbeit in den letzten paar Monaten sträflich vernachlässigt. Diese Haushaltskürzungen sind viel zu weit gegangen, und jetzt braucht es nichts weiter als einen Typen wie ihn, und wir leben plötzlich mitten im Wilden Westen.

Mein Verhältnis zu ihm? Gegenseitige Feindschaft, würde ich sagen. Ich habe den Kerl sofort durchschaut. Interessiert ihn nicht die Bohne, was andere denken. Ungehobelt, definitiv. Ich erinnere mich an unser erstes Gespräch – wenn man es überhaupt als solches bezeichnen kann – an dem Wochenende, als er eingezogen ist. Er ist fast mit einem Hammer auf mich losgegangen …

Mr Ralph Morgan, Lowland Way 7, Anwohnerbefragung durch die Metropolitan Police, 11. August 2018

Acht Wochen zuvor

Der erste Hinweis, dass an jenem Freitagabend etwas nicht ganz stimmte, war der Umstand, dass die Parklücke vor seinem Haus von einem schmutzigen weißen Toyota belegt war, eine derart klapprige Karre, dass sie sich eigentlich nur noch als Schrotthaufen bezeichnen ließ. Gewiss nicht das Auto der Wahl von irgendjemandem, den er im Lowland Way kannte.

Wenn man vom Parkende aus in die Straße einbog, wie Ralph es für gewöhnlich auf der Heimfahrt von seiner Lagerhalle in Bermondsey tat, nahm die Größe – und Preisklasse – der Häuser, an denen man vorbeifuhr, stetig zu, von hübschen Arbeiterhäuschen über schmale, dreistöckige Reihenhäuser zu den großen, frei stehenden, viktorianischen Villen am Ende der Portsmouth ­Avenue. Letztere waren unbestreitbar die Schmuckstücke der Straße, mit ihren alten Backsteinfassaden, die sich glutrot gegen das Grün der Ulmenallee abzeichneten.

Ralph und seine Familie bewohnten seit über fünfzehn Jahren die Hausnummer sieben, während vor zwölf Jahren sein Bruder Finn mit seiner Familie genau nebenan in die Nummer fünf eingezogen war. Besser ging’s nicht, waren sich die Brüder einig, und zum halben Preis, den man ansonsten in einigen Teilen Londons bezahlte.

Der einzige Nachteil war die Parksituation. Die Vorgärten waren zu schmal für eigene Stellplätze, und die Parkbuchten auf der Straße waren von der Stadtverwaltung nicht als Anwohnerparkplätze ausgeschildert, was im Grunde bedeutete: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Daher der gelegentliche Eindringling.

Während er langsam an dem Toyota vorbeikroch, bemerkte er, wie seine Windschutzscheibe trüb wurde. Es dauerte ein oder zwei Sekunden, bis er erkannte, dass die Mauer von Haus Nummer eins von einem Barbaren niedergerissen wurde, und eine Staubwolke in die Straße waberte. Ganz in der Nähe nahm ein weißer Lieferwagen zwei Parkbuchten in Beschlag, was das heutige Parkplatzproblem erklärte.

»Was zum Teufel …?« Ralph hielt an, ließ sein Fenster herunter und rief dem Bauarbeiter zu: »Entschuldigung, was ist hier los?«

Der Kerl hörte ihn nicht. Unter dem grauen Overall war seine Statur überraschend schmächtig angesichts des Drecktornados, den er einhändig erzeugte.

Ralph erhob die Stimme: »Hey! Könnten Sie bitte aufhören?«

Diesmal hielt der Bauarbeiter inne, verharrte einen Augenblick mit dem Rücken zur Straße und zu Ralphs Wagen, so reglos, dass es auf Ralph ein bisschen unheimlich wirkte. Dann drehte er sich um und kam näher, den Fäustel in der Hand. Sein Gesicht war schmutzverkrustet, in seiner Miene spiegelte sich gleichgültiger Trotz.

»Darf ich fragen, wer Ihnen den Auftrag erteilt hat, diese Mauer einzureißen?«, fragte Ralph.

»Sie dürfen fragen, was Sie wollen.« Er hatte einen normalen Südlondoner Akzent, nicht osteuropäisch, wie Ralph natürlich erwartet hatte, und der sanfte Tonfall ließ Ralphs eigenen herrisch und aufdringlich klingen.

»War das die Stadtverwaltung? Denn die haben nicht das Recht, sie einzureißen. Diese Mauer gehört zu einhundert Prozent zum Grundstück von Haus Nummer eins, ich habe die Unterlagen mit eigenen Augen gesehen.«

Auf einem geräumigen Grundstück neben Finns Haus waren die Doppelhaushälften von Nummer eins und drei die einzigen Nachkriegsbauten der Straße und, weit genug zurückgesetzt, um Platz für eine kurze, gemeinsame Auffahrt zu bieten, die einzigen mit privaten Stellplätzen. Die hohe Mauer an der Ecke, der einzige Überrest des ursprünglichen viktorianischen, im Blitzkrieg dem Erdboden gleichgemachten Herrenhauses, war in den letzten Jahren von der Stadt, die die Linksabbiegespur der Portsmouth Avenue erweitern und den Lowland Way im Grunde zu einem Schleichweg ausbauen wollte, durch Abriss bedroht worden. Unterstützt von der Besitzerin von Nummer eins, der alten Jean, hatten die Morgans die Kampagne gegen das Vorhaben angeführt – und gewonnen.

Seit Jeans Tod im vergangenen Dezember hatte das Haus leer gestanden, und die Mauer war in Vergessenheit geraten. Ralph hatte sich schließlich in Sicherheit gewähnt.

Da durchzuckte ihn ein neuer Gedanke. »Außer … Augenblick mal, gibt es einen neuen Besitzer? Hat der Ihnen den Auftrag erteilt?«

»Es gibt einen neuen Besitzer, ja.« Die Art, wie der Kerl seinen Hammer umklammerte, strahlte boshafte Arroganz aus. Ralphs geöffnetes Fenster war nur einen Schwung entfernt. Es wäre ein Kinderspiel für ihn, Ralphs Schädel zu zermalmen!

Ralphs Finger schwebten über der Fensterverriegelung. Er verspürte eine primitive Abneigung gegen diesen Menschen, als würde er einem Mitglied eines rivalisierenden Stammes begegnen, das sich ohne Erlaubnis in seine Siedlung vorgewagt hatte. Er riss den Blick zurück zum Gesicht des Mannes und versuchte, ihn einzuschätzen. Wie alt er wohl war? Mitte fünfzig? Er hatte einen großen kahlen Fleck, rot von der Sonne oder Anstrengung, und tiefe Falten, von Dreck verklebt: auf jeden Fall älter als Ralph.

Ralph hustete, Staub hatte sich in seiner Kehle festgekrallt. »Kann ich seine Telefonnummer bekommen? Ich erkläre ihm die Situation.«

»Ein andermal«, sagte der Bauarbeiter. »Ich bin hier gerade etwas beschäftigt.« Und damit drehte er sich mit erhobenem Hammer zur Mauer zurück und schlug mit solch ungezügelter Gewalt zu, dass Ralph in seinem Sitz zusammenzuckte.

Sich die Sätze seines Antiaggressionstrainings ins Gedächtnis rufend – Mehr aus- als einatmen … Sag dir immer wieder vor: Du nimmst eine Bedrohung wahr, die möglicherweise überhaupt nicht existiert – schloss er das Fenster, wendete und fuhr den Lowland Way bis zum ersten freien Parkplatz zurück, den ganzen Weg bis Haus Nummer neunzehn. Normalerweise war er ein geschickter Einparker, doch an diesem Abend brauchte er mehrere Anläufe, bevor er schließlich den Motor ausschaltete.

Als er einen Blick auf sein Handy warf, bemerkte er zu spät einen verpassten Anruf von Naomi, gefolgt von der SMS:

Neuer Nachbar in Nr. 1, wirkt komisch! Komm direkt nach Hause, wir müssen reden.

Oh, Mist!

Während Ralph die Haustür aufsperrte, mühte er sich ab, das Entsetzen über den Abriss der Mauer mit dem nervösen Frohlocken über den wiederaufgenommenen Kampf unter einen Hut zu bekommen.

»Hast du gesehen, was da draußen los ist, Nay?«

»Natürlich.« Naomi war in der Küche, auf der Rückseite des Hauses. Als Mitbegründerin einer Website für Mütter mit Vorschulkindern – »Betreiberin, nicht Redakteurin«, korrigierte sie Ralph gern – hatte sie ihren Geschäftssitz in einem strammen Zwanzig-Minuten-Powerwalk entfernt liegenden Arbeits- und Wohnraum ihrer Kollegin und hatte normalerweise bereits unter­wegs zu Abend gegessen, wenn er nach Hause kam (Ralph rühmte sich damit, an den Wochenenden das Kochen zu übernehmen). Schlank in ihrer grauen Freizeitkleidung und selbst in schwarzen Ballerinas groß, sah sie wie eine Ehefrau und Mutter aus der Werbung aus, während sie vor der Marmorplatte der Kücheninsel stand und glitzernde grüne Blätter in eine Schüssel warf; wie immer häufte sie die Cherrytomaten ganz oben auf den Berg, in der Hoffnung, die Salathasser der Familie zu überlisten.

Bei seinem Näherkommen drehte sie sich um, das Salatbesteck in die Luft gereckt. Eine dunkle Haarsträhne – lang und glatt, regelmäßig peinlichst genau nach Grau abgesucht – fiel ihr ins Auge, und mit elegant abgewinkeltem Handgelenk schob Naomi sie sich aus dem Gesicht. »Ich bin genauso entsetzt wie du, Liebling, glaub mir. Aber es ist zu spät, um die Mauer zu retten, also hat es keinen Zweck, sich heute Abend mit dem neuen Besitzer anzulegen. Ich hatte mir gedacht, wir gehen rüber und stellen uns morgen früh vor, wenn sich der Staub gelegt hat – wortwörtlich gemeint. Kitzeln seine Pläne aus ihm heraus und halten ihn davon ab, noch etwas Verrücktes zu tun.«

Als wäre es die Stimme seines Herrchens, beruhigte sich Ralph sogleich. In Naomis wohlgeformten Vokalen lag ein sich über die Jahre angeeignetes Selbstvertrauen, die Zuversicht, dass sie deine Erwartungen nicht nur erfüllen, sondern dich völlig umhauen würden. »Warum glaubst du, dass der Kerl der neue Besitzer ist? Ich dachte, er wäre nur ein Bauarbeiter.«

»Ich habe auf der Website des Grundbuchamts nachgesehen, und dort ist jemand namens Darren Booth eingetragen. Dann habe ich ihn gegoogelt und ein Foto gefunden. Es ist definitiv der Kerl, der die Mauer einreißt.« Als Naomi den Salat fertig angerichtet hatte, öffnete sie den Kühlschrank und reichte Ralph ein Bier. Freitag war einer der vier Abende, an denen sie Alkohol trinken durften, mit dem langfristigen Ziel, es auf zwei zu beschränken. Obwohl die Küchentür zum Garten weit aufgerissen war, summten genügend Haushaltsgeräte, um jegliche Baustellengeräusche drei Türen weiter auszublenden.

Ralph trank seinen ersten Schluck. Okay, er hatte also einen Fehler begangen, das war nicht die Art, wie er die Situation mit einem neuen Nachbarn angehen sollte. Kein Grund, Naomi mit den Einzelheiten zu langweilen. »Sie steht nicht unter Denkmalschutz, es gibt also nichts, was ihn daran hindert, sie durch eine andere zu ersetzen, wenn ihm der Stil nicht gefällt«, räumte er ein.

Das wussten sie nur zu gut. Als Gemeinschaft bildeten sich die Anwohner viel auf ihre Straße ein und hatten es sogar zu einer gewissen Berühmtheit mit dem Play Out Sunday gebracht, ihrer Initiative, die Straße sonntags autofrei zu halten, damit die Kinder wie in früheren Zeiten draußen spielen konnten (Naomis Idee, für die sie vom Bürgermeister mit einer Auszeichnung geehrt worden war). Was die Ästhetik betraf, hatte jedoch jeder Haushalt freie Hand, eigene Entscheidungen zu treffen – dank der lästigen Toleranz der Stadtverwaltung, was Baugenehmigungen betraf.

»Wissen wir irgendetwas über ihn?«, fragte er. »Woher er kommt?«

Naomi begann, Teller zu verteilen und das Besteck korrekt anzuordnen. »Er ist weder bei Facebook noch Twitter, also weiß ich nichts Persönliches, aber in Forest Hill wurde er für Autoreparaturen empfohlen – daher habe ich auch sein Bild. Sissy versucht, noch mehr rauszufinden. Sie hat nie von ihm gehört, aber er muss ein Verwandter von Jean sein, immerhin hat er das Haus geerbt.«

»Ich denke, du hast recht«, sagte Ralph. Das Haus hatte auf dem Markt nicht zum Verkauf gestanden, und als die Nachbarn in Nummer drei, Ant und Em Kendall, den Anwalt angerufen und nachgefragt hatten, war ihnen erklärt worden, die gerichtliche Testamentseröffnung nähme ihren gewohnten Gang. Mit anderen Worten: Es gehe sie nichts an. »Selbst in dem Zustand, in dem es sich befindet, muss es siebenhunderttausend wert sein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand wie er das Geld hat, es zu kaufen.«

Jemand wie er: Und das aus dem Mund eines Selfmademan wie Ralph, der in einer Sozialwohnung in Kent aufgewachsen war, aber vielleicht war gerade das der Grund, der ihm das Recht zu einer solchen Verallgemeinerung gab. Er kannte aus erster Hand die begrenzten Möglichkeiten, im Leben erfolgreich zu sein.

In seinem Fall war es pures Talent gewesen, das ihn zu seiner Position als alleiniger Eigentümer eines Großhandels für kleine Lederprodukte gebracht hatte. Manager von zwanzig Mitarbeitern. Besitzer eines Warenlagers am Flussufer, heutzutage zehnmal mehr wert als das, was er dafür bezahlt hatte, und das allein dank der Gentrifizierung von Bermondsey in den Nullerjahren, die den Aufstieg von Lowland Gardens geradezu erbärmlich aussehen ließ.

Er machte kurzen Prozess mit dem Bier. »Für die Kendalls sind das schlechte Neuigkeiten. Der Staub ist schrecklich.«

»Sie sind im Urlaub und werden hoffentlich das Schlimmste gar nicht mitbekommen.« Naomi zog Topfhandschuhe an, trug einen großen Le-Creuset-Bräter vom Ofen zum Tisch und rief nach den Kindern, die oben in ihren Zimmern waren und sich zweifellos nachschulische Dosen ihres digitalen Lieblingsgifts setzten. Ralph stellte sie sich mit ihren vorgebeugten Köpfen vor, die Augen halb geschlossen, wie die Junkies in Trainspotting. (Ganz offensichtlich gab es keinen Play Out Friday.)

»Wo stecken die Hunde?«, fragte er.

»Tess geht für mich mit ihnen Gassi. Ich darf nicht vergessen, mich irgendwann zu revanchieren.« Naomi verzog das Gesicht. »Wann auch immer.«

Die Kinder erschienen, anfangs noch lethargisch, ­versuchten aber schon bald, sich mit ihren Neuigkeiten zu überbrüllen; Libby war zwölf, Charlie sieben, doch der Altersunterschied half nicht, ihre Rivalität abzufedern. Das Thema Darren Booth wurde fallen gelassen. Naomi war strikt dagegen, vor den Kindern über andere Leute herzuziehen; das wäre das falsche Signal. Unterschätze nie den Anschein, den du von dir gibst, hatte ihre Mutter ihr eingetrichtert.

Scheiß drauf, was andere von dir halten, hatte Ralphs Vater ihm beigebracht.

Jawohl, und außerdem: Verteidige dein Revier.

Wie gewöhnlich war der Instinkt seiner Frau unfehlbar, erkannte Ralph mit Genugtuung. Da sie es für taktisch klüger hielt, den Neuankömmling in der Gruppe zu begrüßen, hatte sie Sissy und Finn und Tess für ein kleines Willkommenskomitee zusammengetrommelt.

Finn erschien, während Naomi außer Haus war, um die Kinder zu ihren samstagvormittäglichen Aktivitäten zu fahren, und betrat die Küche durch die maßgefertigte Glastür im Industrial Look, die ein halbes Vermögen gekostet hatte (»Anlagenrendite, Babe«, hatte Naomi vorgebracht und Hauspreise angeführt; sie wusste genau, wie sie ihn um den kleinen Finger wickeln konnte). Die Häuser der Brüder hatten auf der Rückseite dank der abgebauten Zäune, als die Kinder klein gewesen waren, freien Zugang zum Grundstück des anderen – was, nur für den Fall, dass jemand Parallelen zog, etwas völlig anderes als die Zerstörungswut des neuen Nachbarn war. Sie hatten im gemeinsamen Garten Rasen verlegt, um Raum zu schaffen, der groß genug für eine Partie Fußball oder Badminton war, und jetzt wuchsen ihre Kinder mit dem Äquivalent eines kleinen Parks als Garten auf, acht Meilen vom Zentrum Londons entfernt. Wer würde sich nichts darauf einbilden?

»Ich bin da, um euch Rückendeckung zu geben«, sagte Finn und nahm sich ungefragt eine Tasse Kaffee mit seinen starken, rie­sigen Händen, die Ralph an den Aushilfsjob seines Bruders im Sommer mit Anfang zwanzig auf einer Baustelle denken ließen. Zwei Jahre jünger als Ralph und höchstwahrscheinlich attraktiver (dickere Haare, blauere Augen, was auch immer), war Finn gleichzeitig weder so reich, was alle für das Wichtigste hielten, noch so groß wie er, was tatsächlich das Wichtigste war.

»Sehr schön«, sagte Ralph. »Ich habe ein ungutes Gefühl, was diesen Booth angeht.«

»Heißt der Kerl etwa so?«

»Laut Nay. Sie wird gleich hier sein. Wo ist Tess?«

»Bringt die Kinder zum Schwimmen. Sie meinte, wir sollen ohne sie gehen.«

Egal. Tess war zwar nicht zu verachten, aber sie besaß nicht das Talent ihrer Schwägerin für erste Eindrücke, ein Umstand, der veranschaulicht wurde, als Naomi kurze Zeit später hereinsegelte, dynamisch in ihrem gerippten blutroten Oberteil und dem Vintage-Jeansrock, ihre Beine immer noch gebräunt von ihrem Oster­urlaub in Dubai. Die Haare trug sie offen, genau wie Ralph es mochte.

»Hi, Finn, bereit für die Charmeoffensive? Sissy sagt, sie stößt drüben zu uns.« Sie schnappte sich die Dose Biscotti, die sie dem Neuankömmling schenken wollte. »Ich schätze, er wird uns auf einen Kaffee hereinbitten?«

Darauf würde ich nicht wetten, dachte Ralph. Dieser Kerl würde das Gebäck nicht einmal erkennen, wenn es Biscotti regnen würde.

Da das kinderfreie Zeitfenster begrenzt war, brachen die drei sofort auf. Seitdem die Kendalls Haus Nummer drei mit einem frischen Anstrich und Jalousien mit Palmenaufdruck verschönert hatten, war Nummer eins ein trostloses Gegenstück zu seinem Zwilling geworden, und der Kontrast zeigte sich an diesem Morgen deutlicher als je zuvor. Die Mauer war dem Erdboden gleichgemacht oder besser gesagt in einen Berg aus Ziegeln und Schutt auf dem Rasen verwandelt worden, was das Haus noch verlassener aussehen ließ als in der Zeit, als es unbewohnt gewesen war. Der weiße Lieferwagen war in die Einfahrt umgeparkt worden, parallel zu einem zehn Jahre alten Ford Focus, der halb im Gras stand, Stoßstange an Stoßstange mit einem Honda, dessen Hinterteil aus dem Grundstück ragte und den Bürgersteig blockierte. Der Honda war mit einem professionell aussehenden, hydraulischen Wagenheber aufgebockt, und unter dem Fahrgestell lag Booth, sein Gesicht gerade noch sichtbar.

»Hallo noch mal«, sagte Ralph. »Ich glaube, wir haben uns gestern auf dem falschen Fuß erwischt.« Vielleicht lag es an seiner Wortwahl, vielleicht waren es die zertrümmerten Überreste der Mauer am Rand seines Blickfelds, aber auf einmal überkam ihn der hooliganmäßige Drang, einen Schritt vorzugehen und dem Mann mit voller Wucht auf den Kopf zu treten.

Sei kein Vollidiot. Mehr aus- als einatmen.

»Wäre es möglich, dass Sie für eine Minute von dort unten rauskommen?«, rief Naomi in ihrer unbeschwerten Heiterkeit, und Booth schob sich prompt unter dem Wagen hervor und sprang mit verstörender Behändigkeit auf die Beine.

Diesmal, ohne Staub und Dreck, waren seine Gesichtszüge deutlicher zu erkennen – eine wulstige Stirn und eine flache Boxer­nase; ein entspannter, fast sanfter Mund, der überhaupt nicht zur anmaßenden Unverschämtheit seines blassen Blicks passte.

War es Unverschämtheit oder war das Ralphs eigene Projektion? Er war nicht so egozentrisch, es nicht für möglich zu halten, dass die Instinkte des anderen sich von seinen unterscheiden könnten. Der andere könnte ihn vielleicht mögen.

»Wir wollten Sie in der Straße willkommen heißen«, sagte Naomi mit warmer Stimme. »Ich bin Naomi Morgan, und das ist mein Mann Ralph und sein Bruder Finn.«

Booth spähte von Ralph zu Finn, dann blieb sein Blick an Ralph hängen. »Was ist das, die Rückkehr der Kray-Zwillinge?«

Naomi lächelte tapfer. »Sie sind keine Zwillinge, nein, aber direkte Nachbarn. Wir wohnen in Nummer fünf und sieben.«

Booth verdrehte die Augen, als wäre das schwer nachvollziehbar. »Sie sind Brüder und wohnen direkt nebeneinander?«

»Ja«, sagte Naomi. »Wir haben Glück, es ist ein wunderbares Arrangement. Sie haben sich wahrscheinlich schon gefragt, wer neben Ihnen wohnt?« Sie zeigte auf Nummer drei, und Booth warf einen Blick über die Schulter, als bemerkte er erst jetzt, dass an sein neues Haus ein weiteres anschloss. »Ant und Em Kendall, ein zauberhaftes Paar mit einem hinreißenden kleinen Jungen. Sie sind im Moment im Urlaub, kommen aber, glaube ich, nächstes Wochenende zurück.«

Die Armen, dachte Ralph. »Ich habe Ihren Namen gestern gar nicht mitbekommen«, sagte er. Natürlich kannte er ihn, aber er wollte dem Kerl nicht unter die Nase reiben, dass sie ihn wie der Geheimdienst ausspioniert hatten.

»Darren.«

»Nun, unter uns, Darren«, sagte Naomi mit verschwörerischer Stimme. »Wir fanden es sehr schade, dass die Mauer niedergerissen wurde, denn wir haben vor drei Jahren eine Kampagne für ihre Rettung geführt, als die Stadt die Straße verbreitern wollte. Damals war es ganz offensichtlich Landnahme, völlig ungesetzlich.«

»Sie müssen darauf achten, sie genau an derselben Stelle wieder aufzubauen, andernfalls geht das Ganze von vorne los«, riet ihm Finn.

»Er hat recht«, pflichtete Ralph ihm bei. »Das ist auch der Grund, weshalb ich gestern so schockiert war. Es tut mir leid, wenn ich ein wenig schroff gewirkt habe.« Ihm war bewusst, dass die Entschuldigung nicht echt klang – sie war es nicht –, aber der Anblick von Sissy, die über die Straße auf sie zukam, bewirkte bei ihm einen Anflug von guter Laune: »Ah, Sissy, das ist unser neuer Nachbar, Darren!«

»Guten Morgen, alle miteinander«, sagte Sissy in ihrer freundlichen, unaufdringlichen Art. Sie hielt einen Strauß Krokusse, den sie mit einer grünen Schleife zusammengebunden hatte. »Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen, Darren. Wie ich sehe, waren Sie schon schwer beschäftigt …«

Einen historischen Teil unserer Straße zu zerstören, beendete Ralph im Stillen ihren Satz. Für ihn, für sie alle, war Sissy der Maßstab für Anstand der alten Schule. Kräftig gebaut und mit direktem Blick hielt sie sich die von silbernen Strähnen durchzogenen Haare stets gekonnt aus dem Gesicht, als wolle sie die volle Wucht ihrer Integrität zur Schau stellen. Heute trug sie einen perfekt gebügelten Rock mit Bluse, was wahrscheinlich bedeutete, dass sie Gäste in ihrem B&B hatte, wie es häufig am Wochenende vorkam. Das Frühstück musste schon serviert worden sein. Lowland Way war breit, breit wie eine Allee, aber Ralph beneidete sie nicht um ihre direkte Sicht auf die Müllhalde, die Booth in weniger als vierundzwanzig Stunden erschaffen hatte.

»Sind Sie mit Jean verwandt?«, fragte sie Darren.

»Sie war die Halbschwester meiner Mum. Wir standen uns nicht nah.« Obwohl es Sissy war, die die Frage gestellt hatte, bemerkte Ralph, dass Darren ihn bei seiner Antwort beäugte.

»Sie war eine zauberhafte alte Dame«, sagte Sissy. »Mein Beileid. Sind Sie neu in der Gegend? Wo haben Sie davor gewohnt?«

Wiederum richtete er seine Antwort an Ralph. »Loughborough-Siedlung.«

Also ein echter Aufstieg: die Loughborough-Siedlung lag ein paar Meilen nördlich und war bekannt für die dortige Kriminalität und Armut.

»Sind nur Sie hier oder haben Sie Familie?«, fragte Naomi.

»Nur ich und meine bessere Hälfte.«

»Ist sie da? Wahrscheinlich schwer mit Auspacken beschäftigt. Ich würde ihr gern die hier geben.« Sissy hob die Blumen. »Sie sind aus meinem Garten.«

»Ich glaub’, sie ist noch im Bett«, sagte Darren.

Ralph musste nicht hinsehen, um zu wissen, dass beide, Sissy und Naomi, bei diesen Worten ein Stirnrunzeln unterdrückten. Es war halb elf; die Familien in dieser Straße waren seit sieben Uhr wach.

»In diesem Haus steckt so viel Potenzial, nicht wahr?«, sagte Naomi. »Die Häuser aus den Siebzigerjahren sind im Moment schrecklich angesagt. Haben Sie sich schon einen Architekten geholt?«

»Einen Architekten?«, schnaubte Darren verächtlich, als hätte sie ihm geraten, sich wegen eines Burggrabens mit der Staatlichen Schlösserverwaltung in Verbindung zu setzen. »Ich mache alles selbst.«

Alles?

»Das klingt ambitioniert.« Naomi legte den Kopf schief. »Haben Sie sich schon eine Genehmigung für den Ausbau geholt? Ich kann mich nicht erinnern, einen behördlichen Anschlag gesehen zu haben.«

Ralph feixte. Niemand konnte Naomi das Wasser reichen, was diese beiläufigen Hinweise betraf, dass es Regeln gab (selbst bei dieser Stadtverwaltung) und sie alle gut miteinander auskommen würden, wenn Darren nicht vergaß, sich daran zu halten.

Darren zuckte mit den Achseln. »Muss mir das Haus erst mal in Ruhe ansehen. Fürs Erste ein neues Bad, und das Dach muss repariert werden.«

Für nichts davon musste man eine Genehmigung einholen, das wusste Ralph.

»Womit verdienen Sie Ihre Brötchen?«, fragte Finn.

Darren zeigte auf das Werkzeug zu seinen Füßen. »Mechaniker, wie man sieht.« Als wäre es die dümmste Frage, die man sich nur vorstellen konnte.

Ralph erinnerte sich an das, was Naomi über die Werkstattempfehlung gesagt hatte, und sein Blick glitt an den drei Wagen in der Einfahrt vorbei zu einem Peugeot, der mit offener Kühlerhaube auf der Straße geparkt war: Wenn der ebenfalls Booth gehörte, waren es fünf, einschließlich des Lieferwagens. Und vielleicht auch der schmutzige Toyota. Der Lieferwagen war höchstwahrscheinlich ein Werkzeuglager, und es juckte Ralph in den Fingern, die Hecktüren zu öffnen und sich das Innere anzusehen. »Wo befindet sich Ihre Werkstatt?«, fragte er und dann, als keine Antwort folgte: »Sie haben doch nicht vor, von hier aus zu arbeiten, oder?«

Darren sah mit demselben spöttischen Gesichtsausdruck wie zuvor von einem Bruder zum anderen. »Was ist das, die Spanische Inquisition?« Aber Ralph roch ein Ablenkungsmanöver zehn Meilen gegen den Wind. Man brauchte eine Genehmigung, um ein Wohnhaus gewerblich zu nutzen, und ihn beschlich der leise Verdacht, dass der Kerl keine besaß.

Er begegnete Darrens Blick. »Also sind diese Wagen alle für Ihren persönlichen Gebrauch, ja? Alle angemeldet und versichert?«

»Ralph«, sagte Naomi beschwichtigend, »wir wollen doch keine voreiligen …«

»Halten Sie sich gefälligst aus meinen Scheißangelegenheiten raus!«, fauchte Darren Ralph unwirsch an und unterbrach Naomi mitten im Satz, was ein kollektives Einatmen zur Folge hatte.

»Ich bin mir nicht ganz sicher, ob das der Ton ist, in dem Sie mit Ihren neuen Nachbarn reden wollen«, setzte Ralph an und spürte die Finger seiner Frau auf seinem Arm, die ihn nach hinten schoben. Fast wie zum Ausgleich trat Finn einen Schritt vor, um zu seinem Bruder aufzuschließen.

»Nun, ich bin mir sicher, Sie werden es hier lieben«, sagte Naomi zu Darren, als hätte das Gespräch keine unangenehme Wendung genommen. »Es wäre uns ein Vergnügen, wenn Sie und Ihre Frau einmal auf einen Drink vorbeikämen, nicht wahr, Jungs?«

»Ja«, sagte Ralph, auch wenn seines Wissens noch kein Mann mit Booths unangenehmem Wesen die Türschwelle von Haus Nummer sieben überschritten hatte, allerhöchstens vielleicht, um den Zähler abzulesen.

Nachdem Naomi und Sissy nun die Biscotti und Blumen überreicht hatten, drehten sie sich zum Gehen um. Finn, der Darren mit einem unbeeindruckten letzten Blick bedachte, folgte ihnen. Nur Ralph blieb zurück, und zwischen ihm und Darren fand ein stiller Dialog statt.

Hiermit bist du gewarnt, sagten Ralphs Augen.

Und Darren antwortete: Ich weiß, für wen du dich hältst, aber ich weiß, dass du keinen Deut besser bist als ich.

Einen Schauder unterdrückend, wich Ralph zurück. Ein Teil der zertrümmerten Mauer war über die gemeinsame Einfahrt zu Ants und Ems Seite hinübergerollt, und er ließ sich Zeit, die Steine mit der Schuhspitze zurückzuschieben, bevor er sich zu Finn und Naomi auf den Gehsteig gesellte. Sissy war bereits durch ihr eigenes Gartentor von Haus Nummer zwei geschlüpft, vorbei an Reihen großer Blumentöpfe mit Lorbeersträuchern, wie aufgereihtes Personal, das sie begrüßte.

»Mir gehen zwei Worte durch den Kopf«, sagte Naomi zu den Brüdern, während sie zurückspazierten.

»Was?«, fragte Ralph. »Blödes Arschloch?«

Laut genug, dass Booth es hören könnte.

»Nein«, sagte Naomi. »Unvoreingenommen sein. Und denkt nicht mal dran, in die Nähe der Autos zu gehen. Ich weiß, was ihr zwei damals angestellt habt.«

Die Brüder hatten als Kinder reichlich Autos mit Schlüsseln zerkratzt und Luft aus Reifen gelassen, zensierte Highlights seiner Vergangenheit, die Ralph seiner Frau anvertraut hatte. Nur allzu gern witzelte sie über ihre kriminelle Laufbahn als Jugendliche, aber er machte sich keine Illusionen darüber, dass sie angewidert gewesen wäre, hätte sie ihn damals gekannt. Wenn sie ihn überhaupt eines Blickes gewürdigt hätte, wäre dieser voll Mitgefühl gewesen, vielleicht bei ihrer Freiwilligenarbeit, für die sie den Duke-of-Edinburgh-Award oder was auch immer verliehen bekommen hatte. Glücklicherweise waren sie sich in ihren Zwanzigern über den Weg gelaufen, zu einem Zeitpunkt, als Ralph ein geläuterter Mann gewesen, bereits zweimal bei einem Großhandelsimporteur in Battersea befördert worden war und sich bezüglich der Kosten für ein eigenes Start-up-Unternehmen erkundigt hatte. Er hatte sich eine Wohnung mit einem jüngeren Arbeitskollegen und Kneipenhocker in Clapham geteilt, und Naomi war unter den zahlreichen Hochschulabsolventinnen gewesen, die Ende der Neunziger von den Bars in der Gegend wie Fliegen vom Licht angezogen wurden.

Damals hätten sie sich um jemanden wie Darren Booth nicht geschert. Sie hätten sich nicht für alte Mauern oder Autos interessiert, die in den Vorgärten ihrer Nachbarn repariert wurden.

Nun ja, heute schon.

2 ANT

Nein, soweit ich weiß, hat niemand gesehen, wie es passiert ist, aber wir haben es gehört. Nun, ich war oben unter der Dusche, also habe ich es mehr gefühlt als gehört. Meine Frau Em war unten, und sie ist sofort rausgestürzt. Sie hat Ihnen erzählt, dass sie diejenige war, die den Notarzt gerufen hat? Sie musste wieder reinlaufen, um ihr Handy zu holen und zu mir hochzurufen, dass ich Sam übernehmen muss – das ist unser Baby. An ihrer Stimme konnte ich erkennen, dass etwas Schlimmes passiert ist, aber ich hatte nicht den blassesten Schimmer, dass es so schlimm ist! Als ich nach draußen kam, war der Rettungsdienst bereits da, und die gesamte Straße war ein einziges Durcheinander. Eine Polizeiabsperrung wurde errichtet, und sämtliche Autos, die vom Parkende einbogen, mussten umdrehen und zurückfahren. Es gab jede Menge Gaffer.

Ich würde schon sagen, dass wir uns nahestehen, ja. Freunde, nicht nur Nachbarn.

Darren Booth? Nein, dem würde ich nicht über den Weg trauen. Er hat uns das Leben vom ersten Tag an schwer gemacht, ist buchstäblich der Nachbar aus der Hölle – und ich sage das als jemand, der ein großer Befürworter ist, im Zweifel für den Angeklagten zu stimmen. Ich meine, wer will mit dem Kerl nebenan im Clinch liegen? Das macht dein Leben kaputt.

Herrje, Sie sehen doch mit eigenen Augen, in welchem Zustand sich das Haus befindet. Die Beamten vorhin, die Zeug mitgenommen haben, sind das Kriminaltechniker oder so was in der Art?

Arbeits- und Gesundheitsschutz, okay. Nun, die werden Ihnen dasselbe sagen: Das Haus war eine echte Todesfalle. Ich bin überrascht, dass so etwas nicht schon früher passiert ist.

Mr Anthony Kendall, Lowland Way 3, Anwohnerbefragung durch die Metropolitan Police, 11. August 2018

Sieben Wochen zuvor

Der Flug nach Gatwick war verspätet gelandet, der Verkehr auf der A23 der übliche Albtraum, und so spielte wohl Müdigkeit am Steuer eine gewisse Rolle, als Ant seine eigene Straße nicht wiedererkannte. Er verpasste die Abzweigung von der Portsmouth Avenue und musste die nächste rechts abbiegen, um den Lowland Way vom Parkende aus anzusteuern.

Bereits jetzt war fast die Hälfte der Anwohnerfahrzeuge für den Play Out Sunday entfernt worden.

»Sieht so aus, als hätte jemand das Haus nebenan gekauft«, sagte Em, als sie entsetzt zu der Mülldeponie spähte, die früher der Nachbarsgarten gewesen war. Ihr Blick fiel genau auf das Badezimmerwaschbecken, das fast keck ganz oben auf dem Schuttberg lag, wie die Verzierung eines Kuchens. »Was für ein Saustall! Ich kann nicht glauben, dass niemand uns vorgewarnt hat.«

»Wahrscheinlich wollten sie uns den Urlaub nicht vermiesen. Offensichtlich bauen sie ein neues Badezimmer ein. Wie viele Autos haben sie?« Ant hatte sich daran gewöhnt, die gemeinsame Einfahrt für sich allein zur Verfügung zu haben, doch jetzt musste er den Wagen mit aller Vorsicht auf ihre Seite bugsieren.

»Unsere Fenster werden mit einer Staubschicht verdreckt sein«, murrte Em. »Ich hoffe, wir haben keins offen gelassen.« In ihrer Bemerkung schwang ein gewisser Unterton mit. Ant wusste, dass sie das Schließen von Fenstern und Türen für Männerarbeit hielt – vielleicht ein Atavismus, als Steinzeitfrauen nicht die nötige Muskelkraft besaßen, den Felsbrocken vor den Höhleneingang zu rollen. Verrückt.

»Wir sollten uns vorstellen und sie begrüßen«, sagte er, doch sobald sie ihre Türschwelle überschritten und sich ans Auspacken und die Schmutzwäsche gemacht und Sam gefüttert und gebadet und sein Gute-Nacht-Ritual vollbracht hatten, das jeden Abend zweiteilte, waren die neuen Nachbarn und die apokalyptische Landschaft nebenan längst vergessen. Dann, um acht, als Em immer noch bei Sam war, um ihn in den Schlaf zu wiegen und seine Winnie-Puuh-Spieluhr ihr Schlaflied klimperte, jaulte unvermittelt das ohrenbetäubende Dröhnen einer Bohrmaschine auf.

Als Ant erschrocken nach oben stürzte, tauchte gerade Em aus Sams Zimmer auf und schloss die Tür hinter sich. »Was zum Teufel war das?«

»Es kam von nebenan.« Em ging ins Gästezimmer, nur eine Rigipswand von Sams Bettchen entfernt. »Sie müssen wohl Regale auf der anderen Seite andübeln. Um diese Uhrzeit!«

»Andererseits können sie nicht wissen, dass wir hier ein Baby haben«, entgegnete Ant. »Wahrscheinlich haben sie noch nicht mal bemerkt, dass wir zurück sind.«

»Dann müssen wir es ihnen sagen.« Em seufzte. Da Sam im Urlaub besser als je zuvor in seinem jungen Leben geschlafen hatte, sah sie wieder mehr wie die alte Em aus, nämlich jung und attraktiv und mit einem Lächeln auf den Lippen. Obwohl sie von Natur aus ein heller Typ war, hatte sie eine leichte Bräune angenommen. »Wir wussten, dass früher oder später jemand einziehen würde.«

Das entsprach der Wahrheit, aber sie hatten wohl als gegeben vorausgesetzt, dass die neuen Nachbarn, wenn nicht älter und friedliebend wie Jean, dann gewiss reflektiert und rücksichtsvoll wie Finn und Tess Morgan auf der anderen Seite sein würden.

Selbst vor Sams Geburt hatten sich die Morgans besorgt wegen der Lautstärke ihrer Kinder gezeigt, die tatsächlich ein beträchtliches Ausmaß annehmen konnte dank des gemeinsamen Gartenarrangements mit Finns Bruder Ralph, der selbst zwei Kinder hatte – Ant war immer noch nicht sicher, wer zu wem gehörte. Häufig waren Freunde zu Besuch, was für ein heilloses Durcheinander aus Geschrei und einem rechthaberischen Stimmengewirr sorgte, ganz zu schweigen von der Hundemeute mittendrin, von denen einer ein echter Kläffer war. Doch sobald sich der Lärmpegel ins Unerträgliche steigerte, erschien ein entschuldigendes Gesicht über der Mauer, gewöhnlich das von Tess: »O Gott, was für ein Albtraum! Es tut mir so leid. Isla hat Geburtstag, und wir haben die gesamte Klasse plus alle Eltern hier. Ihr werdet sehen, wenn es bei euch so weit ist, kann man einfach niemanden ausschließen! Warum kommt ihr nicht rüber und trinkt ein Glas ­Prosecco?«

Auf diese Weise waren Ant und Em zu einem halben Dutzend Feiern eingeladen worden, einmal sogar mit dem Angebot einer leichten Alu-Trittleiter, um über die Mauer zu klettern, auch wenn Em sich, damals schwanger, für die traditionelle Variante der Haustür entschieden hatte. Sie und Tess waren im Lauf der Zeit Freundinnen geworden – beide Hausfrauen (wenn man diesen Begriff überhaupt noch verwenden durfte), in Ems Fall vorübergehend, da sie Ende des Jahres an ihren Arbeitsplatz zurückkehren würde.

Insgeheim mochte er Naomi Morgan lieber, die unglaublich charismatisch und noch dazu sexy für eine Frau Mitte vierzig war. »Hier in dieser Straße ist es nicht erlaubt, sich zu zerstreiten«, hatte sie bei ihrer ersten Begegnung zu Ant gesagt, fast schon kokett mit ihren großen tintenschwarzen Augen und dem Lächeln, das sich verschmitzt nach oben wölbte. In einer Kultur von Strähnchenblondinen war ihre rabenschwarze Haarpracht regelrecht ­exotisch. »Wir sind quasi eine Hippie-Kommune«, erklärte sie.

Wohl kaum. Die Gärten der zwei Familien wurden gemeinsam genutzt, aber Ralphs und Naomis Haus gehörte ganz eindeutig ihnen allein, mit Blumenarrangements, die Elton John in nichts nachstanden, und einem Meer aus Kunstwerken, von dem Em behauptete, Finn und Tess könnten ihnen niemals das Wasser reichen. (Insbesondere gab es eine Skulptur, eine Art kupferner Kaktusmann mit Dornen, die Ant im Kopf als Gefahr für Sam abgespeichert hatte, sobald er mit dem Krabbeln anfangen würde.)

»Sie haben definitiv keine kleinen Kinder, andernfalls wären sie auf keinen Fall so laut«, sagte Em jetzt, und wie auf ein Stichwort erhoben sich hinter der Wand laute Stimmen, die eines Mannes und einer Frau, ihre Worte nur undeutlich zu verstehen. Dann, eine halbe Minute später, folgte Rockmusik. Hardrock.

»Das haben sie wohl angeschaltet, um das Bohren zu übertönen«, sagte Ant. »Klingt wie Thrash Metal oder etwas in der Art. Wie hießen die Bands damals? Megadeth? Wow, das ist echte Körperverletzung. Was spricht gegen ein bisschen Ed Sheeran?«

Em spähte in Sams Zimmer und setzte ein Gesicht auf, das bedeutete: Fürs Erste ist alles in Ordnung.

»Ansonsten sind sie bestimmt ganz nett«, fügte Ant hoffnungsvoll hinzu.

Ems Augenbrauen zogen sich zusammen. »Das hört sich wie die Textzeile aus einem Film an, bevor der Würger von Boston sich auf der Türschwelle nebenan die Sturmhaube überzieht. Oh, das ist jetzt nicht ihr Ernst!«, seufzte sie, nachdem das Dröhnen der Bohrmaschine wieder eingesetzt hatte und die Musik noch weiter aufgedreht worden war. »Er wird nicht viel länger schlafen, wenn das so weitergeht.«

Als der Bohrer ein drittes Mal aufheulte, starrten sie die Wand an, als erwarteten sie, dass sich gleich vor ihren Augen ein Loch auftat. Die Luft schmeckte anders, dachte Ant, ihre atmosphärische Dichte hatte sich verändert. Der Gedanke, dass jemand knapp einen Meter entfernt auf der anderen Seite der Wand stand, fast so nah, wie sie einander waren, wirkte surreal. War sich diese Person bewusst, dass sie hier waren? Konnte er ihre Stimmen hören? Und welcher Mensch konzipierte Doppelhaushälften auch so, mit den Haustüren und Treppen jeweils an den Außenseiten? Wäre es nicht viel besser, sie direkt nebeneinander in der Mitte zu bauen, spiegelbildliche Flure und Treppenhäuser, die eine Dämmung zwischen den Wohnzimmern bildeten? Die zwei Haushalte könnten genauso gut eine einzige Scheune mit einem Wandschirm in der Mitte bewohnen.

»Du musst rübergehen und mit ihnen reden«, sagte Em. Aus dem Wir war mit raschem Nachdruck ein Du geworden. Offensichtlich noch ein Bereich, der in die Kategorie Männerarbeit fiel.

»Das geht doch erst seit fünf Minuten so«, argumentierte er. »Sam ist todmüde von der Reise, wahrscheinlich schläft er sowieso durch. Lass uns runtergehen und uns noch mal an das Große Ziel heranwagen.«

Das Große Ziel war, eine Episode von irgendetwas auf Netflix zu beenden, ohne von Sams Weinen gestört zu werden. Früher hatten sie wie der Rest der Gesellschaft Serienmarathons hingelegt, eine Staffel von House of Cards in einer Arbeitswoche, fast wie ein Nebenjob. Jetzt lebten sie buchstäblich in einem Kartenhaus. Eine falsche Bewegung, etwa wenn sie die Haustür nicht erreichten, bevor der Paketbote an der Tür läutete, oder genau in dem Moment ein Fenster kippten, wenn einer der Hunde der Morgans einen Fuchs ankläffte, und das gesamte Konstrukt fiel in sich zusammen.

Sams Schreien erklang vierunddreißig Minuten und ein großes Glas Rotwein später. Erst nachdem sie die Folge angehalten hatten, fiel ihnen auf, wie laut die Musik war. Der Text konnte problemlos verstanden werden – etwas von Metallica, das Ant vage bekannt vorkam. Ein geringfügig langsameres Tempo als der vorherige Thrash, aber ebenso dumpf. Dann kam der Refrain: »Sad but true«.

Das konnte man laut sagen.

Em eilte nach oben und tauchte mit Sam in den Armen wieder auf. Er barg den Kopf an ihrem Hals, presste sich an sie, um wieder in den Schlaf zu finden, der ihm so rabiat geraubt worden war. »Ant, kannst du bitte rübergehen und ihnen sagen, dass sie mit diesem Monsters-of-Rock-Revival aufhören sollen!«

Ihre kompromisslose Art, die Ant das Gefühl gab, er wäre das Kind, kam wieder zum Vorschein. Als Junge war ihm häufig vorgehalten worden, zu impulsiv zu handeln – »Warte kurz ab und denk einen Moment nach«, hatten Lehrer ihm geraten. »Handle in Eile, bereue mit Weile, Anthony« (der Spruch stammte von seinem Großvater) –, und in seiner erwachsenen Anstrengung, diesen Fehler zu vermeiden, war er vielleicht etwas zu passiv geworden.

»Du hast recht«, sagte er und sprang auf.

Draußen hing ein unangenehmer Abriss-Geruch in der Luft, als wären uralte Abwasserrohre verstopft. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite kamen ihm Sissys makelloser Garten und das goldene Glühen aus ihrem Wohnzimmerfenster wie eine andere Welt vor. Er marschierte am Wohnzimmerfenster der neuen Nachbarn vorbei, um zu ihrer Haustür zu gelangen, konnte aber durch den Spalt zwischen den Vorhängen, die nach dem Ableben von Old Jean hängen geblieben waren, nur wenig ausmachen: überquellende Umzugskartons, Müllbeutel, prallvoll mit Gegenständen. An der Tür betätigte er den Klopfer, aber niemand öffnete, was ihn nicht verwunderte, da die Musik fast laut genug war, um die Wände zum Wackeln zu bringen. Dann, ganz abrupt, endete das Lied, und er nutzte die Sekunden vor dem Einsetzen des nächsten Stücks aus, um nochmals zu klopfen.

Diesmal ging die Tür auf. Zum Vorschein kam eine kleine, knochige Blondine von ungefähr fünfundvierzig, gekleidet in etwas, das irgendwo zwischen Sportkleidung und Pyjama anzusiedeln war, und ihr Auftreten war das eines Menschen, der leicht in Wut geriet – oder vielleicht einfach das einer Betrunkenen. Sie deutete eine Begrüßung eher mit einer Geste als einem Wort an, eine Dose Heineken in der Hand, das Gesicht vor Verärgerung gefurcht. »Ja?«

»Sind Sie die neue Eigentümerin?« Ant erhob die Stimme über die Musik, die an ihm vorbei in die Nacht hämmerte. Wenn die anderen Nachbarn sie bis eben nicht gehört hatten, dann jetzt.

»Was?«

»Ich fragte, ob Sie die neue Eigentümerin sind?«

Ohne ersichtlichen Grund setzte ihr Lachen ein, ein sprödes, humorloses Geräusch. »Sie meinen Darren.«

»Okay, also, es geht um die Musik …«

Doch sie drehte sich bereits weg und schrie mit lauter Stimme: »Darren! Darren!«

Der Mann, der nun erschien, war, seinem dreckigen Overall nach zu urteilen, der enthusiastische Heimwerker. Er war Mitte fünfzig, und sein Gesicht war dermaßen gegerbt, dass es entweder auf einen hohen Alkoholkonsum oder eine Leidenschaft für sonnige Küstenwanderungen schließen ließ. Auch er umklammerte eine Dose samt einer Zigarette, die glühende Spitze bis knapp vor seinen Fingerknöcheln abgebrannt.

»Ja?«, fragte er die Frau, als stünde keine Haustür vor ihm offen und ein Fremder zwei Meter entfernt auf der Türschwelle.

»Er will mit ›dem neuen Eigentümer‹ sprechen«, sagte die Frau. »Scheiße, Mann!«

»Zieh Leine«, fauchte Darren sie an.

Mit stockendem Puls rang Ant sich ein überzeugendes Lächeln ab. »Ich bin Ant Kendall. Ich wohne nebenan mit meiner Frau Em. Das Haus genau hier.« Er deutete mit dem Zeigefinger, um die intime Nähe zwischen den zwei Haushalten zu unterstreichen. »Sie sind also Darren und …«

»Jodie.« Ihr Gesicht kräuselte sich in neuem Misstrauen. »Augenblick mal, das hat jetzt nicht wieder was mit der Mauer zu tun, oder? Die ganze Woche sind uns deshalb schon ein Haufen Wichtigtuer auf die Nerven gegangen. Woher sollten wir wissen, dass es Krach mit der Stadtverwaltung gegeben hat?«

Überrumpelt von ihrer Feindseligkeit fühlte Ant sich dennoch ermutigt von dem »Haufen Wichtigtuern«: Vor ihm war schon jemand hier gewesen, um sich zu beschweren, Sissy oder höchstwahrscheinlich einer der Morgans. »Nein, darum geht’s nicht, es ist nur so, wir haben nebenan ein Baby, und sein Zimmer liegt genau hier, auf dieser Seite des Hauses …«

Als Ant zu Sams Fenster deutete, schnippte Darren seinen brennenden Zigarettenstummel vor Ants Füße, und in Anbetracht der Autos, die in der Nähe parkten, trat Ant ihn aus. Em hatte Witze über Serienmörder gerissen, doch ihm kamen nur die Filme in den Sinn, in denen eine Studentenverbindung neben rechtschaffene Vorstädter zog und rauschende Partys feierte. Comedy vom Feinsten – für alle anderen.

»Ich weiß nicht, ob Sie es hören können, aber er ist ganz schön aufgebracht«, fügte Ant hinzu. In ihm machte sich allmählich ein ungutes Gefühl breit, die Erkenntnis, dass er diese Situation nicht sonderlich gut meisterte.

Doch schließlich schien die Frau zu kapieren. »Kein Problem«, sagte sie achselzuckend.

»Danke. Ich weiß Ihr Verständnis zu schätzen.«

Doch während er zusah, wie sich die Tür vor ihm schloss und er über die Schwelle seines eigenen Hauses trat, merkte er, erst durch die Füße – in Form mächtiger, anschwellender Vibrationen – und dann durch seine Ohren, dass die Musik sogar noch lauter aufgedreht worden war. Hastig eilte er zur Haustür seiner neuen Nachbarn zurück, doch sein Hämmern war entweder nicht zu hören oder wurde schlichtweg ignoriert.

Zu Hause hatte Em ihren Sohn immer noch bei sich im Erdgeschoss. Sam schrie jetzt, als leide er körperliche Schmerzen. ­Babys verfügten doch über ein hochempfindliches Gehör, oder? War dieser Dezibelwert für ihn sogar noch unerträglicher als für sie selbst?

»Was ist passiert?«, fragte – brüllte – Em. Es war, als spielte auf der anderen Wandseite eine Live-Band.

»Keine Ahnung.« Er hockte sich auf die Sofalehne. »Sie meinten, sie würden die Anlage runterdrehen, aber wenn überhaupt, haben sie sie aufgedreht.«

Sie sahen sich verwundert an.

»Als ich sagte, wir hätten ein Baby, können sie doch nicht … Sie können doch nicht angenommen haben, ich meine unseren Lärm? Dass ich mich für das Weinen entschuldigt habe?«

»Nur wenn sie total bescheuert sind.« Argwohn stieg in Em auf. »Warum? Hast du geklungen, als würdest du dich entschuldigen? Wie viel von der Flasche Wein hast du schon getrunken, Ant?« Sie schüttelte den Kopf. »Das können wir uns nicht gefallen lassen. Ich bringe Sam raus ins Auto und fahre ihn eine Weile rum, bis er wieder eingeschlafen ist.«

»Was, so spät?«

»Es ist erst halb zehn. Entweder das oder wir rufen die Polizei.«

»Das können wir nicht tun. Wir sind erst seit ein paar Stunden Nachbarn.«

Er folgte ihr nach draußen und half, Sam in seinen Autositz zu packen, kreischende Gitarren im einen Ohr, Babygebrüll im anderen, bevor er beobachtete, wie das Auto in die Straße bog. Zurück im Haus goss er sich ein neues Glas Wein ein und brachte es hinaus in den dunklen Garten. Nebenan setzte ein neues Lied ein, das Intro nahm an Fahrt auf und peitschte wie eine Abfolge kontrollierter Explosionen durch das offene Küchenfenster der Nachbarn.

Ohne darüber nachzudenken, hob Ant den nächstbesten Gegenstand auf, die Scherbe eines zerbrochenen Terrakottablumentopfs, und schleuderte sie über die Mauer.

Seine eigene Wut ließ ihn erschrocken zusammenzucken.

Am nächsten Morgen schliefen Em und Sam lang aus, doch Ant, dem es nicht gelungen war, tiefer als in einen aufgeregten Dämmerzustand zu tauchen, zog sich an und ging hinaus zur Bäckerei an der Hauptstraße, um Kaffee und Schokocroissants zu kaufen. Nebenan war es zum Glück ruhig, aber im Lowland Way nahm das laute Stimmengewirr des Play Out Sunday bereits an Fahrt auf. Wie üblich war Ant glücklich, dank seines privaten Stellplatzes seinen Wagen im Gegensatz zu den anderen Anwohnern nicht umparken zu müssen, um eine asphaltierte Spielfläche entstehen zu lassen, auf der Kinder sich kreischend austoben konnten. Das Projekt war bei ihrer Haussuche ein Pluspunkt gewesen, und die Makler hatten ihnen einen Link zum Artikel in der South London Press geschickt, den er später auch gerahmt in Ralph und Naomis Küche gesehen hatte. In der Schlange vor der Bäckerei las er ihn noch einmal auf seinem Handy durch und rief sich die fest verankerte, unerschütterliche Achtbarkeit seiner Nachbarschaft in Erinnerung:

Straße in South London erhält Urban Spaces Award

Die Bewohner einer Straße in Lowland Gardens, South London, haben eine Auszeichnung für ihre Gemeinschaftsinitiative verliehen bekommen, die Kindern eine Kostprobe auf die Art des sicheren Spielens im Freien geben soll, die ältere Anwohner vor Jahren noch als selbstverständlich erachteten.

Jeden Sonntag sind im Lowland Way Autos verboten, die Straße wird für den Verkehr gesperrt und den Kindern für ihren »Play Out Sunday« übergeben. Von Skateboardfahren, Stelzenlaufen, Himmel-und-Hölle-Spielen bis zum Hula-Hoop-Reifen ist alles erlaubt – nur eines nicht: Bildschirme.

»Lange war es mir ein Dorn im Auge, wie viel Zeit meine Kinder im Haus vor ihren Bildschirmen verbringen«, erklärt die Websitebetreiberin und zweifache Mutter Naomi Morgan, 43, die sich diese Idee hat einfallen lassen. »Jetzt müssen wir sie nicht mehr überreden, ihre Geräte auszuschalten – sie tun es freiwillig!«

Auf einem Empfang im Rathaus, den sie mit ihrer Schwägerin und Nachbarin Tess Morgan, 38, besuchte, nahm Naomi Morgan den Urban Space Award vom Londoner Bürgermeister entgegen, der verkündete: »Der Play Out Sunday ist ein wunderbares Beispiel für eine Gemeinschaft, die zusammenhält, um ihre eigene Lebensqualität zu verbessern.«

Lowland Gardens, eine grüne Oase westlich von Crystal Palace, bildete sich lange etwas auf ihre zurückhaltende Bodenständigkeit ein, aber mit ihren steigenden Immobilienpreisen, die in den vergangenen sechs Monaten fast fünf Prozent über dem Durchschnitt der Hauptstadt lagen, scheint es, als würde ihr unaufdringlicher Charme von einer Welle neuer Haussuchender entdeckt werden.

Es folgte ein Foto von Naomi und Tess mit dem Bürgermeister. Naomi in ihren Highheels überragte alle, wobei ihr offenes Lächeln ihr Gesicht in die Länge zog, was sie wie ein glänzendes Rennpferd aussehen ließ. (Tess hatte leider die Augen halb geschlossen.)

Nein, er würde sich wegen gestern Nacht keinen Kopf machen, einer unerfreulichen Episode, die sich zufällig mit ihrer Rückkehr aus dem Urlaub überschnitten hatte. Schwer beschäftigt mit den Renovierungsarbeiten während der vergangenen Woche mussten sich die Neuankömmlinge ein paar Gläser genehmigt haben, um etwas Dampf abzulassen, und nur ein Spielverderber würde ihnen das missgönnen. Heute würde der Lowland Way sich wieder von seiner gemeinschaftlich-beseelten, Immobilienpreise-in-die-Höhe-treibenden Seite zeigen.

In einer Stimmung, die sich nun erheblich durch den frisch gerösteten schwarzen Americano in seiner Hand gebessert hatte, ging er denselben Weg zurück, den er gekommen war, wobei er anfangs nur das übliche lebhafte Kreischen der spielenden Kinder vernahm. Dann, als er die Portsmouth Avenue entlangschritt, die an Nummer eins grenzte, schnappte er Teile der Liedtexte auf, die nichts für Kinderohren waren:

Gonna get you …

Fucking whack you …

Was um alles in der Welt …? Beim Einbiegen in den Lowland Way erwartete er ein Grüppchen Eltern zu sehen, vereint in ihrem Entsetzen, aber alles war genau so, wie er es zurückgelassen hatte, das Gewimmel etwas dichter, die Stimmen ein wenig schriller: Einige der Kinder saßen auf ihren Fahrrädern und rasten einen Slalomkurs zwischen Pollern entlang. Am Ende seiner Einfahrt war die Musik wohl nicht so laut, um irgendjemanden, abgesehen von den Anwohnern an der Ecke, zu stören, und mit einem Mal überkam ihn jähe Besorgnis. Sie waren hier ein bisschen abgeschottet auf ihrer gemeinsamen Insel mit Nummer eins. Wenn das zu irgendetwas ausarten sollte, könnten sie sich dann auf die Unterstützung der anderen Nachbarn verlassen?

Der Gedanke traf ihn, Sekunden bevor er Darren sah, der an der offenen Tür seines Lieferwagens stand, noch dazu mit nacktem Oberkörper, wie Ant schockiert feststellte. Seine Brustbehaarung war ein widerlicher Flaum aus hellem Grau.

Ant steuerte auf ihn zu, bevor er doch noch kalte Füße bekam. »Hallo noch mal, Darren.«

»Hä?« Darren wirkte, als hätte er Ant nie zuvor in seinem Leben gesehen.

»Wir haben uns gestern Abend kennengelernt.« Obwohl Ant strenggenommen auf seiner eigenen Seite der Einfahrt stand, fühlte es sich wie ein Eingriff in Darrens Privatsphäre an, ihn anzusprechen, wenn er nicht vollständig bekleidet war. Obwohl fünfzehn oder zwanzig Jahre älter als Ant, war sein neuer Nachbar besser in Form und nicht einmal ansatzweise verlegen. Eine dunkle, leicht rötliche Bräune deutete darauf hin, dass sein halbnackter Zustand keine Ausnahme war. »Ich wohne nebenan?«

»Oh, ja. Alles gut?« Weder höflich noch unverschämt, sondern einfach mit etwas anderem beschäftigt.

»Alles klar. Ich meine, nun ja, abgesehen … Wäre es möglich, die Musik ein wenig leiser zu drehen? Sie könnten Beschwerden bekommen, weil die Texte nicht gerade familienfreundlich sind.« Beschwerden bekommen? Was für ein Feigling er nur war. Gott sei Dank war Em nicht hier und hörte das mit an.

»Familienfreundlich?« Darrens Gesichtsausdruck veränderte sich – zu tiefem Argwohn. »Moment mal, waren das Sie, die uns aufgeweckt haben?«

»Wie bitte?«

»Vor ’ner halben Stunde? Jemand hat wie ein Scheißgerichtsvollzieher an die Tür gehämmert.«

»Nein.« Die Beiläufigkeit der ordinären Bemerkung ließ Ant zusammenzucken. »Vielleicht war es jemand, der fragen wollte, ob der Peugeot dort Ihnen gehört? Oder der weiße Toyota draußen vor Hausnummer sieben? Die Straße wird jeden Sonntag für den Autoverkehr gesperrt. Play Out Sunday? Der ist in unserer Gegend ziemlich bekannt, ich bin überrascht, dass man Ihnen nicht davon erzählt hat, als Sie das Haus gekauft haben.«

»Jeden Sonntag?« Booth stieß ein kurzes Lachen aus. »Nicht Ihr Ernst? Wenn die Kinder jedes Wochenende so rumschreien, kann ich mir gleich die Kugel geben!« Er schlug die Tür des Liefer­wagens mit einem lauten Krachen zu, eine unmissverständliche Verabschiedung von Ant, der unschlüssig dastand, die Tüte mit Croissants schlaff in der Hand.

Das Adrenalin ließ ihn leicht zittern; er schämte sich, bei Auseinandersetzungen eine solche Null zu sein.

No sleep left for you

Bitch, got plans for you …

Bevor er den Schlüssel ins Schloss schieben konnte, wurde die Tür aufgerissen, und Em sprang heraus. Offensichtlich hatte sie sich Hals über Kopf angezogen, ihr Oberteil war falsch geknöpft, die Füße steckten in Flipflops, in der Hand hielt sie einen von Sams Softbauklötzen. Sie schoss an Ant vorbei und warf ihm einen ungläubigen Seitenblick zu – nicht, weil das hier gerade passierte, das wusste er, sondern weil es ihm nicht gelungen war, es zu unterbinden.

»Entschuldigung?«, rief sie mit scharfer Stimme Darren zu. »Ich sagte, Entschuldigung? Könnten Sie bitte diese Musik leiser drehen? Sie ist viel zu laut!«

Ant verstand ihren Frust, natürlich tat er das, aber es war die falsche Herangehensweise, sich aufzuregen und gleich aus der Haut zu fahren, bevor sie sich auch nur vorgestellt hatte, und zwangsläufig reagierte der Kerl mit einem abwehrenden Stirnrunzeln.

»Sagt wer?«

»Sage ich. Die Mutter eines sechs Monate alten Babys!«

Jetzt tauchte Jodie auf, um das zahlenmäßige Gleichgewicht wie­derherzustellen, doch sie befand sich näher bei Ant und Darren, was den Eindruck erweckte, es stünde drei zu eins gegen Em. Frisch aus der Dusche waren Jodies Haare feucht und strähnig, ihr Gesicht blitzblank. Ihre Nase verengte sich zur Spitze hin, wie Ant auffiel, und während sie ihre Aufmerksamkeit von einer Person zur nächsten gleiten ließ, kam es ihm vor, als würde sie von ihrem Geruchssinn geleitet werden. »Wo liegt das Problem?«

»Ihre Musik ist das Problem«, fauchte Em. »Könnten Sie sie bitte leiser drehen?«

»Es gibt keinen Grund, gleich so aggressiv zu sein«, erwiderte Jodie herausfordernd.

Em errötete. »Ich soll aggressiv sein? Was ist mit dem Umstand, dass Sie die ganze Nacht Heavy Metal gehört haben und jetzt das hier an einem Sonntagvormittag? Ist das denn nicht aggressiv?«

»Em, lass es gut sein«, sagte Ant in der Hoffnung, nicht so ­illoyal zu klingen, wie er sich fühlte. Er spürte die Blicke von der Straße; wenn es so weiterging, würden sie eine Menschenmenge anziehen.

»Verstehst du das?«, sagte Darren zu Jodie, als Sams Schreie durch die offene Tür zu ihnen drangen. »Ihre Kinder ticken völlig aus, aber sie ertragen nicht das kleinste bisschen Musik.«

»Da gibt es einen Unterschied!«, rief Em, und Ant war erleichtert, als sie den Wortwechsel auf sich beruhen ließ, um ins Haus zu stürmen und sich um Sam zu kümmern.

»Vielleicht könnten wir uns einmal in Ruhe unterhalten, wenn Sie nicht so beschäftigt sind?«, schlug er vor. »Geben Sie mir einfach Bescheid, wenn Sie Zeit haben.«

Em hatte die Haustür hinter sich geschlossen, und er kam sich töricht vor, sie jetzt wieder aufzusperren. »Echte Spaßbremsen, was?«, hörte er Jodie zu Darren sagen, als er endlich im Haus war.

Er wartete im Türrahmen zur Küche, während Em Sams Gebrüll beruhigte. Ihre Schultern bebten sichtlich vor Wut.

»Wer zum Teufel sind diese Leute?«, fragte sie.

»Das sind die Leute, neben denen wir wohnen müssen, weshalb ich mir nicht ganz sicher bin, ob es klug ist, sich am ersten Tag mit ihnen zu zerstreiten.« Beim Anblick ihres zornentbrannten Stirnrunzelns bekam Ant Zweifel, ob es klug war, diese Bemerkung gemacht zu haben.

»Hätte ich mir ja denken können, dass du nicht hinter mir stehst«, schnaubte sie.

»Wovon redest du?«, protestierte er. »Natürlich stehe ich hinter dir.«

»So hat es für mich nicht geklungen. ›Lass es gut sein‹. Typisch Ant, der nie einen Streit vom Zaun brechen will.«

Typisch Ant? Das verschlug ihm die Sprache.

»Nur dass wir keinen Zaun haben, jedenfalls nicht vorne raus. Und selbst wenn wir einen hätten, würden die ihn auch plattmachen.« Sie funkelte Ant böse an, als wäre er höchstpersönlich für diese katastrophale Situation verantwortlich. »Die Dinge sollten lieber nicht so weitergehen, denn uns trennt nichts von ihnen, nicht wahr? Buchstäblich nichts.«

3 TESS

Ich war heute Morgen hier, ja. Ich war hinten im Garten und habe mit den Kindern gespielt, als wir den Knall hörten, wie ein Auto, das explodiert – pst, Dex, der nette Beamte redet über etwas sehr Ernstes. Geh wieder zu deiner Schwester und schaut euch Spider-Man zu Ende an.

Ja, ich bin mir sicher, dass ich auch einen Schrei gehört habe, aber vielleicht bilde ich mir das auch bloß ein. Mein Mann kam raus, und wir haben uns nur angesehen und gesagt: »Was um alles in der Welt …?« Dann hat unsere Schwägerin Naomi ihre Tochter gebeten, sich ein paar Minuten um die Kleineren zu kümmern, und wir sind vorn aus dem Haus und haben eine riesige Staubwolke vor Nummer eins gesehen. Em Kendall war schon da, und sie meinte, Booth läge irgendwo unter den Trümmern. Wir haben ihn stöhnen und husten gehört. Wir haben zuerst nur ihn gesehen, wir wussten ja nicht, dass noch jemand da unten war. Dann haben wir den Fuß bemerkt. Es war so grässlich, den Anblick werde ich nie vergessen.

Obwohl das alles wirklich ganz grauenvoll ist, muss ich schon sagen, dass es sich in gewisser Weise vollkommen unausweichlich anfühlt. Keiner von uns war vor ihnen sicher. Früher oder später musste jemand zu Schaden kommen.

Wen ich mit »ihnen« meine? Darren Booth und seine fürchterliche Frau natürlich. Jodie heißt sie. Sie müssen wissen, an jenem Morgen ist sie nicht mal rausgekommen, zumindest nicht sofort. Hat Ihnen das schon jemand gesagt? Die gesamte Straße war da und hat verzweifelt versucht, zu helfen, und sie war drinnen und hat geschlafen! Jemand musste durch die Hintertür rein und sie holen. Anscheinend stand sie unter Medikamenteneinfluss, aber wenn Sie mich fragen, war sie noch vom Vorabend sturzbesoffen. Echte Komasäufer, die ständig Party machen.

Nun, ich würde sie als gereizt beschreiben. Keinerlei Interesse, mit den Menschen in ihrer Umgebung zu kooperieren. Sie leben nach ihren eigenen Gesetzen. Es ist eine Form von Soziopathie, schätze ich, oder Narzissmus.